Willkommener Neuanfang
von Monster144
Kurzbeschreibung
Als John Watson zum ersten Mal die Praxis betritt, weiß er nicht, wie wichtig ihm diese Sitzungen in Zukunft sein werden. Er weiß nur, dass es so nicht weiter geht, dass er endlich wieder leben will. Egal wie anstrengend oder mühsam, schmerzvoll oder zerstörerisch, er ist an einem Punkt von dem aus es nur noch zwei Möglichkeiten gibt. Die Waffe ein letztes Mal zu erheben oder endlich wirklich Hilfe anzunehmen. Er wählt die zweite Möglichkeit und fordert sämtliche Gefallen ein, um einen zeitnahen Termin bei dem renommierten und angesehenen Dr. Sherlock Holmes zu bekommen. (Alternative Universe)
GeschichteSchmerz/Trost, Liebesgeschichte / P12 / MaleSlash
Dr. John Watson
Sherlock Holmes
28.01.2017
20.03.2018
12
39.414
26
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29.06.2017
4.449
Als John Watson die Praxis betritt, wirkt er müder als je zuvor. Tiefe Falten zeichnen sein Gesicht, die Augen sind beinahe stumpf. Er wirkt müder, obwohl er wach ist, denn es scheint, als wäre er des Lebens überdrüssig. Vielleicht ist das der Grund, dass Mary ihn nur kurz sorgenvoll mustert und ihn dann sofort hochschickt.
»Vielleicht hat der Doktor ja schon früher für Sie Zeit«, lässt sie verlauten und winkt ihn durch zur Treppe. Anders jedoch als in den letzten Monaten, geht er ein kleines Stück weiter zum Aufzug, um den sich die Treppe windet. Er ruft den Aufzug, wartet bis die Türen sich öffnen und steigt dann mit hängenden Schultern ein. Tief atmet er aus, schließt seine Augen, und lehnt sich gegen die Wand. Nur fünf Minuten will er, nur fünf Minuten braucht er, doch er bekommt sie nicht.
Die Türen des Aufzugs öffnen sich schon, bevor er noch ganz zu sich gekommen ist. Halb benommen verlässt er den Aufzug und geht auf die Tür zu, hinter der Sherlocks Therapieraum liegt. Erst kurz bevor er die Hand an die Klinke legen kann, wird ihm klar, dass sie nicht ohne Grund zu ist, beziehungsweise angelehnt ist, wie er gerade hört. Laut und deutlich vernimmt er Sherlocks Stimme durch die Tür, glaubt erst, dass er mit einem anderen Patienten spricht, doch etwas in seiner Stimme lässt ihn stocken und stehen bleiben.
»Nein, ich werde es nicht noch einmal versuchen!«, sagt Sherlock und John wartet vergeblich auf eine Antwort aus dem Raum.
»Ich bitte Dich, wir wissen beide, dass Du nur mit mir zusammen warst, weil ich gut verdiene. Das hast Du selbst gesagt!«
Wieder vergeht ein Moment und John wird klar, dass Sherlock telefoniert, denn immerhin antwortet niemand im Raum.
»Ach, das hast Du nie gesagt? Vergiss es einfach! Oder hast Du wirklich geglaubt, dass man im Schlafzimmer nicht hört, wenn Du im Badezimmer telefonierst!? Die Wände sind verdammt dünn!«, speit Sherlock ins Telefon. Ein wenig zuckt John zurück, so hat er seinen Therapeuten noch nie erlebt. Sherlock ist wirklich sauer, so sauer man nur sein kann. Doch wenn John es richtig versteht, spricht Sherlock auch gerade mit seiner Ex, da bleiben die wenigsten wirklich ruhig. Wenn John da nur an seine Expartner denkt, da gleicht es schon einem Wunder, dass Sherlock nicht das ganze Haus zusammen brüllt.
»Nein, ich werde nicht wieder mit Dir ausgehen! Das letzte Mal war schon einmal zu viel.« Sherlock sagt das mit dieser kalten Art, wenn du jemanden nicht anschreien willst und dennoch deinen Hass nicht verbergen kannst.
»Schnapp Dir doch wieder einen Chirurgen und…«, dort bricht der Satz ab, doch John weiß, wie er ausgehen würde. Beinahe wird ihm übel und sofort kann er Sherlock verstehen. Wie kann man dann noch bitte ruhig bleiben? Es gibt nicht mehr viel, an das er glaubt, schon gar nicht nach der letzten Zeit, doch Liebe und Treue gehören für ihn zu allem dazu. Was muss Sherlock nur alles mit dieser Frau erlebt haben? Wie oft muss sie ihn betrogen haben, dass er so sehr aus der Haut fährt.
»Ich werde jetzt auflegen. Ruf mich nie wieder an! Ich wünsche Dir noch ein schönes Leben Victor!«, Sherlocks Stimme ist genauso professionell, als spreche er mit einem Fremden, doch daran kann John gar nicht denken. Seine Gedanken hängen beim letzten Wort, beim letzten Namen. Victor; kein Name für eine Frau. Sollte Sherlock auch…
John Watson kann diesen Gedanken nicht zu Ende denken, denn gegenüber von ihm öffnet sich eine Tür. Prof. Mycroft Holmes, John erkennt ihn auf einen Blick, tritt aus seinem Raum und mustert John unverhohlen. Er, John, muss schwer schlucken, ihm ist klar, wie das aussehen muss, als würde er absichtlich lauschen und seinem eigenen Therapeuten seine Privatsphäre nicht gönnen. John öffnet den Mund, versucht die Vokale und Konsonanten zu Worten zu formen und sich zu rechtfertigen, was seine Zunge verlässt ist… nichts.
Doch im Gegensatz zu ihm, macht Prof. Holmes gar nicht erst den Versuch etwas zu sagen, sondern zieht lediglich die linke Augenbraue gefährlich nah an den Haaransatz. Es ist eine Geste, die auf John Eindruck macht und ihn aus dem Takt bringt. Nur wenige Menschen schaffen es, einen ganzen Satz, eine ganze Frage, nur mit der Augenbraue auszudrücken; und nur wenige können so viel Abscheu alleine mit ihrem Blick ausdrücken.
Der Moment ist vorbei, John schließt den Mund wieder, realisiert, dass es nichts gibt, was diese Situation retten kann und auch Prof. Holmes geht weiter. In seinen Augen liegt noch immer dieselbe Abscheu, um seinen Mund spielt ein Lächeln, das nur so trieft vor Verachtung und Missbilligung. Kalt überläuft John eine Gänsehaut, bevor er es endlich schafft sich abzuwenden.
Lautlos seufzt John auf, mit Prof. Mycroft Holmes hat er es sich definitiv verspielt. Freunde werden sie nicht mehr. Ein Glück, dass er bei seinem Bruder in Behandlung ist und nicht bei ihm selbst. Doch was ist, geht es John durch den Kopf, wenn Prof. Holmes Sherlock davon erzählt. Garantiert bin ich dann unten durch bei ihm. Soll ich es ihm gleich erzählen? Aber nein, das bringe ich auch nicht fertig. Schnell verlässt er seinen Posten, hofft, dass Sherlock ihn nicht doch noch so vor der Tür hockend überrascht. Als würde nicht ein Holmes reichen. Er eilt dem andern Arzt hinterher, sieht noch, wie er im Aufenthaltsraum verschwindet und lässt sich selbst links davon auf eine der vielen Sitzgelegenheiten fallen.
Überraschend weich und bequem sind sie, ganz anders als sie mit ihrem modernen Äußeren wirken. Aber da sieht man es wieder einmal, auch bei Möbeln darf man sich nicht nur auf den äußeren Eindruck verlassen. Genauso wie man wieder einmal sieht, wie gut man sich mit unwichtigsten Dingen ablenken kann, wenn man doch nur an bestimmte Dinge nicht denken will.
