Willkommener Neuanfang
von Monster144
Kurzbeschreibung
Als John Watson zum ersten Mal die Praxis betritt, weiß er nicht, wie wichtig ihm diese Sitzungen in Zukunft sein werden. Er weiß nur, dass es so nicht weiter geht, dass er endlich wieder leben will. Egal wie anstrengend oder mühsam, schmerzvoll oder zerstörerisch, er ist an einem Punkt von dem aus es nur noch zwei Möglichkeiten gibt. Die Waffe ein letztes Mal zu erheben oder endlich wirklich Hilfe anzunehmen. Er wählt die zweite Möglichkeit und fordert sämtliche Gefallen ein, um einen zeitnahen Termin bei dem renommierten und angesehenen Dr. Sherlock Holmes zu bekommen. (Alternative Universe)
GeschichteSchmerz/Trost, Liebesgeschichte / P12 / MaleSlash
Dr. John Watson
Sherlock Holmes
28.01.2017
20.03.2018
12
39.414
26
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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20.03.2018
3.095
Auch hier habe ich mir Zeit gelassen, Zeit die nie so lang werden sollte, die aber nötig war. Heute habe ich endlich nicht mehr mit einem "Ich muss endlich", sondern mit purem Wunsch an diesem Projekt gesessen und das zu einem guten Abschluss gebracht. Jedenfalls glaube ich, dass er gut ist.
Ich verabschiede mich mit einem lachenden und einem tränenden Auge. In diesem letzten Jahr habe ich so oft die Geschichte in meinem Kopf gewälzt, mit diesen Sturköpfen mitgelacht und auch mitgeweint. Manchmal meine persönlichen Empfindungen was Weltgeschehen anging auf John verlagert, mir die Seele frei geschrieben und dennoch "seine" Worte benutzt. Ich habe mich in diesem letzten Jahr aber auch immer weiter von Sherlock BBC entfernt, die Charaktere mir zu eigen gemacht und mich schließlich in Gedanken von der Vorlage gelöst. Ich möchte nicht sagen, dass ich nie wieder etwas zu Sherlock schreiben werde, aber es wird dauern und vielleicht den ein oder anderen Ausflug in andere Fandoms erfordern.
Ich hoffe ihr vergesst mich nicht und wir lesen uns irgendwann mal wieder.
Und nun, auf ein Letztes:
*****
Wenn dein Leben an dir vorbei zieht, stirbst du meistens, zumindest stellt man es so in Filmen da. John stirbt nicht, dennoch hat er das Gefühl, dass sein Leben nun vorbei ist. Sein Herzschlag setzt aus, rumpelt unrund dahin. Sein Kopf sucht zu verarbeiten, was sein Herz längst verstanden hat. Er versteht es nicht, wieso jetzt? Wieso muss nach einem traurigschönen Jahr alles zu Ende sein? Warum hat er kein Glück verdient?
Aber drehen wir die Uhr eine halbe Stunde zurück. Dreißig Minuten, die ein Leben vielleicht nicht beenden, wohl aber verändern.
*****
Johns Gang ist schnell aber nicht hektisch. Er flüchtet nicht, wie so oft in diesem Jahr, er ist nicht voller Trauer, wie so oft in diesem Jahr. Er ist voller Vorfreude und Hoffnung. Wenn er nur zurückdenkt, was alles in diesem Jahr passiert ist. Was auf der Welt passiert ist, was ihm passiert ist, was mit ihm passiert ist.
Energisch stößt er die Tür auf, würdigt die dezente Weihnachtsdekoration keines Blickes und marschiert mit einem freundlichen Nicken und Lächeln an Mrs. Hudson vorbei. Beinahe springt er die Treppenstufen hoch, registriert währenddessen, dass er damals noch einen Stock brauchte. Beflügelt davon, was sich schon alles geändert hat und dem, was sich vielleicht noch ändern wird, fliegt er die Treppe praktisch rauf und klopft schon an die Tür, bevor er es überhaupt registriert hat.
Er ist so euphorisch, dass es einen Moment dauert, bis ihm auffällt, dass er gegen Papier geklopft hat. Verwirrt hebt er den Blick und starrt auf einen handschriftlich verfassten Zettel, der deutlich macht, dass Sherlock mit einem solchen Ansturm gerechnet hat.
»Falsche Tür Watson, bin im Garten!« Hat ihm der Zettel einen Dämpfer verpasst, so sorgt die saloppe Art seines Arztes für einen Endorphinrausch. Schneller noch als er hoch gerannt ist, wetzt er wieder herunter. Mrs. Hudson an ihrer Theke lacht sich nur heimlich ins Fäustchen – sie wusste ebenso, wie der letzte Termin dieses Jahr ablaufen würde. Nur von der schweren Gartentür wird er aufgehalten – und von der Kälte, die ihm wieder mit voller Wucht ins Gesicht schlägt.
Einen Moment bleibt er stehen, muss sich erst an die Kälte gewöhnen. So kalt ist es eigentlich gar nicht, aber wenn man so euphorisch von der Wärme nach draußen kommt, ist das nicht sehr amüsant. Es vergehen ein paar Sekunden, bis sich der Wind nicht mehr schneidend auf seiner Haut anfühlt. John kann sich nicht vorstellen, dass Sherlock irgendwo im Freien auf ihn warten wird. Mit der Zeit kühlt der Körper eben auch aus.
Erzählte Sherlock nicht etwas von einem Gartenhäuschen oder so?
Also folgt John einfach dem breiteren Hauptweg und schaut nicht in alle kleinen Abzweigungen. Sinn macht eigentlich nur dieses kleine Häuschen und das wird man nicht über einen kleinen Seitenweg erreichen. Je weiter, je tiefer, John über diesen Weg in den Garten dringt, desto faszinierter ist er.
