Willkommener Neuanfang
von Monster144
Kurzbeschreibung
Als John Watson zum ersten Mal die Praxis betritt, weiß er nicht, wie wichtig ihm diese Sitzungen in Zukunft sein werden. Er weiß nur, dass es so nicht weiter geht, dass er endlich wieder leben will. Egal wie anstrengend oder mühsam, schmerzvoll oder zerstörerisch, er ist an einem Punkt von dem aus es nur noch zwei Möglichkeiten gibt. Die Waffe ein letztes Mal zu erheben oder endlich wirklich Hilfe anzunehmen. Er wählt die zweite Möglichkeit und fordert sämtliche Gefallen ein, um einen zeitnahen Termin bei dem renommierten und angesehenen Dr. Sherlock Holmes zu bekommen. (Alternative Universe)
GeschichteSchmerz/Trost, Liebesgeschichte / P12 / MaleSlash
Dr. John Watson
Sherlock Holmes
28.01.2017
20.03.2018
12
39.414
26
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26.03.2017
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»Was machst Du denn hier?«, sind ihre ersten Worte, die sie seit Langem mit ihm spricht. Genauer gesagt seit seinem Anruf aus dem Krankenhaus, damals hat er sich bei ihr gemeldet und um Hilfe gebeten, so wie sie es immer tat. John weiß nicht, was er darauf erwidern soll. Denn es überrascht ihn nicht mehr, doch es ist verletzend, immer und immer wieder. Vielleicht ist er wütend, dass sie es wieder vergessen hat, oder ist er traurig, ob dieser überaus liebevollen Begrüßung? Wahrscheinlich ist es etwas von beidem. Eigentlich hätte er es wissen müssen, besser wissen müssen, aber er hat wieder einmal das Falsche erwartet. Einfach nur das Angebot eines heißen Tees nach einer Zugfahrt von über fünf Stunden zu ihr hinaus nach Kirkcaldy. John hätte ihn garantiert nicht angenommen, sie kocht fürchterlichen Tee, doch die Geste zählt! Wenn er so drüber nachdenkt, erschreckt John jedoch am meisten, dass es ihn nicht erschreckt.
»Es ist auch schön, Dich zu sehen, Schwesterherz!«
Er kann diesen sarkastischen Ton nicht lassen, zu sehr schmerzt die Erkenntnis, dass Harriet wieder trinkt. Zu sehr schmerzt die Erkenntnis, dass ihn auch das nicht überrascht. Es ist reiner Selbstschutz für John, wenn er die Welt durch Bitterkeit und Sarkasmus betrachtet, kommt sie ihm manchmal nicht mehr ganz so schlimm vor. Wenn er Harry durch seinen Sarkasmus betrachtet, kommt ihm alles etwas weniger wirklich vor. Garantiert sollte er darüber in der nächsten Sitzung mit Sherlock reden – unglaublich, dass er bei ihm nicht mehr an Doktor Holmes, sondern lediglich an Sherlock denkt.
John sollte doch so viel Vertrauen in seine Schwester haben, dass er es nicht hätte kommen sehen können. Soll er denn wirklich das letzte bisschen Vertrauen in seine große Schwester verloren haben?
»Aber vielleicht hast Du nicht das Vertrauen in Harry verloren«, flüstert ihm eine Stimme, »Du kennst doch das Krankheitsbild, Du weißt, wie schnell man rückfällig werden kann. Abgesehen davon, wenn Du dich besser um sie gekümmert hättest…«
Dennoch, er kann das nicht, er will das nicht und überhaupt. John macht jetzt das, was er noch nie gemacht hat, er gibt auf und macht auf dem Absatz kehrt. Als würde jemand ahnen, was er gerade im Begriff ist zu tun, unterbricht ihn sein vibrierendes Handy. Das Handy, das ihm seine trinkende Schwester schenkte, mit dem deutlichen Hinweis, dass er ja so Kontakt aufnehmen und sich nicht auf ihre Hilfe verlassen müsste. Ein sehr schlechter Witz, noch schlechter getimt. John will es nehmen, so stark in der Hand halten, dass seine Knöchel weiß hervortreten und es dann mit Schwung und Wut, neben Harry gegen die Hauswand werfen. Wut hat er genug, dennoch tut er es nicht. Weil er sich unter Kontrolle hat, weil er den Wert des Smartphones kennt – den materiellen, einen ideellen hat es für ihn nicht. Schließlich nimmt er es hervor und blinzelt verwirrt auf den Absender der Nachricht.
