Willkommener Neuanfang
von Monster144
Kurzbeschreibung
Als John Watson zum ersten Mal die Praxis betritt, weiß er nicht, wie wichtig ihm diese Sitzungen in Zukunft sein werden. Er weiß nur, dass es so nicht weiter geht, dass er endlich wieder leben will. Egal wie anstrengend oder mühsam, schmerzvoll oder zerstörerisch, er ist an einem Punkt von dem aus es nur noch zwei Möglichkeiten gibt. Die Waffe ein letztes Mal zu erheben oder endlich wirklich Hilfe anzunehmen. Er wählt die zweite Möglichkeit und fordert sämtliche Gefallen ein, um einen zeitnahen Termin bei dem renommierten und angesehenen Dr. Sherlock Holmes zu bekommen. (Alternative Universe)
GeschichteSchmerz/Trost, Liebesgeschichte / P12 / MaleSlash
Dr. John Watson
Sherlock Holmes
28.01.2017
20.03.2018
12
39.414
26
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Dieses Kapitel
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30.11.2017
1.691
Ihr glaubt gar nicht, wie gut das tut. Ich hab endlich mal richtiges Internet. Deshalb kommt das Kapitel auch erst heute, ich hänge seit gut einem Monat ohne Wlan in der Luft. Jetzt konnte ich endlich das aktuelle Kapitel hochladen und mich auch um den Adventskalender kümmern.
*****
Die Luft ist ziemlich kalt und ein Blick in den Himmel verspricht einen Regenguss innerhalb der nächsten zehn Minuten. Dementsprechend dankbar ist John als er endlich die große Flügeltür zur Praxis erreicht und in Sicherheit ist. Er will sich gerade der Anmeldung zuwenden und Mrs. Hudson mit einem flotten Spruch begrüßen, als ihn eine Stimme aufhält:
»Hängen Sie ihre Jacke auf und kommen sie hoch!«
Die Anweisung kommt definitiv von Sherlock, der ebenso definitiv nicht da ist. Verwirrt dreht er sich im Kreis, sucht alles ab, was er sieht. Das Problem ist nicht das, was er sieht, sondern das, was er nicht sieht. Die Anmeldung ist genauso verwaist wie der Rest des Foyers, nirgendwo auch nur ein Hauch von Leben.
»Offenkundig eine Gegensprechanlage John, offenkundig!«
Kann man eine Gegensprechanlage schlagen wollen, fragt sich John und kennt im selben Augenblick die Antwort. Man kann. Nichtsdestotrotz folgt John den Anweisungen und hängt erst seine Jacke auf und wirft dann seine Mütze und die Handschuhe über die Heizung. Jetzt noch die Schuhe ausziehen John und du bist daheim, spottet sein Kopf über das komische Gefühl, nach Hause zu kommen. Kann denn eine Arztpraxis mehr Zuhause sein als die eigentliche Wohnung?
Der Drang ist groß, die Schuhe auch noch stehen zu lassen und einfach auf Socken dort hochzugehen. Natürlich tut John es nicht, wenn er sich auch sicher ist, dass selbst das Sherlock nicht stören würde. Dennoch gehört es sich nicht und was sich nicht gehört, macht ein Watson nicht. Danke Mama!
Freundlich, eher freundschaftlich, begrüßen sie sich und nehmen den üblichen Platz am Fenster ein. Statt einem regen Gespräch oder einer Erzählung seinerseits schweigen sie sich diesmal nur an. Ihr Schweigen dehnt sich aus, schafft und füllt zugleich eine ganze Kluft zwischen ihnen. Es ist nicht so, dass sie nicht reden wollen, aber diesmal gibt es einfach nichts. Also nichts wichtiges, zumindest nichts sehr Wichtiges. Das allgemeine Chaos im Herbst halt.
»Harry hat angerufen«, fällt John spontan ein. Ein Gedanke, der im selben Moment sowohl in seinem Kopf wie auf seinen Lippen ist. In seiner Stimme ist derselbe Unglaube zu hören, wie er ihn vor wenigen Tagen am Telefon gefühlt hat.
Sherlock sagt dazu nichts, er weiß mittlerweile, dass solch ein einfacher Satz aus Johns Mund immer erst der Anfang einer Erklärung ist. Er soll sich auch diesmal nicht irren.
