Willkommener Neuanfang
von Monster144
Kurzbeschreibung
Als John Watson zum ersten Mal die Praxis betritt, weiß er nicht, wie wichtig ihm diese Sitzungen in Zukunft sein werden. Er weiß nur, dass es so nicht weiter geht, dass er endlich wieder leben will. Egal wie anstrengend oder mühsam, schmerzvoll oder zerstörerisch, er ist an einem Punkt von dem aus es nur noch zwei Möglichkeiten gibt. Die Waffe ein letztes Mal zu erheben oder endlich wirklich Hilfe anzunehmen. Er wählt die zweite Möglichkeit und fordert sämtliche Gefallen ein, um einen zeitnahen Termin bei dem renommierten und angesehenen Dr. Sherlock Holmes zu bekommen. (Alternative Universe)
GeschichteSchmerz/Trost, Liebesgeschichte / P12 / MaleSlash
Dr. John Watson
Sherlock Holmes
28.01.2017
20.03.2018
12
39.414
26
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Dieses Kapitel
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23.04.2017
4.559
Ja, ich gebe zu, es ist etwas länger geworden, aber ich glaube irgendwie nicht, dass euch das stören wird. ;) Ich wünsche viel Vergnügen mit diesem Kapitel. Wir lesen uns dann nächsten Monat.
*****
Schweigend nimmt Sherlock eine einzelne Blume aus der Schale. Er denkt noch, dass ihm die weißen Lilien garantiert nicht gefallen würden und wirft sie dann in hohem Bogen in das Grab. Sherlock macht sich nicht die Mühe auszusprechen, dass genau das hier kein würdiger Abschied von seinem Patienten ist. Ein ehemaliger Soldat, der nicht ehrenhaft in einem Krieg gefallen ist, sondern in einer dunklen Nacht im Vereinigten Königreich starb. Nun wird er von einer Familie, mit der er gebrochen hatte, so bestattet, wie er es garantiert nicht wünschte. Sherlock sagt nichts dazu, denn weder könnte er sie damit erreichen – zu tief sitzt trotz allen Streits der Verlust eines geliebten Menschen –, noch wäre er als Redner erwünscht. Und was sollte es denn ausrichten? Es würde sowieso nichts bringen, egal wie gut er den Patienten kannte, oder es zumindest glaubte.
Sherlock macht es, wie er es immer macht, wenn ein Patient stirbt. Er schaut der Blume und der Erde hinterher, verabschiedet sich einmal still und verlässt dann die Grabstätte und das gesamte Friedhofsgelände. Er hat nicht das Verlangen nach einem großen Kaffeetrinken, wo sich die Lieben nun gegenseitig vorheucheln, wie schade es doch ist, dass man so lange keinen Kontakt hatte. Insgeheim wartet die Hälfte der Anwesenden nur darauf, dass das Testament verlesen wird. Das muss Sherlock sich nicht antun, er blickt noch einmal auf seine Uhr, winkt sich dann ein Taxi heran und lässt sich sofort zurück in die Praxis fahren. Es ist wie immer im Leben, auf den Tod folgt wieder Leben ohne Pause oder Gnade. »Leben ist das, was passiert, während Du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen«, sagte einst John Lennon. Manchmal erschreckt es sogar Sherlock, wie Recht ein Musiker haben kann.
Nach einigen Mahnungen an den Fahrer, die ihm klar machen, dass kein dummer Tourist vor ihm sitzt, fährt der Taxifahrer ordentlich. Keine unnötigen Umwege mehr, kein Herauszögern und keine Fragen mehr, die er sich eigentlich sparen könnte. Als wenig später der Wagen hält, steigt Sherlock aus und zahlt passend, bevor er schnellen Schrittes nach drinnen eilt. Er braucht noch fünf Minuten für sich, bevor er in der Lage ist den nächsten Kunden zu empfangen. Es klingt harsch und gemein, das weiß er, aber für ihn sind die Patienten eben nicht nur Patienten, sondern auch Kunden. Sie sind krank und er behandelt sie, ergo sind sie seine Patienten. Sie sichern seinen Lebensunterhalt dadurch dass die Krankenkasse ihn bezahlt, ergo sind sie Kunden.
Zielstrebig geht er auf einen der Schränke zu und öffnet ein kleines Fach, aus dem er ein Tablett nimmt. Normalerweise würde er es jetzt nicht tun, aber gerade braucht er etwas schnelle Beruhigung.
Als John Watson den Raum betritt ist er kurz wie vor den Kopf gestoßen, nur zögernd geht er weiter in den Raum hinein. Nach allem was im letzten Monat passierte, kann er es nun gar nicht mehr ausstehen, wenn jemand Alkohol trinkt. Automatisch blickt er zu der Flasche, gefüllt mit goldbraunem Hochprozentigem, und dann zu Sherlocks Glas. Er versucht abzuschätzen, wie viel der andere schon getrunken hat. Doch noch bevor er eine zufriedenstellende Antwort erhalten kann, verlässt Sherlock seinen Platz am Fenster und leert das Glas. Tonlos stellt er es wieder auf seinem Schreibtisch ab.
»Bevor Sie fragen, es war mein erster und letzter Drink heute. Ich habe mich nicht betrunken John, ich habe das Glas erhoben auf einen guten Freund, der nicht mehr unter uns weilt.«
Natürlich, der Anzug, die Krawatte, alles ist etwas schicker als sonst schon bei Sherlock – es hätte ihm auffallen müssen. John fragt nicht, wer gestorben ist, denn auch wenn Sherlock für die Psychoanalysen zuständig ist, erkennt John, dass es ein sehr guter Freund gewesen sein muss. Normalerweise ist Sherlock eher distanziert, aber dass er heute so offen spricht, deutet doch sehr auf ein engeres Verhältnis hin. Kurz durchzuckt ihn der Gedanke, dass es ein Patient gewesen sein könnte – etwas, dass er Sherlock nicht wünscht, diese Erfahrung hat er schon zu häufig gemacht.
John beobachtet Sherlock, wie er das Jackett auszieht und auch die Krawatte löst, beides auf seinem Schreibtischstuhl ablegt, bevor er sich dann auf seinen angestammten Platz auf dem Sofa sinken lässt. Sherlock atmet zwei Mal durch und sieht ihn dann wieder mit dieser professionellen Miene an. Die Maske sitzt wieder. John will es in dieser Sekunde noch nicht wahrhaben, doch eigentlich würde er den privaten Sherlock Holmes viel lieber kennenlernen als den beruflichen Dr. Sherlock Holmes.
»Gut, also noch einmal von vorne. Sie lagen jetzt drei Wochen im Krankenhaus, haben Übungen und Medikamente zur Herzstärkung bekommen und leben augenscheinlich noch. Als ich Ihnen aufgetragen habe mit Ihrer Schwester zu sprechen, wollte ich das eigentlich nicht erreichen. Können Sie mir sagen, was genau passiert ist? Wir haben ja schon einiges im Krankenhaus und auch am Telefon besprochen, dennoch würde ich es hier in dieser Umgebung gerne nachholen«, erklärte er mit ruhiger Stimme.
Am Telefon ist es nicht dasselbe gewesen und später im Krankenhaus überwog die Angst, dass sie jemand belauschte. Sherlock hatte es John Watson deutlich angesehen, dass er nicht großartig dort reden wollte, so hatten sie nur ein paar Floskeln ausgetauscht und die Fakten runter gerasselt, bevor sie diesen Termin vereinbart hatten. Zu diesem Zeitpunkt hatte Sherlock auch noch nicht gewusst, dass Major Sholto sterben würde, doch später wollte er den Termin nicht mehr verschieben, sie hatten ohnehin lange auf diesen Termin warten müssen. Und Sholto hätte auch nicht gewollt, dass Sherlock seinetwegen einen Patienten warten ließ.
»Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was genau passiert ist. Ich wurde schon sehr früh ohnmächtig und kann mich nicht mehr an viel erinnern«, sagt John Watson, während seine Erinnerungen an diesen Tag zurückgleiten.
John bricht endgültig zusammen, seine Welt versinkt in mattem Schwarz, das ihn mit Schmerzfreiheit und Ruhe zu sich lockt. Sein letzter Gedanke gilt sich selbst und seinen Freunden, dass er alle, sich selbst am Meisten, jahrelang belogen hat. Noch einmal würde er sich nicht so verleugnen, aber dafür ist es nun zu spät. Noch einmal schaut er in die Richtung, in die er auch heute Morgen schaute und schließt dann endlich die Augen.
