Willkommener Neuanfang
von Monster144
Kurzbeschreibung
Als John Watson zum ersten Mal die Praxis betritt, weiß er nicht, wie wichtig ihm diese Sitzungen in Zukunft sein werden. Er weiß nur, dass es so nicht weiter geht, dass er endlich wieder leben will. Egal wie anstrengend oder mühsam, schmerzvoll oder zerstörerisch, er ist an einem Punkt von dem aus es nur noch zwei Möglichkeiten gibt. Die Waffe ein letztes Mal zu erheben oder endlich wirklich Hilfe anzunehmen. Er wählt die zweite Möglichkeit und fordert sämtliche Gefallen ein, um einen zeitnahen Termin bei dem renommierten und angesehenen Dr. Sherlock Holmes zu bekommen. (Alternative Universe)
GeschichteSchmerz/Trost, Liebesgeschichte / P12 / MaleSlash
Dr. John Watson
Sherlock Holmes
28.01.2017
20.03.2018
12
39.414
26
Alle Kapitel
45 Reviews
45 Reviews
Dieses Kapitel
4 Reviews
4 Reviews
31.10.2017
7.108
Seltsam still ist es zwischen den Beiden, als sie endlich die Absperrung passieren. Ohne genau zu wissen wohin, folgt John einfach Sherlock, der in aller Selbstverständlichkeit vorgeht. Sherlock für sich ist zu sehr in Gedanken gefangen von all dem, was bis eben passierte. Es will ihn nicht loslassen, am Liebsten nie wieder. All diese Gefühle von heute, es überfordert ihn dezent. Sherlock weiß, dass es nicht richtig ist einen Patienten zu lieben, aber vorhin wäre er gerne selbst in den Laden gestürmt und hätte dort aufgeräumt. Wenn er sich überlegt, was alles hätte passieren können, was alles passiert ist…
Erst als sie die Schaulustigen durchbrechen und endlich an der Straße stehen, wird sich Sherlock darüber bewusst, dass John ihm folgt, obwohl er nicht weiß, was eigentlich passiert. Vollkommenes Vertrauen. Diese Erkenntnis, diese Beobachtung, ist ein weiterer Schuss vor den Bug eines eh schon kenternden Bootes. In dieser Sekunde will Sherlock sich einfach nur noch übergeben, diesen ganzen Mist einfach nur loswerden. Er will sich selbst schlagen und dabei trotzdem gleichzeitig in Tränen ausbrechen. Sherlock hat es nicht verdient, solch einen guten Mann als Patienten zu haben. Nicht, wenn er in jeder Sitzung sein bedingungsloses Vertrauen damit verletzt, dass er heimlich in ihn verliebt ist. Lange kann er so nicht mehr weitermachen, der heutige Tag hat ihm das deutlich vor Augen geführt. Auf Dauer muss sich etwas ändern, sogar wenn er vermutlich mit gebrochenem Herzen aus der Sache hervorgeht. Sherlock schluckt die Schuld und den Frust hinunter, das hilft ihm nun nicht weiter. Dennoch kann er nicht die Besorgnis aus seiner Mimik und Stimme verbannen, als er sich John zuwendet.
»Wir fahren in die Praxis!«, ruppig, beinahe verletzend, kommt es Sherlock über die Lippen, ist dabei aber so gar nicht gemeint. Gerne würde sich Sherlock direkt in den Hintern treten, aber er kann sich selbst nicht ändern. Wie oft sagt er seinen Patienten, dass sie über ihre Gefühle sprechen müssen? Wie oft hat er seinen eigenen Rat in den Wind geschossen?
John kann dennoch hören, was Sherlock sagen will. Dass er sich schreckliche Sorgen gemacht hat und er mit ihm an einen ruhigen, geschützten, Ort möchte. Dass er sich erholen muss, dass er kontrollieren will, dass es ihm, John, gut geht. Aber weil Sherlock all das nicht sagt, sagt auch John nichts – wie so oft. Wie viel zu oft. Aber das Leben wäre auch zu einfach, wenn allle ehrlich zu einander wären. (Egal wie viel Ehrlichkeit sie sich auch versprochen haben.)
»Meine nächste Sitzung ist doch erst nächsten Monat«, weicht er deshalb aus und erkennt selbst, dass das ein ganz schlechtes Ablenkungsmanöver war.
»Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen.«
*****
Noch immer schweigend steigen Sherlock und John eine Stunde später aus dem Taxi. Die Stimmung zwischen ihnen ist nicht frostig, im Gegenteil. Bei John sickert erst langsam die Erkenntnis durch, was alles geschehen ist. Sherlock hingegen bemüht sich redlich, sich unter Kontrolle zu halten. Dennoch spüren beide deutlich diese Stimmung zwischen ihnen, das Gefühl, dass der andere weg sein könnte. Die Ahnung, dass man vielleicht niemals eine Chance auf eine Beziehung haben könnte. John, dem vorher schon nicht zum Lachen zumute war, vergeht bei diesem Gedanken jede Hoffnung.
Lautlos öffnet Sherlock die an der rechten Hausseite versteckte Nebeneingangstür und betritt die Praxis in dem schmalen Flur zwischen Treppe und Empfang. Er blickt nach links, an der Garderobe vorbei zu Mrs. Hudson und gibt ihr mit einem Blick zu verstehen, dass er für den Rest des Tages nicht mehr zu sprechen ist. In diesen Momenten ist sie nicht nur Gold, sondern alles Geld der Welt wert. Im Vorbeigehen hängt John seinen Mantel auf, folgt Sherlock genauso schweigsam die Treppe nach oben.
Erst als die Tür geräuschvoll ins Schloss fällt, atmen sie beide auf. John dem gerade jede Gesellschaft – die nicht Sherlock ist – zu viel ist. Sherlock, der mit seinen Gefühlen zu kämpfen hat und den die Gedanken nicht ruhen lassen. Jener kann die Kraft nicht mehr aufbringen, eisern an seiner Maske festzuhalten, und lässt John dasselbe Vertrauen zukommen, das ihm entgegengebracht wird. Beinahe hörbar lässt er die Maske zu Boden und sich selbst in seinen Sessel fallen.
Nur leise dringen Johns Schritte zu ihm durch, der sich ebenso erschöpft in den anderen Sessel setzt. Beiden steht nur zu deutlich ins Gesicht geschrieben, was das doch für ein verfluchter Scheißtag war.
Für fünf Minuten schweigen sie weiterhin, haben die Augen geschlossen und tun das, was man nach so einem Tag tun muss: Durchatmen, um wieder klar zu werden im Kopf. Als Sherlock die Augen öffnet, ist er endlich wieder ruhiger geworden und zur Besinnung gekommen. Über verletzte Vertrauensverhältnisse, komische Gefühle und solche Dinge kann er auch noch nachdenken, wenn nicht ein traumatisierter Soldat vor ihm sitzt, der bisher einen richtig miesen Tag hatte.
Im Grunde beginnt jede ihrer Sitzungen auf die gleiche Weise. Sie begrüßen sich, machen es sich bequem, Sherlock stellt vielleicht eine Frage, aber generell beginnt John zu reden. Diese Sitzung ist wie der ganze Tag: Anders.
»Ich denke, es würde uns beiden helfen, wenn ich diesmal anfange zu erzählen.«
Als sein Handy klingelt, steht er an einer Kreuzung zu einem Verteilerkreis und überlegt, ob er erst seinen Mantel aus der Reinigung holen oder doch die bestellten Fachbücher holen soll. Leicht zuckt er zusammen, denn diesen Ton hat er bisher nur seltenst gehört. Der ein oder andere Passant wirft ihm einen verblüfften Blick angesichts des Klingeltons zu, doch die ignoriert er geflissentlich und beendet das Stück von Robert Folk, indem er ans Telefon geht.
Auch die fröhliche Stimmung der Filmmusik – und ihr Witz bezüglich Greg –, kann ihn nicht aufmuntern. Detective Inspector Greg Lestrade schreibt genauso wie er, Sherlock, lieber Nachrichten. Nur im äußersten Notfall ruft er persönlich an und meistens geht es dann auch wirklich um Leben und Tod. Sofort sind alle Termine vergessen und sein Tag strickt durchgeplant.
»Ein schiefgelaufener Raub, mindestens 15 Geiseln«, kommt Greg auch direkt auf den Punkt.
»Wo?«
»Tesco Express auf der Monk Street.«
»Fünf Minuten«, lautet Sherlocks einfach Zusage, bevor er das Handy wegsteckt und losläuft. Der Supermarkt ist in seiner Nähe und sonst schon schnell zu erreichen, doch Sherlock wird von einem unguten Bauchgefühl gezwungen, den allerschnellsten Weg zu wählen. Ähnlich einem Parcours-Läufer springt er nicht selten über Geländer und benutzt für seinen Weg nicht nur die Gehwege, sondern auch Feuerleitern, Gebäudeflure und Parkplätze, um zu seinem Ziel zu kommen.
Mit lautem Rufen und kräftigen Ellbogen bahnt er sich schließlich einen Weg durch die Menschentraube bis unter dem Absperrband hindurch. Die typische Stichelei von Sally Donovan ignoriert er diesmal und geht direkt zu Greg Lestrade durch. Ein Gefühl sagt ihm, dass ihm diese Geiselnahme ganz und gar nicht gefallen wird und auf seinen Instinkt konnte er sich immer verlassen. Außer bei Victor, da hat sein Instinkt völlig versagt. Liebe macht eben blind – und manchmal auch blöd.
Und wegen seinem Instinkt ist er völlig fokussiert und klar im Kopf als er bei Greg ankommt. Panik oder komische Gefühle nützen ihm nun nichts, sie haben nur seine Sinne noch einmal geschärft.
Die Begrüßung besteht aus einem knappen Nicken, bevor ihn ein weiterer Polizist mit einem Headset ausstattet. Dass sie ihn diesmal live in die Besprechung und Planung einbinden, bestärkt seinen Verdacht nur noch mehr, dass es ihm nicht gefallen wird.
»Mindestens fünf Mitarbeiter in den Büroräumen und dem Lager, weitere zehn Kunden im Ladenlokal selbst«, informiert ihn einer der Männer, als er sich meldet. Beinahe muss Sherlock den Kopf darüber schütteln, dass sie zwar bei seinem Namen die Gesichter verziehen, ihn aber bei solch einer Situation unbedingt brauchen. Wenn sie ihn doch nicht leiden können und ihn für so schrecklich halten, warum erledigen sie ihren Mist dann nicht selbst? Weil sie es nicht können!