»Sie müssten jetzt vor dem Haus Ihrer Schwester stehen. Egal was sie sagt oder wie stark ihre Alkoholfahne ist, bleiben Sie dort! Sie haben nur diese eine Chance und müssen sie nun nutzen. Ich verlasse mich auf Sie! SH«
Manchmal ist es erschreckend, wie gut Sherlock die Dinge einschätzen kann, aber sicher weiß er, wann sein Zug angekommen ist und wie weit es ungefähr zu Fuß sein wird. Er ist ziemlich gut in diesen Berechnungen. Dennoch kommt John nicht umhin, sich einmal um die eigene Achse zu drehen und nach seinem Arzt Ausschau zu halten. Das Einzige, was er entdeckt, ist eine Verkehrskamera, die scheinbar bis gerade auf ihm ruhte und sich nun wegdreht. Beinahe wie ein Mensch, schießt es John durch den Kopf. Ich sollte mit Dr. Holmes vielleicht doch mal über meine Verfolgungsangst reden. Nach mir drehen sich doch garantiert keine Kameras um und schon gar nicht mit menschlichen Verhaltensweisen.
Letztlich geht John nicht; er murmelt nur einen Fluch, der sich sowohl auf seine trinkende Schwester, als auch auf den scheinbar allwissenden Doc beziehen kann. Schnell greift John sich seinen Koffer und geht an seiner verblüfften Schwester vorbei ins Haus. Ohne drüber nachzudenken, hängt er seine Jacke in ihrem Windfang auf, öffnet die zweite Tür und betritt den kleinen Flur. Ohne einen Blick zurück auf Harry zu werfen, stapft er die Treppe nach oben und betritt das Gästezimmer. John macht es ganz intuitiv, denkt nicht weiter drüber nach, immerhin ist es sein Elternhaus. Er wird sich diese Chance nicht nehmen lassen, von nichts und niemandem – auch nicht von sich selbst, wenn gleich sein Fluchtinstinkt immer noch in ihm brodelt. Wenn Harry ihm wieder Vorwürfe machen will, soll sie es bitte tun, aber diesmal muss sie, ob sie will oder nicht, ihm dabei ins Gesicht blicken. Sie soll einmal in ihrem Leben den Mut aufbringen, ihm alles direkt ins Gesicht zu sagen und nicht über ihre Eltern, per Nachricht oder am Telefon. Sie soll sehen, was es mit ihm macht, wie es ihm damit geht, dass er nicht so kalt wie ein Stein ist, wie sie schon des Öfteren behauptet hat.
Im Gästezimmer kann John nicht verhindern, dass er versucht die Verbindungstür zum Hauptschlafzimmer zu öffnen. Als er sie unverschlossen vorfindet, verlässt er das ehemalige Babyzimmer und untersucht stattdessen Harrys Schlafzimmer auf der Suche nach möglichem Alkohol. Als er keine Flaschen vorfindet, atmet er erleichtert auf, denn auch wenn sie wieder trinkt, kann sie noch nicht so tief drin stecken, wenn sie noch Ordnung hält. Gleichzeitig macht es John Sorgen, denn solche Ordnung hält sie meistens nur, wenn sie hofft, dass Clara zu ihr zurückkehrt und das wird Clara nicht tun. Als sie das letzte Mal gegangen ist, war es tatsächlich zu Ende, zuviel hat Harry ihr schon zugemutet und angetan. John weiß das so genau, weil ausgerechnet Clara seine beste Freundin war – bevor er herausgefunden hat, dass er sie liebt und nachdem er herausgefunden hat, dass sie nicht das ist, was er braucht – und ihn noch in Afghanistan angerufen und sich bei ihm ausgeheult hat. Kurz danach ist er angeschossen worden und Clara gibt sich seitdem die Schuld an seiner Verletzung, leider Gottes kann er genau jetzt eine Freundin wie Clara gut gebrauchen.
