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Willkommener Neuanfang

Kurzbeschreibung
GeschichteSchmerz/Trost, Liebesgeschichte / P12 / MaleSlash
Dr. John Watson Sherlock Holmes
28.01.2017
20.03.2018
12
39.414
26
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Dieses Kapitel
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31.07.2017 2.440
 
Es ist einer dieser Tage für John. Es scheint, als würde die ganze Welt etwas von ihm wollen. Vielleicht ist es auch so und John weiß es nur nicht. In ihm halten sich Resignation, Aggression und das Gefühl geschundener Nerven die Waage. Schon den ganzen Tag über kamen immer wieder Unfallopfer und vermeintlich kranke Menschen in die Notaufnahme gewankt. Natürlich ist er Arzt geworden, um Menschen zu helfen, doch warum Menschen bei ein bisschen Schüttelfrost direkt in die Notaufnahme rennen, wird er niemals verstehen oder gutheißen können. Ja, manchmal hat es ernste Ursachen, aber für einmal niesen direkt in die Notaufnahme zu kommen. Nein, dafür hat er kein Verständnis.

Als er schließlich endlich Feierabend hat und seine Ablösung da ist, trottet er nur noch missgelaunt in die Umkleide. Dummerweise begegnet er dort Mike Stamford, einem der größten Klatschmäuler, die das Barts je gesehen hat. So ist es nicht verwunderlich, dass aus fünf Minuten fürs schnelle Umziehen beinahe fünfundvierzig werden. Seine Laune rauscht mit vollem Schwung in den Keller.

Als John zuhause ankommt, möchte er schon gleich wieder wegrennen. Auf der C schreit ein Baby, in der B streitet sich ein Pärchen und vor der A versucht ein Paketbote gerade vergeblich, durch Klingeln gegen Pärchen und Baby anzukommen. Seufzend nimmt John das Paket für seinen Nachbarn an, schließt seine eigene Tür auf und stellt das Paket einfach im engen Flur neben die Tür.

Gerade hat er sich einen Tee aufgebrüht und es sich im Sessel bequem gemacht, will nur einen Schluck trinken und endlich ausruhen, als es wieder klingelt.

»Verdammt noch eins! Kann man denn nicht einmal seine Ruhe haben!«, schreit er aufgebracht durch die Wohnung. Wer auch immer was von ihm wollte, ist verschwunden, nicht gerade verwunderlich, wenn John so ausrastet. Noch immer schreit in der C ein Baby, in der B streitet sich ein Paar und in der A reagiert man noch immer nicht auf irgendwelches Klingeln, alleine der Mann in der D übertönt sie alle bei seinem Wutanfall. Er flucht und schreit noch weiter, als auch schon die ganze Etage ruhig ist. Seine Laune ist nicht mehr nur im Keller, es scheint, dass sie sich geradewegs durch den Erdboden und die Gesteinsschichten, durch den Erdkern, gebohrt hat, bis sie auf der anderen Seite der Welt, irgendwo bei Neuseeland im Wasser wieder rauskommt. Bei diesem Gedanken muss John dann doch lachen, bei der Laune, die er gerade hat, wird wohl jeder vernünftige Fisch die Flucht ergreifen.

Kurzerhand setzt sich John an den PC und findet schon nach wenigen Klicks die Infos, die er gesucht hat. Wie gut es doch sein kann, überall auf der Welt Bekannte und Freunde zu haben. Ein paar Anrufe später kann es losgehen. Doch wie er gerade die Wohnung verlässt, auf seinem Rücken ein großer Rucksack befestigt, fällt ihm ein, dass er morgen ja noch einen Termin bei Dr. Holmes hat. Und natürlich muss er nicht nur diesen absagen, wahrscheinlich wäre es besser, wenn John direkt einmal reinen Tisch macht. Von unterwegs versucht er die Praxis zu erreichen, doch er kommt wie so oft nicht durch.

*****

Es muss ein seltsamer Anblick sein, den John liefert, als er an diesem Tag unangemeldet in der Praxis auftaucht. Ein dicker Rucksack auf dem Rücken, die Haare wild vom Wind und ein Gesichtsausdruck, dass ihn nichts und niemand mehr aufhalten kann. Sherlock steht gerade an der Anmeldung, bespricht mit Mary den Tag, als John die Tür öffnet. Kurz bleibt Sherlock bei diesem Aufzug die Sprache weg. Sein Mund steht auf und insgesamt sieht er eher wenig intelligent aus. Doch er schließt ihn auch recht schnell wieder, als er Marys forschenden Blick bemerkt. Im Geiste speichert Sherlock ab, Mary von nun an noch genauer im Auge zu behalten, irgendwas geht bei ihr vor.