Vielleicht sollte er sich einen neuen Therapeuten suchen, denn wenn Sherlock einmal weiß, dass er dieses Gespräch mitangehört hat, was mag er dann von ihm denken? Was würde er, John, von so einem Patienten denken? Nichts Gutes jedenfalls. Er würde solch einen Patienten eventuell noch an einen Kollegen verweisen aber garantiert auf die Straße setzen. Das hier ist das genaue Gegenteil eines Vertrauensbeweises.
Doch all diese Gedanken helfen ihm nicht, sich über etwas anderes hin weg zu täuschen. Es lauert hinter den eigentlichen Gedanken, im Schatten des Unbewussten und ist doch bewusst. Es jault und schreit, es kratzt und beißt, es will sich ihm nur zu gerne aufdrängen und doch weiß John, dass dieser Gedanke hinter den Gedanken für ihn nur böse enden kann. Und mit einem Biss ist alles hin, die Mauer durchbrochen und das Monster auf freiem Fuß.
Es entfacht einen Feuersturm, einen Brand in seinem Kopf und scheint sich ihm in jede Windung brennen zu wollen. Ein Feuer genährt von einer Hoffnung, von der John selbst nichts ahnte. Eine Hoffnung, die nun entfacht wurde und heißer in ihm brennt als Thermit oder Magnesium. Er kann das Monster nicht länger zurückhalten, das Feuer nicht löschen, sodass sich der Gedanke in den Vordergrund schiebt.
Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul.
Dr. Sherlock Holmes steht verdammt noch mal auf Männer du Dummkopf!
Und obwohl John das nun weiß, hilft es ihm doch so gar nicht weiter. Denn zwei Dinge stehen für ihn fest: Er wird nichts mit seinem Therapeuten anfangen, denn das könnte diesen, die Karriere kosten. Dafür sind Sherlocks Talente und sein Wissen zu überragend, außerdem will er niemandes Leben zerstören. Das hat er sich nach Afghanistan geschworen. Das Zweite ist genauso bedeutend, wenn nicht ganz so. Sherlock mag schwul sein, aber deswegen steht er noch lange nicht auf ihn. Scheinbar glauben sein Herz und manche Menschen, dass sobald zwei Männer schwul oder bi seien, sie auch sofort etwas miteinander anfangen müssten.
So geht John hin und nimmt gefühlt kiloweise Sand und versucht die Flammen zu ersticken. Ganz gelingt es ihm nicht, doch das ist nicht schlimm. Er schiebt das Monster mit der Hoffnung zurück in seinen Käfig, mauert das Loch zu und lässt den Gedanken wieder einen Gedanken hinter dem Gedanken sein.
*****
Als Sherlock die Tür öffnet, hat er sich wieder beruhigt. Eigentlich ist er vor zwei Tagen mit Victor nur ausgegangen, um sich selbst vor Augen zu halten, dass eine Beziehung nichts für ihn ist. Gebracht hat es ihm nichts, Victor glaubt, ihn doch noch einmal für sich gewinnen zu können – nach all den Worten, die fielen und all den Dingen, die geschahen – und der Turm wackelt noch immer bedenklich, wenn er an John Watson denkt. Dr. John Watson, der draußen sicher schon auf ihn wartet und den Sherlock grade doch so gar nicht sehen will. Er geht noch einmal kurz in sein kleines Bad, das an sein Büro anschließt, lässt das Wasser kühlend über seine Handgelenke laufen und trinkt einen Schluck kaltes Wasser und tritt dann wieder in sein Behandlungszimmer.
Sherlock öffnet die Tür, entdeckt John Watson direkt auf der großen Couch im Wartebereich und geht zu ihm, um ihn zu begrüßen. Doch je näher er kommt, desto mehr erschreckt ihn Johns Anblick. Die Augen sind blutunterlaufen, die Haut fade und blass. Seine Augen haben jeden Funken Glanz und Lebensfreude verloren. Was auch immer geschehen ist – John hat es nicht verkraftet. Sherlock will seine Hand ausstrecken und ihm über den Kopf streicheln, versuchen, etwas von seinem Leid auf sich zu nehmen und kann es doch nicht tun. John ist ein Patient und nicht sein Freund, ob im romantischen oder platonischen Sinne ist egal in diesem Fall. In gebührendem Abstand bleibt er stehen und räuspert sich dezent um John Watson wieder in die Realität zu führen.
Was auch immer John gerade bedrückt, er kann und wird es während der Sitzung herausfinden. Dafür ist er Arzt geworden, nicht um sich in seine Patienten zu vergucken. So begrüßt er ihn freundlich und geht dann mit ihm zu ihrem Stammplatz im Behandlungsraum. John rechts im Sessel, er links. Zwischen ihnen nur zwei Tassen Tee, eine Vase mit Schnittblume und eine Schlucht voller Geheimnisse und Problemen. Nichts das Sherlock überfordern würde, dann nimmt er halt statt dem Spaten den Bagger, um die Probleme aufzudecken. Allerdings scheint es ihm eher so, als wäre es eher eine große Verzweiflung, die dort begraben liegt, denn einem wirklichen Problem, dass sie behandeln müssen.
So packt Sherlock behutsam die Schaufel aus und beginnt mit vorsichtigen Worten zu graben: »Ich kann es nicht benennen John, aber irgendwas ist mit Ihnen. Irgendetwas beschäftigt Sie, würden Sie es mir erzählen?«
Lange schweigen sie, es ist nicht unangenehm. Es scheint beinahe, als würden sich die Probleme selbst nach oben durchgraben, wie Zombies. Wie nah Sherlock mit diesem Gedanken über wandelnde Tote am Geschehen ist, ahnt er nicht. Wie sollte er auch?
Und mit einem Mal bricht John in Tränen aus. Er weint nicht die dicken schauspielerischen Krokodilstränen, nicht die eine schmerzvolle Träne aus dem Augenwinkel, er weint, wie es nur jemand tut, der wahrhaft Schmerz empfindet. Er weint, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen, als gäbe es nur diesen Moment voller Leid. Die Schleuse hat sich geöffnet und Sherlock ist sich sicher, dass nicht nur Tränenflüssigkeit aus ihm herausströmen wird. Was auch immer passiert ist, gleich wird er es ihm erzählen.
»Ich habe getötet. Das wissen wir beide. Ich weiß, wie man Leben beendet. Auf die medizinische und auf die physische Weise. Ein Messer, ein Gewehr, eine Nadel. Alles kann eine Waffe sein. Aber ich verstehe es einfach nicht«, würgt John hervor. Die Worte fallen aus seinem Mund, so haarig und unangenehm wie ein Haarballen einer Katze.
»Wie kann man es fertig bringen? Wie kann man einen Menschen töten, der einem nichts getan hat?«, fragt John unter Tränen. Sein Gesicht zeigt all das Grauen, das der Krieg auf seiner Seele hinterlassen hat.
»Ich habe so viele Leben genommen. Andere Soldaten, die mich sonst erschossen hätten, böse Menschen! Aber niemals wäre ich auf die Idee gekommen…«, schluchzt John in ein Taschentuch, dass Sherlock mittlerweile aus seiner Brusttasche gezogen hat.
Während John versucht zu sich zu finden, die Fassung wiederzuerlangen, die es eigentlich gar nicht mehr gibt, versteht Sherlock. Er versteht es so gut und kann doch nicht helfen. An dieser Stelle sind auch seine Fähigkeiten am Limit, damit wollte er sich nie wirklich beschäftigen – nicht sein Metier.
»Wenn ein Kind mit einer Sprengstoffweste auf dich zu läuft, gibt es keinen schlimmeren Moment, als den, wenn du oder dein Kamerad den Abzug drückt. Das Geräusch der eintretenden Kugel, das Geschrei der hilflosen Mutter, ein tot zusammenbrechendes Kind. Man vergisst es nie, es frisst sich dir in deinen Geist. Jede Nacht siehst du seine Augen, diesen Blick. ›Ich will dich nicht töten, aber wenn ich es nicht tue, töten sie meinen Bruder, meine Mutter, meine Schwestern!‹ Du weißt, dass du richtig gehandelt hast, aber es lässt dich nie wieder ganz los. Und die machen das freiwillig!«, John schluckt und hustet, weint und schreit. Er tobt und weiß doch, dass es nichts bringt, doch auch in ihm tobt es. Ein großes Unverständnis für die Welt, ein Hass auf die Welt, der ihm Angst macht.