Wie so viele andere Gedanken wischt er auch diesen bei Seite. Er ist nicht hier, um Clara und ihrer Freundschaft hinterher zu trauern oder Harry auszuspionieren. Er ist für sich hier, für seinen verkorksten Kopf, um sich seinen Ängsten und ihren Ursprüngen zu stellen. Um sich seinen Schuldgefühlen zu stellen, von denen er bis vor Kurzem noch behauptet hat sie nicht zu empfinden, doch seine Brust ist garantiert nicht ohne Grund so seltsam eng.
Schließlich geht er zurück in sein temporäres Schlafzimmer, schließt die Tür zu Harrys und öffnet seinen Koffer. Er wird ihn nicht ausräumen, denn irgendwie weiß er jetzt schon, dass er nicht wie gedacht erst Montag morgen den ersten Zug nehmen wird. Harry wird es machen wie jedes Mal am Telefon, sie wird ihn beschuldigen ihr Leben verpfuscht zu haben. Eigentlich sollte er sich nun in die Küche begeben, dort einen Tee aufsetzen und versuchen seine Schwester auszunüchtern, damit er dieses Gespräch endlich hinter sich bringen kann. Er schafft es nicht, er setzt sich stattdessen auf sein Bett und lässt sich müde nach hinten fallen. Es ist als wolle sein Körper schon im Vorfeld auf das, was ihn erwarten wird, kapitulieren. John ist wirklich unglaublich müde und würde liebend gerne das ganze anstehende Gespräch einfach verschlafen. Doch so einfach will er es sich auch selbst nicht machen und steht schon nach wenigen Minuten Ruhepause wieder auf den Beinen, bereit endlich sein Leben in Angriff zu nehmen.
Sein Weg führt ihn aus dem Gästezimmer in den Flur, die Treppe runter und dann rechts in die Küche. Natürlich wird er sie da finden, denn auch wenn sie nicht mehr fünf und zehn Jahre alt sind, ist die Küche immer noch das Herz des Hauses. Unterdessen verlässt ihn der Mut, die Haustür scheint ihn zu locken und dennoch geht er nach rechts in die Küche.
Als er die Küche betritt, sitzt Harry schon vor einem Glas Rotwein; garantiert weder das erste noch das letzte für heute. Beinahe freut es ihn, dass sie noch Gläser benutzt. John setzt sich zu ihr, versucht den Geruch zu ignorieren und in ihrem ganzen Lallen noch einen Sinn zu finden. Was er Heraushöhren kann, ist genau das, was er geahnt hat. Weitere Vorwürfe, weitere Beleidigungen, weiterer Schmerz für ihn. Aber vielleicht muss er das auch hören, alles noch einmal durchmachen, damit ihm klar wird, was ihm jeder sagt: Es ist nicht seine Schuld, ist es nie gewesen.
John lässt Harry reden, lässt sich anschreien und beinahe anpöbeln. Wieder darf er sich anhören, dass Harry ja nur wegen ihm trinkt. Dass er nicht da war, weder um sie vom Trinken abzuhalten noch um sie vor der bösen Welt zu beschützen. John verzichtet darauf, ihr zu sagen, dass eigentlich sie auf ihn aufpassen müsste. Er verzichtet darauf auf den wachsenden Druck in seinem Brustkorb, zu reagieren. Seine Schuldgefühle helfen ihm jetzt auch nicht weiter, geschweige denn dieses verletzte Gefühl in seinem Inneren. Harry gehört zu den Menschen die, wenn sie merken, wie sehr sie jemanden verletzen, extra noch einmal weiter machen. Sie wird dann nur noch gröber und verletzender, das hat er als Kind und Jugendlicher leider schon zu oft erleben müssen.