Seine Atmung verlangsamt sich und während er dort liegt und die Kälte des Bodens langsam durch seine Kleidung kriecht, steht seine allerliebste Schwester in der Haustür und lacht, dass auch ihr kleiner Bruder so vor der Tür schläft. Harry registriert nicht, was dort gerade vor ihren Augen passiert, schließt die Haustür und legt sich dann in ihrem Schlafzimmer zur Ruhe. Es wäre ein Wunder, wenn sie sich am nächsten Morgen noch an diese Szene erinnern könnte; und Wunder geschehen dieser Tage nicht mehr.
Seine Gesichtszüge sind beinahe sanft, geben kaum Aufschluss darüber, wie es wirklich in ihm aussieht. Im Schlaf und der Ohnmacht entspannen sich seine Gesichtszüge nun einmal und zeigen nicht die Schmerzen und Anstrengungen, die sein Körper gerade ertragen muss. Die Welt wirkt beinahe friedlich, die Vögel zwitschern im Hintergrund und eine Ratte kriecht seelenruhig in die Kanalisation zurück.
Irgendwann wird diese Ruhe beispiellos durch einen heraneilenden Krankenwagen gestört. Dem geübten Auge fällt vielleicht auf, dass es kein offizieller Rettungswagen ist, sondern der einer bekannten Privatklinik. Doch weder fällt einem das falsche Logo auf, noch die gut gekleidete Besatzung, allerdings ist das auch schwerlich möglich, mit geschlossenen Rollladen. Es ist schlicht kein geübtes Auge zugegen oder wach. Aus dem Wagen springen drei Sanitäter und aus einem ihm folgenden Wagen noch weitere drei Notärzte, die den ohnmächtigen John Watson auf eine Trage verfrachten und in den Wagen bringen.
Sie behandeln ihn noch einige Minuten im ruhenden Fahrzeug weiter, bevor alle wieder in die jeweiligen Wagen einsteigen und der Rettungswagen zurück zu seinem Ausgangsort fährt. Beinahe könnte man es als Entführung betrachten so schnell wie die beiden Wagen kamen und John Watson mitnahmen. In eine Klinik, die eigentlich keine Notaufnahme hat – eigentlich.
Als er wieder zu sich kommt, liegt John in einem geräumigen Krankenhauszimmer, das zwar nichts mit den gemeinhin üblichen Zimmern zu tun hat, aber dennoch klar zu erkennen ist. Das Krankenbett ist eines der besten, die man derzeit auf dem Markt findet, die Möbel sind hochwertig und das Zimmer wirklich sauber. Dennoch, die Vorhänge können noch so farbenfroh sein, drei Dinge sprechen eindeutig für Krankenhaus. Drei Dinge, die John noch in halb wirren Kopf auffallen.
Noch bevor er richtig wach ist, riecht er das Krankenhaus schon. Er hat so lange in Krankenhäusern gearbeitet, dass er beinahe am Geruch schon erkennen kann, welches Desinfektionsmittel sie verwenden. Das aufgestellte Kopfteil sagt ihm, dass er nicht in seinem einfachen Bett liegt und selbst wenn er daraus und dem Geruch nicht schlussfolgern könnte, dass er in einem Krankenhaus liegt, wüsste er es, als er die Augen öffnet.
In seinem Arm steckt eine Kanüle, wie er sie oft genug selbst schon gesetzt hat. Der kleine Schlauch führt hoch an einen Tropf mit Kochsalzlösung, wie John mit einem Blick erkennen kann. Er versucht sich zu erinnern, was passiert ist und ganz langsam kommen die Erinnerungen wieder hoch. Harry… Oh Harry… Wie gerne würde er ihr helfen, sie ist seine Schwester und wird immer seine Schwester bleiben. Am Liebsten möchte er die Nadel aus dem Arm ziehen und zu seiner Schwester rennen, der Drang wird wohl niemals verfliegen. Egal wie oft er mit ihr bricht, wie oft er glaubt, endlich verstanden zu haben, dass er ihr nicht helfen kann, er ist ihr Bruder und er kann sie nicht so leiden sehen.
Schließlich kommt auch die Erinnerung an seinen Zusammenbruch wieder und wie seine Schwester reagierte. Plötzlich ist es wieder da, dieses Gefühl von ›Ach leck mich doch am Arsch Welt!‹. Er ist nicht wütend, das fällt ihm als Erstes auf, er ist einfach nur traurig, dass es so gekommen ist. Doch bevor er sich weiter damit beschäftigen kann, gibt ihm sein Kopf ein neues Rätsel auf.
Als er umgekippt ist, war außer ihm niemand auf der Straße und alle Rollläden schon längst hinunter gelassen. Seine Schwester war nicht mehr in der Lage die Rettung zu rufen, wer also war es? Wer hatte die Chance zu beobachten und ihm zu helfen? Warum liegt er in einem solchen Krankenzimmer, das eindeutig für besser betuchte Patienten reserviert ist?
Eigentlich sollte er langsam nach der Schwester läuten und Bescheid geben, dass er wieder wach ist, doch daran hat er noch kein Interesse. Wer hat für seine Rettung gesorgt? Wer hat ihn zusammenbrechen sehen? Wer hat solchen Einfluss, dass er eines der besten Zimmer und wohl auch eine gute Behandlung bekommt? Er kennt niemanden in einer solchen Position und zu sagen, dass es ihm Angst macht, ist dezent untertrieben.
Johns Blutdruck schießt gemeinsam mit seinem Puls in die Luft und alarmiert die Stationsschwester. Er hört ihr Rufen, dass die aufkommende Hektik verdecken soll und es doch nicht schafft. Sie glauben er hat einen Schock oder erleidet eine zweite Herzattacke – nicht unwahrscheinlich, das muss er zugeben. Als sie in sein Zimmer stürzt, hinter ihr ein ganzer Tross Ärzte, beruhigt sie sich erst, als sie sieht, dass er wach ist. Garantiert glaubt sie, dass er sich nur gefragt hat, wo er ist. John Watson lässt ihr ihren Glauben und erinnert sich lieber daran in Ruhe zu atmen und sich zu beruhigen. Egal wem er das zu verdanken hat und egal, was derjenige dafür will, er wird keine Lösung finden, wenn er weiterhin so panisch ist.
Die Ärzte um ihn herum beobachten besorgt, wie der Puls zwar langsam ruhiger wird, doch der Blutdruck weiter auf diesem hohen Level bleibt. Nach kurzer Beratung spritzen sie ihm ein Sedativum, dass ihn auf direktem Weg zurück in seine Träume befördert. Es wäre wichtig gewesen ihn einiger Untersuchungen zu unterziehen, wenn er wach ist, doch so wie es aussieht, können sie derzeit nur verhindern, dass sein Herz sich noch einmal überanstrengt oder ernsthaft weiteren Schaden nimmt.
Johns Träume sind wie so oft ziemlich wirr und dennoch scheinen sie ihm etwas klar machen zu wollen. Träume, an die wir uns erinnern, sind nichts anderes als Probleme, die wir im Schlaf nicht lösen konnten, erinnert sich John. Doch als er am nächsten Morgen nach einigen grundlegenden Untersuchungen auf sein Frühstück blickt, ist es ein Gedanke, der allem plötzlich Sinn und Verstand gibt.
»Dieses Essen könnte Sherlock für mich ausgewählt haben«, denkt er in Erinnerung an dessen deduktive Fähigkeiten.
In seinem Kopf macht es peng, eine ganze Stadt scheint zu erleuchten. Nicht ein einzelnes Licht geht in seinem Kopf an, es ist als würde die Sonne aufgehen und alles in gleißendes Licht tauchen. John möchte sich mit der Hand gegen die Stirn schlagen, die Wand mit seinem Schädel zertrümmern, so dumm kommt er sich gerade vor. Zu seinem Glück macht er nichts davon. Wahrscheinlich würde er sich nicht nur gründlich selbstverletzen, sondern auch noch Zweifel an seiner geistigen Gesundheit aufkommen lassen.