»Wie kann man freiwillig Kinder töten? Unschuldige Kinder, die einem nichts getan haben? Sie wollten verdammt noch mal nur Musik hören und Spaß haben! Warum kann man es ihnen nicht gönnen? Nur weil sie den falschen Glauben haben?«, spuckt John ein letztes Mal aus. Er ist ausgebrannt, er versteht diese Welt einfach nicht mehr. Hat selbst Angst, sie irgendwann einmal zu verstehen. Drei Anschläge seit März, bei einem von ihnen stand er mitten in der ersten Reihe, musste Opfer mit Stichwunden versorgen und nicht drüber nachdenken, wie es dazu kam. Hass, der Gegenhass erzeugt, Gegenhass der Gegenhass erzeugt. Hass erzeugt Gewalt, Gewalt erzeugt Hass. Ein unendlicher Kreislauf, der ihn an der Welt verzweifeln lässt.
Es ist das erste Mal, das Sherlock die Sprache nicht mehr reicht. Dass Gesten und Worte nicht ausdrücken können, was er sagen will, was er denkt. Ich verstehe dich und doch kann ich es nicht ändern. Ich kann dir nicht vorlügen, dass ich weiß, wie es dir dabei ergeht, diese Menschen versorgen zu müssen. Aber ich werde dich nicht allein lassen mit deinen Gedanken. All das steht doch so klar in seinem Geist, noch mehr, wenn er alle Türen öffnet und doch ist es nicht genug.
»Solange Hass auf Hass trifft, solange wird es Menschen geben, die dummes tun. Einst waren es die Katholiken, dann die Evangelen, die Kreuzritter, die IRA, die Stasi, das NS-Regime. Immer wird es Menschen geben, die dumme Dinge tun. Das Einzige, John, das wir tun können, ist ihnen nicht noch mehr Spielraum zu geben. Die Toten zu beerdigen, die Verletzten zu heilen, Kinder davon abzuhalten, das Hassen jemals zu lernen. Aber solange, wie wir das Letzte nicht schaffen, werde ich immer da sein. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass es bald besser wird, aber ich werde Ihnen immer zuhören«, sagt Sherlock nach einer ganzen Weile.
Und die Sitzung endet zwischen Tränen und noch mehr Tränen. Tränen für die Opfer und für die Täter, die ihren Ausweg im Hass suchten. Der scheinbar leichteste Weg ist oftmals der zum größten Leid. Egal, auf welcher Seite man steht.
*****
John war sein letzter Termin für heute, Sherlock ist für diesen Umstand noch nie so dankbar gewesen. Er hat John noch weitere Taschentücher gereicht, versucht die geschundene Seele, irgendwie wieder zu kitten und die Tränen zu trocknen. Zu seinem Unmut muss er gestehen, es nicht vollends geschafft zu haben. Er macht diese Arbeit nicht, um nur etwas zu helfen, sondern um Menschen komplett zu helfen. Ein besseres Leben zu ermöglichen. Wenn nur jeder seine Arbeit richtig ausführen würde, dann würde die ganze Welt schon sehr viel besser aussehen.
Die Seele ist noch immer wund, der Strom aus Tränen nicht geendet. Wohl ist eher das Gegenteil der Fall. Nun wo John ausgesprochen hat, was ihn bedrückt, wird er noch öfter anfangen zu weinen. Viel schlimmer ist für Sherlock, dass er nicht weiß, was er darauf antworten soll. Natürlich kann er seine ganzen Fachbücher hervorholen und die Phrasen auswendig lernen, sich mit den Grundlagen der Notfallpsychologie befassen. Aber ob das etwas bringt? Die Notfallpsychologie ist eine eigene Richtung, in manchen Ländern sogar eine ganze Ausbildung. Wenn er da nur die Grundlagen lernt, hilft John das auch nicht, eher im Gegenteil. Zu viel kann er dann noch falsch machen und die Situation so nur verschlimmern. Auch wenn er ein enormes Wissen hat und sich immer noch weiterbildet, im beruflichen wie bei seinen Hobbys, auch seine geistigen Kapazitäten sind endlich, eine weitere komplette Ausbildung, kann und will er nicht unterbringen. Jetzt allerdings stattdessen irgendwelche Phrasen auswendig zu lernen und sie einfach nur herunterzubrechen, wenn es die Situation erlaubt… Sherlock zweifelt keine Sekunde, dass John es merken würde, wenn er auch nur ein Wort aufsagen – nicht ehrlich meinen – würde.
Ehrlichkeit hat er noch im Januar bei ihrem Kennenlern-Gespräch von John verlangt, da kann er sie ihm nun nicht verwehren. Ehrlichkeit ist ein Grundpfeiler einer erfolgreichen Therapie. Ist John nicht ehrlich zu ihm, Sherlock, bringt es sie nicht weiter, dann treten sie auf der Stelle oder arbeiten an der falschen Sache. Ist er, Sherlock, nicht ehrlich zu John, wird John zu Recht mit Ablehnung reagieren. Ablehnung ist eine der Todsünden in der Therapie. Also wird er einfach weiter ehrlich sein und John auch weiterhin versuchen zu helfen, wie sehr ihn die Anschläge selbst bewegen.
Natürlich lässt ihn diese Serie von Anschlägen ganz und gar nicht kalt, nur zeigt er es nicht in brennenden Kerzen, schönen Worten und Blumensträußen. Er zeigt es, indem er die Anrufe seiner Eltern aus Crawley nicht einfach wegdrückt, in dem er mit großer Ruhe seiner weinenden Mutter erklärt, dass Mycroft und er nicht einmal in der Nähe waren. Er zeigt es jedes Mal, wenn er von sich aus an einen Tatort eilt. Wenn er sich mit den Fußsoldaten Mycrofts trifft, wenn er Sally und Anderson gegenüber nicht patzig wird, sondern effektiv mit ihnen zusammenarbeitet. Doch es ändert nichts, egal ob er Psychiater ist, egal ob er offizieller Berater ist, egal ob er die besten Ergebnisse liefert – für manche bleibt er einfach nur ein Freak. In seiner eigentlichen Wohnung, nicht seiner Unterkunft hier unter dem Dach, zieren die Anschläge eine ganze Wand. Infos zum IS, zu anderen islamistischen Organisationen, rechtsradikale Zellen aus ganz Europa, Fakten zu den Tatorten. Freunde, Obdachlose und ehemalige Patienten, halten die Augen und Ohren offen, beobachten, ob die Ratten das sinkende Schiff verlassen.
Sherlock zwingt sich mit einem Kopfschütteln selbst, endlich diese Gedanken fallen zu lassen. Erst muss noch die Nachbearbeitung der Sitzung stattfinden, die letzte Stunde protokolliert werden, die nächste geplant werden.
Er dreht sich noch einmal zur Tür, schließt sie vernehmlich – ein Zeichen zwischen ihm und Mycroft. Ist die Tür offen, kann jeder hineinkommen, ist sie angelehnt, klopft sein Bruder an, ist sie geschlossen, will Sherlock nicht gestört werden. Alle haben es verstanden, Mycroft genauso wie Anthea, nur Mary scheint es nicht zu verstehen, regelmäßig platzt sie rein. Sherlock wird sie wohl oder übel im Auge behalten müssen.