Harry lallt und brüllt, sie weint und seufzt, sie schlägt um sich und bricht zusammen, wenn sie nicht gerade lacht. Harry durchläuft alle ihre Stadien in kürzester Zeit. John sagt nichts dazu, Harry würde ihn auch so nicht hören. Selbst wenn sie nicht betrunken und von ihren Emotionen gefangen wäre, sie würde ihn nicht hören. Harry konnte schon immer gut überhören, was ihr nicht gefiel. Es ist aber auch nicht nötig mit ihr zu reden, so gibt sie ihm mehr preis, als sie es sonst täte, sie macht ihm etwas klar, was John längst hätte ahnen können. Immer und immer wieder nennt sie Claras Namen, nennt ihn in jedem Zusammenhang, beschuldigt ihn eine Affäre mit ihrer Frau zu haben, beschuldigt sie, nicht genügend gekämpft zu haben. Immer deutlicher wird mit den Schimpftriaden, dass all ihre Gründe zu trinken nichts als Ausreden waren. Sie trinkt, weil sie ihre eigene Existenz nicht erträgt, weil sie nun niemanden mehr hat, der sie daran erinnert, dass sie auch gute Zeiten und Seiten hatte. Clara hat sie mit ihrem Trinken schon fortgetrieben, John nun auch endgültig.
John nimmt das Smartphone zur Hand das einmal ihr gehörte und es auch gleich wieder wird. Er muss nun endgültig einen Schlussstrich ziehen, er wird das tun, was sie schon einmal tat. Die SIM-Karte ist schnell entfernt, das Handy zurückgesetzt und liegt wieder auf dem Küchentisch. Sie weiß ja, wie er zu erreichen ist, wenn sie ihn erreichen will, muss sie nur telefonieren, aber er wird kein Bett für sie frei haben. Es klingt hart, das weiß er selbst und ein nicht geringer Teil von ihm, möchte all das nicht, doch er weiß, dass es so besser ist. John ist nicht für seine Schwester verantwortlich, er ist nur für sich verantwortlich.
Er steht auf und plötzlich ist es da, dieses Stechen, das schon die ganze Zeit wie ein Damoklesschwert über ihm hing. Der Schmerz explodiert in der linken Seite seines Oberkörpers und nimmt ihm die Luft. Auch ohne sein Studium ist ihm erschreckend klar, was es bedeutet. All seine Schuldgefühle, die auf ihn Druck ausübten, waren nichts anderes als der Beginn einer Herzattacke. Schwarze Punkte tanzen vor seinen Augen und seine Beine versagen ihm den Dienst, der Boden ist auf einmal so nah. Harry kann ihm nur noch nachgucken und registriert gar nicht, was da vor ihren Augen passiert, lieber gießt sie sich noch einen ein. Sein Handy ist nicht mehr funktionsfähig und auch wenn er den Notruf noch so absetzen kann; John weiß, dass er nicht mehr sprechen kann vor Schmerz, geschweige denn nach oben bis zu dem Telefon zu gelangen.
Die Punkte verdichten sich, kündigen eine Ohnmacht an, die in seinem Fall tödlich enden kann. Seine letzte Chance ist es nach draußen an die Straße zu gelangen, irgendwohin wo ihn jemand sehen und Hilfe rufen kann. Der Schmerz ist überall, schnürt ihm die Luft ab und behindert sein Denken. John kann nur hoffen und beten, dass Harry zu betrunken war um die Haustür komplett zu schließen, die Klinke wird er nicht mehr erreichen. Eigentlich müsste er längst endgültig zusammenbrechen und ohnmächtig werden, doch es gibt zwei Dinge die ihn aufrecht halten – so aufrecht man sein kann, wenn man durch einen Flur kriecht. Er ist, erstens, Captain John Hamish – fucking! – Watson und, zweitens, wird er nicht in seinem Elternhaus, dass nun seiner saufenden Schwester gehört jämmerlich krepieren.