»Bilder von den Überwachungskameras und Eckdaten des Täters?«, fragt er nach, während Greg vor ihm eine Blaupause des Ladens ausbreitet. Was er sieht gefällt ihm ganz und gar nicht. Das sieht für ihn weniger nach einem Raub aus, dafür gäbe es strategisch bessere Läden. Es macht nicht viel Sinn einen Laden auszurauben, in dem größere Geldbeträge direkt mittels Rohrpost weitergeschickt werden. Entweder ist dieser Täter also unerfahrener, als er wirkt – damit aber auch unberechenbarer – oder aus einem anderen Grund dort. Seinen Verdacht teilt er sofort Lestrade mit, der ihn alles andere als erfreut ansieht. Natürlich nicht, macht es doch ihre Arbeit nur schwerer.
»Historie und Name liegen uns nicht vor, Kamerabilder kommen in ca. 5 Minuten«, kommt dann die Info über das Headset. Ideal ist anders, denkt Sherlock, nutzt aber die Zeit um Greg mit ein paar eventuellen Psychen vertraut zu machen. Seine Analyse ist natürlich nicht so tief greifend wie bei einem Verhör oder nach einem längeren Gespräch, doch alleine, dass sich der Täter diesen Laden ausgesucht hat, sagt schon eine ganze Menge.
Kurz drauf bringt dann einer der Sergeants einen Laptop, auf dem schon die Überwachungsbilder zu sehen sind. Bild eins und zwei zeigen ihm, dass es den Geiseln nicht nur körperlich, sondern auch geistig recht gut geht. Bild drei lässt ihm dafür das Blut in den Adern gefrieren.
DI Greg Lestrade ist vielleicht der Einäugige unter den Blinden, doch auch er kann nicht deduzieren oder auch nur annähernd sehen, was Sherlock sieht. Aber er ist nicht ohne Grund Detective Inspector, er ist ziemlich gut, darin Gesichter zu lesen. Mit Besorgnis mustert er den psychologischen Berater – sollte das Ammenmärchen eben doch stimmen, dass jeder Psychiater selbst einen ›Schaden‹ hat?
Doch dann mustert er ihn genauer, ignoriert die weit aufgerissenen Augen, die hochgezogenen Augenbrauen und diese Mimik des Schocks. Sherlocks Blick klebt am Bildschirm, genauer gesagt an einer der Geiseln.
»Moment den kenne ich doch«, erklärt Greg wird aber davon unterbrochen, dass Sherlock ihn sofort scharf anblickt. Irgendwas stimmt hier nicht und die Chance, dass es ihm gefallen wird, steht nicht gerade hoch. Er kommt jedoch nicht dazu, diesen Satz zu beenden, zu gefesselt ist er von Sherlock Holmes.
Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, geht er an Gregs Dienstwagen, in dem für ihn immer eine schusssichere Weste parat liegt. Er muss Greg nicht fragen, woher er John kennt. Das war für ihn schon klar, als er verletzt wurde und John kurz drauf von seinem ersten Tag in der Notaufnahme erzählte. Sherlock öffnet ohne zu zögern die Tür und zieht seinen Mantel aus, während er mit einem Klick das Mikrofon am Headset wieder aktiviert.
»Keiner rührt hier heute auch nur einen Finger oder fasst einen Abzug auch nur an. Ich schwöre Ihnen, wenn hier heute etwas passiert, ohne, dass ich davon wusste und es bestätigt hätte… Sie kennen die Gerüchte, glauben Sie nicht, dass ich sie nicht auch kenne. Sie werden Ihnen danach wie schlechte Witze erscheinen, in Wahrheit kann ich noch sehr viel schlimmer sein.«
Es zweifelt niemand an Sherlocks Worten, denn wirklich jeder kennt die Vorwürfe und Spekulationen, die von Anderson und Donovan ausgehen, doch ebenso wird niemand die Befehlskette ignorieren. Erst als Lestrade seine Zustimmung gibt und Sherlock formal die Leitung überträgt, legen sie die Waffen nieder.
»Dieser Mann, den Sie auf den Bildern der Überwachungskameras sehen, ist John Watson. Wenn Sie nun seine Historie ansehen, sehen Sie sich seine letzten Auslandsaufenthalte und den dazugehörigen Beruf an und bedenken Sie, als was ich arbeite. Ihr größtes Problem ist nicht der Geiselnehmer, sondern John Watson. Schauen Sie ihm in die Augen, ist das wirklich nur Angst oder nicht auch Trotz? Sie können jetzt auf der Stelle den Geiselnehmer erschießen, das kann aber bei bestimmten Menschen, mit bestimmten Historien zu Flashbacks führen. Und glauben Sie mir, dann haben sie ein Problem! Das hier ist dagegen ein Spaziergang.«
Sogar Donovan hält dieses Mal ihren Mund und versucht nicht, Sherlock irgendwas anzudichten. Wie die meisten hat sie zeitgleich die Information bekommen, dass sie es mit einem ehemaligen Captain zu tun haben, vermutlich erkrankt an PTBS. Eigentlich will sie noch fragen, wie man so einen labilen Mann auf die Menschheit loslassen kann, doch als sie zu Sherlock blickt, hält sie ebenso wie Greg den Atem an.
In den ganzen Jahren, in denen Sherlock als Berater schon für New Scottland Yard tätig ist, haben Greg und Sally eines noch nie gesehen. Sherlock Holmes, wie er eine schusssichere Weste anzieht und mit völlig verschlossenem Gesicht unter dem Mantel verbirgt.
»Fragen Sie sich bitte, wie Sie sich an seiner Stelle fühlen würden. Und nun stellen Sie sich vor, dass Sie einfach nur Ihre Ruhe wollen. Dieses Gefühl dürfen Sie mit X multiplizieren«, erklärt Sherlock, schließt den Mantel richtig und tritt langsam von den Polizeiwagen und der provisorischen Leitstelle weg.
Es ist nicht klar, für wen dieses Gespräch mehr Therapie ist. Für John, weil er die ganze Zeit in der Hand eines wahnwitzigen Geiselnehmers und Beinahemörders war, oder für Sherlock. Sherlock, der doch draußen stand und versucht hat alles zum Guten zu leiten und dennoch genau eines war. Draußen. Nicht drinnen bei John, um ihn zu beschützen. Für John, weil dieser beinahe sein Leben verloren hat, oder für Sherlock, weil dieser bald John verloren hätte. Die Situation ist einfach nur beschissen für beide.
Ihnen beiden tut die Aufarbeitung jedoch mehr als gut, endlich zu wissen, was wirklich geschah, beide Seiten zu kennen. Zugleich enthüllt es John auch einen weiteren Teil von Sherlocks Charakter. Dass dieser nicht nur in der Praxis arbeitet, sondern auch eine interessante Art der ›Feldforschung‹ betreibt. Dennoch macht sich John immer noch, trotz diesem nervenaufreibendem Tag, schon wieder Sorgen um seinen Arzt. Wo bleibt bei solch einer beruflichen Auslastung die Zeit für die Erholung?
Er weiß noch nicht recht, ob er dieses Thema einmal ansprechen soll, immerhin ist er zwar Arzt, hier aber doch ›nur‹ Patient. Die Entscheidung, ob er es heute tun soll, wird ihm abgenommen, als es dreimal resolut klopft und sich dann einfach die Tür öffnet. Gekonnt schiebt er den Gedanken zurück und nimmt sich vor, Sherlock ein andermal drauf anzusprechen.
»Ich weiß, Sie wollten nicht gestört werden Sherlock, aber nachdem ich gerade erfahren habe, was passiert ist, dachte ich…«, Mrs. Hudson spricht nicht weiter, aber das ist auch nicht nötig. Auf ihren zugegebenermaßen nicht mehr ganz jungen Händen balanciert sie ein voll beladenes Tablett. Zwei Teegläser, eine große Teekanne in die sicher drei Liter passen, ein Dose Zucker, sowie Süßstoff und eine Auswahl Kekse und Plätzchen.
Trotz des Gewichtes bringt sie alles ohne zu zögern oder auch nur etwas zu schwanken sicher zum kleinen Couchtisch und stellt es dort ab. Etwas zerknirscht schaut sie zu ihnen rüber, behält besonders John im Auge, erklärt dann, dass alles zusammen nicht auf das kleine Beistelltischchen bei den Sesseln gepasst hätte. Zwei einzelne Tassen Kaffee oder Tee sicher, aber nicht das ganze Tablett.
Schmunzelnd, aber doch noch immer leicht abwesend, erhebt sich Sherlock aus dem Sessel. John ist in der Zeit schon um den Raumtrenner herum gegangen und hat es sich auf einem der beiden Sofas gemütlich gemacht. Sherlock dagegen geht erst noch schnell zu seinem Schreibtisch, öffnet die linke obere Schublade und greift blind hinein. Triumphierend hält er eine schmale Fernsteuerung in den Händen.
Plötzlich spürt er den ganzen Tag in seinen Knochen, es ist, als wäre jede einzelne Zelle in seinem Körper müde. Es kommt scheinbar alles heraus, was er bisher mühsam unterdrückt hat. Dafür kommt es nun geballt. Nur mühsam kann er sich auf den Beinen halten. Daran diesen Tisch loszulassen und zu John zu gehen, darf er gar nicht denken. Manchmal ist atmen langweilig, manchmal ist atmen aber auch so verflucht kräftezehrend. Dennoch ist es natürlich keine Alternative, einfach das Atmen einzustellen.
Erst Mrs. Hudsons Hinweis darauf, dass es ihr Lieblingsgebäck ist, lässt seine Konzentration wieder aufflammen. Zu gut kennt er die Eigenarten ihrer Plätzchen und Kekse, die gerne besonders entspannen oder eine leichte halluzinogene Wirkung haben. Warum sollte man gewisse Pflanzen nicht verwenden, wenn man immer noch gute Kontakte zu den Händlern hat?
»Ihre Spezialplätzchen, Mrs. Hudson?«, fragt er sie mit diesem müden Ton, der aber dennoch etwas von dem Schalk hörbar macht, der ihm manchmal im Nacken sitzt.
»Ich bin Ihre Angestellte, nicht Ihre Haushälterin!«
Sherlock lacht, Sherlock lacht so sehr, dass man glauben könnte, er hätte jene speziellen Kekse doch gegessen. Es ist, was er braucht, dieser Unterton bei dem Wort Haushälterin, so als wolle sie sagen, dass sie doch nicht seine Dealerin ist. Dieses Lachen gibt ihm die nötige Kraft, um es doch bis zu John und den Plätzchen zu schaffen.
Bevor er vergisst, warum er überhaupt am Schreibtisch war, schließt er die Schublade und drückt zwei der fünf Knöpfe auf der Fernbedienung. Es spricht für John, aber gegen diesen Tag, dass er nicht reagiert, als im Sofabereich automatisch verschiedene Lichter angehen und eine Rolllade an der gesamten Fensterfront hinabfährt. Mycroft hat in seinem Behandlungsraum ganz ähnliche, nur geringfügig dicker – und abhörsicher.