Bevor er sich schließlich den Arbeiten an Johns Akte und den Tonbändern widmen kann, wird Sherlock etwas erschreckend klar. Beinahe, aber nur beinahe, muss er den Terroristen dankbar sein für die Anschläge. Damit haben sie etwas geschafft, wozu er selbst nicht in der Lage war. Der Turm in seinem Inneren, die ganze Fixierung auf John, wackelt nicht mehr. Kein Blick und auch kein Schubs können seine Einstellung noch ins Wackeln bringen. Wo selbst sein Treffen gestern mit Victor nicht die gewünschte Stabilität gebracht hat, haben es mutwillige Morde geschafft. Endlich sieht sein Herz, was sein Kopf ihm schon seit Wochen vorbetet.
John Watson ist ein Patient und Patienten sind tabu. Gut, sein Herz empfindet John nicht wegen des hippokratischen Eides als tabu, aber es ist ein Anfang. Er muss seine eigenen Gefühle zurückstellen, um John nicht mehr zu schaden, als er helfen würde. In John ist noch immer so einiges kaputt, auch wenn es nicht immer so aussieht. Er wird seine Bedürfnisse nicht über Johns stellen.
Nach diesen Gedanken schlägt Sherlock die Mappe auf, legt sie neben den Laptop und stöpselt seine Kopfhörer in das Tonbandgerät. Natürlich weiß er was gesprochen wurde, erinnert sich noch an jedes Stückchen Mimik Johns, aber vielleicht ist ihm der ein oder andere Ton doch entgangen – auch wenn das nur äußerst selten passiert. Konzentriert fasst er die aktuelle Sitzung zusammen, führt aus, was geschehen ist und was er sich für die nächsten Sitzungen noch vorstellen könnte. Vielleicht geht er nächstes Mal doch wieder mit John in den Garten, das hat John letztens ja auch sehr gutgetan. Und auch ihm ist die frische Luft lieber.
Als er seine Arbeit am Laptop beendet hat, speichert er den Bericht noch in Johns elektronischer Akte und druckt ihn für die aus Papier aus. Schnell sind auch die Blätter gelocht und abgeheftet, bevor er sie im Ablagekorb auf seinem Schreibtisch deponiert. Sherlock öffnet noch schnell den Aktenschrank und nimmt alle anderen Akten zur Hand, die er heute gebraucht hat, legt Johns oben drauf und begibt sich dann hinunter ins Erdgeschoss um sie zurück ins Archiv zu stellen.
Sherlock legt sie nur auf einen bereitstehenden Tisch nahe der Tür und verlässt das Archiv dann wieder. Wenn Mary morgen früh die nächsten Akten raussuchen wird, wird sie die von heute direkt einsortieren. Aktuell kann Sherlock sich nicht auch noch darum kümmern, er ist einfach nur noch müde. So eine Sitzung ist auch für ihn Anstrengung, natürlich hat er es in seinem Büro bequem, hört sich Sorgen und Nöte seiner Patienten in einer vertrauten Umgebung an und dennoch… Es ist kein Hobby, sondern Arbeit.
Mit zügigen Schritten nimmt er die Treppe nach oben in den ersten Stock und steigt dann weiter hoch in den ausgebauten Dachboden. Stöhnend betritt er seine eigenen vier Wände, tauscht den typischen Anzug gegen eine weite Leinenhose und ein übergroßes dunkelblaues Hemd. Aus dem Schreibtisch im Arbeitszimmer, das mehr an eine chaotische Bibliothek erinnert, nimmt er sich noch ein Nikotinpflaster und verlässt seine Dachbodenhälfte dann um die gemeinsame Wohnküche auf zu suchen. Nach diesem Tag möchte er nur noch die süße Entspannung des Nikotins bei einer Tasse Tee und einigen Ingwerkeksen genießen.
Wie es nach einem langen Tag üblich ist, findet er die Küche natürlich nicht verwaist vor. Mycroft sitzt am Esstisch und stochert lustlos in seinem Salat, während er noch lustloser den grünen Tee im Auge behält. Natürlich, fällt es Sherlock wieder ein, Mycroft versucht sich gerade wieder an einer neuen Diät.
Wie es seine Art ist, ignoriert er seinen Bruder einfach und gießt sich mit dem restlichen heißen Wasser einen Schwarztee auf. Den Tee nehmen sie schweigend zu sich und lassen noch einmal den Tag Revue passieren.
»Ich habe heute deinen Patienten getroffen«, erklärt Mycroft, als er sich erinnert. Schon den ganzen Abend wollte er mit Sherlock darüber sprechen, doch immer ist ihm etwas dazwischen gekommen. Entweder war Sherlocks Tür geschlossen, oder er, Mycroft, selbst verhindert.
»Welchen?«, fragt Sherlock knapp.
»John Watson. Er stand vor deiner Tür und hat gelauscht. Ich glaube, er sollte sich besser einen neuen Therapeuten suchen. Wir können bei unserer derzeitigen Lage niemanden gebrauchen, der bei uns spioniert.«
Sherlock sagt nichts dazu, es gibt nichts zu sagen. Er hat zur Kenntnis genommen, was Mycroft gesagt hat, aber er wird daraus noch keine Konsequenzen ziehen. Eine natürlich Neugier liegt in jedem Menschen begründet und John Watson erscheint ihm noch immer als grundehrlicher Mann. Er wird morgen über eventuelle Konsequenzen nachdenken, aber vermutlich wird er nichts dazu sagen. Sollte es jedoch noch einmal vorkommen…
»Ich sehe schon, du wirst nichts in der Richtung unternehmen. Deine Entscheidung, aber sollte ich weitere Gründe zur Beunruhigung finden, werde ich gezwungen sein, selbst zu handeln. Im Übrigen wirkte er etwas verstört, als habe er dadurch etwas erfahren, womit er nicht gerechnet hat.«
Victor, es war sein Gespräch mit Victor. Nicht doch, kann es sein, dass John Watson nichts von seiner Neigung geahnt hat? Gut, er geht damit auch nicht hausieren. Er erzählt anderen doch auch nicht, was er mittags gegessen hat.
Sofort schlägt Sherlocks Herz schneller bei dem Gedanken, dass John nun weiß, dass er ebenfalls Gefallen an Männern findet. Es beginnt die altbekannte Hoffnung wieder zu nähren und außer Acht zu lassen, dass es schlicht verboten ist.
Er trinkt noch den letzten Schluck Tee, stellt die Tasse in die Spülmaschine und genießt eine schnelle Dusche, bevor er todmüde ins Bett fällt; und doch nicht schlafen kann. Seine Gedanken kreisen, sie kreisen um John Watson und die Möglichkeiten, die sich damit eröffnen, dass nun seine Sexualität bekannt ist.
Sei doch still du törichtes Herz, denkt Sherlock. Nur weil er an Männern interessiert ist und ich es auch bin, sind wir noch lange nicht für einander geeignet. Das ändert sich auch nicht dadurch, dass er es nun weiß! Aber es ist auch egal, ich bin und bleibe verdammt noch mal sein Arzt und du hast heute selbst gesehen, dass er mich braucht. Als Arzt, nicht als Liebhaber.
Kurz bevor er dann doch endlich einschläft, wandern seine Gedanken noch einmal zum anderen Arzt. Leise murmelnd erinnert er sich selbst an sein Versprechen und schwört es zu halten, wenn es nur irgend geht.
»Solange Hass auf Hass trifft, solange wird es Menschen geben, die dummes tun. Einst waren es die Katholiken, dann die Evangelen, die Kreuzritter, die IRA, die Stasi, das NS-Regime. Immer wird es Menschen geben, die dumme Dinge tun. Das einzige John, das wir tun können, ist Ihnen nicht noch mehr Spielraum zu geben. Die Toten zu beerdigen, die Verletzten zu heilen, Kinder davon abzuhalten das Hassen jemals zu lernen. Aber solange, wie wir das Letzte nicht schaffen, werde ich immer da sein. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass es bald besser wird, aber ich werde Ihnen immer zuhören.«
Ich werde immer für Dich da sein und Dir helfen, wo ich nur kann. Ich werde Dich beschützen und Dir zuhören, auch wenn es sonst niemand mehr will. Ich lasse Dich nicht allein!