Natürlich wusste John, dass der Garten ziemlich weitläufig ist, doch wie sehr, wird ihm erst jetzt klar. Die meiste Zeit hielten sie sich nur wenige Meter von der Praxis entfernt auf. Ihm kam auch nie die Idee, sich genauer umzusehen oder die Größenverhältnisse einzuschätzen, warum sollte er das auch in einem sicheren Hafen? Diesen Fleck Erde noch Garten, oder eben Therapiegarten, zu nennen kommt ihm falsch vor.
Mitten in London, eingebettet zwischen all den Häusern findet sich ein ganzer privater Park. Dennoch bleibt John bei dem Wort Therapiegarten, das verwendet er so lange, dass er es nicht mehr ändern möchte oder kann. Außerdem spricht auch Sherlock immer wieder einfach nur von dem Garten, also wird das schon korrekt sein.
Nur für den Hauch einer Sekunde fragt er sich, wo die beiden Brüder das ganze Geld für das Anwesen her haben. Alleine die Praxis- und Büroräume sind ja schon ein kleines Platzwunder, das vermutlich mehr gekostet hat, als er sich auch nur vorstellen kann. Doch der Garten macht es ihm bald schon ziemlich schwer an so was wie Geld zu denken, wenn überall mal wieder was blüht. Zwischen Episoden von trockenem Braun oder immergrünen Pflanzen zeigt sich dann wieder ein kleines Farbenwunder.
So verwinkelt und verschnörkelt, der Garten an manchen Stellen auch wirkt, teilweise fast der Natur überlassen, so schnurgrade zieht sich der Hauptweg durch den Garten. Dennoch fällt es John schwer, sein Ziel im Auge zu behalten, am Wegesrand erregt immer irgendwas seine Aufmerksamkeit. Mal sind es besonders schöne Rosen, ein anderes Mal fantastisch anmutende blühende Gewächse und einmal sogar ein Teich mit Koikarpfen.
Irgendwann tritt er durch einen mit Efeu bewachsenen Torbogen und blickt völlig gebannt auf ein Gebilde, das er hier nicht erwartet hätte. Natürlich sind ein solch großes Gebäude, allein für zwei Ärzte, und dieser gigantische Garten schon völlig überraschend für Londoner Verhältnisse. Eben weil es so verblüffend ist, immer noch so surreal, überwältigt ihn der Anblick der Saline komplett.
Mit etwas Abstand zur Rückwand des nächsten Reihenhauses erhebt sich die Saline auf schätzungsweise sechs Meter in die Höhe. Langsam, aber doch mit einem ständigen Rauschen fließt das Wasser ein Gebilde aus wabenweise zusammengefügten Ästen hinunter – zumindest sieht es nach Ästen aus. Das Wasser ergießt sich in ein breites Becken, das umrandet wird von kleinen naturbelassenen Steinen.
Direkt am Becken sitzt Sherlock so entspannt auf einer Betonbank, dass John beinahe erwartet, dass die Beine im Wasser baumeln. Tatsächlich hat Sherlock die Beine weit von sich gestreckt, die Arme locker neben sich fallen lassen und atmet mit geschlossenen Augen tief ein und aus. Er steckt wie immer in der obligatorischen dunklen Anzughose, einzig sein violettes Hemd – dessen Knopfleise ein Stück zu weit geöffnet ist um völlig professionell zu wirken – und die zerzausten Haare zerstören das festgefahrene Bild von Sherlock Holmes.
Ohne Worte setzt sich John neben Sherlock auf die Bank – und das, obwohl es ihm an Fragen nicht mangeln würde. Ob das hier auch Entspannung ist, warum sie sich im Garten treffen, wie eine Saline in einen Garten mitten in London kommt, und warum – verdammt noch mal – Sherlock bei dem Wetter nur ein Hemd anhat. Die Frage allerdings, ob seine Haare morgens wohl genauso zerwühlt sind, stellt er lieber nicht. Dementsprechend bleibt alles ungesagt.
Ein Moment vergeht, ihm folgt ein zweiter, ein dritter, bis John kurz davor ist aufzustehen – es ist ihm viel zu kalt. Wenn er das gewusst hätte, wäre nicht ohne seine dicke Jacke und einen seiner warmen Pullis aus dem Haus gegangen.
»Es ist Medizin und Entspannung John. Eine Wohltat für eine geschundene Raucherlunge«, sagt Sherlock und steht in dem Moment auf, in dem John es tun will. Tatsächlich klingt seine Stimme etwas weniger kratzig, als sie es sonst tut. Auch das leise knirschen, das er in den letzten Wochen gehört und auf eine verschleppte Erkältung geschoben hat, ist verklungen. Auf die Begrüßung verzichten sie, die ist irgendwie im Sitzen wortlos passiert.
»Kommen Sie John«, verlangt Sherlock und geht um das Becken herum durch einen an der linken Seite in die Hecke eingelassenen Durchgang. Der Untergrund ändert sich – wie so häufig in diesem Garten – von glattem hellem Pflasterstein in festgetretenen graubraunen Kiesel. Das Häuschchen, das John erwartet, entpuppt sich nicht, als das was er dachte. Eine einfache Holzhütte, irgendwo am Rand – ihm hätte klar sein sollen, dass hier eigentlich nichts einfach ist. Viel mehr kann man es mit einem Poolhaus der Oberschicht vergleichen, wenn es dafür auch wieder etwas zu klein ist.
Links und rechts an den Ecken sind zwei Wandlampen angebracht die mit ihren bunten Tiffany-Gläsern einfach nicht zu einer Laube passen wollen, aber wie John schon feststellte, eine Laube ist es nicht. Als Sherlock die Tür öffnet, eine Glastür von innen behangen mit blickdichtem blauen Stoff, strömt eine wohlige Wärme hinaus, die ganz sicher nicht von einem einzigen Heizlüfter stammt.