Hoffentlich hilft es ein bisschen, denkt Sherlock, nachdem der Raum durch die Rolllade praktisch von der Außenwelt abgeschirmt ist. Eine Sorge weniger für den übermüdeten Geist, eine weitere Wand im Rücken.
Als Sherlock auf dem Sofa gegenüber Platz nimmt und die Beine ausstreckt, ist der Moment weg, in dem John ihn auf Entspannung und Ruhe ansprechen könnte. Nach kurzem Zögern und dem Eingießen einer Tasse heißem Kräutertee ist er so weit und beginnt zu erzählen, was bei ihm geschehen ist.
In jeder anderen Situation hätte er den Mann hinter sich für seine Konzentration und Schnelligkeit beneidet, doch in dieser nicht. Eine Waffe die genau auf seine Hirnzellen ausgerichtet ist, sorgt nicht dafür, dass er sich besser fühlt. Im Gegenteil.
Als es beginnt, ist es wie ein Flattern am Rande des Bildes, ähnlich dem, wenn der Fernseher langsam den Geist aufgibt. John merkt es nicht, es ist nicht greifbar und dennoch beginnt es damit. Sein Herz fängt an zu rasen, das Adrenalin, was zu Beginn noch dafür sorgte, dass er Mut fasste, sich konzentrierte, kurbelt seinen Fluchtinstinkt an. Ihm wird heiß und kalt zu gleich, er fühlt sich wie ein Hamster in einem zu schnell rotierenden Rad. Noch kann er im selben Rhythmus rennen, fällt nicht über seine eigenen Füße. Was jedoch kommt, wenn er aus dem Takt gerät, will er sich nicht vorstellen.
In ihm kämpfen zwei Stimmen um Gehör, die eine Stimme will ihn zur Flucht antreiben, die andere, nicht weit weniger laut, will ihn kämpfen lassen. Es treibt ihn zur Verzweiflung, denn er kann sich noch zu gut an abgetrennte Körperteile und um ihr Leben schreiende Kameraden erinnern. Wie soll er, versehrt aus dem Militärdienst ausgeschieden, denn etwas gegen diesen wahnsinnigen Mann ausrichten? Aber wie soll er es gleichzeitig zulassen, dass wieder einmal unschuldige Menschen ihr Leben lassen müssen.
Es ist ein Chaos in ihm, dass es ihm bang wird. Angst, Trotz, Fluchtinstinkt und Wut wechseln sich in ihm ab. Sein Herz pocht mittlerweile in einer Frequenz, die man nicht mehr ungesund nennen kann, sein Blick verschwimmt, der Fokus geht unter in einer Vielzahl von Empfindungen. Johns Körper spannt sich automatisch an, bereit loszurennen oder wahlweise auch loszuschlagen. Hauptsache raus aus dieser Situation, wer auch immer ihm in den Weg kommt, hat das Nachsehen. Einfach nur mal fünf Minuten Pause von alledem.
Natürlich bleibt diese Handlung nicht unbemerkt, der Griff, der ihm den rechten Arm auf den Rücken drückt, verfestigt sich postwendend, die Waffe drückt noch tiefer in die weiche Haut an seiner Schläfe. Keine Aktion, die John auch nur ansatzweise beruhigt.
Sein Atem geht schnell und flach, ist am Rande der Hyperventilation. Alles in ihm schreit danach, endlich zur Ruhe zu kommen, denn schließlich ist er nicht nur ein ehemaliger Soldat, er ist auch Arzt. Als Arzt ist ihm klar, dass zu hyperventilieren gerade nicht perfekt wäre für diese Situation. Verzweifelt sucht er einen Punkt außerhalb des Ladens, auf den er sich konzentrieren kann.
Der Laden ist umstellt von Polizei, ebenfalls kein Anblick, der ihn beruhigt. Diese Männer und Frauen tragen Waffen, das hilft ihm nicht. Wenn er sich vorstellt, was passiert, wenn diese Männer den Laden stürmen… Falsche Richtung Watson. Wieder einmal meldet sich der Captain zu Wort, will die Situation wie auf dem Schlachtfeld regeln, John drängt ihn mit letzter Kraft zurück.
Er will gerade den Blick abwenden, als sich draußen vor der Tür etwas rührt. Es ist nur eine Bewegung hinter den Autos und dennoch kann John den Blick nicht abwenden. Es liegt in seinem Instinkt, dass er zu Recht vermutet, dass etwas Entscheidendes passiert. Langsam kommt Bewegung in die ganze Szenerie, manche der Polizisten nehmen ihre Pistolen komplett runter. Was immer dort vorgeht, John weiß, nicht ob es ihm gefallen wird, aber zumindest lenkt es ihn von einer Waffe an seinem Kopf ab.
Mit einer sagenhaften Ruhe tritt einer der Polizisten hinter den Wagen hervor. Es dauert einen Moment, bis John durch seine Panikattacke hindurch realisiert, wer es tatsächlich ist. Lockige dunkle Haare, Wangenknochen, die er bei beinahe jeder Sitzung verstohlen mustert, ein blauer Schal und ein schwarzer Mantel, der ihn nur noch imposanter, standhafter und vertrauenerweckender wirken lässt. Ein Mann, dem er zutrauen würde, zu Fuß nach Sibirien und zurückzulaufen. Ein Mann, bei dem er sich immer anlehnen würde. Sherlock Holmes.
Dieser Mann strahlt eine Ruhe aus, die ihm bis ins Mark geht. Wenn er sich so dicht vor das Schaufenster stellt, kann das nur einen Grund haben. Durch die Scheibe hinweg, kann er ihm in die Augen sehen, sieht dort die Bestätigung dessen, was er erwartet hat. In diesen Augen, die scheinbar bei jeder Begegnung eine neue Nuance aufweisen, sieht er, was er sehen muss. So viel Sorge um sein Befinden, dass ihm beinahe die Luft wegbleibt. So viel Zuversicht, dass es nicht in einem Blutbad enden wird. Das Wissen, wie er sich fühlt – vielleicht auch ein Hauch von Liebe, aber das könnte er sich auch nur einbilden. Ein Hirngespinst, mehr nicht.
Was immer es ist, was Sherlock genau erreichen will, seine Anwesenheit alleine reicht schon aus. Das Flackern verblasst, sein Blutdruck und Puls bewegen sich zurück in normale Bahnen und sein Kopf besteht nicht mehr nur aus den Flügeln ›Flucht‹ und ›Angriff‹. Während sich seine Atmung normalisiert, verschafft ihm Sherlocks Blick, das was er braucht. Sicherheit und Ruhe.
Mit der Sicherheit kommt geistige Entspannung und Fokussierung, mit der geistigen Entspannung auch die körperliche. Zunächst lockert sich sein Schulternackenbereich, seine ganze Statur sinkt etwas in sich zusammen. Es wirkt, als habe ihn alle Kraft verlassen, vor Moriarty steht der gebrochene Mann, den er gesehen hat. Doch manches wirkt anders, als es ist. John hat nicht die Kraft, sondern nur die Anspannung verlassen. Er ist entspannt, aber konzentriert, er nimmt seine Umgebung nicht mehr durch einen Filter wahr.
Was dann geschieht, ist mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen, aber doch unendlich wichtig. Vielleicht ist Moriarty mit dem falschen Fuß aufgestanden, vielleicht ist er einer schwarzen Katze über den Weg gelaufen oder hat die Abkürzung genommen und ist unter der Leiter hindurch statt drumrum. Was immer ihm im Vorfeld passiert ist, dieser Tag verläuft für ihn nicht so, wie er es will.
Sicher, dass dieser vorwitzige Arzt endlich seine prekäre Situation erfasst hat, löst James die Waffe etwas von dessen Kopf. Es gibt noch so schrecklich viel zu tun und er hat sich schon viel zu lange mit diesem dummen und einfältigen Mann abgegeben. Bei diesem einfachen Mann reicht ein harter Griff am Arm, um ihn in Schach zu halten.
Der Druck an Johns Schläfe wird weniger, beinahe spürt er den Luftzug, der zwischen Lauf und Haut durchfegt. Er spürt, wie sich auf seinen Lippen ein gefährliches Grinsen ausbreitet. In einem Hauch einer Spiegelung im Fenster zur Straße kann er sein Lächeln nur zu gut sehen. Wäre er statt Arzt Schauspieler geworden, hätte er nun in diesem Augenblick perfekt bei Batman den Joker spielen können. Aber auch ohne Spiegelung ist sich John sicher, dass in seinen Augen ein gefährliches Glitzern liegt.
»Ich muss ganz ehrlich sagen, in diesem Moment hatte ich große Angst um«, nur knapp kann Sherlock diesen Satz aufhalten, bevor ihm ein verräterisches Du herausrutscht. Lieber ist es ihm den ganzen Satz noch einmal anzufangen und John damit vielleicht ahnen zu lassen, wie viel Angst er wirklich hatte, als dass er es ihn wissen lässt.
»Ich muss ganz ehrlich sagen, in diesem Moment hatte ich große Angst um Sie.«
Schon als Sherlock diesen Satz ausspricht, weiß John, dass er ihn duzen wollte; etwas, wogegen John definitiv nichts hätte. Bei dem Gedanken daran, dass sie sich auf einer weiteren Ebene näher kommen könnten, fängt sein verräterisches Herz schon an schneller zu schlagen. Seine Beobachtung von heute Mittag blendet er hingegen lieber direkt aus, er weiß nicht, ob sein Herz noch mehr Hoffnung ertragen würde; zumindest nicht, wenn diese enttäuscht würde.
»Ich kann es mir vorstellen«, sagt John schließlich und meint es auch genauso. Noch immer kann er sich an Nächte erinnern, in denen er wach lag, weil gute Freunde noch außerhalb des Camps waren. Daran, wie er sich im Sanitätszelt fragte, ob und wie seine Kameraden diesmal zurückkommen würden.
Die Teetasse ist inzwischen geleert worden und John setzt sie ab, bevor auch er die Beine ausstreckt und sich tief in das Polster lehnt. Am Liebsten würde er einfach für ein paar Minuten schlafen, aber das kann er wohl vergessen. Erst muss das Aktuelle geklärt werden, dann kann er vielleicht endlich nach Hause gehen. Aber das ist auch gut so, John muss erst mit allem abgeschlossen haben, bis er sich seine Pause gönnen kann.