Die Worte schreiben sich wie von selbst in Sherlocks Kopf, in sein Herz, in seine Seele. Sie hallen noch im Schlaf in ihm nach und verankern sich zu einem Schwur, den er halten wird, solange er lebt. Dafür wird er sorgen. Er darf ihn nicht lieben, darf nicht zeigen, wie viel er ihm bedeutet, aber er kann aus dem Dunkeln heraus über ihn wachen. Er kann und er wird, solange er unter den Lebenden weilt!
Nach diesem Schwur wackelt der Turm nicht mehr, seinem Herzen reicht es aus, für John da zu sein; als Arzt und als Freund. Vorerst.
»Vielleicht hat der Doktor ja schon früher für Sie Zeit«, lässt sie verlauten und winkt ihn durch zur Treppe. Anders jedoch als in den letzten Monaten, geht er ein kleines Stück weiter zum Aufzug, um den sich die Treppe windet. Er ruft den Aufzug, wartet bis die Türen sich öffnen und steigt dann mit hängenden Schultern ein. Tief atmet er aus, schließt seine Augen, und lehnt sich gegen die Wand. Nur fünf Minuten will er, nur fünf Minuten braucht er, doch er bekommt sie nicht.
Die Türen des Aufzugs öffnen sich schon, bevor er noch ganz zu sich gekommen ist. Halb benommen verlässt er den Aufzug und geht auf die Tür zu, hinter der Sherlocks Therapieraum liegt. Erst kurz bevor er die Hand an die Klinke legen kann, wird ihm klar, dass sie nicht ohne Grund zu ist, beziehungsweise angelehnt ist, wie er gerade hört. Laut und deutlich vernimmt er Sherlocks Stimme durch die Tür, glaubt erst, dass er mit einem anderen Patienten spricht, doch etwas in seiner Stimme lässt ihn stocken und stehen bleiben.
»Nein, ich werde es nicht noch einmal versuchen!«, sagt Sherlock und John wartet vergeblich auf eine Antwort aus dem Raum.
»Ich bitte Dich, wir wissen beide, dass Du nur mit mir zusammen warst, weil ich gut verdiene. Das hast Du selbst gesagt!«
Wieder vergeht ein Moment und John wird klar, dass Sherlock telefoniert, denn immerhin antwortet niemand im Raum.
»Ach, das hast Du nie gesagt? Vergiss es einfach! Oder hast Du wirklich geglaubt, dass man im Schlafzimmer nicht hört, wenn Du im Badezimmer telefonierst!? Die Wände sind verdammt dünn!«, speit Sherlock ins Telefon. Ein wenig zuckt John zurück, so hat er seinen Therapeuten noch nie erlebt. Sherlock ist wirklich sauer, so sauer man nur sein kann. Doch wenn John es richtig versteht, spricht Sherlock auch gerade mit seiner Ex, da bleiben die wenigsten wirklich ruhig. Wenn John da nur an seine Expartner denkt, da gleicht es schon einem Wunder, dass Sherlock nicht das ganze Haus zusammen brüllt.
»Nein, ich werde nicht wieder mit Dir ausgehen! Das letzte Mal war schon einmal zu viel.« Sherlock sagt das mit dieser kalten Art, wenn du jemanden nicht anschreien willst und dennoch deinen Hass nicht verbergen kannst.
»Schnapp Dir doch wieder einen Chirurgen und…«, dort bricht der Satz ab, doch John weiß, wie er ausgehen würde. Beinahe wird ihm übel und sofort kann er Sherlock verstehen. Wie kann man dann noch bitte ruhig bleiben? Es gibt nicht mehr viel, an das er glaubt, schon gar nicht nach der letzten Zeit, doch Liebe und Treue gehören für ihn zu allem dazu. Was muss Sherlock nur alles mit dieser Frau erlebt haben? Wie oft muss sie ihn betrogen haben, dass er so sehr aus der Haut fährt.
»Ich werde jetzt auflegen. Ruf mich nie wieder an! Ich wünsche Dir noch ein schönes Leben Victor!«, Sherlocks Stimme ist genauso professionell, als spreche er mit einem Fremden, doch daran kann John gar nicht denken. Seine Gedanken hängen beim letzten Wort, beim letzten Namen. Victor; kein Name für eine Frau. Sollte Sherlock auch…
John Watson kann diesen Gedanken nicht zu Ende denken, denn gegenüber von ihm öffnet sich eine Tür. Prof. Mycroft Holmes, John erkennt ihn auf einen Blick, tritt aus seinem Raum und mustert John unverhohlen. Er, John, muss schwer schlucken, ihm ist klar, wie das aussehen muss, als würde er absichtlich lauschen und seinem eigenen Therapeuten seine Privatsphäre nicht gönnen. John öffnet den Mund, versucht die Vokale und Konsonanten zu Worten zu formen und sich zu rechtfertigen, was seine Zunge verlässt ist… nichts.
Doch im Gegensatz zu ihm, macht Prof. Holmes gar nicht erst den Versuch etwas zu sagen, sondern zieht lediglich die linke Augenbraue gefährlich nah an den Haaransatz. Es ist eine Geste, die auf John Eindruck macht und ihn aus dem Takt bringt. Nur wenige Menschen schaffen es, einen ganzen Satz, eine ganze Frage, nur mit der Augenbraue auszudrücken; und nur wenige können so viel Abscheu alleine mit ihrem Blick ausdrücken.
Der Moment ist vorbei, John schließt den Mund wieder, realisiert, dass es nichts gibt, was diese Situation retten kann und auch Prof. Holmes geht weiter. In seinen Augen liegt noch immer dieselbe Abscheu, um seinen Mund spielt ein Lächeln, das nur so trieft vor Verachtung und Missbilligung. Kalt überläuft John eine Gänsehaut, bevor er es endlich schafft sich abzuwenden.
Lautlos seufzt John auf, mit Prof. Mycroft Holmes hat er es sich definitiv verspielt. Freunde werden sie nicht mehr. Ein Glück, dass er bei seinem Bruder in Behandlung ist und nicht bei ihm selbst. Doch was ist, geht es John durch den Kopf, wenn Prof. Holmes Sherlock davon erzählt. Garantiert bin ich dann unten durch bei ihm. Soll ich es ihm gleich erzählen? Aber nein, das bringe ich auch nicht fertig. Schnell verlässt er seinen Posten, hofft, dass Sherlock ihn nicht doch noch so vor der Tür hockend überrascht. Als würde nicht ein Holmes reichen. Er eilt dem andern Arzt hinterher, sieht noch, wie er im Aufenthaltsraum verschwindet und lässt sich selbst links davon auf eine der vielen Sitzgelegenheiten fallen.
Überraschend weich und bequem sind sie, ganz anders als sie mit ihrem modernen Äußeren wirken. Aber da sieht man es wieder einmal, auch bei Möbeln darf man sich nicht nur auf den äußeren Eindruck verlassen. Genauso wie man wieder einmal sieht, wie gut man sich mit unwichtigsten Dingen ablenken kann, wenn man doch nur an bestimmte Dinge nicht denken will.
Vielleicht sollte er sich einen neuen Therapeuten suchen, denn wenn Sherlock einmal weiß, dass er dieses Gespräch mitangehört hat, was mag er dann von ihm denken? Was würde er, John, von so einem Patienten denken? Nichts Gutes jedenfalls. Er würde solch einen Patienten eventuell noch an einen Kollegen verweisen aber garantiert auf die Straße setzen. Das hier ist das genaue Gegenteil eines Vertrauensbeweises.
Doch all diese Gedanken helfen ihm nicht, sich über etwas anderes hin weg zu täuschen. Es lauert hinter den eigentlichen Gedanken, im Schatten des Unbewussten und ist doch bewusst. Es jault und schreit, es kratzt und beißt, es will sich ihm nur zu gerne aufdrängen und doch weiß John, dass dieser Gedanke hinter den Gedanken für ihn nur böse enden kann. Und mit einem Biss ist alles hin, die Mauer durchbrochen und das Monster auf freiem Fuß.