Die Tür zum Windfang steht sperrangelweit offen, die Haustür ist nur angelehnt. Mit einer Kraft von der John nicht weiß woher er sie nimmt, kann er die Tür gerade genug öffnen und sich tatsächlich aus dem Haus schleppen. Die drei Stufen vor dem Haus fällt er mehr, als dass er sie kontrolliert überwindet, doch da verlässt ihn auch schon die Hoffnung und die Kraft. Er hat es vergessen, wie hat er es vergessen können. Das hier ist Kirkcaldy und nicht London, hier wird der Hund um 17 Uhr begraben und danach die Bürgersteige hochgeklappt. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen, die ihm helfen kann. John bricht endgültig zusammen, seine Welt versinkt in mattem Schwarz, das ihn mit Schmerzfreiheit und Ruhe zu sich lockt. Sein letzter Gedanke gilt sich selbst und seinen Freunden, dass er alle, sich selbst am Meisten, jahrelang belogen hat. Noch einmal würde er sich nicht so verleugnen, aber dafür ist es nun zu spät. Noch einmal schaut er in die Richtung, in die er auch heute Morgen schaute und schließt dann endlich die Augen.
»Es ist auch schön, Dich zu sehen, Schwesterherz!«
Er kann diesen sarkastischen Ton nicht lassen, zu sehr schmerzt die Erkenntnis, dass Harriet wieder trinkt. Zu sehr schmerzt die Erkenntnis, dass ihn auch das nicht überrascht. Es ist reiner Selbstschutz für John, wenn er die Welt durch Bitterkeit und Sarkasmus betrachtet, kommt sie ihm manchmal nicht mehr ganz so schlimm vor. Wenn er Harry durch seinen Sarkasmus betrachtet, kommt ihm alles etwas weniger wirklich vor. Garantiert sollte er darüber in der nächsten Sitzung mit Sherlock reden – unglaublich, dass er bei ihm nicht mehr an Doktor Holmes, sondern lediglich an Sherlock denkt.
John sollte doch so viel Vertrauen in seine Schwester haben, dass er es nicht hätte kommen sehen können. Soll er denn wirklich das letzte bisschen Vertrauen in seine große Schwester verloren haben?
»Aber vielleicht hast Du nicht das Vertrauen in Harry verloren«, flüstert ihm eine Stimme, »Du kennst doch das Krankheitsbild, Du weißt, wie schnell man rückfällig werden kann. Abgesehen davon, wenn Du dich besser um sie gekümmert hättest…«
Dennoch, er kann das nicht, er will das nicht und überhaupt. John macht jetzt das, was er noch nie gemacht hat, er gibt auf und macht auf dem Absatz kehrt. Als würde jemand ahnen, was er gerade im Begriff ist zu tun, unterbricht ihn sein vibrierendes Handy. Das Handy, das ihm seine trinkende Schwester schenkte, mit dem deutlichen Hinweis, dass er ja so Kontakt aufnehmen und sich nicht auf ihre Hilfe verlassen müsste. Ein sehr schlechter Witz, noch schlechter getimt. John will es nehmen, so stark in der Hand halten, dass seine Knöchel weiß hervortreten und es dann mit Schwung und Wut, neben Harry gegen die Hauswand werfen. Wut hat er genug, dennoch tut er es nicht. Weil er sich unter Kontrolle hat, weil er den Wert des Smartphones kennt – den materiellen, einen ideellen hat es für ihn nicht. Schließlich nimmt er es hervor und blinzelt verwirrt auf den Absender der Nachricht.
»Sie müssten jetzt vor dem Haus Ihrer Schwester stehen. Egal was sie sagt oder wie stark ihre Alkoholfahne ist, bleiben Sie dort! Sie haben nur diese eine Chance und müssen sie nun nutzen. Ich verlasse mich auf Sie! SH«
Manchmal ist es erschreckend, wie gut Sherlock die Dinge einschätzen kann, aber sicher weiß er, wann sein Zug angekommen ist und wie weit es ungefähr zu Fuß sein wird. Er ist ziemlich gut in diesen Berechnungen. Dennoch kommt John nicht umhin, sich einmal um die eigene Achse zu drehen und nach seinem Arzt Ausschau zu halten. Das Einzige, was er entdeckt, ist eine Verkehrskamera, die scheinbar bis gerade auf ihm ruhte und sich nun wegdreht. Beinahe wie ein Mensch, schießt es John durch den Kopf. Ich sollte mit Dr. Holmes vielleicht doch mal über meine Verfolgungsangst reden. Nach mir drehen sich doch garantiert keine Kameras um und schon gar nicht mit menschlichen Verhaltensweisen.