»Ah Dr. Holmes, gut dass ich Sie treffe. Ich wollte eigentlich gerade nur meine nächsten Termine absagen, aber wenn Sie vielleicht einen Moment Zeit für mich hätten?«, fragt John hoffnungsvoll und erntet nur ein ernstes Nicken von Sherlock.

»In zehn Minuten kommt mein nächster Patient, lassen Sie uns in den Garten gehen, dann haben wir vielleicht elf Minuten«, sagt Sherlock ohne auch nur ein Wort über Johns Aufzug abzugeben. Gemeinsam verlassen sie die Anmeldung und eine völlig überfahrene Mary und setzen sich in eine kleine Nische im Garten. Schmunzelnd beobachtet Sherlock wie John versucht den Rucksack irgendwie vom Rücken zu bekommen ohne sich großartig zu verrenken und dann schließlich aufgibt. Der Rucksack landet nach einem kurzen aber harten Kampf schließlich geschlagen neben der Bank.

»Es tut mir leid, dass ich Sie jetzt noch störe Dr. Holmes, Sie sollten sich ja jetzt eigentlich auf den nächsten Patienten vorbereiten oder noch in Ruhe einen Kaffee trinken. Aber ich konnte nicht warten, bis Ihre Arzthelferin endlich den Anschluss frei gegeben hätte, darum bin ich persönlich vorbeigekommen. Ich muss leider meine Termine für die nächsten drei Wochen absagen. Ich fahre gleich noch in den Urlaub, vorher möchte ich aber auf jeden Fall noch etwas mit ihnen klären.«

Immer mehr reift in Sherlock ein Verdacht, den er nicht denken will. Mary ist bisher eine der besten Arzthelferinnen, die sie hatten, sie können sie nicht schon wieder ersetzen. Definitiv muss er sie im Auge behalten.

»Fangen wir doch einfach von vorne an John. Selbst wenn es jetzt länger dauern sollte, wäre das kein großes Problem. Sie sind mein Patient John, ich werde mir immer die Zeit nehmen, die Sie benötigen. Außerdem ist die nachfolgende Patientin sowieso immer zu spät«, lenkt Sherlock ein, obwohl er selbst so einige Fragen hat. Wieso zum Beispiel John so plötzlich in den Urlaub fährt, wie das sein Chef gedreht hat und ähnliche Fragen, doch Sherlock fragt nicht nach. Es ist sein Grundsatz schlechthin, noch vor jenem, dass er keine Phrasen drescht. Er fragt nicht explizit nach, vielleicht ein wenig, um zu mobilisieren, aber nicht, um, wie so viele andere Ärzte, einfach nur die Standard-Fragen abzuklären. Denn kein Mensch ist jemals Standard.

Es ist ihm sichtlich peinlich, denn seit drei Wochen will John schon mit Sherlock darüber sprechen und kriegt die Zähne doch nicht auseinander. Natürlich weiß Sherlock das nicht, kann es aber doch erahnen. Immerhin hat John schon seit dieser verhängnisvollen Sitzung irgendwas beschäftigt, da ist es nicht schwer, eins und eins zusammen zu zählen. John atmet noch einmal durch, strafft unbewusst den Oberkörper und spricht es endlich aus. Immerhin hat er sich doch geschworen rundweg ehrlich zu sein – und was ein Watson verspricht, das hält er auch!

»Vor vier Wochen habe ich zufällig ein Gespräch von Ihnen mit angehört. Sie sprachen mit einem Victor. Es tut mir wirklich leid. Ich war einfach früh dran und habe sie dann sprechen hören. Ich wollte gar nichts mithöhren, aber dann hat diese dämliche Neugierde gesiegt. Sie waren gerade fertig mit ihrem Gespräch, als Prof. Holmes sein Sprechzimmer verließ. Sie können sich ja denken, wie es auf ihn wirkte. Es tut mir wirklich leid, ich wollte gar nicht das Gespräch mithöhren und in Ihre Privatsphäre eindringen!«

»Warum sind Sie denn nicht einfach weitergegangen, nachdem ich zu Ende telefoniert hatte?«, fragt Sherlock nach und macht ihm, zu Johns Verwunderung, gar keine Vorwürfe. Wie soll John auch ahnen können, dass Sherlock schon längst weiß, was geschehen ist? Außerdem hat er sich entschuldigt und es zugegeben, Sorgen würde sich Sherlock erst machen, wenn John es einfach totschwiege.