Es entfacht einen Feuersturm, einen Brand in seinem Kopf und scheint sich ihm in jede Windung brennen zu wollen. Ein Feuer genährt von einer Hoffnung, von der John selbst nichts ahnte. Eine Hoffnung, die nun entfacht wurde und heißer in ihm brennt als Thermit oder Magnesium. Er kann das Monster nicht länger zurückhalten, das Feuer nicht löschen, sodass sich der Gedanke in den Vordergrund schiebt.
Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul. Sherlock ist schwul.
Dr. Sherlock Holmes steht verdammt noch mal auf Männer du Dummkopf!
Und obwohl John das nun weiß, hilft es ihm doch so gar nicht weiter. Denn zwei Dinge stehen für ihn fest: Er wird nichts mit seinem Therapeuten anfangen, denn das könnte diesen, die Karriere kosten. Dafür sind Sherlocks Talente und sein Wissen zu überragend, außerdem will er niemandes Leben zerstören. Das hat er sich nach Afghanistan geschworen. Das Zweite ist genauso bedeutend, wenn nicht ganz so. Sherlock mag schwul sein, aber deswegen steht er noch lange nicht auf ihn. Scheinbar glauben sein Herz und manche Menschen, dass sobald zwei Männer schwul oder bi seien, sie auch sofort etwas miteinander anfangen müssten.
So geht John hin und nimmt gefühlt kiloweise Sand und versucht die Flammen zu ersticken. Ganz gelingt es ihm nicht, doch das ist nicht schlimm. Er schiebt das Monster mit der Hoffnung zurück in seinen Käfig, mauert das Loch zu und lässt den Gedanken wieder einen Gedanken hinter dem Gedanken sein.
*****
Als Sherlock die Tür öffnet, hat er sich wieder beruhigt. Eigentlich ist er vor zwei Tagen mit Victor nur ausgegangen, um sich selbst vor Augen zu halten, dass eine Beziehung nichts für ihn ist. Gebracht hat es ihm nichts, Victor glaubt, ihn doch noch einmal für sich gewinnen zu können – nach all den Worten, die fielen und all den Dingen, die geschahen – und der Turm wackelt noch immer bedenklich, wenn er an John Watson denkt. Dr. John Watson, der draußen sicher schon auf ihn wartet und den Sherlock grade doch so gar nicht sehen will. Er geht noch einmal kurz in sein kleines Bad, das an sein Büro anschließt, lässt das Wasser kühlend über seine Handgelenke laufen und trinkt einen Schluck kaltes Wasser und tritt dann wieder in sein Behandlungszimmer.
Sherlock öffnet die Tür, entdeckt John Watson direkt auf der großen Couch im Wartebereich und geht zu ihm, um ihn zu begrüßen. Doch je näher er kommt, desto mehr erschreckt ihn Johns Anblick. Die Augen sind blutunterlaufen, die Haut fade und blass. Seine Augen haben jeden Funken Glanz und Lebensfreude verloren. Was auch immer geschehen ist – John hat es nicht verkraftet. Sherlock will seine Hand ausstrecken und ihm über den Kopf streicheln, versuchen, etwas von seinem Leid auf sich zu nehmen und kann es doch nicht tun. John ist ein Patient und nicht sein Freund, ob im romantischen oder platonischen Sinne ist egal in diesem Fall. In gebührendem Abstand bleibt er stehen und räuspert sich dezent um John Watson wieder in die Realität zu führen.
Was auch immer John gerade bedrückt, er kann und wird es während der Sitzung herausfinden. Dafür ist er Arzt geworden, nicht um sich in seine Patienten zu vergucken. So begrüßt er ihn freundlich und geht dann mit ihm zu ihrem Stammplatz im Behandlungsraum. John rechts im Sessel, er links. Zwischen ihnen nur zwei Tassen Tee, eine Vase mit Schnittblume und eine Schlucht voller Geheimnisse und Problemen. Nichts das Sherlock überfordern würde, dann nimmt er halt statt dem Spaten den Bagger, um die Probleme aufzudecken. Allerdings scheint es ihm eher so, als wäre es eher eine große Verzweiflung, die dort begraben liegt, denn einem wirklichen Problem, dass sie behandeln müssen.
So packt Sherlock behutsam die Schaufel aus und beginnt mit vorsichtigen Worten zu graben: »Ich kann es nicht benennen John, aber irgendwas ist mit Ihnen. Irgendetwas beschäftigt Sie, würden Sie es mir erzählen?«
Lange schweigen sie, es ist nicht unangenehm. Es scheint beinahe, als würden sich die Probleme selbst nach oben durchgraben, wie Zombies. Wie nah Sherlock mit diesem Gedanken über wandelnde Tote am Geschehen ist, ahnt er nicht. Wie sollte er auch?
Und mit einem Mal bricht John in Tränen aus. Er weint nicht die dicken schauspielerischen Krokodilstränen, nicht die eine schmerzvolle Träne aus dem Augenwinkel, er weint, wie es nur jemand tut, der wahrhaft Schmerz empfindet. Er weint, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen, als gäbe es nur diesen Moment voller Leid. Die Schleuse hat sich geöffnet und Sherlock ist sich sicher, dass nicht nur Tränenflüssigkeit aus ihm herausströmen wird. Was auch immer passiert ist, gleich wird er es ihm erzählen.
»Ich habe getötet. Das wissen wir beide. Ich weiß, wie man Leben beendet. Auf die medizinische und auf die physische Weise. Ein Messer, ein Gewehr, eine Nadel. Alles kann eine Waffe sein. Aber ich verstehe es einfach nicht«, würgt John hervor. Die Worte fallen aus seinem Mund, so haarig und unangenehm wie ein Haarballen einer Katze.
»Wie kann man es fertig bringen? Wie kann man einen Menschen töten, der einem nichts getan hat?«, fragt John unter Tränen. Sein Gesicht zeigt all das Grauen, das der Krieg auf seiner Seele hinterlassen hat.
»Ich habe so viele Leben genommen. Andere Soldaten, die mich sonst erschossen hätten, böse Menschen! Aber niemals wäre ich auf die Idee gekommen…«, schluchzt John in ein Taschentuch, dass Sherlock mittlerweile aus seiner Brusttasche gezogen hat.
Während John versucht zu sich zu finden, die Fassung wiederzuerlangen, die es eigentlich gar nicht mehr gibt, versteht Sherlock. Er versteht es so gut und kann doch nicht helfen. An dieser Stelle sind auch seine Fähigkeiten am Limit, damit wollte er sich nie wirklich beschäftigen – nicht sein Metier.
»Wenn ein Kind mit einer Sprengstoffweste auf dich zu läuft, gibt es keinen schlimmeren Moment, als den, wenn du oder dein Kamerad den Abzug drückt. Das Geräusch der eintretenden Kugel, das Geschrei der hilflosen Mutter, ein tot zusammenbrechendes Kind. Man vergisst es nie, es frisst sich dir in deinen Geist. Jede Nacht siehst du seine Augen, diesen Blick. ›Ich will dich nicht töten, aber wenn ich es nicht tue, töten sie meinen Bruder, meine Mutter, meine Schwestern!‹ Du weißt, dass du richtig gehandelt hast, aber es lässt dich nie wieder ganz los. Und die machen das freiwillig!«, John schluckt und hustet, weint und schreit. Er tobt und weiß doch, dass es nichts bringt, doch auch in ihm tobt es. Ein großes Unverständnis für die Welt, ein Hass auf die Welt, der ihm Angst macht.