Letztlich geht John nicht; er murmelt nur einen Fluch, der sich sowohl auf seine trinkende Schwester, als auch auf den scheinbar allwissenden Doc beziehen kann. Schnell greift John sich seinen Koffer und geht an seiner verblüfften Schwester vorbei ins Haus. Ohne drüber nachzudenken, hängt er seine Jacke in ihrem Windfang auf, öffnet die zweite Tür und betritt den kleinen Flur. Ohne einen Blick zurück auf Harry zu werfen, stapft er die Treppe nach oben und betritt das Gästezimmer. John macht es ganz intuitiv, denkt nicht weiter drüber nach, immerhin ist es sein Elternhaus. Er wird sich diese Chance nicht nehmen lassen, von nichts und niemandem – auch nicht von sich selbst, wenn gleich sein Fluchtinstinkt immer noch in ihm brodelt. Wenn Harry ihm wieder Vorwürfe machen will, soll sie es bitte tun, aber diesmal muss sie, ob sie will oder nicht, ihm dabei ins Gesicht blicken. Sie soll einmal in ihrem Leben den Mut aufbringen, ihm alles direkt ins Gesicht zu sagen und nicht über ihre Eltern, per Nachricht oder am Telefon. Sie soll sehen, was es mit ihm macht, wie es ihm damit geht, dass er nicht so kalt wie ein Stein ist, wie sie schon des Öfteren behauptet hat.
Im Gästezimmer kann John nicht verhindern, dass er versucht die Verbindungstür zum Hauptschlafzimmer zu öffnen. Als er sie unverschlossen vorfindet, verlässt er das ehemalige Babyzimmer und untersucht stattdessen Harrys Schlafzimmer auf der Suche nach möglichem Alkohol. Als er keine Flaschen vorfindet, atmet er erleichtert auf, denn auch wenn sie wieder trinkt, kann sie noch nicht so tief drin stecken, wenn sie noch Ordnung hält. Gleichzeitig macht es John Sorgen, denn solche Ordnung hält sie meistens nur, wenn sie hofft, dass Clara zu ihr zurückkehrt und das wird Clara nicht tun. Als sie das letzte Mal gegangen ist, war es tatsächlich zu Ende, zuviel hat Harry ihr schon zugemutet und angetan. John weiß das so genau, weil ausgerechnet Clara seine beste Freundin war – bevor er herausgefunden hat, dass er sie liebt und nachdem er herausgefunden hat, dass sie nicht das ist, was er braucht – und ihn noch in Afghanistan angerufen und sich bei ihm ausgeheult hat. Kurz danach ist er angeschossen worden und Clara gibt sich seitdem die Schuld an seiner Verletzung, leider Gottes kann er genau jetzt eine Freundin wie Clara gut gebrauchen.
Wie so viele andere Gedanken wischt er auch diesen bei Seite. Er ist nicht hier, um Clara und ihrer Freundschaft hinterher zu trauern oder Harry auszuspionieren. Er ist für sich hier, für seinen verkorksten Kopf, um sich seinen Ängsten und ihren Ursprüngen zu stellen. Um sich seinen Schuldgefühlen zu stellen, von denen er bis vor Kurzem noch behauptet hat sie nicht zu empfinden, doch seine Brust ist garantiert nicht ohne Grund so seltsam eng.