»Es täte ihr so leid, hat sie gesagt. Sie hat ja erst Wochen später von Nachbarn gehört, dass ich wohl vor dem Haus zusammengebrochen wäre. Überhaupt diese Nachbarn. Bin ich froh, dass Harry«, John spricht den Namen wie eine üble Erkrankung aus, »das Haus geerbt hat. Können nicht die Rettung rufen, aber hinter den Fenstern hocken und sich die Mäuler zerreißen!« John atmet kurz durch, bevor er fortfährt. »Und als sie es dann wusste, hat sie sich nicht getraut, mich anzurufen.«
»Was wollte sie denn?«, fragt Sherlock etwas todesmutig nach. Sich nach diesem verhängnisvollen März zwischen ihn und das Thema Harry zu werfen, gleicht einem Kamikazeattentat.
»Ich weiß es nicht. Harry kam mir in einem Moment in die Quere, als ich eh schon geladen war. Ich war so sauer! Ich muss so was gesagt haben wie in etwa: Ganz ehrlich Harry, schön dass du dich jetzt meldest, aber regel erst mal dein beschissenes Leben, bevor du dich wieder an mich wendest. Wenn du jemandem die Schuld in die Schuhe schieben willst, schau in den Spiegel. Ich wollte im März schon nicht kommen, aber mittlerweile bin ich froh, dass ich da war, das hat mir die Augen geöffnet.« John krallt in seiner wiedergeweckten Rage die Finger in die Armlehnen. Als er es merkt, löst er jeden Finger einzeln, zählt innerlich bis zehn und erzählt dann weiter. »Sie hat mich doch tatsächlich gefragt, warum ich gekommen bin, wenn ich nicht wollte. Ich hätte gerne ihren blöden Blick gesehen, als ich ihr erzählt habe, dass mich mein Psychiater gezwungen hat.«
Sherlock zuckt bei dem Wort gezwungen zusammen, aber letztendlich war es ja so. Wenn das Ergebnis zwar so war, wie erwünscht, dass John endlich damit abschließt, der Weg dorthin war… unerfreulich. Aber Sherlock hört eben auch, dass es einfach ein Fakt, aber kein Vorwurf ist.
»Ich glaube, ich habe meine Schwester noch nie so lange am Stück schweigen hören. Wahrscheinlich ist ihr in dem Moment erst aufgegangen, dass sie in den letzten Jahren kein wichtigeres Thema als sich selbst hatte. Dass Afghanistan vielleicht nicht nur für sie eine Herausforderung war. Ich habe sie dann freundlich gebeten, mich erst wieder anzurufen, wenn sie ein halbes Jahr trocken ist.«
Beide wissen, was John meint, wenn er von ›freundlich gebeten‹ spricht. Durch das Telefon angeschrien und geschimpft, dass Big Ben zu einer leisen Rezeptionsklingel verblasst wäre. Sie wissen auch, dass sechs Monate utopisch sind. Zum Entzug, zum dauerhaften Entzug, gehört auch ein Gespräch mit Freunden und Familie – und das nicht erst nach einem halben Jahr.
»Ich war so sauer und ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten. Dass ich als Arzt jeden gut behandeln muss, macht mir rein gar nichts. Das ist einfach so, das wusste ich schon beim Studium. Aber nur weil ich zu jedem Patienten immer so höflich wie ein vollgefressenes Einhorn sein muss, muss ich das nicht in meinem Privatleben sein.«
Sherlock versteht wohl so gut wie niemand sonst, was er meint. Gerade als Therapeut darfst du vielleicht offen und deutlich sein, aber niemals so deutlich, dass man es als unhöflich oder gemein abstempeln könnte. Fast schlimmer ist allerdings auch, wenn man zu nett ist, wer weiß, was man dann wirklich vom Patienten will. Und wenn du den ganzen Tag ausgewogen nett, aber nicht zu nett, höflich, aber nicht kalt, abgegrenzt, aber nicht unnahbar bist, hast du einfach die Schnauze voll. Zum Glück eilt ihm mittlerweile ein Ruf voraus, der es unnötig macht, auf solche Konventionen zu hören. Aber gerade in der Notaufnahme haben die wirklich guten Ärzte, die vielleicht mal unhöflich sind, unter den wahren schwarzen Schafen zu leiden.