»Wie haben Sie das Ganze eigentlich erlebt?«
Es ist weder Wissen noch Ahnung, vielleicht eine Vorahnung dessen, was kommen wird. Johns Augen ziert ein Ausdruck knapp zwischen Wahn und Wut, was auch immer nun passieren wird, es wird unschön. Es heißt, es wäre ein schmaler Grad zwischen Wahnsinn und unermesslicher Wut, John bewegt sich in einer Grauzone dazwischen.
Sherlock schafft es noch gerade, in sein Headset zu sprechen, dass bloß niemand auf die Idee kommen soll, zu schießen, als das Spiel seinen Lauf nimmt und das Machtgefüge sich verändert. Der Irrsinn und Wahn in Johns Blick verflüchtigt sich, was bleibt ist nur noch der pure Ausdruck von Wut und Trotz. Moriarty, der schräg links hinter John steht und diesem den Arm in einem äußerst schmerzhaften Winkel auf den Rücken presst, kann nicht so schnell reagieren, wie es nötig wäre.
Scheinbar ohne jedes Anzeichen für Gegenwehr kommt seine Aktion beinahe aus dem Nichts. Der linke Arm schert aus nach hinten, trifft mit dem Ellenbogen zielgenau in den Magen. Da treffen chirurgische Präzision und Kraft eines Soldaten zusammen und befördern Moriarty ohne Rücksicht auf Verluste auf den Boden. Noch während er zusammensinkt, hat sich John umgedreht und ihm die Waffe einfach aus der Hand gerissen. Mit einem Satz ist er bei ihm und wirbelt ihn um, dass er auf dem Bauch liegt. Voller Wut und Kraft drückt ihm John das Knie auf die Brustwirbelsäule und presst ihm die eigene Waffe genauso an die Schläfe, wie er sie ihm zuvor an den Kopf gehalten hatte.
»Na Arschloch, wie fühlt sich das an?«
Obwohl sie nur eine Video-, nicht aber eine Tonübertragung haben, diese Worte kann er doch deutlich entziffern. In solchen Fällen lohnt es sich, dass er Wissen wie ein Schwamm aufsaugt, so wie die Fähigkeit Lippen zu lesen. John flüstert sie Moriarty scheinbar ganz leise in sein rechtes Ohr. Nicht manisch lächelnd oder hämisch, lediglich mit einem in sich verschlossenen Gesichtsausdruck. Es ist offensichtlich, dass er jedes Wort so meint, wie er es sagt.
In diesem Moment durchflutet Sherlock so eine Erleichterung aber auch Befriedigung, dass er fast laut auflacht. Wären hier außer dem Geiselnehmer und John nicht noch die ganzen Polizisten, die ihn die ganze Zeit im Blick behalten, er würde es einfach tun. So jedoch breitet sich auf seinem Gesicht nur kurz dieser Ausdruck der völligen Befriedigung aus, bevor er sich wieder verschließt und hinter seiner professionell kühlen Maske versteckt.
Noch immer die Waffe an der Schläfe des anderen Mannes dreht John den Kopf nach hinten und verhindert so, dass Sherlock ablesen kann, was er den anderen Geiseln zurufen kann. Als eine der Geiseln aus der Warteschlange – die sich trotz der Geiselnahme, oder vielleicht genau deswegen, erstaunlich gut gehalten hat – ausbricht, in den Laden läuft und kurz drauf wiederkommt, kann Sherlock ein Schmunzeln nicht verstecken. Es braucht nur ein paar Griffe, die John scheinbar locker von der Hand gehen und Moriarty ist ein hübsch verpacktes Paket aus Mensch und Kabelbinder.
»Ich weiß gar nicht, woher das Wissen kam«, gibt John leicht schmunzelnd zu. Tatsächlich hat er noch nie einen Menschen mit Kabelbindern gefesselt, eigentlich noch nicht einmal mit Handschellen – wenn wurde er gefesselt, aber das ist keine Geschichte, die heute erzählt wird. Das jedoch so ein Wissen und diese Fähigkeit in ihm steckt, damit hat er nicht gerechnet.
»Vielleicht haben Sie es mal in einer Serie oder einem Film gesehen?«, schlägt Sherlock vor.
»Und dann soll ich das heute noch so gut abrufen können?«, in der Tat hat John schon von sowas gehört, es jedoch meist nicht glauben können.
»Das menschliche Gehirn ist leistungsfähiger als die meisten glauben. Es wäre durchaus möglich, dass Sie die Handgriffe einmal nebenbei gesehen und dann verinnerlicht haben. Manches nehmen wir wahr, ohne es zu merken und vergessen es danach nicht mehr.« Während Sherlock nun gerade an seine Deduktionen denkt, denkt John nicht so abstrakt. Er denkt an Wangenknochen und Lippen, die er jede Nacht in seinen Träumen nachfährt, allerdings sieht er diese ja auch oft genug.
Mit einem Mal ist John ganz müde, der Tag – sowieso nicht einer seiner besten – hängt ihm ebenso schwer in den Knochen, wie er es bei Sherlock tut. Ein Gähnen kann er nicht verbergen, er versucht es aber auch gar nicht. Wenn dir eine Waffe an den Kopf gehalten wurde, du mehrfach Angst um dein Leben hattest und zeitgleich auch noch in Liebeskummer gebadet hast, ist dir ein dämliches Gähnen so egal wie nur was. Die Schläfen massierend, nimmt er schon die Teekanne in Augenschein, als sie ihm einfach weggeschnappt wird.
»Nehmen Sie sich einen Keks und entspannen Sie sich, während Sie mir den Rest erzählen, gieße ich Ihnen noch einmal Tee nach.«
Als John den Laden verlässt, sieht er zum ersten Mal die ganze Kavallerie, scheinbar steht vor ihm die gesamte Metropolitan Police. Mit erhobenen Waffen und einem sorgenvollen Blick auf ihn und die Waffe. Was er versteht. Mittlerweile ist er wieder ganz bei sich und durchaus in der Lage zu verstehen, wie es für die Polizei aussehen muss. Er sichert die Waffe, nimmt das Magazin raus und wirft es mitsamt der Waffe weit von sich, bevor er sich hinkniet.
Alle Wut ist verraucht, einzig ein latentes Gefühl, genervt zu sein, bleibt zurück. Denn auch wenn alles vergleichsweise gut verlaufen ist und er seinen Kopf ein weiteres Mal aus der Schlinge ziehen konnte; eigentlich wollte er doch nur seine Ruhe. Doch das Gefühl, in einem Meer aus unausgesprochenen Gefühlen zu ertrinken ist wie weggespült. Denn letztlich kann solch ein Gefühl nicht dagegen ankommen, wenn man mit einer Waffe bedroht wird und bald stirbt.
Nachdem die Sondereinsatzkräfte und die Polizei alles gesichert haben, ist Sherlock sofort bei ihm am Krankenwagen. Sie sagen beide nichts, Sherlock, der noch immer ein Headset trägt und John, eingewickelt in eine hässliche orange Schockdecke. Ein paar schlanke, aber dennoch kraftvolle Hände ziehen ihn in eine feste, beinahe knochenbrechende, Umarmung. Seine eigenen Arme schlingen sich unter dem schwarzen Mantel um die schlanke Gestalt und ziehen ihn noch näher heran, sein Kopf kommt in Sherlocks Halskuhle zum Liegen.
Tief atmet John ein, erst so langsam wird ihm klar, wie knapp das doch heute war. Wie knapp er beinahe gestorben wäre, wie viel Glück er hatte. Wie knapp er daran war, sich selbst zu verlieren, zu etwas zu mutieren, dass er nie werden wollte. Ein tobsüchtiger, tief verletzter Soldat, der gefangen ist in einer Welt, die nicht existiert.
Erst das Räuspern eines der Polizisten holt sie beide aus ihren Träumen zurück und lässt sie sich langsam lösen. John ist klar, wie das aussehen muss, sein Therapeut, der ihn im Arm hält, viel inniger als es sich für ein typisches Arzt-Patienten-Verhältnis gehört. Eher wie alte Freunde, wie beste Freunde, vielleicht sogar ein Hauch weit wie es ein Liebhaber tun würde. In John reift ein Verdacht, der ihm die Luft zum Atmen nimmt. Vielleicht kann es ja doch sein, dass… Immerhin hatte er schon während der Geiselnahme den Eindruck, aber wahrscheinlich ist es ja doch nur ein Hirngespinst. Proportional zu der Hoffnung, die ihm diese Umarmung schenkt, wächst aber auch die Sorge. Er will sich keinen neuen Arzt suchen und noch weniger möchte er, dass Sherlock seine Approbation verliert.
Dann jedoch richtet er seinen Blick auf den Polizist und muss sich schwer zusammenreißen, um ihn nicht, nach einem Moment der Überlegung und schließlich des Erkennens, als Schusswunde im rechten Bein anzusprechen. Das wirkt meistens nicht sonderlich angenehm auf ehemalige Patienten. Stattdessen mustert er nur Bein und Arm, beobachtet die Bewegungsabläufe und erkennt dann, trotz Hose und dem Rest, dass scheinbar alles gut verheilt ist.
Noch bevor der Polizist etwas sagen kann, dreht sich Sherlock schwungvoll auf seinen Fußballen um. Er nimmt in einer fließenden Bewegung das Headset ab, während er anfängt zu sprechen:
»Die Weste liegt wieder in Ihrem Auto, hier haben Sie das Headset wieder. Dr. John Watson, wird jetzt mit mir kommen und morgen bei Ihnen seine Aussage machen!«
Ohne zu zögern greift Sherlock nach Johns Hand und zieht ihn in die Höhe. Danach zieht er ihn ohne einen Blick zurück, einfach hinter sich her, vertraut aber auch blind darauf, dass er ihm folgen wird, selbst wenn er loslässt. Auf dem Weg weg von diesem Ort kann John nur wenige Gesprächsfetzen wahrnehmen, während er mit Sherlock an Polizisten und Autos vorbei hetzt. Mehrfach dringt das Wort ›Freak‹ zu ihm hoch, es dauert eine Weile, bis er begreift, wem es gilt. Eine größere Weile noch, bis er den Drang einer Polizistin eine saftige Ohrfeige zu geben hinunter gewürgt hat. Danach bemüht er sich, nicht hin, sondern wegzuhören. Dennoch bekommt er mit, dass der Anruf von einer nicht zurückverfolgbaren Telefonnummer erfolgte.
In einem Kopf beginnt sich langsam ein Bild zusammen zu setzen. Die Puzzleteilchen drehen sich hin und her und kehren langsam an ihren angestammten Platz zurück, um ihn zu einer Erkenntnis zu bringen. John ahnt anhand der Anzahl der Teilchen, dass es doch was Größeres sein muss.