Der Innenraum ist alles, was sonst für Prof. Mycroft Holmes und Dr. Sherlock Holmes nicht typisch ist. Die Sofas passen farblich so zusammen wie Tausendfüßler und Pottwal. Es ist nicht aufeinander abgestimmt, genau ausgeklügelt oder folgt einem System, nichts in dieser Art. Der ganze, Wohnbereich trifft es vielleicht am besten, sieht aus als hätten sich ein Anhänger des Holy-Festivals und eine Siebzigerjahre-Batik-Lady überall miteinander vergnügt.
Nach ein paar Sekunden, die seine Augen brauchen um irgendwas in diesem Farbchaos zu erkennen, nimmt John auf einem türkisblauen Sitzkissen Platz, das passenderweise auf einem pinken flauschigen Läufer liegt, während Sherlock auch an den Fenstern die Vorhänge zu zieht. Die Vorhänge, sind in diesem Fall wieder tiefblaue Stoffbahnen, die nur von Kordeln seitlich der Fenster festgehalten werden. Sherlock löst diese mit einem Griff und taucht so den ganzen Raum in eine plötzliche Dämmerung die Konturen und Farben verwischen lässt.
Regungslos bleibt John sitzen, hat keine Lust sich ein Körperteil an einem der, im Halbkreis stehenden, Sofas zu stoßen oder einfach den marokkanischen Teetisch formvollendet mit seinem Körper abzuräumen. Leise Schritte sind zu vernehmen, bevor mit einem Klick genau über dem Tischchen ein großer Leuchter angeht. Gefühlt tausend Glassteine brechen das Licht in jede Schattierung und Farbe, die das menschliche Auge verarbeiten kann.
Es ist John schlicht zu viel. Seine Augen müssen sich noch immer an die wilden Farbmischungen auf Boden und Polstern einstellen, da hat er keine Hirnkapazität mehr für Lichtmuster an den Wänden über. Mit aufgerissenen Augen und heruntergefallener Kinnlade versucht er, irgendwie einen Sinn im Chaos zu finden – als das Licht auch schon wieder verlischt.
Sherlock, der Johns Reizüberflutung mitbekommen hat, hat sofort wieder den Leuchter ausgeschaltet. Eigentlich hätte er das wissen müssen, denkt er zumindest. Langsam betätigt er einen kleinen Drehschalter und offenbart damit eine zweite Lichtquelle. Im ganzen Raum sind Strahler in die Decke eingelassen, die den Raum zwar gleichmäßig erhellen, aber nicht die Blicke auf sich ziehen. Sherlock wählt eine Lichtfarbe, ähnlich der von Kerzenschein, aber doch viel heller.
Erleichtert schließt John kurz die Augen, bevor er sie wieder öffnet und sich dann ruhig umblickt. Der Raum liegt in diesem diffusen Licht da, das sonst nur Kerzen erzeugen können, ist dabei aber doch so ausgeleuchtet, dass er alles und jeden erkennen kann.
Sherlock lässt sich ganz nah bei ihm auf ein benachbartes Sitzkissen fallen – viel näher als es professionell und schicklich ist. Die Situation ist irgendwie angespannt. Es ist, als hätte sich mit diesem Ortswechsel all die Spannung der letzten Monate zwischen ihnen entladen, als würde die Luft flirren in der Erwartung dessen, was unter ihnen geschehen kann und muss. Es ist eine seltsame Stimmung irgendwo zwischen ›Ja Herr Doktor‹ und ›Gott, du weißt gar nicht, wie lange ich dich schon unter mir will‹. Es ist eine Stimmung des Hosen runterlassens, ob psychisch oder physisch ist John sich noch nicht sicher.
Doch wie es so oft ist, ein Satz kann entscheidend sein. Sherlock schluckt die Anspannung wieder einmal hinunter, denkt sich, dass es dafür vielleicht einen besseren Zeitpunkt gibt. Er sagt die Worte, die Ehemänner erzittern, feste Freunde erblassen lassen:
»Wir müssen reden.«
Johns Anspannung verflüchtigt sich von einer Sekunde auf die andere, ist so schnell weg, wie sie sich entladen hat. Pheromone die auf Glück und Erregung schließen lassen weichen einer Flut von Angstschweiß. Sein Herz beginnt unangenehm zu pochen, die Atmung wird unregelmäßig, sein Instinkt sagt ihm, dass er verloren hat.
Es folgt eine Aufstellung von Erfolgen und Niederlagen, von Hochs und Tiefs. John kann ihr nur bedingt folgen, bekommt nur am Rand mit, dass von seinem Zusammenbruch im Juni die Rede ist, doch das meiste verhallt irgendwo zwischen den Ohren. Schließlich ändert sich Sherlocks Stimme und John hört doch wieder aufmerksamer zu, im Bauch ein Gefühl von Grauen.
»Aber egal, wie viel wir dieses Jahr geschafft haben«, Sherlock holt Luft, knetet seine Hände und macht damit John eine Heidenangst. Schließlich lässt er es mit einem tiefen Ausatmen, das irgendwo zwischen Trauer und Befreiung liegt, raus. »Ich kann sie nicht weiter behandeln.«
Wenn dein Leben an dir vorbei zieht, stirbst du meistens, zumindest stellt man es so in Filmen da. John stirbt nicht, dennoch hat er das Gefühl, dass sein Leben nun vorbei ist. Sein Herzschlag setzt aus, rumpelt unrund dahin. Sein Kopf sucht zu verarbeiten, was sein Herz längst verstanden hat. Er versteht es nicht, wieso jetzt? Wieso muss nach einem traurigschönen Jahr alles zu Ende sein? Warum hat er kein Glück verdient?