»Wie kann man freiwillig Kinder töten? Unschuldige Kinder, die einem nichts getan haben? Sie wollten verdammt noch mal nur Musik hören und Spaß haben! Warum kann man es ihnen nicht gönnen? Nur weil sie den falschen Glauben haben?«, spuckt John ein letztes Mal aus. Er ist ausgebrannt, er versteht diese Welt einfach nicht mehr. Hat selbst Angst, sie irgendwann einmal zu verstehen. Drei Anschläge seit März, bei einem von ihnen stand er mitten in der ersten Reihe, musste Opfer mit Stichwunden versorgen und nicht drüber nachdenken, wie es dazu kam. Hass, der Gegenhass erzeugt, Gegenhass der Gegenhass erzeugt. Hass erzeugt Gewalt, Gewalt erzeugt Hass. Ein unendlicher Kreislauf, der ihn an der Welt verzweifeln lässt.
Es ist das erste Mal, das Sherlock die Sprache nicht mehr reicht. Dass Gesten und Worte nicht ausdrücken können, was er sagen will, was er denkt. Ich verstehe dich und doch kann ich es nicht ändern. Ich kann dir nicht vorlügen, dass ich weiß, wie es dir dabei ergeht, diese Menschen versorgen zu müssen. Aber ich werde dich nicht allein lassen mit deinen Gedanken. All das steht doch so klar in seinem Geist, noch mehr, wenn er alle Türen öffnet und doch ist es nicht genug.
»Solange Hass auf Hass trifft, solange wird es Menschen geben, die dummes tun. Einst waren es die Katholiken, dann die Evangelen, die Kreuzritter, die IRA, die Stasi, das NS-Regime. Immer wird es Menschen geben, die dumme Dinge tun. Das Einzige, John, das wir tun können, ist ihnen nicht noch mehr Spielraum zu geben. Die Toten zu beerdigen, die Verletzten zu heilen, Kinder davon abzuhalten, das Hassen jemals zu lernen. Aber solange, wie wir das Letzte nicht schaffen, werde ich immer da sein. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass es bald besser wird, aber ich werde Ihnen immer zuhören«, sagt Sherlock nach einer ganzen Weile.
Und die Sitzung endet zwischen Tränen und noch mehr Tränen. Tränen für die Opfer und für die Täter, die ihren Ausweg im Hass suchten. Der scheinbar leichteste Weg ist oftmals der zum größten Leid. Egal, auf welcher Seite man steht.
*****
John war sein letzter Termin für heute, Sherlock ist für diesen Umstand noch nie so dankbar gewesen. Er hat John noch weitere Taschentücher gereicht, versucht die geschundene Seele, irgendwie wieder zu kitten und die Tränen zu trocknen. Zu seinem Unmut muss er gestehen, es nicht vollends geschafft zu haben. Er macht diese Arbeit nicht, um nur etwas zu helfen, sondern um Menschen komplett zu helfen. Ein besseres Leben zu ermöglichen. Wenn nur jeder seine Arbeit richtig ausführen würde, dann würde die ganze Welt schon sehr viel besser aussehen.
Die Seele ist noch immer wund, der Strom aus Tränen nicht geendet. Wohl ist eher das Gegenteil der Fall. Nun wo John ausgesprochen hat, was ihn bedrückt, wird er noch öfter anfangen zu weinen. Viel schlimmer ist für Sherlock, dass er nicht weiß, was er darauf antworten soll. Natürlich kann er seine ganzen Fachbücher hervorholen und die Phrasen auswendig lernen, sich mit den Grundlagen der Notfallpsychologie befassen. Aber ob das etwas bringt? Die Notfallpsychologie ist eine eigene Richtung, in manchen Ländern sogar eine ganze Ausbildung. Wenn er da nur die Grundlagen lernt, hilft John das auch nicht, eher im Gegenteil. Zu viel kann er dann noch falsch machen und die Situation so nur verschlimmern. Auch wenn er ein enormes Wissen hat und sich immer noch weiterbildet, im beruflichen wie bei seinen Hobbys, auch seine geistigen Kapazitäten sind endlich, eine weitere komplette Ausbildung, kann und will er nicht unterbringen. Jetzt allerdings stattdessen irgendwelche Phrasen auswendig zu lernen und sie einfach nur herunterzubrechen, wenn es die Situation erlaubt… Sherlock zweifelt keine Sekunde, dass John es merken würde, wenn er auch nur ein Wort aufsagen – nicht ehrlich meinen – würde.
Ehrlichkeit hat er noch im Januar bei ihrem Kennenlern-Gespräch von John verlangt, da kann er sie ihm nun nicht verwehren. Ehrlichkeit ist ein Grundpfeiler einer erfolgreichen Therapie. Ist John nicht ehrlich zu ihm, Sherlock, bringt es sie nicht weiter, dann treten sie auf der Stelle oder arbeiten an der falschen Sache. Ist er, Sherlock, nicht ehrlich zu John, wird John zu Recht mit Ablehnung reagieren. Ablehnung ist eine der Todsünden in der Therapie. Also wird er einfach weiter ehrlich sein und John auch weiterhin versuchen zu helfen, wie sehr ihn die Anschläge selbst bewegen.
Natürlich lässt ihn diese Serie von Anschlägen ganz und gar nicht kalt, nur zeigt er es nicht in brennenden Kerzen, schönen Worten und Blumensträußen. Er zeigt es, indem er die Anrufe seiner Eltern aus Crawley nicht einfach wegdrückt, in dem er mit großer Ruhe seiner weinenden Mutter erklärt, dass Mycroft und er nicht einmal in der Nähe waren. Er zeigt es jedes Mal, wenn er von sich aus an einen Tatort eilt. Wenn er sich mit den Fußsoldaten Mycrofts trifft, wenn er Sally und Anderson gegenüber nicht patzig wird, sondern effektiv mit ihnen zusammenarbeitet. Doch es ändert nichts, egal ob er Psychiater ist, egal ob er offizieller Berater ist, egal ob er die besten Ergebnisse liefert – für manche bleibt er einfach nur ein Freak. In seiner eigentlichen Wohnung, nicht seiner Unterkunft hier unter dem Dach, zieren die Anschläge eine ganze Wand. Infos zum IS, zu anderen islamistischen Organisationen, rechtsradikale Zellen aus ganz Europa, Fakten zu den Tatorten. Freunde, Obdachlose und ehemalige Patienten, halten die Augen und Ohren offen, beobachten, ob die Ratten das sinkende Schiff verlassen.
Sherlock zwingt sich mit einem Kopfschütteln selbst, endlich diese Gedanken fallen zu lassen. Erst muss noch die Nachbearbeitung der Sitzung stattfinden, die letzte Stunde protokolliert werden, die nächste geplant werden.
Er dreht sich noch einmal zur Tür, schließt sie vernehmlich – ein Zeichen zwischen ihm und Mycroft. Ist die Tür offen, kann jeder hineinkommen, ist sie angelehnt, klopft sein Bruder an, ist sie geschlossen, will Sherlock nicht gestört werden. Alle haben es verstanden, Mycroft genauso wie Anthea, nur Mary scheint es nicht zu verstehen, regelmäßig platzt sie rein. Sherlock wird sie wohl oder übel im Auge behalten müssen.
Bevor er sich schließlich den Arbeiten an Johns Akte und den Tonbändern widmen kann, wird Sherlock etwas erschreckend klar. Beinahe, aber nur beinahe, muss er den Terroristen dankbar sein für die Anschläge. Damit haben sie etwas geschafft, wozu er selbst nicht in der Lage war. Der Turm in seinem Inneren, die ganze Fixierung auf John, wackelt nicht mehr. Kein Blick und auch kein Schubs können seine Einstellung noch ins Wackeln bringen. Wo selbst sein Treffen gestern mit Victor nicht die gewünschte Stabilität gebracht hat, haben es mutwillige Morde geschafft. Endlich sieht sein Herz, was sein Kopf ihm schon seit Wochen vorbetet.
John Watson ist ein Patient und Patienten sind tabu. Gut, sein Herz empfindet John nicht wegen des hippokratischen Eides als tabu, aber es ist ein Anfang. Er muss seine eigenen Gefühle zurückstellen, um John nicht mehr zu schaden, als er helfen würde. In John ist noch immer so einiges kaputt, auch wenn es nicht immer so aussieht. Er wird seine Bedürfnisse nicht über Johns stellen.