Seltsam still ist es zwischen den Beiden, als sie endlich die Absperrung passieren. Ohne genau zu wissen wohin, folgt John einfach Sherlock, der in aller Selbstverständlichkeit vorgeht. Sherlock für sich ist zu sehr in Gedanken, um zu bemerken, dass auch John geistig nicht anwesend ist. John will Sherlock nicht loslassen, am Liebsten nie wieder. John weiß, dass es nicht richtig ist, seinen Arzt zu lieben und ist unglaublich froh, dass Sherlock draußen in Sicherheit war. Wenn er sich überlegt, was alles hätte passieren können, was alles passiert ist…
Johns Gedanken kommen mit einem Mal zur Ruhe, denn Sherlock sagt etwas, dass ihn nachdenken lässt. Wie er so darüber nachdenkt, muss John ihm einfach recht geben.
»Es ist aber nichts passiert. Sie können so viel Wenn und Aber anbringen, wie Sie wollen: Nichts ist sicher. Sie können über die Straße gehen und überfahren werden. Sie könnten bei einem kurzen Spaziergang um die Häuserecke von einer herunterfallenden Flugzeugtoilette erschlagen werden. Im Leben ist nichts sicher, außer der Tod, der kommt immer.«
Sherlock lässt John noch einige Minuten, um diese Erklärung wirken zu lassen. Ihre Gehirne sind müde. Es ist ein Wunder, dass ihre Augenlider der Schwerkraft noch immer trotzen. Da darf John auch etwas länger über diesem Satz brüten.
»Aber ich schwöre Ihnen: Wenn Sie sich noch einmal in solch eine Gefahr begeben, werden Sie mich kennenlernen. Ich habe mir doch nicht monatelang so eine Mühe mit Ihnen gegeben. Dafür gesorgt, dass Sie eben nicht mehr selbstmordgefährdet sind und endlich Ihre Comfort-Zone verlassen, als dass Sie jetzt von einem billigen Supermarkträuber erschossen werden!«, setzt Sherlock nach als er registriert, dass John wieder voll da ist.
Verdutzt schauen sie sich an, keiner von beiden hat mit so einem Ausbruch gerechnet. Dann jedoch kreist das erste Schmunzeln um Johns Mundwinkel, vertieft sich zu einem schmalen Lächeln, einem Grinsen und schließlich einem ausgewachsenem Lachen. Sekunden später erfüllen zwei laute Männerlachen den Raum, es ist ein Befreiungsschlag nach diesem beklemmenden Tag.
Es ist John, der als Erstes wieder ruhiger wird. Doch endlich nach gefühlten Stunden in grauem Vergehen sitzt der Schalk wieder dort, wo er hingehört und das Leuchten ist in seine Augen zurückgekehrt. Dort ist nichts Kaltes mehr, nichts mutiges, nichts Wahnhaftes. Es ist einfach nur noch John Watson, der es faustdick hinter den Ohren hat.
Sein Blick fixiert Sherlock, ist diesmal ganz offen, verschleiert nichts mehr. Langsam hebt er die rechte Hand, führt mit ihr einen müden aber strammen Salut aus.
»Aye aye Captain!«
Wieder erfüllt ihr Lachen den Behandlungsraum. Mrs. Hudson, die draußen vorbei zur Teeküche geht, atmet erleichtert auf. Wenn ihre Jungs schon wieder lachen, kann es nicht so schlimm gewesen sein. Denn es gibt nichts, dass ein ehrliches Lachen verbergen kann – zumindest nicht vor ihr. Die Frage ist einfach nur, wie lange sie es noch vor einander verbergen können und wollen.
Eine halbe Stunde später ist auch diese Sitzung Geschichte. Die letzten Minuten verliefen ruhig, wortlos. Sherlock, der einfach müde ist und nun deutlich den Schlafmangel der letzten Tage merkt, hat keine Lust zu reden. John hingegen ist wieder wach, nicht komplett, aber wach genug. Zwei Dinge kreisen in seinem Kopf, beides kann er nur zum Teil wegschieben. Schiebt er das eine, kommt das andere zurück und umgekehrt.
Ihre Verabschiedung fällt ebenso still aus. Sie reichen sich die Hände, lächeln sich an und versuchen mit Blicken zu sagen, was sie noch nicht aussprechen können. Dass sie dabei ihre Hände einen Tick zu lange und viel zu fest halten, fällt ihnen fast gar nicht auf. Vielleicht suchen sie in einander die Bestätigung noch da zu sein, nicht tot oder weggetreten zu sein, vielleicht aber auch suchen sie in einander die Bestätigung für ihre eigenen Gefühle.
*****
John Watson ist niemand, der sich drückt, aber jetzt gerade, in diesem Moment, würde er seine Prinzipien gerne über den Haufen werfen. Denn eines der beiden Rätsel in seinem Kopf hat er aufgelöst – zumindest geht er fest davon aus –, nun muss er sich diesem nur noch stellen.
Er atmet tief durch, erinnert sich an seinen Vorsatz, nicht wegzulaufen, und klopft schließlich an die Tür. Sie ist ihm durchaus bekannt, obwohl er sie noch nie durchschritten hat. Von innen hört er ein kühles, aber keineswegs unhöfliches, herein.
Prof. Mycroft Holmes ist nicht leicht zu überraschen, dennoch schafft John Watson es in regelmäßigen Abständen. Sich seinem Bruder zu stellen und das Lauschen zuzugeben, trotz diverser Rückschläge nicht den Mut zu verlieren, auch nach so einem Tag wie heute noch aufrecht zu stehen. Es verlangt ihm Respekt ab – einen Respekt, den er in diesem Fall nur zu gerne gibt.
»Prof. Holmes? Ich hoffe, ich störe nicht?«, fragt John und bleibt dabei in der Tür stehen. Er wird es versuchen, aber im Notfall ist er eher aus der Praxis, als ein wildgewordenes Karnickel Helau rufen kann.
»Nein natürlich nicht. Dann hätte ich Ihnen das schon mitgeteilt.«
»Ich weiß nicht recht, wie ich beginnen soll. Eventuell mache ich mich damit zum völligen Affen, aber dann ist es eben so.«
Was Mycroft dann hört, verlangt ihm keinen Respekt mehr ab – eher eine Menge Hochachtung. Wie viel Grips und Verstand ein Goldfisch doch haben kann. Es ist eine Mischung aus Geheimnummern, seinen mutmaßlichen Kontakten zum SIS, Verkehrskameras und einer gewissen Sorge um seinen kleinen Bruder.
»Ich weiß also, dass damals in Kirkcaldy die Straßen menschenleer waren, an der nächsten Kreuzung hing aber eine Verkehrskamera. Zudem wurde ich in einer der besten Kliniken des Landes behandelt, obwohl diese gar keine Notfallambulanz haben. Dann kam der Anruf zur Geiselnahme bei Tesco heute nicht von einem Angestellten oder Zeugen, sondern von einer Nummer, die man nicht zurückverfolgen kann. Wenn ich jetzt beide Geschehnisse in Verbindung setze, dazu das Gefühl nehme, überwacht zu werden, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder Ihr Bruder muss mich wegen einer ausgewachsenen Paranoia behandeln oder ich muss Ihnen danken.«
Mycroft schluckt leise, kaum vernehmbar. So direkt hat ihn noch nie jemand auf seine Machenschaften angesprochen, geschweige denn, ihm gedankt. Er kann machen, was er will für dieses Land, was er bekommt ist Respekt, jedoch kein Dank. Von bestimmten Menschen erfährt er auch, dass er ihnen Angst macht, doch ehrlicher Dank? Nie dagewesen.
Bevor er jedoch seinen Kern zeigen kann – und seinen Ruf für immer zerstören – geht er den üblichen Weg:
»Angenommen, Sie liegen mit ihrer zweiten Vermutung richtig, ergibt sich daraus noch mehr. Sie kennen meine Verbindungen und wissen, zu was ich fähig bin. Sie wissen, wen ich kontrolliere, für wen ich arbeite. Deshalb kann ich Ihnen nur eines raten: Verletzen Sie meinen Bruder niemals, oder es wird Ihnen noch leidtun.«
Eigentlich will Mycroft John Angst machen, dafür sorgen, dass seinem kleinen Bruder eben niemals etwas geschieht, doch er macht John keine Angst, wie er sieht. In seine Augen schleicht sich so ein melancholischer Schleier, sein Lächeln bleibt, aber es wird immer trauriger. Natürlich, auch John hat Geschwister, vielleicht keinen Bruder, aber eine Schwester, um die er sich sorgt.
Mit einer Aufrichtigkeit, die Mycroft in der Politik oft schmerzlich vermisst, sieht John ihm in die Augen und meint mit leiser Stimme: »Das habe ich nicht vor.«
Heimlich, ohne es zu merken, kehrt Ruhe ein in der Praxis ›Holmes & Holmes‹. So erledigt Mrs. Hudson unten die letzten Papiere und packt ihre Tasche. Dr. Sherlock Holmes ist in seinem Sprechzimmer auf dem Sofa umgefallen und schläft tief und fest. John Watson und Prof. Mycroft Holmes geben sich beinahe freundschaftlich die Hand. Nach diesem anstrengenden Tag schließen sie friedlich einen Pakt, immer auf Sherlocks Wohl bedacht zu sein.
Mycroft geleitet John noch bis zur Tür und schließt dann hinter ihm ab, der Tag war lang und die Nacht zu kurz. Er räumt seine eigenen Akten weg und holt auch aus Sherlocks Zimmer die Akten. Auf dem Rückweg weckt er seinen Bruder vorsichtig, natürlich wird dies offiziell nie stattgefunden haben. Gähnend streckt sich Sherlock und trottet dann langsam hinter Mycroft die Treppe hinauf, nur noch ab ins Bett und einen merkwürdigen Traum eines eingestürzten Turmes weiter träumen. Von all seinen Argumenten, von all den Säulen, die seinen Ich-darf-nicht-Turm stützen, ist auch die vorletzte Säule umgefallen. Aus dem Duo ›Patient‹ und ›Er liebt mich ja doch nicht‹ ist nur noch die erste Säule über. Große Teile des Turmes liegen schon in Trümmern zwischen alten umgestürzten Säulen, was noch oben steht hat kräftig Schlagseite bekommen.
Sherlocks Herz hat erkannt, was es eigentlich immer wusste:
Sherlock liebt John, John liebt Sherlock.
Zusammen sein können sie dennoch nicht, denn die allerletzte Säule steht so starr und unbeweglich wie von jeher. Es ist zum Kotzen, doch sie können es beide nicht ändern. Denn Sherlock wird John nicht im Stich lassen, niemals.