Er zwingt sich mit jeder Technik, die er irgendwann einmal gelernt hat, nicht in eine teilnahmslose Lethargie zu verfallen. Nur durchhalten bis er zu Hause ist und dort dann zusammenbrechen. Nicht heute, nicht hier. Nicht vor Sherlock ›fucking‹ Holmes. Niemals. Die Tränen steigen ihm in die Augen, füllen sie soweit, dass es ein physikalisches Wunder ist, dass er nicht weint. Er versucht noch immer aufmerksam zuzuhören, denn Sherlock hat noch nie etwas Unwichtiges gesagt, auch wenn John es heute nicht hören will. Aber vielleicht kann er ihn ja noch irgendwie umstimmen!
»Ich würde Ihnen gerne sagen, dass Sie austherapiert sind, aber das wäre eine Lüge. Ich kann nur sagen, dass ich Sie einfach nicht weiterbehandeln kann. Ich habe in den letzten Wochen und Monaten Idee um Idee gesucht und verworfen, wie ich das hier verhindern kann, aber es geht einfach nicht anders. Das Einzige, was ich noch für Sie tun kann, ist sie an einen renommierten Kollegen zu überweisen, der Sie nahtlos übernehmen kann.«
Taubheit, das und nichts anderes spürt er, als er den Überweisungsschein entgegennimmt – Gott allein weiß, wo Sherlock den verwahrt hat ohne ihn zu knicken. Taubheit und Übelkeit wechseln sich ab, machen John deutlich, dass sie von nun an seine ständigen Begleiter werden. Zumindest bis er den Schein liest.
Die Tränen rollen, sie rollen wie noch nie. Gott, wie er diesen Mann hasst, der neben ihm sitzt. Gott, wie er diesen Mann liebt, der neben ihm sitzt. Er weiß nicht, was er sagen soll. Die Geste dahinter ist so deutlich, dass es ihm die Sprache verschlägt. Der Schein segelt unbemerkt zu Boden, bleibt liegen zwischen grausig grünen Gruselpolstern und einem riesig roten Rattan-Pfauensessel.
Soll er aufspringen und vor Freude schreien, oder doch Sherlock in die Arme fliegen? Was kann er tun, dass er nicht wirkt, wie ein pubertierendes Etwas? So lange hat er auf diesen Moment gewartet, dass er nun nicht weiß, was er noch tun oder sagen kann. Sherlock hingegen sitzt dort immer nervöser, ist längst nicht mehr sein analytisches Selbst, sondern voller Angst und Nervosität.
»Wenn Du«, Sherlock atmet auf, bei dieser neuen und doch so vertraulichen Anrede. »Wenn Du, nicht mehr mein Arzt bist und ich nicht mehr dein Patient… Hast du heute Abend schon was vor?« John sagt das noch schüchtern, noch mit dieser Restangst, dass er sich doch geirrt hat.
Sherlock lacht, er lacht so frei und unbeschwert, dass es schon beinahe manisch wird. Doch er lacht nur kurz, bevor er doch wieder ernst wird. Die Situation erfordert es, dass er John nicht unnötig lange warten lässt. Er wäre selbst gerade beinahe tausend Tode gestorben, dass muss er seinem John nicht auch antun. Nicht, dass er überhaupt die Geduld dazu hätte.
»Muss ich bis heute Abend warten?«
Plötzlich, mit diesen Worten von Sherlock, ist der Damm gebrochen. Die Anspannung, das Knistern, alles was sie so mühsam weggeschlossen und verleugnet haben bricht sich Bahn. In einer fließenden Bewegung ist Sherlock von seinem Sitzkissen gefallen und gestoßen, Hände verkeilen sich in Haaren und Gürtellaschen, Lippen verschmelzen zu einer Einheit.
Es ist kein harmloses Herantasten, kein austesten, kein zärtlicher Kuss. Es ist eine Knutscherei in der sich Frust, Wut und auch Erregung der letzten zwölf Monate entlädt, es ist alles aber nicht harmlos und zart – es ist nötig. Hände schieben sich zwischen Hose und Hemd, fahren über wohligwarme weiche Haut. Hände halten inne.
Sherlock schiebt John von sich, bevor sie diesen Raum zweckentfremden. Immerhin muss er hier noch Sitzungen ohne rote Wangen abhalten können. Stattdessen steht er schwungvoll auf, zieht John mit sich hoch und direkt aus der Tür. Diesmal merken sie die Kälte nicht, stolpern einfach aneinandergeklammert in die Richtung, in der die Praxis liegen muss. Erst an der Tür, lösen sie sich von einander, versuchen noch einen Funken Anstand zu erwecken.
Auch wenn Mrs. Hudson ihre Gesichter nicht lesen könnte, was sie hervorragend kann, wäre klar, was passiert ist. Die Lippen geschwollen, das Hemd vielleicht so grade eben in der Hose und die Haare wild wie ein Vogelnest. John muss nicht fragen wohin, er stolpert Sherlock einfach hinterher, die Treppe hoch. Doch diesmal führt sie ihr Weg nicht in Sherlocks Behandlungsraum, sondern in den Aufenthaltsraum. Ein wenig verwundert ist John doch, auch zwischen all den neuen Gedanken und dem aufregenden Gefühl, all seine Wünsche und Hoffnung mit Sherlock ausführen zu können.
Erst als Sherlock die zweite Tür öffnet und John eine weitere Treppe zu etwas zeigt, dass verdächtig nach Wohntrakt aussieht, versteht John alles. An diesem Abend und in der Nacht – und auch am nächsten Tag – wird Sherlocks Schlafzimmer auf eine Weise eingeweiht, für die es nie gedacht war. Und während sie sich dort oben austoben, und tun, was schon so lange überfällig war, sitzt Mycroft in seinem Behandlungszimmer und bekommt ein Hörspiel geboten, das er nie wollte. Was bleibt ist die Frage, wie er im Januar seinem neuen Patienten in die Augen schauen will.