Schließlich geht er zurück in sein temporäres Schlafzimmer, schließt die Tür zu Harrys und öffnet seinen Koffer. Er wird ihn nicht ausräumen, denn irgendwie weiß er jetzt schon, dass er nicht wie gedacht erst Montag morgen den ersten Zug nehmen wird. Harry wird es machen wie jedes Mal am Telefon, sie wird ihn beschuldigen ihr Leben verpfuscht zu haben. Eigentlich sollte er sich nun in die Küche begeben, dort einen Tee aufsetzen und versuchen seine Schwester auszunüchtern, damit er dieses Gespräch endlich hinter sich bringen kann. Er schafft es nicht, er setzt sich stattdessen auf sein Bett und lässt sich müde nach hinten fallen. Es ist als wolle sein Körper schon im Vorfeld auf das, was ihn erwarten wird, kapitulieren. John ist wirklich unglaublich müde und würde liebend gerne das ganze anstehende Gespräch einfach verschlafen. Doch so einfach will er es sich auch selbst nicht machen und steht schon nach wenigen Minuten Ruhepause wieder auf den Beinen, bereit endlich sein Leben in Angriff zu nehmen.
Sein Weg führt ihn aus dem Gästezimmer in den Flur, die Treppe runter und dann rechts in die Küche. Natürlich wird er sie da finden, denn auch wenn sie nicht mehr fünf und zehn Jahre alt sind, ist die Küche immer noch das Herz des Hauses. Unterdessen verlässt ihn der Mut, die Haustür scheint ihn zu locken und dennoch geht er nach rechts in die Küche.
Als er die Küche betritt, sitzt Harry schon vor einem Glas Rotwein; garantiert weder das erste noch das letzte für heute. Beinahe freut es ihn, dass sie noch Gläser benutzt. John setzt sich zu ihr, versucht den Geruch zu ignorieren und in ihrem ganzen Lallen noch einen Sinn zu finden. Was er Heraushöhren kann, ist genau das, was er geahnt hat. Weitere Vorwürfe, weitere Beleidigungen, weiterer Schmerz für ihn. Aber vielleicht muss er das auch hören, alles noch einmal durchmachen, damit ihm klar wird, was ihm jeder sagt: Es ist nicht seine Schuld, ist es nie gewesen.
John lässt Harry reden, lässt sich anschreien und beinahe anpöbeln. Wieder darf er sich anhören, dass Harry ja nur wegen ihm trinkt. Dass er nicht da war, weder um sie vom Trinken abzuhalten noch um sie vor der bösen Welt zu beschützen. John verzichtet darauf, ihr zu sagen, dass eigentlich sie auf ihn aufpassen müsste. Er verzichtet darauf auf den wachsenden Druck in seinem Brustkorb, zu reagieren. Seine Schuldgefühle helfen ihm jetzt auch nicht weiter, geschweige denn dieses verletzte Gefühl in seinem Inneren. Harry gehört zu den Menschen die, wenn sie merken, wie sehr sie jemanden verletzen, extra noch einmal weiter machen. Sie wird dann nur noch gröber und verletzender, das hat er als Kind und Jugendlicher leider schon zu oft erleben müssen.
Harry lallt und brüllt, sie weint und seufzt, sie schlägt um sich und bricht zusammen, wenn sie nicht gerade lacht. Harry durchläuft alle ihre Stadien in kürzester Zeit. John sagt nichts dazu, Harry würde ihn auch so nicht hören. Selbst wenn sie nicht betrunken und von ihren Emotionen gefangen wäre, sie würde ihn nicht hören. Harry konnte schon immer gut überhören, was ihr nicht gefiel. Es ist aber auch nicht nötig mit ihr zu reden, so gibt sie ihm mehr preis, als sie es sonst täte, sie macht ihm etwas klar, was John längst hätte ahnen können. Immer und immer wieder nennt sie Claras Namen, nennt ihn in jedem Zusammenhang, beschuldigt ihn eine Affäre mit ihrer Frau zu haben, beschuldigt sie, nicht genügend gekämpft zu haben. Immer deutlicher wird mit den Schimpftriaden, dass all ihre Gründe zu trinken nichts als Ausreden waren. Sie trinkt, weil sie ihre eigene Existenz nicht erträgt, weil sie nun niemanden mehr hat, der sie daran erinnert, dass sie auch gute Zeiten und Seiten hatte. Clara hat sie mit ihrem Trinken schon fortgetrieben, John nun auch endgültig.