Erst als sie die Schaulustigen durchbrechen und endlich an der Straße stehen, wird sich Sherlock darüber bewusst, dass John ihm folgt, obwohl er nicht weiß, was eigentlich passiert. Vollkommenes Vertrauen. Diese Erkenntnis, diese Beobachtung, ist ein weiterer Schuss vor den Bug eines eh schon kenternden Bootes. In dieser Sekunde will Sherlock sich einfach nur noch übergeben, diesen ganzen Mist einfach nur loswerden. Er will sich selbst schlagen und dabei trotzdem gleichzeitig in Tränen ausbrechen. Sherlock hat es nicht verdient, solch einen guten Mann als Patienten zu haben. Nicht, wenn er in jeder Sitzung sein bedingungsloses Vertrauen damit verletzt, dass er heimlich in ihn verliebt ist. Lange kann er so nicht mehr weitermachen, der heutige Tag hat ihm das deutlich vor Augen geführt. Auf Dauer muss sich etwas ändern, sogar wenn er vermutlich mit gebrochenem Herzen aus der Sache hervorgeht. Sherlock schluckt die Schuld und den Frust hinunter, das hilft ihm nun nicht weiter. Dennoch kann er nicht die Besorgnis aus seiner Mimik und Stimme verbannen, als er sich John zuwendet.
»Wir fahren in die Praxis!«, ruppig, beinahe verletzend, kommt es Sherlock über die Lippen, ist dabei aber so gar nicht gemeint. Gerne würde sich Sherlock direkt in den Hintern treten, aber er kann sich selbst nicht ändern. Wie oft sagt er seinen Patienten, dass sie über ihre Gefühle sprechen müssen? Wie oft hat er seinen eigenen Rat in den Wind geschossen?
John kann dennoch hören, was Sherlock sagen will. Dass er sich schreckliche Sorgen gemacht hat und er mit ihm an einen ruhigen, geschützten, Ort möchte. Dass er sich erholen muss, dass er kontrollieren will, dass es ihm, John, gut geht. Aber weil Sherlock all das nicht sagt, sagt auch John nichts – wie so oft. Wie viel zu oft. Aber das Leben wäre auch zu einfach, wenn allle ehrlich zu einander wären. (Egal wie viel Ehrlichkeit sie sich auch versprochen haben.)
»Meine nächste Sitzung ist doch erst nächsten Monat«, weicht er deshalb aus und erkennt selbst, dass das ein ganz schlechtes Ablenkungsmanöver war.
»Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen.«
*****
Noch immer schweigend steigen Sherlock und John eine Stunde später aus dem Taxi. Die Stimmung zwischen ihnen ist nicht frostig, im Gegenteil. Bei John sickert erst langsam die Erkenntnis durch, was alles geschehen ist. Sherlock hingegen bemüht sich redlich, sich unter Kontrolle zu halten. Dennoch spüren beide deutlich diese Stimmung zwischen ihnen, das Gefühl, dass der andere weg sein könnte. Die Ahnung, dass man vielleicht niemals eine Chance auf eine Beziehung haben könnte. John, dem vorher schon nicht zum Lachen zumute war, vergeht bei diesem Gedanken jede Hoffnung.
Lautlos öffnet Sherlock die an der rechten Hausseite versteckte Nebeneingangstür und betritt die Praxis in dem schmalen Flur zwischen Treppe und Empfang. Er blickt nach links, an der Garderobe vorbei zu Mrs. Hudson und gibt ihr mit einem Blick zu verstehen, dass er für den Rest des Tages nicht mehr zu sprechen ist. In diesen Momenten ist sie nicht nur Gold, sondern alles Geld der Welt wert. Im Vorbeigehen hängt John seinen Mantel auf, folgt Sherlock genauso schweigsam die Treppe nach oben.
Erst als die Tür geräuschvoll ins Schloss fällt, atmen sie beide auf. John dem gerade jede Gesellschaft – die nicht Sherlock ist – zu viel ist. Sherlock, der mit seinen Gefühlen zu kämpfen hat und den die Gedanken nicht ruhen lassen. Jener kann die Kraft nicht mehr aufbringen, eisern an seiner Maske festzuhalten, und lässt John dasselbe Vertrauen zukommen, das ihm entgegengebracht wird. Beinahe hörbar lässt er die Maske zu Boden und sich selbst in seinen Sessel fallen.
Nur leise dringen Johns Schritte zu ihm durch, der sich ebenso erschöpft in den anderen Sessel setzt. Beiden steht nur zu deutlich ins Gesicht geschrieben, was das doch für ein verfluchter Scheißtag war.
Für fünf Minuten schweigen sie weiterhin, haben die Augen geschlossen und tun das, was man nach so einem Tag tun muss: Durchatmen, um wieder klar zu werden im Kopf. Als Sherlock die Augen öffnet, ist er endlich wieder ruhiger geworden und zur Besinnung gekommen. Über verletzte Vertrauensverhältnisse, komische Gefühle und solche Dinge kann er auch noch nachdenken, wenn nicht ein traumatisierter Soldat vor ihm sitzt, der bisher einen richtig miesen Tag hatte.
Im Grunde beginnt jede ihrer Sitzungen auf die gleiche Weise. Sie begrüßen sich, machen es sich bequem, Sherlock stellt vielleicht eine Frage, aber generell beginnt John zu reden. Diese Sitzung ist wie der ganze Tag: Anders.
»Ich denke, es würde uns beiden helfen, wenn ich diesmal anfange zu erzählen.«
Als sein Handy klingelt, steht er an einer Kreuzung zu einem Verteilerkreis und überlegt, ob er erst seinen Mantel aus der Reinigung holen oder doch die bestellten Fachbücher holen soll. Leicht zuckt er zusammen, denn diesen Ton hat er bisher nur seltenst gehört. Der ein oder andere Passant wirft ihm einen verblüfften Blick angesichts des Klingeltons zu, doch die ignoriert er geflissentlich und beendet das Stück von Robert Folk, indem er ans Telefon geht.
Auch die fröhliche Stimmung der Filmmusik – und ihr Witz bezüglich Greg –, kann ihn nicht aufmuntern. Detective Inspector Greg Lestrade schreibt genauso wie er, Sherlock, lieber Nachrichten. Nur im äußersten Notfall ruft er persönlich an und meistens geht es dann auch wirklich um Leben und Tod. Sofort sind alle Termine vergessen und sein Tag strickt durchgeplant.
»Ein schiefgelaufener Raub, mindestens 15 Geiseln«, kommt Greg auch direkt auf den Punkt.
»Wo?«
»Tesco Express auf der Monk Street.«
»Fünf Minuten«, lautet Sherlocks einfach Zusage, bevor er das Handy wegsteckt und losläuft. Der Supermarkt ist in seiner Nähe und sonst schon schnell zu erreichen, doch Sherlock wird von einem unguten Bauchgefühl gezwungen, den allerschnellsten Weg zu wählen. Ähnlich einem Parcours-Läufer springt er nicht selten über Geländer und benutzt für seinen Weg nicht nur die Gehwege, sondern auch Feuerleitern, Gebäudeflure und Parkplätze, um zu seinem Ziel zu kommen.
Mit lautem Rufen und kräftigen Ellbogen bahnt er sich schließlich einen Weg durch die Menschentraube bis unter dem Absperrband hindurch. Die typische Stichelei von Sally Donovan ignoriert er diesmal und geht direkt zu Greg Lestrade durch. Ein Gefühl sagt ihm, dass ihm diese Geiselnahme ganz und gar nicht gefallen wird und auf seinen Instinkt konnte er sich immer verlassen. Außer bei Victor, da hat sein Instinkt völlig versagt. Liebe macht eben blind – und manchmal auch blöd.
Und wegen seinem Instinkt ist er völlig fokussiert und klar im Kopf als er bei Greg ankommt. Panik oder komische Gefühle nützen ihm nun nichts, sie haben nur seine Sinne noch einmal geschärft.
Die Begrüßung besteht aus einem knappen Nicken, bevor ihn ein weiterer Polizist mit einem Headset ausstattet. Dass sie ihn diesmal live in die Besprechung und Planung einbinden, bestärkt seinen Verdacht nur noch mehr, dass es ihm nicht gefallen wird.
»Mindestens fünf Mitarbeiter in den Büroräumen und dem Lager, weitere zehn Kunden im Ladenlokal selbst«, informiert ihn einer der Männer, als er sich meldet. Beinahe muss Sherlock den Kopf darüber schütteln, dass sie zwar bei seinem Namen die Gesichter verziehen, ihn aber bei solch einer Situation unbedingt brauchen. Wenn sie ihn doch nicht leiden können und ihn für so schrecklich halten, warum erledigen sie ihren Mist dann nicht selbst? Weil sie es nicht können!
»Bilder von den Überwachungskameras und Eckdaten des Täters?«, fragt er nach, während Greg vor ihm eine Blaupause des Ladens ausbreitet. Was er sieht gefällt ihm ganz und gar nicht. Das sieht für ihn weniger nach einem Raub aus, dafür gäbe es strategisch bessere Läden. Es macht nicht viel Sinn einen Laden auszurauben, in dem größere Geldbeträge direkt mittels Rohrpost weitergeschickt werden. Entweder ist dieser Täter also unerfahrener, als er wirkt – damit aber auch unberechenbarer – oder aus einem anderen Grund dort. Seinen Verdacht teilt er sofort Lestrade mit, der ihn alles andere als erfreut ansieht. Natürlich nicht, macht es doch ihre Arbeit nur schwerer.
»Historie und Name liegen uns nicht vor, Kamerabilder kommen in ca. 5 Minuten«, kommt dann die Info über das Headset. Ideal ist anders, denkt Sherlock, nutzt aber die Zeit um Greg mit ein paar eventuellen Psychen vertraut zu machen. Seine Analyse ist natürlich nicht so tief greifend wie bei einem Verhör oder nach einem längeren Gespräch, doch alleine, dass sich der Täter diesen Laden ausgesucht hat, sagt schon eine ganze Menge.
Kurz drauf bringt dann einer der Sergeants einen Laptop, auf dem schon die Überwachungsbilder zu sehen sind. Bild eins und zwei zeigen ihm, dass es den Geiseln nicht nur körperlich, sondern auch geistig recht gut geht. Bild drei lässt ihm dafür das Blut in den Adern gefrieren.
DI Greg Lestrade ist vielleicht der Einäugige unter den Blinden, doch auch er kann nicht deduzieren oder auch nur annähernd sehen, was Sherlock sieht. Aber er ist nicht ohne Grund Detective Inspector, er ist ziemlich gut, darin Gesichter zu lesen. Mit Besorgnis mustert er den psychologischen Berater – sollte das Ammenmärchen eben doch stimmen, dass jeder Psychiater selbst einen ›Schaden‹ hat?