»Irgendjemand muss mich doch gesehen haben, obwohl da keiner hätte sein sollen. Auf jeden Fall muss schon bald nach meiner Ohnmacht ein Rettungswagen vorgefahren sein und hat mich in ein naheliegendes Krankenhaus gebracht. Eigentlich haben sie gar keine Notaufnahme, haben aber eine Ausnahme gemacht, weil die anderen Krankenhäuser hoffnungslos überbelegt waren«, erzählt er Sherlock. Gleichzeitig verschweigt John dennoch, was er noch so erfahren hat, oder zumindest glaubt erfahren zu haben. Er wird der Sache noch einmal nach gehen, es ist jetzt nichts, was er ausbreiten will. Vor allem nicht hier. John ist sich eben auch nicht sicher, ob er richtig liegt, außerdem ist Sherlock Mycrofts Bruder. Wie tief mag ihre Verbindung sein? Meist ist Blut eben doch dicker als Wasser.
Sein Psychiater sagt nichts dazu und lässt ihn erst mal weiter erzählen, sodass John erneut abdriftet und alles wieder erlebt. Sherlock weiß, dass John ihm etwas verschweigt, aber manchmal muss ein Patient Dinge zuerst mit sich selbst ausmachen. In diesem Fall wird er nicht Nachboren.
Schon im Februar hatte er das Gefühl, dass er von Kameras verfolgt wird. Er hat es auf eine beginnende Paranoia geschoben und sich vorgenommen mit Sherlock darüber zu sprechen, doch ist er immer wieder darüber hinweg gekommen. Vielleicht wollte er auch einfach nicht zugeben, doch verrückt zu werden; immerhin war er doch auf dem Weg der Besserung. Es hat sich bis in den März gezogen, ja selbst hier hatte er ja das Gefühl verfolgt zu werden, als würden die Kameras ein Eigenleben entwickeln. Sherlocks Nachricht, die so passend kam, als er gerade aufgeben wollte, die Kamera die vorher auf ihn gerichtet war und sich dann wieder zur Kreuzung drehte. Die Kamera die sich genau in der Richtung befand, in die er zu letzt geblickt hatte, die Kamera die sich auch morgens schon um 180 Grad gedreht hatte. Kameras an gefühlt jeder Ecke.
John wird schlecht, als er darüber nachdenkt, was das genau bedeutet. Er wird verfolgt von jemandem, der so mächtig ist, dass er das CCTV unter Kontrolle hat und nutzen kann. Es ist, als würde die britische Regierung ein Auge auf ihn haben, der gesamte Geheimdienst. Der Secret Service.
Erneut macht es Klick und wieder möchte John sich selbst schlagen. Dr. Mycroft Holmes, dem garantiert nicht ohne Grund Verbindungen zum Geheimdienst nachgesagt werden. Mycroft Holmes, der auch an die Kameras käme, der in diesem Fall genügend Macht und Geld hätte, das hier zu ermöglichen. Ist er es? Aber was will er von ihm? Er ist für niemanden von Belang, vermutlich würde kaum einer sein Fehlen wirklich bemerken.
Diese Fragen lassen ihn nicht mehr los, auch wenn er keine zufriedenstellende Antwort darauf findet. Was soll er denn auch denken? Irgendwie ergibt alles einen Sinn und auch wieder nicht. Dass Dr. Holmes dahinter steckt macht Sinn, aber was um Himmelswillen will er von ihm? Er ist der Patient seines Bruders; Patient in der gemeinsamen Praxis, aber er wird garantiert nicht jeden Patienten überwachen lassen. Zu viel Arbeit für zu unwichtige Personen. Es scheint, als würde der Arzt etwas wissen, von dem John keine Ahnung hat. Doch die Frage ist, was er nicht weiß. Instinktiv ahnt John, dass er es so bald nicht erfahren wird und er es eigentlich gar nicht wissen möchte. Diese Fragen wird er noch eine ganze Weile innerlich wälzen und vermutlich nicht mehr so unbedacht über die Straße gehen. Er wird von einem mächtigen Mann mit Zugriff auf CCTV verfolgt, der vermutlich Dr. Mycroft Holmes ist; und er hat keine Ahnung warum. Ein Rätsel, das seine Konzentration und Aufmerksamkeit erfordert. Vielleicht sollte er, wenn er zurück in London ist, doch mal einige alte Freunde aufsuchen, die Karriere gemacht haben.
Aber seine Gedankengänge werden schon bald unterbrochen als sein behandelnder Arzt wie angekündigt sein Zimmer betritt, um mit ihm zu besprechen, was passiert ist.
»Was ist denn passiert John?«, fragt Sherlock natürlich im passenden Moment. Der Mann hat ein Timing, unschlagbar!, denkt John sarkastisch. »Ich kann mir bei Ihnen eigentlich nicht vorstellen, dass es zu viel Adrenalin war. Ihr Herz müsste das aus Afghanistan längst gewöhnt sein, deshalb hätte das gar nicht passieren dürfen.«
Sherlock verschweigt, dass er sich schuldig fühlt, dass John überhaupt in diese Situation kam. Hätte er, Sherlock, nicht voraussehen müssen, dass es zuviel für das Herz sein würde? Hätte er nicht irgendwelche Anzeichen sehen müssen? Er ist Arzt, es hätte ihm auffallen müssen. Und dennoch ist es ihm nicht aufgefallen.
»Es war nicht direkt das Adrenalin, das die Attacke hervorgerufen hat. Zum Glück war es auch kein Herzinfarkt! Der Kardiologe meinte, dass es eher eine Art Warnschuss gewesen sei. Scheinbar bekommt es meinem Herzen nicht, dass ich jetzt eine lange Phase voller Ruhe hatte und plötzlich wieder auf meinem alten Adrenalinlevel war.« Es ist die stark verkürzte Version ohne genaue Diagnosen und Testberichte. Natürlich, Sherlock würde sie verstehen, genauso wie er, John, sie verstanden hatte. Mit all ihren Konsequenzen, mit der Frage ob er lieber ein dauerhaft ruhiges Leben oder doch eher ein aufregenderes Leben führen will. Mit der Verzweiflung, die für ihn damit einhergeht, dass er sich für eine Seite entscheiden muss.
John weiß, er sollte mit seinem Arzt darüber sprechen, sollte sich nicht für seine Ängste schämen und dennoch kostet es ihn einiges an Überwindung Sherlock direkt in die Augen zu sehen und auszusprechen, was er selbst nicht wahrhaben will.
»Ich bin verzweifelt, ich weiß nicht, was ich machen soll«, erklärt er leise, hoffend da Sherlock nicht nachfragt. Doch Sherlock hebt nur eine Augenbraue und bedeutet ihm so, doch bitte fortzufahren. Natürlich weiß Sherlock schon längst, dass er Angst hat, dennoch muss John es aussprechen.
Verdammt noch mal John, herrscht ihn sein innerer Captain an, sei kein Feigling und rede endlich Klartext! Was soll er denn von dir halten?
»Ich führe endlich ein ruhiges Leben, genauso eins, wie ich es immer führen wollte. Ich habe einen tollen Job gefunden, der mir wirklich Spaß macht und mir sogar eine richtige Wohnung finanzieren könnte. Ich komme immer mehr raus und fühle mich einfach so gut wie lange nicht mehr. Ich will nicht, dass das aufhört, ich fange gerade an zu genießen, was ich habe. Aber ich merke, dass es mir nicht reicht. Ich kann kein dauerhaft ruhiges Leben führen, genauso wenig kann ich aber immer in Gefahr schweben, beim letzten Versuch mich zur Zielscheibe zu machen, wurde ich getroffen. Was bitte soll ich machen?!«, bricht es aus ihm heraus. Zum Ende hin ist er immer lauter geworden um jetzt in einem Laut zu enden, den man durchaus als Schluchzen ansehen kann. Er führt ein gutes Leben, eines das er immer wollte und dennoch ist es nicht das Richtige für ihn. Er spürt es selbst und sein Körper scheinbar auch. Doch die Möglichkeit eines Lebens in der Balance aus Adrenalin und Entspannung sieht er auch nicht, er kennt nur die Extremen beider Seiten.
»Ich kann doch nicht nur so ruhig leben, aber auch immer wieder auf diesem Adrenalinpegel bleiben. Endlich ist es so, wie ich es will und ich darf es nicht weiterhin so halten«, fügt John weitaus leiser an und greift schließlich zu seinem Tee, den Sherlocks Sekretärin zwischendrin gebracht hatte. An ihm kann er sich festhalten und muss nicht hoch in Sherlocks Gesicht schauen. Er kommt sich gerade so schrecklich klein und dumm vor, unbedarft und verzweifelt – so war er doch nie!