Nach diesen Gedanken schlägt Sherlock die Mappe auf, legt sie neben den Laptop und stöpselt seine Kopfhörer in das Tonbandgerät. Natürlich weiß er was gesprochen wurde, erinnert sich noch an jedes Stückchen Mimik Johns, aber vielleicht ist ihm der ein oder andere Ton doch entgangen – auch wenn das nur äußerst selten passiert. Konzentriert fasst er die aktuelle Sitzung zusammen, führt aus, was geschehen ist und was er sich für die nächsten Sitzungen noch vorstellen könnte. Vielleicht geht er nächstes Mal doch wieder mit John in den Garten, das hat John letztens ja auch sehr gutgetan. Und auch ihm ist die frische Luft lieber.
Als er seine Arbeit am Laptop beendet hat, speichert er den Bericht noch in Johns elektronischer Akte und druckt ihn für die aus Papier aus. Schnell sind auch die Blätter gelocht und abgeheftet, bevor er sie im Ablagekorb auf seinem Schreibtisch deponiert. Sherlock öffnet noch schnell den Aktenschrank und nimmt alle anderen Akten zur Hand, die er heute gebraucht hat, legt Johns oben drauf und begibt sich dann hinunter ins Erdgeschoss um sie zurück ins Archiv zu stellen.
Sherlock legt sie nur auf einen bereitstehenden Tisch nahe der Tür und verlässt das Archiv dann wieder. Wenn Mary morgen früh die nächsten Akten raussuchen wird, wird sie die von heute direkt einsortieren. Aktuell kann Sherlock sich nicht auch noch darum kümmern, er ist einfach nur noch müde. So eine Sitzung ist auch für ihn Anstrengung, natürlich hat er es in seinem Büro bequem, hört sich Sorgen und Nöte seiner Patienten in einer vertrauten Umgebung an und dennoch… Es ist kein Hobby, sondern Arbeit.
Mit zügigen Schritten nimmt er die Treppe nach oben in den ersten Stock und steigt dann weiter hoch in den ausgebauten Dachboden. Stöhnend betritt er seine eigenen vier Wände, tauscht den typischen Anzug gegen eine weite Leinenhose und ein übergroßes dunkelblaues Hemd. Aus dem Schreibtisch im Arbeitszimmer, das mehr an eine chaotische Bibliothek erinnert, nimmt er sich noch ein Nikotinpflaster und verlässt seine Dachbodenhälfte dann um die gemeinsame Wohnküche auf zu suchen. Nach diesem Tag möchte er nur noch die süße Entspannung des Nikotins bei einer Tasse Tee und einigen Ingwerkeksen genießen.
Wie es nach einem langen Tag üblich ist, findet er die Küche natürlich nicht verwaist vor. Mycroft sitzt am Esstisch und stochert lustlos in seinem Salat, während er noch lustloser den grünen Tee im Auge behält. Natürlich, fällt es Sherlock wieder ein, Mycroft versucht sich gerade wieder an einer neuen Diät.
Wie es seine Art ist, ignoriert er seinen Bruder einfach und gießt sich mit dem restlichen heißen Wasser einen Schwarztee auf. Den Tee nehmen sie schweigend zu sich und lassen noch einmal den Tag Revue passieren.
»Ich habe heute deinen Patienten getroffen«, erklärt Mycroft, als er sich erinnert. Schon den ganzen Abend wollte er mit Sherlock darüber sprechen, doch immer ist ihm etwas dazwischen gekommen. Entweder war Sherlocks Tür geschlossen, oder er, Mycroft, selbst verhindert.
»Welchen?«, fragt Sherlock knapp.
»John Watson. Er stand vor deiner Tür und hat gelauscht. Ich glaube, er sollte sich besser einen neuen Therapeuten suchen. Wir können bei unserer derzeitigen Lage niemanden gebrauchen, der bei uns spioniert.«
Sherlock sagt nichts dazu, es gibt nichts zu sagen. Er hat zur Kenntnis genommen, was Mycroft gesagt hat, aber er wird daraus noch keine Konsequenzen ziehen. Eine natürlich Neugier liegt in jedem Menschen begründet und John Watson erscheint ihm noch immer als grundehrlicher Mann. Er wird morgen über eventuelle Konsequenzen nachdenken, aber vermutlich wird er nichts dazu sagen. Sollte es jedoch noch einmal vorkommen…
»Ich sehe schon, du wirst nichts in der Richtung unternehmen. Deine Entscheidung, aber sollte ich weitere Gründe zur Beunruhigung finden, werde ich gezwungen sein, selbst zu handeln. Im Übrigen wirkte er etwas verstört, als habe er dadurch etwas erfahren, womit er nicht gerechnet hat.«
Victor, es war sein Gespräch mit Victor. Nicht doch, kann es sein, dass John Watson nichts von seiner Neigung geahnt hat? Gut, er geht damit auch nicht hausieren. Er erzählt anderen doch auch nicht, was er mittags gegessen hat.
Sofort schlägt Sherlocks Herz schneller bei dem Gedanken, dass John nun weiß, dass er ebenfalls Gefallen an Männern findet. Es beginnt die altbekannte Hoffnung wieder zu nähren und außer Acht zu lassen, dass es schlicht verboten ist.
Er trinkt noch den letzten Schluck Tee, stellt die Tasse in die Spülmaschine und genießt eine schnelle Dusche, bevor er todmüde ins Bett fällt; und doch nicht schlafen kann. Seine Gedanken kreisen, sie kreisen um John Watson und die Möglichkeiten, die sich damit eröffnen, dass nun seine Sexualität bekannt ist.
Sei doch still du törichtes Herz, denkt Sherlock. Nur weil er an Männern interessiert ist und ich es auch bin, sind wir noch lange nicht für einander geeignet. Das ändert sich auch nicht dadurch, dass er es nun weiß! Aber es ist auch egal, ich bin und bleibe verdammt noch mal sein Arzt und du hast heute selbst gesehen, dass er mich braucht. Als Arzt, nicht als Liebhaber.
Kurz bevor er dann doch endlich einschläft, wandern seine Gedanken noch einmal zum anderen Arzt. Leise murmelnd erinnert er sich selbst an sein Versprechen und schwört es zu halten, wenn es nur irgend geht.
»Solange Hass auf Hass trifft, solange wird es Menschen geben, die dummes tun. Einst waren es die Katholiken, dann die Evangelen, die Kreuzritter, die IRA, die Stasi, das NS-Regime. Immer wird es Menschen geben, die dumme Dinge tun. Das einzige John, das wir tun können, ist Ihnen nicht noch mehr Spielraum zu geben. Die Toten zu beerdigen, die Verletzten zu heilen, Kinder davon abzuhalten das Hassen jemals zu lernen. Aber solange, wie wir das Letzte nicht schaffen, werde ich immer da sein. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass es bald besser wird, aber ich werde Ihnen immer zuhören.«
Ich werde immer für Dich da sein und Dir helfen, wo ich nur kann. Ich werde Dich beschützen und Dir zuhören, auch wenn es sonst niemand mehr will. Ich lasse Dich nicht allein!
Die Worte schreiben sich wie von selbst in Sherlocks Kopf, in sein Herz, in seine Seele. Sie hallen noch im Schlaf in ihm nach und verankern sich zu einem Schwur, den er halten wird, solange er lebt. Dafür wird er sorgen. Er darf ihn nicht lieben, darf nicht zeigen, wie viel er ihm bedeutet, aber er kann aus dem Dunkeln heraus über ihn wachen. Er kann und er wird, solange er unter den Lebenden weilt!
Nach diesem Schwur wackelt der Turm nicht mehr, seinem Herzen reicht es aus, für John da zu sein; als Arzt und als Freund. Vorerst.
TBC
[29.06.17 // 4451 Worte]