»Als ich dann endlich aufgelegt habe und das Wasser für meinen Tee schon so herrlich gekocht hat, was passiert? Der Nachbar von der 16e schellt an und fragt in diesem liebenswürdig leisen Ton, ob ich denn auch leiser telefonieren könnte. Seine Liebste wäre genervt von meinen Problemchen«, der Sarkasmus trieft aus seinen Worten.
Als wäre seine Einzimmerwohnung nicht schon trist genug. Braune Wände, grauer Teppich, Mobiliar das zu den Grundschulzeiten seiner Urgroßeltern modern war und papierdünne Wände.
»Boah, ich bin so froh, wenn ich da raus bin. Links schreit in regelmäßigen Abständen ein Mieter seinen Fernseher an, sodass ich auch ohne Fernsehprogramm weiß, was welche Kandidatin zu welchem Bauern gesagt hat. Und rechts der Mieter aus der 16e. Ich meine, mich anbrüllen, weil ich zu laut telefoniere, aber abends dann mit der Freundin… Als würde es nicht reichen, dass das Bett dauern gegen die Wand knallt, aber mit ihrem hohen Stimmchen weiß ich nie, ob sie gerade den Koitus erlebt oder ein Meerschweinchen abgestochen wird. Dreimal täglich, sieben Tage die Woche. Sie kennen nicht zufällig einen Sexualtherapeuten?«
Anatomisch gibt es keinen Filter zwischen Hirn und Mund, es verlässt den Mund nur, was das Hirn will. Praktisch, wäre so ein Filter manchmal wirklich sinnvoll.
»Das nicht«, erwidert Sherlock, »aber ein ehemaliger Patient leitet jetzt eine Nager-Auffangstation.«
»Ob die auch wasserstoffblonde Damen mit starkem Kopulationsdrang annehmen?«, fragt John schon mit einem Glucksen in der Kehle, bevor er laut loslacht. Normalerweise spricht er ja nicht so, aber diese Nachbarn rauben ihm seine letzten Nerven. Natürlich könnte er die Situation aktiv ändern. Der Exfrau des Mannes aus 16c einfach mal erzählen, wie groß eigentlich der Fernseher ihres Exmannes ist. Schon wäre das erledigt. Oder dem aus 16e, dass es jeden Montag, Mittwoch und Freitag aus der 16c klingt, als würde ein Meerschweinchen abgestochen. Vielleicht macht er das sogar. Also, wenn er eine bezahlbare Wohnung in London gefunden hat – und genau das erzählt er auch Sherlock.
Sherlock lacht, sagt aber nichts dazu. Was sollte er auch? Dass Meerschweinchen und 16c gar nichts miteinander haben, sondern an diesen Tagen die 17-jährige Tochter zu Besuch ist? Dass Meerschweinchen dann an den anderen Tagen mit ihrem ›Freund‹ schläft, um sich zu beweisen, dass sie nicht lesbisch ist? Dass 16c eigentlich nur mit dem Fernseher streitet, weil in dieser Sendung seine Exfrau einem anderen Kerl schöne Augen macht? Dass der Mann aus der Sendung eigentlich eine Affäre mit der Produktionsassistenz hat? Soll er ihm das wirklich alles sagen?
Die Stunde vergeht ohne weitere großartige Erkenntnisse. Sie reden über das Wetter – schade, dass es schon so kalt ist, der Garten ist so toll –, Fußball – »Deutschland hat gewonnen.«, »Aha.«, »Hm.« – und zu guter Letzt Weihnachtsbeleuchtung vor Totensonntag – »Nein!«, »Doch!«, »Oh.«. Zwischendrin wird dann das Weltgeschehen in wenigen Sätzen abgekanzelt – »Italien ist nicht bei der WM dabei.« »Schade keine Pasta.« –, die Politik behandelt und wieder über das Wetter gesprochen. Die Stimmung ist gelöst, doch die Themen diesmal beschränkt.
Erst als John sich schon verabschiedet hat und in der Tür steht, fällt ihm ein, was er fragen wollte:
»Ach Moment, Dr. Holmes. Das geistert mir schon die letzten Sitzungen durch den Kopf. Ich hoffe, ich maße mir nicht zu viel an«, da kommt er wieder durch, der diplomatische Arzt, »aber haben sie überhaupt noch Zeit zur Entspannung?«
Der durchgetaktete Terminplaner, die Patienten, die doch noch dazwischen geschoben werden, die Einsätze für New Scottland Yard. Wo bleibt da die Zeit, um zur Ruhe zu kommen? Nicht, dass Sherlock selbst bald einen Arzt braucht.