Als Sherlock dieses Mal seine Stimme erhebt, ist sie weit weicher, als John sie jemals erlebt hat. Beinahe würde John sie als liebevoll bezeichnen, doch das ist schlicht nicht möglich. Sherlock ist Johns Arzt und die Gesetze sind ziemlich eindeutig dazu. Vielleicht können sie ja irgendwann eine gute Freundschaft etablieren, aber das wird auch schon alles sein. Sich mehr zu wünschen ist nicht gut, es wird ihm nur Probleme machen – außerdem ist ihm Sherlock als Psychiater viel zu wichtig um ihr Verhältnis durch eine Schwärmerei aufs Spiel zu setzen.
»Ich bin mir sicher, dass sich das alles nicht als so schwer darstellen wird, wie es Ihnen gerade erscheint. Die nächsten Wochen werden Sie doch sowieso medikamentös behandelt werden, oder irre ich mich da?«, John antwortet nicht, Sherlock irrt sich bei so etwas nicht, wie John nur zu gut weiß. »Wer weiß, was die nächste Zeit für Sie bereit halten wird.«
Kurz schweigen sie sich an, John lässt sich Sherlocks Worte gut durch den Kopf gehen und sieht dennoch keinen besseren Ausgangspunkt für sich. Aber er hat schon recht, denn was bringt es ihm, wenn er sich jetzt verrückt macht?
»Aber immerhin passiert Ihnen auch Gutes«, sagt Sherlock und bringt John so dazu ihn wieder anzusehen. Was hat er jetzt schon wieder deduziert, fragt sich John nicht zu Unrecht. Manchmal erscheint es ihm so, als wüsste Sherlock schon alles, bevor er es selbst weiß. John würde es nicht gruselig nennen, aber es ist manchmal doch dezent unheimlich. Und faszinierend, und unheimlich, und faszi… »Ich habe Sie vor ein paar Tagen in Coram’s Fields gesehen. Scheinbar haben Sie Ihren Radius ja noch einmal um einiges erweitert.« Erklärt Sherlock schließlich und beobachtet genau Johns Reaktion.
»Tatsächlich gehe ich dort mittlerweile jeden Samstag und Sonntag hin. Nachmittags ist es dort einfach wunderbar«, sagt John nicht ohne Stolz. Es ist ein ziemlicher Weg für ihn, er muss mit der Metro fahren und sich durch Touristenmassen quälen, dennoch tut er es. Auch jetzt nach seiner Herzattacke. Ja doch, das ist etwas, dass ihn unglaublich stolz macht. Und zu sehen, wie dort kleine Kinder spielen und noch nichts von der Welt die sie erwartet ahnen, macht ihn hoffnungsfroh, dass sie vielleicht so manches doch nicht sehen müssen.
Sie reden noch etwas weiter über seine Fortschritte und seinen Radius, bis sich ihre heutige Sitzung langsam dem Ende nähert. Sherlock spricht John noch einmal Mut zu und verabschiedet ihn dann, mit den Worten, dass alles schon nicht so schlimm werden wird, wie er gerade glaubt. Sherlock schenkt ihm ein Lächeln, dass so viel mehr ausdrücken soll, als es ein Schulterklopfen könnte und wünscht ihm dann eine schöne Woche.
Kaum hat John das Büro verlassen, lässt Sherlock seine Maske fallen. Etwas anderes war es heute den ganzen Tag nicht, vielleicht wirkte er deshalb so teilnahmslos. Zumindest kam er sich selbst teilnahmslos vor. Er konnte sich kaum konzentrieren und wird heute Abend wohl noch einmal die Tonbänder abhören müssen. Ein Glück, dass er doch immer Aufzeichnungen anfertigt, wenn gleich er sie so selten braucht.
Major Sholto, einfach so von einem Auto überfahren, irgendwie will es ihm nicht einleuchten. Aber ihm geht auch zuviel im Kopf herum. Immerhin kannten sie sich zu gut und zu lange, als dass er seinen Tod einfach so wegstecken könnte.
Die Gedanken, die er auf dem Friedhof hatte, die viel zu persönlich waren. Die er nicht über Sholto, sondern über John Watson hatte. Dr. John Watson, der derzeit seine Gedanken beherrschte und es nicht sollte. Er hatte mit fünf kleinen Sätzen seine ganze Argumentation ins Fallen gebracht. Sherlock stützte sie auf zwei Pfeiler, die eine Basis bildeten, dass er sich selbst nicht verlor. Nun stand von beiden Pfeilern allerdings nur noch der eine, der besagte, dass John Watson noch immer ein Patient war. Dennoch, der Turm wackelte kräftig seit Johns Verabschiedung.
John war eigentlich schon zur Tür raus, hatte die Hand nur noch an der Klinke um sie zu schließen, als er sich noch einmal umdrehte und Sherlock ins Gesicht schaute:
»Als ich in Kirkcaldy vor meinem Elternhaus lag, habe ich nur eines bereut. Dass ich meinen Freunden und mir selbst gegenüber nicht aufrichtig war. Ich weiß, dass ich auch in unseren Gesprächen immer wieder betont habe nicht schwul zu sein und das stimmt auch immer noch, aber um ehrlich zu sein: Bi war ich schon immer. Das sollten Sie vielleicht mit in ihre Akte nehmen.«
Und mit diesem Ausspruch und seinem Lächeln ist die Stütze eingestürzt, wie ein Hochhaus, das in einem Rutsch gesprengt wurde. Ein Kartenhaus, das in sich zusammenfällt. Während John sich wieder abgewendet und diesmal endgültig das Zimmer verlassen hat, entglitten Sherlock die Gesichtszüge. Behände musste er seine Argumentation, einen ganzen Turm wieder umbauen, sodass er im Gleichgewicht ist und nicht doch noch zusammen fallen wird. Das ganze Konzept von »nicht schwuler Patient« stützte sich nur noch auf »Patient«. Vorsichtig schachtelte er Argument um Argument um, sodass alles im Gleichgewicht blieb und vergaß darüber bis jetzt die Zeit.
Ein Klopfen reißt ihn aus seinen Gedanken und noch bevor er die Maske wieder aufsetzen und seinen Besucher hereinbitten kann öffnet sich die Tür. Sein herzallerliebster Bruder betritt auch sogleich sein Büro und bleibt nahe der Tür stehen. Nun wäre die Maske auch egal, sein Bruder konnte ihn schon immer Lesen wie ein Buch. Auch wenn er seinen inneren Konflikt sehen muss, ignoriert er ihn geflissentlich – so wie er alles ignoriert, dass ihm nicht gefällt.
»Lestrade rief gerade unten an, sie haben tatsächlich Anzeichen dafür gefunden, dass es kein Unfall war. Ich habe meine Leute schon drauf angesetzt, ich weiß, dass er Dir viel bedeutet hat.« Ungesagt schwingt mit, dass er auch ein Kamerad ihres Vaters war und er Mycroft beinahe genauso viel bedeutete wie Sherlock. Major Sholto, ein Kamerad ihres Vaters, zeitweise beinahe ein Onkel für sie, der dann ausgerechnet aus seinem allerletzten Einsatz gebrochen zurückkehrte und nur Sherlock oder Mycroft vertrauen wollte. Ein guter Freund, der bald schon auch ein Patient war.
Kurz darauf verschwindet auch sein großer Bruder wieder, allerdings nicht ohne ihm von der Tür aus noch einen unmissverständlichen Blick zu zuwerfen.
Er ist dein Patient und selbst wenn er es nicht wäre: Du weiß, wie es beim Letzten mal ausgegangen ist. Es lohnt sich nicht, sich um andere zu sorgen, sie sorgen sich auch nicht um dich. Liebe ist sowieso einer der größten Irrtümer der Welt, nichts als ein Gemisch aus Pheromonen, Hormonen und einem Hang zur Fortpflanzung. Vergiss ihn!
Kaum hat er das Zimmer verlassen, dreht sich Sherlock erneut dem Fenster zu, atmet tief durch und bringt mühsam seine Gedanken in Ordnung. Vermutlich – wohl sogar garantiert – hat Mycroft recht damit, dennoch… Es klingt bockig und kindisch, aber Sherlock will das einfach. (Und genau das, könnte ihm noch zum größten Verhängnis werden.)