Dennoch, obwohl er sich vielleicht ärgern sollte, dass Sherlock ihr privates Refugium mit John teilt, kann er nichts gegen das Lächeln tun, das sich dabei auf seine Lippen schleicht. Es ist nur ganz zart da und dennoch der beste Beweis für die große Freude, die Mycroft gerade empfindet. Vielleicht sollte er seine Termine lieber absagen und auch endlich den Mut beweisen, den John und sein Bruder gerade über ihm ausleben. Nicht dass auch er noch ein Jahr zwischen Hoffen und Bangen verbringen muss.
Ich verabschiede mich mit einem lachenden und einem tränenden Auge. In diesem letzten Jahr habe ich so oft die Geschichte in meinem Kopf gewälzt, mit diesen Sturköpfen mitgelacht und auch mitgeweint. Manchmal meine persönlichen Empfindungen was Weltgeschehen anging auf John verlagert, mir die Seele frei geschrieben und dennoch "seine" Worte benutzt. Ich habe mich in diesem letzten Jahr aber auch immer weiter von Sherlock BBC entfernt, die Charaktere mir zu eigen gemacht und mich schließlich in Gedanken von der Vorlage gelöst. Ich möchte nicht sagen, dass ich nie wieder etwas zu Sherlock schreiben werde, aber es wird dauern und vielleicht den ein oder anderen Ausflug in andere Fandoms erfordern.
Ich hoffe ihr vergesst mich nicht und wir lesen uns irgendwann mal wieder.
Und nun, auf ein Letztes:
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Wenn dein Leben an dir vorbei zieht, stirbst du meistens, zumindest stellt man es so in Filmen da. John stirbt nicht, dennoch hat er das Gefühl, dass sein Leben nun vorbei ist. Sein Herzschlag setzt aus, rumpelt unrund dahin. Sein Kopf sucht zu verarbeiten, was sein Herz längst verstanden hat. Er versteht es nicht, wieso jetzt? Wieso muss nach einem traurigschönen Jahr alles zu Ende sein? Warum hat er kein Glück verdient?
Aber drehen wir die Uhr eine halbe Stunde zurück. Dreißig Minuten, die ein Leben vielleicht nicht beenden, wohl aber verändern.
*****
Johns Gang ist schnell aber nicht hektisch. Er flüchtet nicht, wie so oft in diesem Jahr, er ist nicht voller Trauer, wie so oft in diesem Jahr. Er ist voller Vorfreude und Hoffnung. Wenn er nur zurückdenkt, was alles in diesem Jahr passiert ist. Was auf der Welt passiert ist, was ihm passiert ist, was mit ihm passiert ist.
Energisch stößt er die Tür auf, würdigt die dezente Weihnachtsdekoration keines Blickes und marschiert mit einem freundlichen Nicken und Lächeln an Mrs. Hudson vorbei. Beinahe springt er die Treppenstufen hoch, registriert währenddessen, dass er damals noch einen Stock brauchte. Beflügelt davon, was sich schon alles geändert hat und dem, was sich vielleicht noch ändern wird, fliegt er die Treppe praktisch rauf und klopft schon an die Tür, bevor er es überhaupt registriert hat.
Er ist so euphorisch, dass es einen Moment dauert, bis ihm auffällt, dass er gegen Papier geklopft hat. Verwirrt hebt er den Blick und starrt auf einen handschriftlich verfassten Zettel, der deutlich macht, dass Sherlock mit einem solchen Ansturm gerechnet hat.
»Falsche Tür Watson, bin im Garten!« Hat ihm der Zettel einen Dämpfer verpasst, so sorgt die saloppe Art seines Arztes für einen Endorphinrausch. Schneller noch als er hoch gerannt ist, wetzt er wieder herunter. Mrs. Hudson an ihrer Theke lacht sich nur heimlich ins Fäustchen – sie wusste ebenso, wie der letzte Termin dieses Jahr ablaufen würde. Nur von der schweren Gartentür wird er aufgehalten – und von der Kälte, die ihm wieder mit voller Wucht ins Gesicht schlägt.
Einen Moment bleibt er stehen, muss sich erst an die Kälte gewöhnen. So kalt ist es eigentlich gar nicht, aber wenn man so euphorisch von der Wärme nach draußen kommt, ist das nicht sehr amüsant. Es vergehen ein paar Sekunden, bis sich der Wind nicht mehr schneidend auf seiner Haut anfühlt. John kann sich nicht vorstellen, dass Sherlock irgendwo im Freien auf ihn warten wird. Mit der Zeit kühlt der Körper eben auch aus.
Erzählte Sherlock nicht etwas von einem Gartenhäuschen oder so?
Also folgt John einfach dem breiteren Hauptweg und schaut nicht in alle kleinen Abzweigungen. Sinn macht eigentlich nur dieses kleine Häuschen und das wird man nicht über einen kleinen Seitenweg erreichen. Je weiter, je tiefer, John über diesen Weg in den Garten dringt, desto faszinierter ist er.
Natürlich wusste John, dass der Garten ziemlich weitläufig ist, doch wie sehr, wird ihm erst jetzt klar. Die meiste Zeit hielten sie sich nur wenige Meter von der Praxis entfernt auf. Ihm kam auch nie die Idee, sich genauer umzusehen oder die Größenverhältnisse einzuschätzen, warum sollte er das auch in einem sicheren Hafen? Diesen Fleck Erde noch Garten, oder eben Therapiegarten, zu nennen kommt ihm falsch vor.
Mitten in London, eingebettet zwischen all den Häusern findet sich ein ganzer privater Park. Dennoch bleibt John bei dem Wort Therapiegarten, das verwendet er so lange, dass er es nicht mehr ändern möchte oder kann. Außerdem spricht auch Sherlock immer wieder einfach nur von dem Garten, also wird das schon korrekt sein.