John nimmt das Smartphone zur Hand das einmal ihr gehörte und es auch gleich wieder wird. Er muss nun endgültig einen Schlussstrich ziehen, er wird das tun, was sie schon einmal tat. Die SIM-Karte ist schnell entfernt, das Handy zurückgesetzt und liegt wieder auf dem Küchentisch. Sie weiß ja, wie er zu erreichen ist, wenn sie ihn erreichen will, muss sie nur telefonieren, aber er wird kein Bett für sie frei haben. Es klingt hart, das weiß er selbst und ein nicht geringer Teil von ihm, möchte all das nicht, doch er weiß, dass es so besser ist. John ist nicht für seine Schwester verantwortlich, er ist nur für sich verantwortlich.
Er steht auf und plötzlich ist es da, dieses Stechen, das schon die ganze Zeit wie ein Damoklesschwert über ihm hing. Der Schmerz explodiert in der linken Seite seines Oberkörpers und nimmt ihm die Luft. Auch ohne sein Studium ist ihm erschreckend klar, was es bedeutet. All seine Schuldgefühle, die auf ihn Druck ausübten, waren nichts anderes als der Beginn einer Herzattacke. Schwarze Punkte tanzen vor seinen Augen und seine Beine versagen ihm den Dienst, der Boden ist auf einmal so nah. Harry kann ihm nur noch nachgucken und registriert gar nicht, was da vor ihren Augen passiert, lieber gießt sie sich noch einen ein. Sein Handy ist nicht mehr funktionsfähig und auch wenn er den Notruf noch so absetzen kann; John weiß, dass er nicht mehr sprechen kann vor Schmerz, geschweige denn nach oben bis zu dem Telefon zu gelangen.
Die Punkte verdichten sich, kündigen eine Ohnmacht an, die in seinem Fall tödlich enden kann. Seine letzte Chance ist es nach draußen an die Straße zu gelangen, irgendwohin wo ihn jemand sehen und Hilfe rufen kann. Der Schmerz ist überall, schnürt ihm die Luft ab und behindert sein Denken. John kann nur hoffen und beten, dass Harry zu betrunken war um die Haustür komplett zu schließen, die Klinke wird er nicht mehr erreichen. Eigentlich müsste er längst endgültig zusammenbrechen und ohnmächtig werden, doch es gibt zwei Dinge die ihn aufrecht halten – so aufrecht man sein kann, wenn man durch einen Flur kriecht. Er ist, erstens, Captain John Hamish – fucking! – Watson und, zweitens, wird er nicht in seinem Elternhaus, dass nun seiner saufenden Schwester gehört jämmerlich krepieren.
Die Tür zum Windfang steht sperrangelweit offen, die Haustür ist nur angelehnt. Mit einer Kraft von der John nicht weiß woher er sie nimmt, kann er die Tür gerade genug öffnen und sich tatsächlich aus dem Haus schleppen. Die drei Stufen vor dem Haus fällt er mehr, als dass er sie kontrolliert überwindet, doch da verlässt ihn auch schon die Hoffnung und die Kraft. Er hat es vergessen, wie hat er es vergessen können. Das hier ist Kirkcaldy und nicht London, hier wird der Hund um 17 Uhr begraben und danach die Bürgersteige hochgeklappt. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen, die ihm helfen kann. John bricht endgültig zusammen, seine Welt versinkt in mattem Schwarz, das ihn mit Schmerzfreiheit und Ruhe zu sich lockt. Sein letzter Gedanke gilt sich selbst und seinen Freunden, dass er alle, sich selbst am Meisten, jahrelang belogen hat. Noch einmal würde er sich nicht so verleugnen, aber dafür ist es nun zu spät. Noch einmal schaut er in die Richtung, in die er auch heute Morgen schaute und schließt dann endlich die Augen.
TBC
[26.03.2017 // 2281 Worte]