Die Antwort kommt so schnell, dass sie nicht vorbereitet oder gelogen sein kann:
»Ich spiele Violine.«
Und das glaubt John sofort, irgendwie passt es zu Sherlock.
In Gedanken bei Sherlocks langen und filigranen Fingern – und der Frage ob sie wohl auf anderen ›Dingen‹ genauso gut wie auf einer Geige spielen – verlässt er rotwangig die Praxis. Handschuhe und Mütze liegen vergessen auf der Heizung, ihm ist so warm, dass er sie nicht vermisst.
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Die Luft ist ziemlich kalt und ein Blick in den Himmel verspricht einen Regenguss innerhalb der nächsten zehn Minuten. Dementsprechend dankbar ist John als er endlich die große Flügeltür zur Praxis erreicht und in Sicherheit ist. Er will sich gerade der Anmeldung zuwenden und Mrs. Hudson mit einem flotten Spruch begrüßen, als ihn eine Stimme aufhält:
»Hängen Sie ihre Jacke auf und kommen sie hoch!«
Die Anweisung kommt definitiv von Sherlock, der ebenso definitiv nicht da ist. Verwirrt dreht er sich im Kreis, sucht alles ab, was er sieht. Das Problem ist nicht das, was er sieht, sondern das, was er nicht sieht. Die Anmeldung ist genauso verwaist wie der Rest des Foyers, nirgendwo auch nur ein Hauch von Leben.
»Offenkundig eine Gegensprechanlage John, offenkundig!«
Kann man eine Gegensprechanlage schlagen wollen, fragt sich John und kennt im selben Augenblick die Antwort. Man kann. Nichtsdestotrotz folgt John den Anweisungen und hängt erst seine Jacke auf und wirft dann seine Mütze und die Handschuhe über die Heizung. Jetzt noch die Schuhe ausziehen John und du bist daheim, spottet sein Kopf über das komische Gefühl, nach Hause zu kommen. Kann denn eine Arztpraxis mehr Zuhause sein als die eigentliche Wohnung?
Der Drang ist groß, die Schuhe auch noch stehen zu lassen und einfach auf Socken dort hochzugehen. Natürlich tut John es nicht, wenn er sich auch sicher ist, dass selbst das Sherlock nicht stören würde. Dennoch gehört es sich nicht und was sich nicht gehört, macht ein Watson nicht. Danke Mama!
Freundlich, eher freundschaftlich, begrüßen sie sich und nehmen den üblichen Platz am Fenster ein. Statt einem regen Gespräch oder einer Erzählung seinerseits schweigen sie sich diesmal nur an. Ihr Schweigen dehnt sich aus, schafft und füllt zugleich eine ganze Kluft zwischen ihnen. Es ist nicht so, dass sie nicht reden wollen, aber diesmal gibt es einfach nichts. Also nichts wichtiges, zumindest nichts sehr Wichtiges. Das allgemeine Chaos im Herbst halt.
»Harry hat angerufen«, fällt John spontan ein. Ein Gedanke, der im selben Moment sowohl in seinem Kopf wie auf seinen Lippen ist. In seiner Stimme ist derselbe Unglaube zu hören, wie er ihn vor wenigen Tagen am Telefon gefühlt hat.
Sherlock sagt dazu nichts, er weiß mittlerweile, dass solch ein einfacher Satz aus Johns Mund immer erst der Anfang einer Erklärung ist. Er soll sich auch diesmal nicht irren.
»Es täte ihr so leid, hat sie gesagt. Sie hat ja erst Wochen später von Nachbarn gehört, dass ich wohl vor dem Haus zusammengebrochen wäre. Überhaupt diese Nachbarn. Bin ich froh, dass Harry«, John spricht den Namen wie eine üble Erkrankung aus, »das Haus geerbt hat. Können nicht die Rettung rufen, aber hinter den Fenstern hocken und sich die Mäuler zerreißen!« John atmet kurz durch, bevor er fortfährt. »Und als sie es dann wusste, hat sie sich nicht getraut, mich anzurufen.«
»Was wollte sie denn?«, fragt Sherlock etwas todesmutig nach. Sich nach diesem verhängnisvollen März zwischen ihn und das Thema Harry zu werfen, gleicht einem Kamikazeattentat.