Nur für den Hauch einer Sekunde fragt er sich, wo die beiden Brüder das ganze Geld für das Anwesen her haben. Alleine die Praxis- und Büroräume sind ja schon ein kleines Platzwunder, das vermutlich mehr gekostet hat, als er sich auch nur vorstellen kann. Doch der Garten macht es ihm bald schon ziemlich schwer an so was wie Geld zu denken, wenn überall mal wieder was blüht. Zwischen Episoden von trockenem Braun oder immergrünen Pflanzen zeigt sich dann wieder ein kleines Farbenwunder.
So verwinkelt und verschnörkelt, der Garten an manchen Stellen auch wirkt, teilweise fast der Natur überlassen, so schnurgrade zieht sich der Hauptweg durch den Garten. Dennoch fällt es John schwer, sein Ziel im Auge zu behalten, am Wegesrand erregt immer irgendwas seine Aufmerksamkeit. Mal sind es besonders schöne Rosen, ein anderes Mal fantastisch anmutende blühende Gewächse und einmal sogar ein Teich mit Koikarpfen.
Irgendwann tritt er durch einen mit Efeu bewachsenen Torbogen und blickt völlig gebannt auf ein Gebilde, das er hier nicht erwartet hätte. Natürlich sind ein solch großes Gebäude, allein für zwei Ärzte, und dieser gigantische Garten schon völlig überraschend für Londoner Verhältnisse. Eben weil es so verblüffend ist, immer noch so surreal, überwältigt ihn der Anblick der Saline komplett.
Mit etwas Abstand zur Rückwand des nächsten Reihenhauses erhebt sich die Saline auf schätzungsweise sechs Meter in die Höhe. Langsam, aber doch mit einem ständigen Rauschen fließt das Wasser ein Gebilde aus wabenweise zusammengefügten Ästen hinunter – zumindest sieht es nach Ästen aus. Das Wasser ergießt sich in ein breites Becken, das umrandet wird von kleinen naturbelassenen Steinen.
Direkt am Becken sitzt Sherlock so entspannt auf einer Betonbank, dass John beinahe erwartet, dass die Beine im Wasser baumeln. Tatsächlich hat Sherlock die Beine weit von sich gestreckt, die Arme locker neben sich fallen lassen und atmet mit geschlossenen Augen tief ein und aus. Er steckt wie immer in der obligatorischen dunklen Anzughose, einzig sein violettes Hemd – dessen Knopfleise ein Stück zu weit geöffnet ist um völlig professionell zu wirken – und die zerzausten Haare zerstören das festgefahrene Bild von Sherlock Holmes.
Ohne Worte setzt sich John neben Sherlock auf die Bank – und das, obwohl es ihm an Fragen nicht mangeln würde. Ob das hier auch Entspannung ist, warum sie sich im Garten treffen, wie eine Saline in einen Garten mitten in London kommt, und warum – verdammt noch mal – Sherlock bei dem Wetter nur ein Hemd anhat. Die Frage allerdings, ob seine Haare morgens wohl genauso zerwühlt sind, stellt er lieber nicht. Dementsprechend bleibt alles ungesagt.
Ein Moment vergeht, ihm folgt ein zweiter, ein dritter, bis John kurz davor ist aufzustehen – es ist ihm viel zu kalt. Wenn er das gewusst hätte, wäre nicht ohne seine dicke Jacke und einen seiner warmen Pullis aus dem Haus gegangen.
»Es ist Medizin und Entspannung John. Eine Wohltat für eine geschundene Raucherlunge«, sagt Sherlock und steht in dem Moment auf, in dem John es tun will. Tatsächlich klingt seine Stimme etwas weniger kratzig, als sie es sonst tut. Auch das leise knirschen, das er in den letzten Wochen gehört und auf eine verschleppte Erkältung geschoben hat, ist verklungen. Auf die Begrüßung verzichten sie, die ist irgendwie im Sitzen wortlos passiert.
»Kommen Sie John«, verlangt Sherlock und geht um das Becken herum durch einen an der linken Seite in die Hecke eingelassenen Durchgang. Der Untergrund ändert sich – wie so häufig in diesem Garten – von glattem hellem Pflasterstein in festgetretenen graubraunen Kiesel. Das Häuschchen, das John erwartet, entpuppt sich nicht, als das was er dachte. Eine einfache Holzhütte, irgendwo am Rand – ihm hätte klar sein sollen, dass hier eigentlich nichts einfach ist. Viel mehr kann man es mit einem Poolhaus der Oberschicht vergleichen, wenn es dafür auch wieder etwas zu klein ist.
Links und rechts an den Ecken sind zwei Wandlampen angebracht die mit ihren bunten Tiffany-Gläsern einfach nicht zu einer Laube passen wollen, aber wie John schon feststellte, eine Laube ist es nicht. Als Sherlock die Tür öffnet, eine Glastür von innen behangen mit blickdichtem blauen Stoff, strömt eine wohlige Wärme hinaus, die ganz sicher nicht von einem einzigen Heizlüfter stammt.
Der Innenraum ist alles, was sonst für Prof. Mycroft Holmes und Dr. Sherlock Holmes nicht typisch ist. Die Sofas passen farblich so zusammen wie Tausendfüßler und Pottwal. Es ist nicht aufeinander abgestimmt, genau ausgeklügelt oder folgt einem System, nichts in dieser Art. Der ganze, Wohnbereich trifft es vielleicht am besten, sieht aus als hätten sich ein Anhänger des Holy-Festivals und eine Siebzigerjahre-Batik-Lady überall miteinander vergnügt.