Doch bevor er sich diesem Problem zuwendet, muss Sherlock erst zwei Anrufe erledigen und ein paar Dinge in Ordnung bringen. Der erste Anruf geht an Detective Inspector Greg Lestrade, dem er seine Hilfe anbietet – aufzwingt! – und von dem er alle Akten zu Sholto fordert. Der zweite geht an einen alten Studienfreund, den er viel zu lange nicht mehr angerufen hat. Vielleicht kann er Sherlock nützlich sein, zumindest wenn seine Informationen noch stimmen.
*****
Schweigend nimmt Sherlock eine einzelne Blume aus der Schale. Er denkt noch, dass ihm die weißen Lilien garantiert nicht gefallen würden und wirft sie dann in hohem Bogen in das Grab. Sherlock macht sich nicht die Mühe auszusprechen, dass genau das hier kein würdiger Abschied von seinem Patienten ist. Ein ehemaliger Soldat, der nicht ehrenhaft in einem Krieg gefallen ist, sondern in einer dunklen Nacht im Vereinigten Königreich starb. Nun wird er von einer Familie, mit der er gebrochen hatte, so bestattet, wie er es garantiert nicht wünschte. Sherlock sagt nichts dazu, denn weder könnte er sie damit erreichen – zu tief sitzt trotz allen Streits der Verlust eines geliebten Menschen –, noch wäre er als Redner erwünscht. Und was sollte es denn ausrichten? Es würde sowieso nichts bringen, egal wie gut er den Patienten kannte, oder es zumindest glaubte.
Sherlock macht es, wie er es immer macht, wenn ein Patient stirbt. Er schaut der Blume und der Erde hinterher, verabschiedet sich einmal still und verlässt dann die Grabstätte und das gesamte Friedhofsgelände. Er hat nicht das Verlangen nach einem großen Kaffeetrinken, wo sich die Lieben nun gegenseitig vorheucheln, wie schade es doch ist, dass man so lange keinen Kontakt hatte. Insgeheim wartet die Hälfte der Anwesenden nur darauf, dass das Testament verlesen wird. Das muss Sherlock sich nicht antun, er blickt noch einmal auf seine Uhr, winkt sich dann ein Taxi heran und lässt sich sofort zurück in die Praxis fahren. Es ist wie immer im Leben, auf den Tod folgt wieder Leben ohne Pause oder Gnade. »Leben ist das, was passiert, während Du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen«, sagte einst John Lennon. Manchmal erschreckt es sogar Sherlock, wie Recht ein Musiker haben kann.
Nach einigen Mahnungen an den Fahrer, die ihm klar machen, dass kein dummer Tourist vor ihm sitzt, fährt der Taxifahrer ordentlich. Keine unnötigen Umwege mehr, kein Herauszögern und keine Fragen mehr, die er sich eigentlich sparen könnte. Als wenig später der Wagen hält, steigt Sherlock aus und zahlt passend, bevor er schnellen Schrittes nach drinnen eilt. Er braucht noch fünf Minuten für sich, bevor er in der Lage ist den nächsten Kunden zu empfangen. Es klingt harsch und gemein, das weiß er, aber für ihn sind die Patienten eben nicht nur Patienten, sondern auch Kunden. Sie sind krank und er behandelt sie, ergo sind sie seine Patienten. Sie sichern seinen Lebensunterhalt dadurch dass die Krankenkasse ihn bezahlt, ergo sind sie Kunden.
Zielstrebig geht er auf einen der Schränke zu und öffnet ein kleines Fach, aus dem er ein Tablett nimmt. Normalerweise würde er es jetzt nicht tun, aber gerade braucht er etwas schnelle Beruhigung.
Als John Watson den Raum betritt ist er kurz wie vor den Kopf gestoßen, nur zögernd geht er weiter in den Raum hinein. Nach allem was im letzten Monat passierte, kann er es nun gar nicht mehr ausstehen, wenn jemand Alkohol trinkt. Automatisch blickt er zu der Flasche, gefüllt mit goldbraunem Hochprozentigem, und dann zu Sherlocks Glas. Er versucht abzuschätzen, wie viel der andere schon getrunken hat. Doch noch bevor er eine zufriedenstellende Antwort erhalten kann, verlässt Sherlock seinen Platz am Fenster und leert das Glas. Tonlos stellt er es wieder auf seinem Schreibtisch ab.
»Bevor Sie fragen, es war mein erster und letzter Drink heute. Ich habe mich nicht betrunken John, ich habe das Glas erhoben auf einen guten Freund, der nicht mehr unter uns weilt.«
Natürlich, der Anzug, die Krawatte, alles ist etwas schicker als sonst schon bei Sherlock – es hätte ihm auffallen müssen. John fragt nicht, wer gestorben ist, denn auch wenn Sherlock für die Psychoanalysen zuständig ist, erkennt John, dass es ein sehr guter Freund gewesen sein muss. Normalerweise ist Sherlock eher distanziert, aber dass er heute so offen spricht, deutet doch sehr auf ein engeres Verhältnis hin. Kurz durchzuckt ihn der Gedanke, dass es ein Patient gewesen sein könnte – etwas, dass er Sherlock nicht wünscht, diese Erfahrung hat er schon zu häufig gemacht.
John beobachtet Sherlock, wie er das Jackett auszieht und auch die Krawatte löst, beides auf seinem Schreibtischstuhl ablegt, bevor er sich dann auf seinen angestammten Platz auf dem Sofa sinken lässt. Sherlock atmet zwei Mal durch und sieht ihn dann wieder mit dieser professionellen Miene an. Die Maske sitzt wieder. John will es in dieser Sekunde noch nicht wahrhaben, doch eigentlich würde er den privaten Sherlock Holmes viel lieber kennenlernen als den beruflichen Dr. Sherlock Holmes.
»Gut, also noch einmal von vorne. Sie lagen jetzt drei Wochen im Krankenhaus, haben Übungen und Medikamente zur Herzstärkung bekommen und leben augenscheinlich noch. Als ich Ihnen aufgetragen habe mit Ihrer Schwester zu sprechen, wollte ich das eigentlich nicht erreichen. Können Sie mir sagen, was genau passiert ist? Wir haben ja schon einiges im Krankenhaus und auch am Telefon besprochen, dennoch würde ich es hier in dieser Umgebung gerne nachholen«, erklärte er mit ruhiger Stimme.
Am Telefon ist es nicht dasselbe gewesen und später im Krankenhaus überwog die Angst, dass sie jemand belauschte. Sherlock hatte es John Watson deutlich angesehen, dass er nicht großartig dort reden wollte, so hatten sie nur ein paar Floskeln ausgetauscht und die Fakten runter gerasselt, bevor sie diesen Termin vereinbart hatten. Zu diesem Zeitpunkt hatte Sherlock auch noch nicht gewusst, dass Major Sholto sterben würde, doch später wollte er den Termin nicht mehr verschieben, sie hatten ohnehin lange auf diesen Termin warten müssen. Und Sholto hätte auch nicht gewollt, dass Sherlock seinetwegen einen Patienten warten ließ.
»Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was genau passiert ist. Ich wurde schon sehr früh ohnmächtig und kann mich nicht mehr an viel erinnern«, sagt John Watson, während seine Erinnerungen an diesen Tag zurückgleiten.
John bricht endgültig zusammen, seine Welt versinkt in mattem Schwarz, das ihn mit Schmerzfreiheit und Ruhe zu sich lockt. Sein letzter Gedanke gilt sich selbst und seinen Freunden, dass er alle, sich selbst am Meisten, jahrelang belogen hat. Noch einmal würde er sich nicht so verleugnen, aber dafür ist es nun zu spät. Noch einmal schaut er in die Richtung, in die er auch heute Morgen schaute und schließt dann endlich die Augen.
Seine Atmung verlangsamt sich und während er dort liegt und die Kälte des Bodens langsam durch seine Kleidung kriecht, steht seine allerliebste Schwester in der Haustür und lacht, dass auch ihr kleiner Bruder so vor der Tür schläft. Harry registriert nicht, was dort gerade vor ihren Augen passiert, schließt die Haustür und legt sich dann in ihrem Schlafzimmer zur Ruhe. Es wäre ein Wunder, wenn sie sich am nächsten Morgen noch an diese Szene erinnern könnte; und Wunder geschehen dieser Tage nicht mehr.