Doch dann mustert er ihn genauer, ignoriert die weit aufgerissenen Augen, die hochgezogenen Augenbrauen und diese Mimik des Schocks. Sherlocks Blick klebt am Bildschirm, genauer gesagt an einer der Geiseln.
»Moment den kenne ich doch«, erklärt Greg wird aber davon unterbrochen, dass Sherlock ihn sofort scharf anblickt. Irgendwas stimmt hier nicht und die Chance, dass es ihm gefallen wird, steht nicht gerade hoch. Er kommt jedoch nicht dazu, diesen Satz zu beenden, zu gefesselt ist er von Sherlock Holmes.
Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, geht er an Gregs Dienstwagen, in dem für ihn immer eine schusssichere Weste parat liegt. Er muss Greg nicht fragen, woher er John kennt. Das war für ihn schon klar, als er verletzt wurde und John kurz drauf von seinem ersten Tag in der Notaufnahme erzählte. Sherlock öffnet ohne zu zögern die Tür und zieht seinen Mantel aus, während er mit einem Klick das Mikrofon am Headset wieder aktiviert.
»Keiner rührt hier heute auch nur einen Finger oder fasst einen Abzug auch nur an. Ich schwöre Ihnen, wenn hier heute etwas passiert, ohne, dass ich davon wusste und es bestätigt hätte… Sie kennen die Gerüchte, glauben Sie nicht, dass ich sie nicht auch kenne. Sie werden Ihnen danach wie schlechte Witze erscheinen, in Wahrheit kann ich noch sehr viel schlimmer sein.«
Es zweifelt niemand an Sherlocks Worten, denn wirklich jeder kennt die Vorwürfe und Spekulationen, die von Anderson und Donovan ausgehen, doch ebenso wird niemand die Befehlskette ignorieren. Erst als Lestrade seine Zustimmung gibt und Sherlock formal die Leitung überträgt, legen sie die Waffen nieder.
»Dieser Mann, den Sie auf den Bildern der Überwachungskameras sehen, ist John Watson. Wenn Sie nun seine Historie ansehen, sehen Sie sich seine letzten Auslandsaufenthalte und den dazugehörigen Beruf an und bedenken Sie, als was ich arbeite. Ihr größtes Problem ist nicht der Geiselnehmer, sondern John Watson. Schauen Sie ihm in die Augen, ist das wirklich nur Angst oder nicht auch Trotz? Sie können jetzt auf der Stelle den Geiselnehmer erschießen, das kann aber bei bestimmten Menschen, mit bestimmten Historien zu Flashbacks führen. Und glauben Sie mir, dann haben sie ein Problem! Das hier ist dagegen ein Spaziergang.«
Sogar Donovan hält dieses Mal ihren Mund und versucht nicht, Sherlock irgendwas anzudichten. Wie die meisten hat sie zeitgleich die Information bekommen, dass sie es mit einem ehemaligen Captain zu tun haben, vermutlich erkrankt an PTBS. Eigentlich will sie noch fragen, wie man so einen labilen Mann auf die Menschheit loslassen kann, doch als sie zu Sherlock blickt, hält sie ebenso wie Greg den Atem an.
In den ganzen Jahren, in denen Sherlock als Berater schon für New Scottland Yard tätig ist, haben Greg und Sally eines noch nie gesehen. Sherlock Holmes, wie er eine schusssichere Weste anzieht und mit völlig verschlossenem Gesicht unter dem Mantel verbirgt.
»Fragen Sie sich bitte, wie Sie sich an seiner Stelle fühlen würden. Und nun stellen Sie sich vor, dass Sie einfach nur Ihre Ruhe wollen. Dieses Gefühl dürfen Sie mit X multiplizieren«, erklärt Sherlock, schließt den Mantel richtig und tritt langsam von den Polizeiwagen und der provisorischen Leitstelle weg.
Es ist nicht klar, für wen dieses Gespräch mehr Therapie ist. Für John, weil er die ganze Zeit in der Hand eines wahnwitzigen Geiselnehmers und Beinahemörders war, oder für Sherlock. Sherlock, der doch draußen stand und versucht hat alles zum Guten zu leiten und dennoch genau eines war. Draußen. Nicht drinnen bei John, um ihn zu beschützen. Für John, weil dieser beinahe sein Leben verloren hat, oder für Sherlock, weil dieser bald John verloren hätte. Die Situation ist einfach nur beschissen für beide.
Ihnen beiden tut die Aufarbeitung jedoch mehr als gut, endlich zu wissen, was wirklich geschah, beide Seiten zu kennen. Zugleich enthüllt es John auch einen weiteren Teil von Sherlocks Charakter. Dass dieser nicht nur in der Praxis arbeitet, sondern auch eine interessante Art der ›Feldforschung‹ betreibt. Dennoch macht sich John immer noch, trotz diesem nervenaufreibendem Tag, schon wieder Sorgen um seinen Arzt. Wo bleibt bei solch einer beruflichen Auslastung die Zeit für die Erholung?
Er weiß noch nicht recht, ob er dieses Thema einmal ansprechen soll, immerhin ist er zwar Arzt, hier aber doch ›nur‹ Patient. Die Entscheidung, ob er es heute tun soll, wird ihm abgenommen, als es dreimal resolut klopft und sich dann einfach die Tür öffnet. Gekonnt schiebt er den Gedanken zurück und nimmt sich vor, Sherlock ein andermal drauf anzusprechen.
»Ich weiß, Sie wollten nicht gestört werden Sherlock, aber nachdem ich gerade erfahren habe, was passiert ist, dachte ich…«, Mrs. Hudson spricht nicht weiter, aber das ist auch nicht nötig. Auf ihren zugegebenermaßen nicht mehr ganz jungen Händen balanciert sie ein voll beladenes Tablett. Zwei Teegläser, eine große Teekanne in die sicher drei Liter passen, ein Dose Zucker, sowie Süßstoff und eine Auswahl Kekse und Plätzchen.
Trotz des Gewichtes bringt sie alles ohne zu zögern oder auch nur etwas zu schwanken sicher zum kleinen Couchtisch und stellt es dort ab. Etwas zerknirscht schaut sie zu ihnen rüber, behält besonders John im Auge, erklärt dann, dass alles zusammen nicht auf das kleine Beistelltischchen bei den Sesseln gepasst hätte. Zwei einzelne Tassen Kaffee oder Tee sicher, aber nicht das ganze Tablett.
Schmunzelnd, aber doch noch immer leicht abwesend, erhebt sich Sherlock aus dem Sessel. John ist in der Zeit schon um den Raumtrenner herum gegangen und hat es sich auf einem der beiden Sofas gemütlich gemacht. Sherlock dagegen geht erst noch schnell zu seinem Schreibtisch, öffnet die linke obere Schublade und greift blind hinein. Triumphierend hält er eine schmale Fernsteuerung in den Händen.
Plötzlich spürt er den ganzen Tag in seinen Knochen, es ist, als wäre jede einzelne Zelle in seinem Körper müde. Es kommt scheinbar alles heraus, was er bisher mühsam unterdrückt hat. Dafür kommt es nun geballt. Nur mühsam kann er sich auf den Beinen halten. Daran diesen Tisch loszulassen und zu John zu gehen, darf er gar nicht denken. Manchmal ist atmen langweilig, manchmal ist atmen aber auch so verflucht kräftezehrend. Dennoch ist es natürlich keine Alternative, einfach das Atmen einzustellen.
Erst Mrs. Hudsons Hinweis darauf, dass es ihr Lieblingsgebäck ist, lässt seine Konzentration wieder aufflammen. Zu gut kennt er die Eigenarten ihrer Plätzchen und Kekse, die gerne besonders entspannen oder eine leichte halluzinogene Wirkung haben. Warum sollte man gewisse Pflanzen nicht verwenden, wenn man immer noch gute Kontakte zu den Händlern hat?
»Ihre Spezialplätzchen, Mrs. Hudson?«, fragt er sie mit diesem müden Ton, der aber dennoch etwas von dem Schalk hörbar macht, der ihm manchmal im Nacken sitzt.
»Ich bin Ihre Angestellte, nicht Ihre Haushälterin!«
Sherlock lacht, Sherlock lacht so sehr, dass man glauben könnte, er hätte jene speziellen Kekse doch gegessen. Es ist, was er braucht, dieser Unterton bei dem Wort Haushälterin, so als wolle sie sagen, dass sie doch nicht seine Dealerin ist. Dieses Lachen gibt ihm die nötige Kraft, um es doch bis zu John und den Plätzchen zu schaffen.
Bevor er vergisst, warum er überhaupt am Schreibtisch war, schließt er die Schublade und drückt zwei der fünf Knöpfe auf der Fernbedienung. Es spricht für John, aber gegen diesen Tag, dass er nicht reagiert, als im Sofabereich automatisch verschiedene Lichter angehen und eine Rolllade an der gesamten Fensterfront hinabfährt. Mycroft hat in seinem Behandlungsraum ganz ähnliche, nur geringfügig dicker – und abhörsicher.
Hoffentlich hilft es ein bisschen, denkt Sherlock, nachdem der Raum durch die Rolllade praktisch von der Außenwelt abgeschirmt ist. Eine Sorge weniger für den übermüdeten Geist, eine weitere Wand im Rücken.
Als Sherlock auf dem Sofa gegenüber Platz nimmt und die Beine ausstreckt, ist der Moment weg, in dem John ihn auf Entspannung und Ruhe ansprechen könnte. Nach kurzem Zögern und dem Eingießen einer Tasse heißem Kräutertee ist er so weit und beginnt zu erzählen, was bei ihm geschehen ist.
In jeder anderen Situation hätte er den Mann hinter sich für seine Konzentration und Schnelligkeit beneidet, doch in dieser nicht. Eine Waffe die genau auf seine Hirnzellen ausgerichtet ist, sorgt nicht dafür, dass er sich besser fühlt. Im Gegenteil.
Als es beginnt, ist es wie ein Flattern am Rande des Bildes, ähnlich dem, wenn der Fernseher langsam den Geist aufgibt. John merkt es nicht, es ist nicht greifbar und dennoch beginnt es damit. Sein Herz fängt an zu rasen, das Adrenalin, was zu Beginn noch dafür sorgte, dass er Mut fasste, sich konzentrierte, kurbelt seinen Fluchtinstinkt an. Ihm wird heiß und kalt zu gleich, er fühlt sich wie ein Hamster in einem zu schnell rotierenden Rad. Noch kann er im selben Rhythmus rennen, fällt nicht über seine eigenen Füße. Was jedoch kommt, wenn er aus dem Takt gerät, will er sich nicht vorstellen.