»Ich weiß es nicht. Harry kam mir in einem Moment in die Quere, als ich eh schon geladen war. Ich war so sauer! Ich muss so was gesagt haben wie in etwa: Ganz ehrlich Harry, schön dass du dich jetzt meldest, aber regel erst mal dein beschissenes Leben, bevor du dich wieder an mich wendest. Wenn du jemandem die Schuld in die Schuhe schieben willst, schau in den Spiegel. Ich wollte im März schon nicht kommen, aber mittlerweile bin ich froh, dass ich da war, das hat mir die Augen geöffnet.« John krallt in seiner wiedergeweckten Rage die Finger in die Armlehnen. Als er es merkt, löst er jeden Finger einzeln, zählt innerlich bis zehn und erzählt dann weiter. »Sie hat mich doch tatsächlich gefragt, warum ich gekommen bin, wenn ich nicht wollte. Ich hätte gerne ihren blöden Blick gesehen, als ich ihr erzählt habe, dass mich mein Psychiater gezwungen hat.«
Sherlock zuckt bei dem Wort gezwungen zusammen, aber letztendlich war es ja so. Wenn das Ergebnis zwar so war, wie erwünscht, dass John endlich damit abschließt, der Weg dorthin war… unerfreulich. Aber Sherlock hört eben auch, dass es einfach ein Fakt, aber kein Vorwurf ist.
»Ich glaube, ich habe meine Schwester noch nie so lange am Stück schweigen hören. Wahrscheinlich ist ihr in dem Moment erst aufgegangen, dass sie in den letzten Jahren kein wichtigeres Thema als sich selbst hatte. Dass Afghanistan vielleicht nicht nur für sie eine Herausforderung war. Ich habe sie dann freundlich gebeten, mich erst wieder anzurufen, wenn sie ein halbes Jahr trocken ist.«
Beide wissen, was John meint, wenn er von ›freundlich gebeten‹ spricht. Durch das Telefon angeschrien und geschimpft, dass Big Ben zu einer leisen Rezeptionsklingel verblasst wäre. Sie wissen auch, dass sechs Monate utopisch sind. Zum Entzug, zum dauerhaften Entzug, gehört auch ein Gespräch mit Freunden und Familie – und das nicht erst nach einem halben Jahr.
»Ich war so sauer und ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten. Dass ich als Arzt jeden gut behandeln muss, macht mir rein gar nichts. Das ist einfach so, das wusste ich schon beim Studium. Aber nur weil ich zu jedem Patienten immer so höflich wie ein vollgefressenes Einhorn sein muss, muss ich das nicht in meinem Privatleben sein.«
Sherlock versteht wohl so gut wie niemand sonst, was er meint. Gerade als Therapeut darfst du vielleicht offen und deutlich sein, aber niemals so deutlich, dass man es als unhöflich oder gemein abstempeln könnte. Fast schlimmer ist allerdings auch, wenn man zu nett ist, wer weiß, was man dann wirklich vom Patienten will. Und wenn du den ganzen Tag ausgewogen nett, aber nicht zu nett, höflich, aber nicht kalt, abgegrenzt, aber nicht unnahbar bist, hast du einfach die Schnauze voll. Zum Glück eilt ihm mittlerweile ein Ruf voraus, der es unnötig macht, auf solche Konventionen zu hören. Aber gerade in der Notaufnahme haben die wirklich guten Ärzte, die vielleicht mal unhöflich sind, unter den wahren schwarzen Schafen zu leiden.
»Als ich dann endlich aufgelegt habe und das Wasser für meinen Tee schon so herrlich gekocht hat, was passiert? Der Nachbar von der 16e schellt an und fragt in diesem liebenswürdig leisen Ton, ob ich denn auch leiser telefonieren könnte. Seine Liebste wäre genervt von meinen Problemchen«, der Sarkasmus trieft aus seinen Worten.
Als wäre seine Einzimmerwohnung nicht schon trist genug. Braune Wände, grauer Teppich, Mobiliar das zu den Grundschulzeiten seiner Urgroßeltern modern war und papierdünne Wände.