Seine Gesichtszüge sind beinahe sanft, geben kaum Aufschluss darüber, wie es wirklich in ihm aussieht. Im Schlaf und der Ohnmacht entspannen sich seine Gesichtszüge nun einmal und zeigen nicht die Schmerzen und Anstrengungen, die sein Körper gerade ertragen muss. Die Welt wirkt beinahe friedlich, die Vögel zwitschern im Hintergrund und eine Ratte kriecht seelenruhig in die Kanalisation zurück.
Irgendwann wird diese Ruhe beispiellos durch einen heraneilenden Krankenwagen gestört. Dem geübten Auge fällt vielleicht auf, dass es kein offizieller Rettungswagen ist, sondern der einer bekannten Privatklinik. Doch weder fällt einem das falsche Logo auf, noch die gut gekleidete Besatzung, allerdings ist das auch schwerlich möglich, mit geschlossenen Rollladen. Es ist schlicht kein geübtes Auge zugegen oder wach. Aus dem Wagen springen drei Sanitäter und aus einem ihm folgenden Wagen noch weitere drei Notärzte, die den ohnmächtigen John Watson auf eine Trage verfrachten und in den Wagen bringen.
Sie behandeln ihn noch einige Minuten im ruhenden Fahrzeug weiter, bevor alle wieder in die jeweiligen Wagen einsteigen und der Rettungswagen zurück zu seinem Ausgangsort fährt. Beinahe könnte man es als Entführung betrachten so schnell wie die beiden Wagen kamen und John Watson mitnahmen. In eine Klinik, die eigentlich keine Notaufnahme hat – eigentlich.
Als er wieder zu sich kommt, liegt John in einem geräumigen Krankenhauszimmer, das zwar nichts mit den gemeinhin üblichen Zimmern zu tun hat, aber dennoch klar zu erkennen ist. Das Krankenbett ist eines der besten, die man derzeit auf dem Markt findet, die Möbel sind hochwertig und das Zimmer wirklich sauber. Dennoch, die Vorhänge können noch so farbenfroh sein, drei Dinge sprechen eindeutig für Krankenhaus. Drei Dinge, die John noch in halb wirren Kopf auffallen.
Noch bevor er richtig wach ist, riecht er das Krankenhaus schon. Er hat so lange in Krankenhäusern gearbeitet, dass er beinahe am Geruch schon erkennen kann, welches Desinfektionsmittel sie verwenden. Das aufgestellte Kopfteil sagt ihm, dass er nicht in seinem einfachen Bett liegt und selbst wenn er daraus und dem Geruch nicht schlussfolgern könnte, dass er in einem Krankenhaus liegt, wüsste er es, als er die Augen öffnet.
In seinem Arm steckt eine Kanüle, wie er sie oft genug selbst schon gesetzt hat. Der kleine Schlauch führt hoch an einen Tropf mit Kochsalzlösung, wie John mit einem Blick erkennen kann. Er versucht sich zu erinnern, was passiert ist und ganz langsam kommen die Erinnerungen wieder hoch. Harry… Oh Harry… Wie gerne würde er ihr helfen, sie ist seine Schwester und wird immer seine Schwester bleiben. Am Liebsten möchte er die Nadel aus dem Arm ziehen und zu seiner Schwester rennen, der Drang wird wohl niemals verfliegen. Egal wie oft er mit ihr bricht, wie oft er glaubt, endlich verstanden zu haben, dass er ihr nicht helfen kann, er ist ihr Bruder und er kann sie nicht so leiden sehen.
Schließlich kommt auch die Erinnerung an seinen Zusammenbruch wieder und wie seine Schwester reagierte. Plötzlich ist es wieder da, dieses Gefühl von ›Ach leck mich doch am Arsch Welt!‹. Er ist nicht wütend, das fällt ihm als Erstes auf, er ist einfach nur traurig, dass es so gekommen ist. Doch bevor er sich weiter damit beschäftigen kann, gibt ihm sein Kopf ein neues Rätsel auf.
Als er umgekippt ist, war außer ihm niemand auf der Straße und alle Rollläden schon längst hinunter gelassen. Seine Schwester war nicht mehr in der Lage die Rettung zu rufen, wer also war es? Wer hatte die Chance zu beobachten und ihm zu helfen? Warum liegt er in einem solchen Krankenzimmer, das eindeutig für besser betuchte Patienten reserviert ist?
Eigentlich sollte er langsam nach der Schwester läuten und Bescheid geben, dass er wieder wach ist, doch daran hat er noch kein Interesse. Wer hat für seine Rettung gesorgt? Wer hat ihn zusammenbrechen sehen? Wer hat solchen Einfluss, dass er eines der besten Zimmer und wohl auch eine gute Behandlung bekommt? Er kennt niemanden in einer solchen Position und zu sagen, dass es ihm Angst macht, ist dezent untertrieben.
Johns Blutdruck schießt gemeinsam mit seinem Puls in die Luft und alarmiert die Stationsschwester. Er hört ihr Rufen, dass die aufkommende Hektik verdecken soll und es doch nicht schafft. Sie glauben er hat einen Schock oder erleidet eine zweite Herzattacke – nicht unwahrscheinlich, das muss er zugeben. Als sie in sein Zimmer stürzt, hinter ihr ein ganzer Tross Ärzte, beruhigt sie sich erst, als sie sieht, dass er wach ist. Garantiert glaubt sie, dass er sich nur gefragt hat, wo er ist. John Watson lässt ihr ihren Glauben und erinnert sich lieber daran in Ruhe zu atmen und sich zu beruhigen. Egal wem er das zu verdanken hat und egal, was derjenige dafür will, er wird keine Lösung finden, wenn er weiterhin so panisch ist.
Die Ärzte um ihn herum beobachten besorgt, wie der Puls zwar langsam ruhiger wird, doch der Blutdruck weiter auf diesem hohen Level bleibt. Nach kurzer Beratung spritzen sie ihm ein Sedativum, dass ihn auf direktem Weg zurück in seine Träume befördert. Es wäre wichtig gewesen ihn einiger Untersuchungen zu unterziehen, wenn er wach ist, doch so wie es aussieht, können sie derzeit nur verhindern, dass sein Herz sich noch einmal überanstrengt oder ernsthaft weiteren Schaden nimmt.
Johns Träume sind wie so oft ziemlich wirr und dennoch scheinen sie ihm etwas klar machen zu wollen. Träume, an die wir uns erinnern, sind nichts anderes als Probleme, die wir im Schlaf nicht lösen konnten, erinnert sich John. Doch als er am nächsten Morgen nach einigen grundlegenden Untersuchungen auf sein Frühstück blickt, ist es ein Gedanke, der allem plötzlich Sinn und Verstand gibt.
»Dieses Essen könnte Sherlock für mich ausgewählt haben«, denkt er in Erinnerung an dessen deduktive Fähigkeiten.
In seinem Kopf macht es peng, eine ganze Stadt scheint zu erleuchten. Nicht ein einzelnes Licht geht in seinem Kopf an, es ist als würde die Sonne aufgehen und alles in gleißendes Licht tauchen. John möchte sich mit der Hand gegen die Stirn schlagen, die Wand mit seinem Schädel zertrümmern, so dumm kommt er sich gerade vor. Zu seinem Glück macht er nichts davon. Wahrscheinlich würde er sich nicht nur gründlich selbstverletzen, sondern auch noch Zweifel an seiner geistigen Gesundheit aufkommen lassen.
»Irgendjemand muss mich doch gesehen haben, obwohl da keiner hätte sein sollen. Auf jeden Fall muss schon bald nach meiner Ohnmacht ein Rettungswagen vorgefahren sein und hat mich in ein naheliegendes Krankenhaus gebracht. Eigentlich haben sie gar keine Notaufnahme, haben aber eine Ausnahme gemacht, weil die anderen Krankenhäuser hoffnungslos überbelegt waren«, erzählt er Sherlock. Gleichzeitig verschweigt John dennoch, was er noch so erfahren hat, oder zumindest glaubt erfahren zu haben. Er wird der Sache noch einmal nach gehen, es ist jetzt nichts, was er ausbreiten will. Vor allem nicht hier. John ist sich eben auch nicht sicher, ob er richtig liegt, außerdem ist Sherlock Mycrofts Bruder. Wie tief mag ihre Verbindung sein? Meist ist Blut eben doch dicker als Wasser.