»Ich war überrascht davon, dass Sie mit einem Mann telefonierten. Mein Gaydar funktioniert generell nicht wirklich, aber damit, dass Sie auf Männer stehen, habe ich einfach nicht gerechnet«, gibt John unumwunden zu. »Ich habe Sie immer für den typischen Mädchenschwarm gehalten.«

»Stört es Sie?«, fragt Sherlock so professionell, wie es ihm nur möglich ist. Dennoch könnte sogar ein Tauber – auch ohne drei Minijobs – heraushören, dass es Sherlock schwertreffen würde, wenn es so wäre. Abgesehen davon konnte nicht nur er nichts mit Mädchen anfangen, die Mädchen auch nichts mit ihm. Zu schlaksig, zu intelligent, zu rational, zu unemotional, zu… Wie hat er all das doch noch im Ohr. Nein Mädchen sind und waren nie sein Gebiet.

»Wie sollte es? Ich bin selbst bi, meine Schwester homosexuell. Ich darf mir da am wenigsten ein Urteil erlauben! Selbst wenn ich nicht bisexuell wäre und mein ganzes Umfeld auch hetero wäre, was geht es mich an, was Sie in Ihrem Privatleben machen?«, spricht John mit Nachdruck aus, was er denkt. Es wäre doch die pure Doppelmoral, wenn er ein Problem mit einem schwulen Mann hätte.

»Gut, da wir das geklärt haben, können wir ja zum Rest übergehen. Übringens wusste ich schon davon, dass Sie das Gespräch mitgehört haben. Auch wenn ich meinen Bruder nicht immer überaus schätze, er vertraut mir und ich vertraue ihm. Im Übrigen müssen Sie sich um meinen Bruder auch keine Sorgen mehr machen, das habe ich schon längst geklärt. Er ist in letzter Zeit sowieso etwas abgelenkt, heute hat er ein Date.«

Sherlock lächelt John so freundlich und offen an, dass es diesem gar nicht mehr schwerfällt, wirklich locker zu werden, auch wenn er gerade etwas unter Stress steht und nur noch seine Ruhe will. Dabei fällt John auch gar nicht auf, dass Sherlock zugibt seine Unruhe die letzten Wochen bemerkt zu haben. Aber was fällt diesem Mann auch nicht auf?

»Ein Date? Er?«, schießt es John aus dem Mund, noch bevor er auch nur darüber nachdenken kann, es auszusprechen. Nur mit Mühe kann er verhindern, sich die Hand entsetzt vor den Mund zu schlagen, doch Sherlock interpretiert die kurze Bewegung des Arms dennoch richtig. Da war der Mund mal wieder schneller als das Gehirn, vielleicht ist John dann doch zu locker geworden.

Doch Sherlock lacht nur laut und muss sich sichtlich bemühen nicht noch mehr zu verraten. Nach einem kurzen Schockmoment kann auch John vollends mitlachen und kommt nicht umhin, Sherlocks Lachen wunderschön zu finden. Vielleicht ist er geradewegs dabei, sich in seinen Arzt zu verlieben, eine Sache die niemals passieren darf.

Nach einem kurzen Blick auf seine Uhr stellt John fest, dass sie nicht mehr lange haben und er noch immer nicht den zweiten Grund seines Auftauchens erklärt hat. In kurzen Worten berichtet er von seinen letzten Tagen, davon wie ihm der Stress immer mehr die Kraft geraubt hat und er genau weiß, dass es nicht gesund ist. Sein Herz braucht nachweißlich Stress, aber das war nicht mehr in Ordnung, was er erlebt hat.

»Und dann kommt da ja noch die Sache mit den Anschlägen hinzu. Ich brauche einfach mal ein paar Tage meine Ruhe. So kann es ja nicht weiter gehen. Deshalb habe ich jetzt auch schon meinen Rucksack dabei, ich nehme gleich den nächsten Zug und bin dann einfach mal weg.«

»Wohin fahren Sie denn?«, fragt Sherlock etwas irritiert. Bisher schien ihm John nicht der Typ für solche Kurzschlüsse zu sein. Eher eine routinierte Planung mit Abflug, Ankunft, Shuttleservice und gutem Hotel. Rucksack schnüren und auf in die weite Welt, so hat er ihn nicht eingeschätzt. Gerade nach seiner Zeit in Afghanistan sollte John sich um jede Stabilität bemühen, die er finden kann. Allerdings hat Sherlock bei John schon öfter eines festgestellt: John gibt auf Normalität und Dinge, die er soll, herzlich wenig.