Nach ein paar Sekunden, die seine Augen brauchen um irgendwas in diesem Farbchaos zu erkennen, nimmt John auf einem türkisblauen Sitzkissen Platz, das passenderweise auf einem pinken flauschigen Läufer liegt, während Sherlock auch an den Fenstern die Vorhänge zu zieht. Die Vorhänge, sind in diesem Fall wieder tiefblaue Stoffbahnen, die nur von Kordeln seitlich der Fenster festgehalten werden. Sherlock löst diese mit einem Griff und taucht so den ganzen Raum in eine plötzliche Dämmerung die Konturen und Farben verwischen lässt.
Regungslos bleibt John sitzen, hat keine Lust sich ein Körperteil an einem der, im Halbkreis stehenden, Sofas zu stoßen oder einfach den marokkanischen Teetisch formvollendet mit seinem Körper abzuräumen. Leise Schritte sind zu vernehmen, bevor mit einem Klick genau über dem Tischchen ein großer Leuchter angeht. Gefühlt tausend Glassteine brechen das Licht in jede Schattierung und Farbe, die das menschliche Auge verarbeiten kann.
Es ist John schlicht zu viel. Seine Augen müssen sich noch immer an die wilden Farbmischungen auf Boden und Polstern einstellen, da hat er keine Hirnkapazität mehr für Lichtmuster an den Wänden über. Mit aufgerissenen Augen und heruntergefallener Kinnlade versucht er, irgendwie einen Sinn im Chaos zu finden – als das Licht auch schon wieder verlischt.
Sherlock, der Johns Reizüberflutung mitbekommen hat, hat sofort wieder den Leuchter ausgeschaltet. Eigentlich hätte er das wissen müssen, denkt er zumindest. Langsam betätigt er einen kleinen Drehschalter und offenbart damit eine zweite Lichtquelle. Im ganzen Raum sind Strahler in die Decke eingelassen, die den Raum zwar gleichmäßig erhellen, aber nicht die Blicke auf sich ziehen. Sherlock wählt eine Lichtfarbe, ähnlich der von Kerzenschein, aber doch viel heller.
Erleichtert schließt John kurz die Augen, bevor er sie wieder öffnet und sich dann ruhig umblickt. Der Raum liegt in diesem diffusen Licht da, das sonst nur Kerzen erzeugen können, ist dabei aber doch so ausgeleuchtet, dass er alles und jeden erkennen kann.
Sherlock lässt sich ganz nah bei ihm auf ein benachbartes Sitzkissen fallen – viel näher als es professionell und schicklich ist. Die Situation ist irgendwie angespannt. Es ist, als hätte sich mit diesem Ortswechsel all die Spannung der letzten Monate zwischen ihnen entladen, als würde die Luft flirren in der Erwartung dessen, was unter ihnen geschehen kann und muss. Es ist eine seltsame Stimmung irgendwo zwischen ›Ja Herr Doktor‹ und ›Gott, du weißt gar nicht, wie lange ich dich schon unter mir will‹. Es ist eine Stimmung des Hosen runterlassens, ob psychisch oder physisch ist John sich noch nicht sicher.
Doch wie es so oft ist, ein Satz kann entscheidend sein. Sherlock schluckt die Anspannung wieder einmal hinunter, denkt sich, dass es dafür vielleicht einen besseren Zeitpunkt gibt. Er sagt die Worte, die Ehemänner erzittern, feste Freunde erblassen lassen:
»Wir müssen reden.«
Johns Anspannung verflüchtigt sich von einer Sekunde auf die andere, ist so schnell weg, wie sie sich entladen hat. Pheromone die auf Glück und Erregung schließen lassen weichen einer Flut von Angstschweiß. Sein Herz beginnt unangenehm zu pochen, die Atmung wird unregelmäßig, sein Instinkt sagt ihm, dass er verloren hat.
Es folgt eine Aufstellung von Erfolgen und Niederlagen, von Hochs und Tiefs. John kann ihr nur bedingt folgen, bekommt nur am Rand mit, dass von seinem Zusammenbruch im Juni die Rede ist, doch das meiste verhallt irgendwo zwischen den Ohren. Schließlich ändert sich Sherlocks Stimme und John hört doch wieder aufmerksamer zu, im Bauch ein Gefühl von Grauen.
»Aber egal, wie viel wir dieses Jahr geschafft haben«, Sherlock holt Luft, knetet seine Hände und macht damit John eine Heidenangst. Schließlich lässt er es mit einem tiefen Ausatmen, das irgendwo zwischen Trauer und Befreiung liegt, raus. »Ich kann sie nicht weiter behandeln.«
Wenn dein Leben an dir vorbei zieht, stirbst du meistens, zumindest stellt man es so in Filmen da. John stirbt nicht, dennoch hat er das Gefühl, dass sein Leben nun vorbei ist. Sein Herzschlag setzt aus, rumpelt unrund dahin. Sein Kopf sucht zu verarbeiten, was sein Herz längst verstanden hat. Er versteht es nicht, wieso jetzt? Wieso muss nach einem traurigschönen Jahr alles zu Ende sein? Warum hat er kein Glück verdient?
Er zwingt sich mit jeder Technik, die er irgendwann einmal gelernt hat, nicht in eine teilnahmslose Lethargie zu verfallen. Nur durchhalten bis er zu Hause ist und dort dann zusammenbrechen. Nicht heute, nicht hier. Nicht vor Sherlock ›fucking‹ Holmes. Niemals. Die Tränen steigen ihm in die Augen, füllen sie soweit, dass es ein physikalisches Wunder ist, dass er nicht weint. Er versucht noch immer aufmerksam zuzuhören, denn Sherlock hat noch nie etwas Unwichtiges gesagt, auch wenn John es heute nicht hören will. Aber vielleicht kann er ihn ja noch irgendwie umstimmen!