Sein Psychiater sagt nichts dazu und lässt ihn erst mal weiter erzählen, sodass John erneut abdriftet und alles wieder erlebt. Sherlock weiß, dass John ihm etwas verschweigt, aber manchmal muss ein Patient Dinge zuerst mit sich selbst ausmachen. In diesem Fall wird er nicht Nachboren.
Schon im Februar hatte er das Gefühl, dass er von Kameras verfolgt wird. Er hat es auf eine beginnende Paranoia geschoben und sich vorgenommen mit Sherlock darüber zu sprechen, doch ist er immer wieder darüber hinweg gekommen. Vielleicht wollte er auch einfach nicht zugeben, doch verrückt zu werden; immerhin war er doch auf dem Weg der Besserung. Es hat sich bis in den März gezogen, ja selbst hier hatte er ja das Gefühl verfolgt zu werden, als würden die Kameras ein Eigenleben entwickeln. Sherlocks Nachricht, die so passend kam, als er gerade aufgeben wollte, die Kamera die vorher auf ihn gerichtet war und sich dann wieder zur Kreuzung drehte. Die Kamera die sich genau in der Richtung befand, in die er zu letzt geblickt hatte, die Kamera die sich auch morgens schon um 180 Grad gedreht hatte. Kameras an gefühlt jeder Ecke.
John wird schlecht, als er darüber nachdenkt, was das genau bedeutet. Er wird verfolgt von jemandem, der so mächtig ist, dass er das CCTV unter Kontrolle hat und nutzen kann. Es ist, als würde die britische Regierung ein Auge auf ihn haben, der gesamte Geheimdienst. Der Secret Service.
Erneut macht es Klick und wieder möchte John sich selbst schlagen. Dr. Mycroft Holmes, dem garantiert nicht ohne Grund Verbindungen zum Geheimdienst nachgesagt werden. Mycroft Holmes, der auch an die Kameras käme, der in diesem Fall genügend Macht und Geld hätte, das hier zu ermöglichen. Ist er es? Aber was will er von ihm? Er ist für niemanden von Belang, vermutlich würde kaum einer sein Fehlen wirklich bemerken.
Diese Fragen lassen ihn nicht mehr los, auch wenn er keine zufriedenstellende Antwort darauf findet. Was soll er denn auch denken? Irgendwie ergibt alles einen Sinn und auch wieder nicht. Dass Dr. Holmes dahinter steckt macht Sinn, aber was um Himmelswillen will er von ihm? Er ist der Patient seines Bruders; Patient in der gemeinsamen Praxis, aber er wird garantiert nicht jeden Patienten überwachen lassen. Zu viel Arbeit für zu unwichtige Personen. Es scheint, als würde der Arzt etwas wissen, von dem John keine Ahnung hat. Doch die Frage ist, was er nicht weiß. Instinktiv ahnt John, dass er es so bald nicht erfahren wird und er es eigentlich gar nicht wissen möchte. Diese Fragen wird er noch eine ganze Weile innerlich wälzen und vermutlich nicht mehr so unbedacht über die Straße gehen. Er wird von einem mächtigen Mann mit Zugriff auf CCTV verfolgt, der vermutlich Dr. Mycroft Holmes ist; und er hat keine Ahnung warum. Ein Rätsel, das seine Konzentration und Aufmerksamkeit erfordert. Vielleicht sollte er, wenn er zurück in London ist, doch mal einige alte Freunde aufsuchen, die Karriere gemacht haben.
Aber seine Gedankengänge werden schon bald unterbrochen als sein behandelnder Arzt wie angekündigt sein Zimmer betritt, um mit ihm zu besprechen, was passiert ist.
»Was ist denn passiert John?«, fragt Sherlock natürlich im passenden Moment. Der Mann hat ein Timing, unschlagbar!, denkt John sarkastisch. »Ich kann mir bei Ihnen eigentlich nicht vorstellen, dass es zu viel Adrenalin war. Ihr Herz müsste das aus Afghanistan längst gewöhnt sein, deshalb hätte das gar nicht passieren dürfen.«
Sherlock verschweigt, dass er sich schuldig fühlt, dass John überhaupt in diese Situation kam. Hätte er, Sherlock, nicht voraussehen müssen, dass es zuviel für das Herz sein würde? Hätte er nicht irgendwelche Anzeichen sehen müssen? Er ist Arzt, es hätte ihm auffallen müssen. Und dennoch ist es ihm nicht aufgefallen.
»Es war nicht direkt das Adrenalin, das die Attacke hervorgerufen hat. Zum Glück war es auch kein Herzinfarkt! Der Kardiologe meinte, dass es eher eine Art Warnschuss gewesen sei. Scheinbar bekommt es meinem Herzen nicht, dass ich jetzt eine lange Phase voller Ruhe hatte und plötzlich wieder auf meinem alten Adrenalinlevel war.« Es ist die stark verkürzte Version ohne genaue Diagnosen und Testberichte. Natürlich, Sherlock würde sie verstehen, genauso wie er, John, sie verstanden hatte. Mit all ihren Konsequenzen, mit der Frage ob er lieber ein dauerhaft ruhiges Leben oder doch eher ein aufregenderes Leben führen will. Mit der Verzweiflung, die für ihn damit einhergeht, dass er sich für eine Seite entscheiden muss.
John weiß, er sollte mit seinem Arzt darüber sprechen, sollte sich nicht für seine Ängste schämen und dennoch kostet es ihn einiges an Überwindung Sherlock direkt in die Augen zu sehen und auszusprechen, was er selbst nicht wahrhaben will.
»Ich bin verzweifelt, ich weiß nicht, was ich machen soll«, erklärt er leise, hoffend da Sherlock nicht nachfragt. Doch Sherlock hebt nur eine Augenbraue und bedeutet ihm so, doch bitte fortzufahren. Natürlich weiß Sherlock schon längst, dass er Angst hat, dennoch muss John es aussprechen.
Verdammt noch mal John, herrscht ihn sein innerer Captain an, sei kein Feigling und rede endlich Klartext! Was soll er denn von dir halten?
»Ich führe endlich ein ruhiges Leben, genauso eins, wie ich es immer führen wollte. Ich habe einen tollen Job gefunden, der mir wirklich Spaß macht und mir sogar eine richtige Wohnung finanzieren könnte. Ich komme immer mehr raus und fühle mich einfach so gut wie lange nicht mehr. Ich will nicht, dass das aufhört, ich fange gerade an zu genießen, was ich habe. Aber ich merke, dass es mir nicht reicht. Ich kann kein dauerhaft ruhiges Leben führen, genauso wenig kann ich aber immer in Gefahr schweben, beim letzten Versuch mich zur Zielscheibe zu machen, wurde ich getroffen. Was bitte soll ich machen?!«, bricht es aus ihm heraus. Zum Ende hin ist er immer lauter geworden um jetzt in einem Laut zu enden, den man durchaus als Schluchzen ansehen kann. Er führt ein gutes Leben, eines das er immer wollte und dennoch ist es nicht das Richtige für ihn. Er spürt es selbst und sein Körper scheinbar auch. Doch die Möglichkeit eines Lebens in der Balance aus Adrenalin und Entspannung sieht er auch nicht, er kennt nur die Extremen beider Seiten.
»Ich kann doch nicht nur so ruhig leben, aber auch immer wieder auf diesem Adrenalinpegel bleiben. Endlich ist es so, wie ich es will und ich darf es nicht weiterhin so halten«, fügt John weitaus leiser an und greift schließlich zu seinem Tee, den Sherlocks Sekretärin zwischendrin gebracht hatte. An ihm kann er sich festhalten und muss nicht hoch in Sherlocks Gesicht schauen. Er kommt sich gerade so schrecklich klein und dumm vor, unbedarft und verzweifelt – so war er doch nie!
Als Sherlock dieses Mal seine Stimme erhebt, ist sie weit weicher, als John sie jemals erlebt hat. Beinahe würde John sie als liebevoll bezeichnen, doch das ist schlicht nicht möglich. Sherlock ist Johns Arzt und die Gesetze sind ziemlich eindeutig dazu. Vielleicht können sie ja irgendwann eine gute Freundschaft etablieren, aber das wird auch schon alles sein. Sich mehr zu wünschen ist nicht gut, es wird ihm nur Probleme machen – außerdem ist ihm Sherlock als Psychiater viel zu wichtig um ihr Verhältnis durch eine Schwärmerei aufs Spiel zu setzen.