»Boah, ich bin so froh, wenn ich da raus bin. Links schreit in regelmäßigen Abständen ein Mieter seinen Fernseher an, sodass ich auch ohne Fernsehprogramm weiß, was welche Kandidatin zu welchem Bauern gesagt hat. Und rechts der Mieter aus der 16e. Ich meine, mich anbrüllen, weil ich zu laut telefoniere, aber abends dann mit der Freundin… Als würde es nicht reichen, dass das Bett dauern gegen die Wand knallt, aber mit ihrem hohen Stimmchen weiß ich nie, ob sie gerade den Koitus erlebt oder ein Meerschweinchen abgestochen wird. Dreimal täglich, sieben Tage die Woche. Sie kennen nicht zufällig einen Sexualtherapeuten?«
Anatomisch gibt es keinen Filter zwischen Hirn und Mund, es verlässt den Mund nur, was das Hirn will. Praktisch, wäre so ein Filter manchmal wirklich sinnvoll.
»Das nicht«, erwidert Sherlock, »aber ein ehemaliger Patient leitet jetzt eine Nager-Auffangstation.«
»Ob die auch wasserstoffblonde Damen mit starkem Kopulationsdrang annehmen?«, fragt John schon mit einem Glucksen in der Kehle, bevor er laut loslacht. Normalerweise spricht er ja nicht so, aber diese Nachbarn rauben ihm seine letzten Nerven. Natürlich könnte er die Situation aktiv ändern. Der Exfrau des Mannes aus 16c einfach mal erzählen, wie groß eigentlich der Fernseher ihres Exmannes ist. Schon wäre das erledigt. Oder dem aus 16e, dass es jeden Montag, Mittwoch und Freitag aus der 16c klingt, als würde ein Meerschweinchen abgestochen. Vielleicht macht er das sogar. Also, wenn er eine bezahlbare Wohnung in London gefunden hat – und genau das erzählt er auch Sherlock.
Sherlock lacht, sagt aber nichts dazu. Was sollte er auch? Dass Meerschweinchen und 16c gar nichts miteinander haben, sondern an diesen Tagen die 17-jährige Tochter zu Besuch ist? Dass Meerschweinchen dann an den anderen Tagen mit ihrem ›Freund‹ schläft, um sich zu beweisen, dass sie nicht lesbisch ist? Dass 16c eigentlich nur mit dem Fernseher streitet, weil in dieser Sendung seine Exfrau einem anderen Kerl schöne Augen macht? Dass der Mann aus der Sendung eigentlich eine Affäre mit der Produktionsassistenz hat? Soll er ihm das wirklich alles sagen?
Die Stunde vergeht ohne weitere großartige Erkenntnisse. Sie reden über das Wetter – schade, dass es schon so kalt ist, der Garten ist so toll –, Fußball – »Deutschland hat gewonnen.«, »Aha.«, »Hm.« – und zu guter Letzt Weihnachtsbeleuchtung vor Totensonntag – »Nein!«, »Doch!«, »Oh.«. Zwischendrin wird dann das Weltgeschehen in wenigen Sätzen abgekanzelt – »Italien ist nicht bei der WM dabei.« »Schade keine Pasta.« –, die Politik behandelt und wieder über das Wetter gesprochen. Die Stimmung ist gelöst, doch die Themen diesmal beschränkt.
Erst als John sich schon verabschiedet hat und in der Tür steht, fällt ihm ein, was er fragen wollte:
»Ach Moment, Dr. Holmes. Das geistert mir schon die letzten Sitzungen durch den Kopf. Ich hoffe, ich maße mir nicht zu viel an«, da kommt er wieder durch, der diplomatische Arzt, »aber haben sie überhaupt noch Zeit zur Entspannung?«
Der durchgetaktete Terminplaner, die Patienten, die doch noch dazwischen geschoben werden, die Einsätze für New Scottland Yard. Wo bleibt da die Zeit, um zur Ruhe zu kommen? Nicht, dass Sherlock selbst bald einen Arzt braucht.
Die Antwort kommt so schnell, dass sie nicht vorbereitet oder gelogen sein kann:
»Ich spiele Violine.«
Und das glaubt John sofort, irgendwie passt es zu Sherlock.
In Gedanken bei Sherlocks langen und filigranen Fingern – und der Frage ob sie wohl auf anderen ›Dingen‹ genauso gut wie auf einer Geige spielen – verlässt er rotwangig die Praxis. Handschuhe und Mütze liegen vergessen auf der Heizung, ihm ist so warm, dass er sie nicht vermisst.
TBC
[30.11.2017 // 1647 Worte]