»Ich würde Ihnen gerne sagen, dass Sie austherapiert sind, aber das wäre eine Lüge. Ich kann nur sagen, dass ich Sie einfach nicht weiterbehandeln kann. Ich habe in den letzten Wochen und Monaten Idee um Idee gesucht und verworfen, wie ich das hier verhindern kann, aber es geht einfach nicht anders. Das Einzige, was ich noch für Sie tun kann, ist sie an einen renommierten Kollegen zu überweisen, der Sie nahtlos übernehmen kann.«
Taubheit, das und nichts anderes spürt er, als er den Überweisungsschein entgegennimmt – Gott allein weiß, wo Sherlock den verwahrt hat ohne ihn zu knicken. Taubheit und Übelkeit wechseln sich ab, machen John deutlich, dass sie von nun an seine ständigen Begleiter werden. Zumindest bis er den Schein liest.
Die Tränen rollen, sie rollen wie noch nie. Gott, wie er diesen Mann hasst, der neben ihm sitzt. Gott, wie er diesen Mann liebt, der neben ihm sitzt. Er weiß nicht, was er sagen soll. Die Geste dahinter ist so deutlich, dass es ihm die Sprache verschlägt. Der Schein segelt unbemerkt zu Boden, bleibt liegen zwischen grausig grünen Gruselpolstern und einem riesig roten Rattan-Pfauensessel.
Soll er aufspringen und vor Freude schreien, oder doch Sherlock in die Arme fliegen? Was kann er tun, dass er nicht wirkt, wie ein pubertierendes Etwas? So lange hat er auf diesen Moment gewartet, dass er nun nicht weiß, was er noch tun oder sagen kann. Sherlock hingegen sitzt dort immer nervöser, ist längst nicht mehr sein analytisches Selbst, sondern voller Angst und Nervosität.
»Wenn Du«, Sherlock atmet auf, bei dieser neuen und doch so vertraulichen Anrede. »Wenn Du, nicht mehr mein Arzt bist und ich nicht mehr dein Patient… Hast du heute Abend schon was vor?« John sagt das noch schüchtern, noch mit dieser Restangst, dass er sich doch geirrt hat.
Sherlock lacht, er lacht so frei und unbeschwert, dass es schon beinahe manisch wird. Doch er lacht nur kurz, bevor er doch wieder ernst wird. Die Situation erfordert es, dass er John nicht unnötig lange warten lässt. Er wäre selbst gerade beinahe tausend Tode gestorben, dass muss er seinem John nicht auch antun. Nicht, dass er überhaupt die Geduld dazu hätte.
»Muss ich bis heute Abend warten?«
Plötzlich, mit diesen Worten von Sherlock, ist der Damm gebrochen. Die Anspannung, das Knistern, alles was sie so mühsam weggeschlossen und verleugnet haben bricht sich Bahn. In einer fließenden Bewegung ist Sherlock von seinem Sitzkissen gefallen und gestoßen, Hände verkeilen sich in Haaren und Gürtellaschen, Lippen verschmelzen zu einer Einheit.
Es ist kein harmloses Herantasten, kein austesten, kein zärtlicher Kuss. Es ist eine Knutscherei in der sich Frust, Wut und auch Erregung der letzten zwölf Monate entlädt, es ist alles aber nicht harmlos und zart – es ist nötig. Hände schieben sich zwischen Hose und Hemd, fahren über wohligwarme weiche Haut. Hände halten inne.
Sherlock schiebt John von sich, bevor sie diesen Raum zweckentfremden. Immerhin muss er hier noch Sitzungen ohne rote Wangen abhalten können. Stattdessen steht er schwungvoll auf, zieht John mit sich hoch und direkt aus der Tür. Diesmal merken sie die Kälte nicht, stolpern einfach aneinandergeklammert in die Richtung, in der die Praxis liegen muss. Erst an der Tür, lösen sie sich von einander, versuchen noch einen Funken Anstand zu erwecken.
Auch wenn Mrs. Hudson ihre Gesichter nicht lesen könnte, was sie hervorragend kann, wäre klar, was passiert ist. Die Lippen geschwollen, das Hemd vielleicht so grade eben in der Hose und die Haare wild wie ein Vogelnest. John muss nicht fragen wohin, er stolpert Sherlock einfach hinterher, die Treppe hoch. Doch diesmal führt sie ihr Weg nicht in Sherlocks Behandlungsraum, sondern in den Aufenthaltsraum. Ein wenig verwundert ist John doch, auch zwischen all den neuen Gedanken und dem aufregenden Gefühl, all seine Wünsche und Hoffnung mit Sherlock ausführen zu können.
Erst als Sherlock die zweite Tür öffnet und John eine weitere Treppe zu etwas zeigt, dass verdächtig nach Wohntrakt aussieht, versteht John alles. An diesem Abend und in der Nacht – und auch am nächsten Tag – wird Sherlocks Schlafzimmer auf eine Weise eingeweiht, für die es nie gedacht war. Und während sie sich dort oben austoben, und tun, was schon so lange überfällig war, sitzt Mycroft in seinem Behandlungszimmer und bekommt ein Hörspiel geboten, das er nie wollte. Was bleibt ist die Frage, wie er im Januar seinem neuen Patienten in die Augen schauen will.
Dennoch, obwohl er sich vielleicht ärgern sollte, dass Sherlock ihr privates Refugium mit John teilt, kann er nichts gegen das Lächeln tun, das sich dabei auf seine Lippen schleicht. Es ist nur ganz zart da und dennoch der beste Beweis für die große Freude, die Mycroft gerade empfindet. Vielleicht sollte er seine Termine lieber absagen und auch endlich den Mut beweisen, den John und sein Bruder gerade über ihm ausleben. Nicht dass auch er noch ein Jahr zwischen Hoffen und Bangen verbringen muss.
Ende
[20.03.2018 // 2920 Worte]