»Ich bin mir sicher, dass sich das alles nicht als so schwer darstellen wird, wie es Ihnen gerade erscheint. Die nächsten Wochen werden Sie doch sowieso medikamentös behandelt werden, oder irre ich mich da?«, John antwortet nicht, Sherlock irrt sich bei so etwas nicht, wie John nur zu gut weiß. »Wer weiß, was die nächste Zeit für Sie bereit halten wird.«
Kurz schweigen sie sich an, John lässt sich Sherlocks Worte gut durch den Kopf gehen und sieht dennoch keinen besseren Ausgangspunkt für sich. Aber er hat schon recht, denn was bringt es ihm, wenn er sich jetzt verrückt macht?
»Aber immerhin passiert Ihnen auch Gutes«, sagt Sherlock und bringt John so dazu ihn wieder anzusehen. Was hat er jetzt schon wieder deduziert, fragt sich John nicht zu Unrecht. Manchmal erscheint es ihm so, als wüsste Sherlock schon alles, bevor er es selbst weiß. John würde es nicht gruselig nennen, aber es ist manchmal doch dezent unheimlich. Und faszinierend, und unheimlich, und faszi… »Ich habe Sie vor ein paar Tagen in Coram’s Fields gesehen. Scheinbar haben Sie Ihren Radius ja noch einmal um einiges erweitert.« Erklärt Sherlock schließlich und beobachtet genau Johns Reaktion.
»Tatsächlich gehe ich dort mittlerweile jeden Samstag und Sonntag hin. Nachmittags ist es dort einfach wunderbar«, sagt John nicht ohne Stolz. Es ist ein ziemlicher Weg für ihn, er muss mit der Metro fahren und sich durch Touristenmassen quälen, dennoch tut er es. Auch jetzt nach seiner Herzattacke. Ja doch, das ist etwas, dass ihn unglaublich stolz macht. Und zu sehen, wie dort kleine Kinder spielen und noch nichts von der Welt die sie erwartet ahnen, macht ihn hoffnungsfroh, dass sie vielleicht so manches doch nicht sehen müssen.
Sie reden noch etwas weiter über seine Fortschritte und seinen Radius, bis sich ihre heutige Sitzung langsam dem Ende nähert. Sherlock spricht John noch einmal Mut zu und verabschiedet ihn dann, mit den Worten, dass alles schon nicht so schlimm werden wird, wie er gerade glaubt. Sherlock schenkt ihm ein Lächeln, dass so viel mehr ausdrücken soll, als es ein Schulterklopfen könnte und wünscht ihm dann eine schöne Woche.
Kaum hat John das Büro verlassen, lässt Sherlock seine Maske fallen. Etwas anderes war es heute den ganzen Tag nicht, vielleicht wirkte er deshalb so teilnahmslos. Zumindest kam er sich selbst teilnahmslos vor. Er konnte sich kaum konzentrieren und wird heute Abend wohl noch einmal die Tonbänder abhören müssen. Ein Glück, dass er doch immer Aufzeichnungen anfertigt, wenn gleich er sie so selten braucht.
Major Sholto, einfach so von einem Auto überfahren, irgendwie will es ihm nicht einleuchten. Aber ihm geht auch zuviel im Kopf herum. Immerhin kannten sie sich zu gut und zu lange, als dass er seinen Tod einfach so wegstecken könnte.
Die Gedanken, die er auf dem Friedhof hatte, die viel zu persönlich waren. Die er nicht über Sholto, sondern über John Watson hatte. Dr. John Watson, der derzeit seine Gedanken beherrschte und es nicht sollte. Er hatte mit fünf kleinen Sätzen seine ganze Argumentation ins Fallen gebracht. Sherlock stützte sie auf zwei Pfeiler, die eine Basis bildeten, dass er sich selbst nicht verlor. Nun stand von beiden Pfeilern allerdings nur noch der eine, der besagte, dass John Watson noch immer ein Patient war. Dennoch, der Turm wackelte kräftig seit Johns Verabschiedung.
John war eigentlich schon zur Tür raus, hatte die Hand nur noch an der Klinke um sie zu schließen, als er sich noch einmal umdrehte und Sherlock ins Gesicht schaute:
»Als ich in Kirkcaldy vor meinem Elternhaus lag, habe ich nur eines bereut. Dass ich meinen Freunden und mir selbst gegenüber nicht aufrichtig war. Ich weiß, dass ich auch in unseren Gesprächen immer wieder betont habe nicht schwul zu sein und das stimmt auch immer noch, aber um ehrlich zu sein: Bi war ich schon immer. Das sollten Sie vielleicht mit in ihre Akte nehmen.«
Und mit diesem Ausspruch und seinem Lächeln ist die Stütze eingestürzt, wie ein Hochhaus, das in einem Rutsch gesprengt wurde. Ein Kartenhaus, das in sich zusammenfällt. Während John sich wieder abgewendet und diesmal endgültig das Zimmer verlassen hat, entglitten Sherlock die Gesichtszüge. Behände musste er seine Argumentation, einen ganzen Turm wieder umbauen, sodass er im Gleichgewicht ist und nicht doch noch zusammen fallen wird. Das ganze Konzept von »nicht schwuler Patient« stützte sich nur noch auf »Patient«. Vorsichtig schachtelte er Argument um Argument um, sodass alles im Gleichgewicht blieb und vergaß darüber bis jetzt die Zeit.
Ein Klopfen reißt ihn aus seinen Gedanken und noch bevor er die Maske wieder aufsetzen und seinen Besucher hereinbitten kann öffnet sich die Tür. Sein herzallerliebster Bruder betritt auch sogleich sein Büro und bleibt nahe der Tür stehen. Nun wäre die Maske auch egal, sein Bruder konnte ihn schon immer Lesen wie ein Buch. Auch wenn er seinen inneren Konflikt sehen muss, ignoriert er ihn geflissentlich – so wie er alles ignoriert, dass ihm nicht gefällt.
»Lestrade rief gerade unten an, sie haben tatsächlich Anzeichen dafür gefunden, dass es kein Unfall war. Ich habe meine Leute schon drauf angesetzt, ich weiß, dass er Dir viel bedeutet hat.« Ungesagt schwingt mit, dass er auch ein Kamerad ihres Vaters war und er Mycroft beinahe genauso viel bedeutete wie Sherlock. Major Sholto, ein Kamerad ihres Vaters, zeitweise beinahe ein Onkel für sie, der dann ausgerechnet aus seinem allerletzten Einsatz gebrochen zurückkehrte und nur Sherlock oder Mycroft vertrauen wollte. Ein guter Freund, der bald schon auch ein Patient war.
Kurz darauf verschwindet auch sein großer Bruder wieder, allerdings nicht ohne ihm von der Tür aus noch einen unmissverständlichen Blick zu zuwerfen.
Er ist dein Patient und selbst wenn er es nicht wäre: Du weiß, wie es beim Letzten mal ausgegangen ist. Es lohnt sich nicht, sich um andere zu sorgen, sie sorgen sich auch nicht um dich. Liebe ist sowieso einer der größten Irrtümer der Welt, nichts als ein Gemisch aus Pheromonen, Hormonen und einem Hang zur Fortpflanzung. Vergiss ihn!
Kaum hat er das Zimmer verlassen, dreht sich Sherlock erneut dem Fenster zu, atmet tief durch und bringt mühsam seine Gedanken in Ordnung. Vermutlich – wohl sogar garantiert – hat Mycroft recht damit, dennoch… Es klingt bockig und kindisch, aber Sherlock will das einfach. (Und genau das, könnte ihm noch zum größten Verhängnis werden.)
Doch bevor er sich diesem Problem zuwendet, muss Sherlock erst zwei Anrufe erledigen und ein paar Dinge in Ordnung bringen. Der erste Anruf geht an Detective Inspector Greg Lestrade, dem er seine Hilfe anbietet – aufzwingt! – und von dem er alle Akten zu Sholto fordert. Der zweite geht an einen alten Studienfreund, den er viel zu lange nicht mehr angerufen hat. Vielleicht kann er Sherlock nützlich sein, zumindest wenn seine Informationen noch stimmen.
TBC
[23.04.2017 // 4534 Worte]