»Ich habe keine Ahnung. Ich weiß, wie das aussehen muss, aber ich komme schon zurecht. Ich habe gelernt zu überleben und eine kleine Idee habe ich auch schon, aber ich brauche einfach endlich meine Ruhe. Ich möchte einfach nur noch ungestört sein und mir über ein paar Dinge auch klar werden. Nachdenken ohne auf die Uhr zu sehen, ohne den Schichtplan zu kennen. Einfach meine Ruhe finden und endlich für mich wichtige Dinge klären. Vielleicht brauche ich auch einfach den Abstand von London dafür. Ich nehme ja noch nicht mal mein Handy mit«, erklärt John sein Vorhaben. Mit etwas Verzögerung setzt John dann aber noch einen Satz hinterher.

Sein Lächeln wird dabei minimal breiter, sein Blick ungewollt liebevoller und lockender. Wenn sie nicht Arzt und Patient wären, wäre für beide diese Situation viel besser zu meistern. Wie weit darf man gehen, wenn man doch gar nicht gehen will und doch nicht anders kann? Wenn können und dürfen nicht dasselbe sind? Wenn man gehen will, aber nicht gehen darf?

»Aber vielleicht schreibe ich Ihnen ja eine Urlaubskarte, wenn ich irgendwo in meiner Badehose rumliege. Wer weiß das schon?«

Als John die Praxis verlässt, wartet schon die nächste Patientin auf Sherlock und verhindert so, dass Sherlock nachdenken kann. Nachdenken über intime Worte der letzten Sitzungen, vertraute Tonfälle, gemeinsames Lachen und Sätzen, die doch sehr ans Flirten erinnern. Und vor allem verhindert diese Patientin, dass Sherlock über John nachdenkt.

Erst abends, als er alleine ist, hat er die Zeit, nachzudenken. Er denkt an John, mit seinem Lachen, den blonden Haaren und seiner Badehose. Vielleicht nicht die beste Art, von seinem Patienten zu denken, schießt es ihm durch den Kopf, als er nur noch an einen halb nackten John am Strand denkt. Verdammt, die Nacht wird hart.

*****

Während Sherlock in seinem Bett liegt und über John und die Farbe seiner Badehose sinniert, steigt John in Edinburgh aus dem Zug und versucht, sich zu orientieren. Sein Freund müsste hier irgendwo doch das Geschäft haben. Doch es denkt sich schwer mit nur der halben Gehirnleistung. Die eine Hälfte versucht sich an den Plan zu erinnern, ein Viertel denkt an Sherlock und daran, dass er dem Flirten nicht abgeneigt schien und der Rest hat daran zu knabbern, dass er geflirtet hat. Flirten mit seinem Arzt ist definitiv nicht die beste Idee seines Lebens.

Aber noch etwas anderes macht ihm zu schaffen. Für John steht fest, was nicht feststehend darf. Er hat sich in Sherlock Holmes verliebt. Wo er heute im Garten noch dachte, das unbedingt verhindern zu müssen, hat er doch nach der Sache mit der Badehose erkannt, dass er schon längst verliebt ist. Und so euphorisch er sonst auch immer ist, wenn er frisch verliebt ist, diesmal ist er es nicht. Sherlock ist für ihn tabu, er wird Sherlocks Leben nicht ruinieren. Sherlock ist sein Arzt, John dessen Patient, zwischen ihnen wird nie etwas anderes als Freundschaft sein. So sehr John dieser Gedanke auch wehtut. Er hat Leben auf so viele Arten genommen und zerstört, er wird es nicht wieder tun.

Fakt jedoch ist für beide, dass sie diese drei Wochen nutzen müssen und werden, um sich über ein paar Dinge klar zu werden. So wie es jetzt ist, kann es eigentlich nicht mehr weitergehen. Die Frage ist jedoch, ob beide den Mut aufbringen, aus ihrem Schneckenhaus zu kriechen und sich der Welt wirklich zu stellen. Der Countdown läuft unerbittlich ab und es gibt nur denkbar wenig Möglichkeiten, wie dieser enden kann. Sie steuern gradewegs in einen zweiten Urknall, die Frage ist nur, was sie dabei alles Auslöschen.

TBC


[31.07.2017 // 2438 Worte]
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