In ihm kämpfen zwei Stimmen um Gehör, die eine Stimme will ihn zur Flucht antreiben, die andere, nicht weit weniger laut, will ihn kämpfen lassen. Es treibt ihn zur Verzweiflung, denn er kann sich noch zu gut an abgetrennte Körperteile und um ihr Leben schreiende Kameraden erinnern. Wie soll er, versehrt aus dem Militärdienst ausgeschieden, denn etwas gegen diesen wahnsinnigen Mann ausrichten? Aber wie soll er es gleichzeitig zulassen, dass wieder einmal unschuldige Menschen ihr Leben lassen müssen.
Es ist ein Chaos in ihm, dass es ihm bang wird. Angst, Trotz, Fluchtinstinkt und Wut wechseln sich in ihm ab. Sein Herz pocht mittlerweile in einer Frequenz, die man nicht mehr ungesund nennen kann, sein Blick verschwimmt, der Fokus geht unter in einer Vielzahl von Empfindungen. Johns Körper spannt sich automatisch an, bereit loszurennen oder wahlweise auch loszuschlagen. Hauptsache raus aus dieser Situation, wer auch immer ihm in den Weg kommt, hat das Nachsehen. Einfach nur mal fünf Minuten Pause von alledem.
Natürlich bleibt diese Handlung nicht unbemerkt, der Griff, der ihm den rechten Arm auf den Rücken drückt, verfestigt sich postwendend, die Waffe drückt noch tiefer in die weiche Haut an seiner Schläfe. Keine Aktion, die John auch nur ansatzweise beruhigt.
Sein Atem geht schnell und flach, ist am Rande der Hyperventilation. Alles in ihm schreit danach, endlich zur Ruhe zu kommen, denn schließlich ist er nicht nur ein ehemaliger Soldat, er ist auch Arzt. Als Arzt ist ihm klar, dass zu hyperventilieren gerade nicht perfekt wäre für diese Situation. Verzweifelt sucht er einen Punkt außerhalb des Ladens, auf den er sich konzentrieren kann.
Der Laden ist umstellt von Polizei, ebenfalls kein Anblick, der ihn beruhigt. Diese Männer und Frauen tragen Waffen, das hilft ihm nicht. Wenn er sich vorstellt, was passiert, wenn diese Männer den Laden stürmen… Falsche Richtung Watson. Wieder einmal meldet sich der Captain zu Wort, will die Situation wie auf dem Schlachtfeld regeln, John drängt ihn mit letzter Kraft zurück.
Er will gerade den Blick abwenden, als sich draußen vor der Tür etwas rührt. Es ist nur eine Bewegung hinter den Autos und dennoch kann John den Blick nicht abwenden. Es liegt in seinem Instinkt, dass er zu Recht vermutet, dass etwas Entscheidendes passiert. Langsam kommt Bewegung in die ganze Szenerie, manche der Polizisten nehmen ihre Pistolen komplett runter. Was immer dort vorgeht, John weiß, nicht ob es ihm gefallen wird, aber zumindest lenkt es ihn von einer Waffe an seinem Kopf ab.
Mit einer sagenhaften Ruhe tritt einer der Polizisten hinter den Wagen hervor. Es dauert einen Moment, bis John durch seine Panikattacke hindurch realisiert, wer es tatsächlich ist. Lockige dunkle Haare, Wangenknochen, die er bei beinahe jeder Sitzung verstohlen mustert, ein blauer Schal und ein schwarzer Mantel, der ihn nur noch imposanter, standhafter und vertrauenerweckender wirken lässt. Ein Mann, dem er zutrauen würde, zu Fuß nach Sibirien und zurückzulaufen. Ein Mann, bei dem er sich immer anlehnen würde. Sherlock Holmes.
Dieser Mann strahlt eine Ruhe aus, die ihm bis ins Mark geht. Wenn er sich so dicht vor das Schaufenster stellt, kann das nur einen Grund haben. Durch die Scheibe hinweg, kann er ihm in die Augen sehen, sieht dort die Bestätigung dessen, was er erwartet hat. In diesen Augen, die scheinbar bei jeder Begegnung eine neue Nuance aufweisen, sieht er, was er sehen muss. So viel Sorge um sein Befinden, dass ihm beinahe die Luft wegbleibt. So viel Zuversicht, dass es nicht in einem Blutbad enden wird. Das Wissen, wie er sich fühlt – vielleicht auch ein Hauch von Liebe, aber das könnte er sich auch nur einbilden. Ein Hirngespinst, mehr nicht.
Was immer es ist, was Sherlock genau erreichen will, seine Anwesenheit alleine reicht schon aus. Das Flackern verblasst, sein Blutdruck und Puls bewegen sich zurück in normale Bahnen und sein Kopf besteht nicht mehr nur aus den Flügeln ›Flucht‹ und ›Angriff‹. Während sich seine Atmung normalisiert, verschafft ihm Sherlocks Blick, das was er braucht. Sicherheit und Ruhe.
Mit der Sicherheit kommt geistige Entspannung und Fokussierung, mit der geistigen Entspannung auch die körperliche. Zunächst lockert sich sein Schulternackenbereich, seine ganze Statur sinkt etwas in sich zusammen. Es wirkt, als habe ihn alle Kraft verlassen, vor Moriarty steht der gebrochene Mann, den er gesehen hat. Doch manches wirkt anders, als es ist. John hat nicht die Kraft, sondern nur die Anspannung verlassen. Er ist entspannt, aber konzentriert, er nimmt seine Umgebung nicht mehr durch einen Filter wahr.
Was dann geschieht, ist mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen, aber doch unendlich wichtig. Vielleicht ist Moriarty mit dem falschen Fuß aufgestanden, vielleicht ist er einer schwarzen Katze über den Weg gelaufen oder hat die Abkürzung genommen und ist unter der Leiter hindurch statt drumrum. Was immer ihm im Vorfeld passiert ist, dieser Tag verläuft für ihn nicht so, wie er es will.
Sicher, dass dieser vorwitzige Arzt endlich seine prekäre Situation erfasst hat, löst James die Waffe etwas von dessen Kopf. Es gibt noch so schrecklich viel zu tun und er hat sich schon viel zu lange mit diesem dummen und einfältigen Mann abgegeben. Bei diesem einfachen Mann reicht ein harter Griff am Arm, um ihn in Schach zu halten.
Der Druck an Johns Schläfe wird weniger, beinahe spürt er den Luftzug, der zwischen Lauf und Haut durchfegt. Er spürt, wie sich auf seinen Lippen ein gefährliches Grinsen ausbreitet. In einem Hauch einer Spiegelung im Fenster zur Straße kann er sein Lächeln nur zu gut sehen. Wäre er statt Arzt Schauspieler geworden, hätte er nun in diesem Augenblick perfekt bei Batman den Joker spielen können. Aber auch ohne Spiegelung ist sich John sicher, dass in seinen Augen ein gefährliches Glitzern liegt.
»Ich muss ganz ehrlich sagen, in diesem Moment hatte ich große Angst um«, nur knapp kann Sherlock diesen Satz aufhalten, bevor ihm ein verräterisches Du herausrutscht. Lieber ist es ihm den ganzen Satz noch einmal anzufangen und John damit vielleicht ahnen zu lassen, wie viel Angst er wirklich hatte, als dass er es ihn wissen lässt.
»Ich muss ganz ehrlich sagen, in diesem Moment hatte ich große Angst um Sie.«
Schon als Sherlock diesen Satz ausspricht, weiß John, dass er ihn duzen wollte; etwas, wogegen John definitiv nichts hätte. Bei dem Gedanken daran, dass sie sich auf einer weiteren Ebene näher kommen könnten, fängt sein verräterisches Herz schon an schneller zu schlagen. Seine Beobachtung von heute Mittag blendet er hingegen lieber direkt aus, er weiß nicht, ob sein Herz noch mehr Hoffnung ertragen würde; zumindest nicht, wenn diese enttäuscht würde.
»Ich kann es mir vorstellen«, sagt John schließlich und meint es auch genauso. Noch immer kann er sich an Nächte erinnern, in denen er wach lag, weil gute Freunde noch außerhalb des Camps waren. Daran, wie er sich im Sanitätszelt fragte, ob und wie seine Kameraden diesmal zurückkommen würden.
Die Teetasse ist inzwischen geleert worden und John setzt sie ab, bevor auch er die Beine ausstreckt und sich tief in das Polster lehnt. Am Liebsten würde er einfach für ein paar Minuten schlafen, aber das kann er wohl vergessen. Erst muss das Aktuelle geklärt werden, dann kann er vielleicht endlich nach Hause gehen. Aber das ist auch gut so, John muss erst mit allem abgeschlossen haben, bis er sich seine Pause gönnen kann.
»Wie haben Sie das Ganze eigentlich erlebt?«
Es ist weder Wissen noch Ahnung, vielleicht eine Vorahnung dessen, was kommen wird. Johns Augen ziert ein Ausdruck knapp zwischen Wahn und Wut, was auch immer nun passieren wird, es wird unschön. Es heißt, es wäre ein schmaler Grad zwischen Wahnsinn und unermesslicher Wut, John bewegt sich in einer Grauzone dazwischen.
Sherlock schafft es noch gerade, in sein Headset zu sprechen, dass bloß niemand auf die Idee kommen soll, zu schießen, als das Spiel seinen Lauf nimmt und das Machtgefüge sich verändert. Der Irrsinn und Wahn in Johns Blick verflüchtigt sich, was bleibt ist nur noch der pure Ausdruck von Wut und Trotz. Moriarty, der schräg links hinter John steht und diesem den Arm in einem äußerst schmerzhaften Winkel auf den Rücken presst, kann nicht so schnell reagieren, wie es nötig wäre.
Scheinbar ohne jedes Anzeichen für Gegenwehr kommt seine Aktion beinahe aus dem Nichts. Der linke Arm schert aus nach hinten, trifft mit dem Ellenbogen zielgenau in den Magen. Da treffen chirurgische Präzision und Kraft eines Soldaten zusammen und befördern Moriarty ohne Rücksicht auf Verluste auf den Boden. Noch während er zusammensinkt, hat sich John umgedreht und ihm die Waffe einfach aus der Hand gerissen. Mit einem Satz ist er bei ihm und wirbelt ihn um, dass er auf dem Bauch liegt. Voller Wut und Kraft drückt ihm John das Knie auf die Brustwirbelsäule und presst ihm die eigene Waffe genauso an die Schläfe, wie er sie ihm zuvor an den Kopf gehalten hatte.
»Na Arschloch, wie fühlt sich das an?«
Obwohl sie nur eine Video-, nicht aber eine Tonübertragung haben, diese Worte kann er doch deutlich entziffern. In solchen Fällen lohnt es sich, dass er Wissen wie ein Schwamm aufsaugt, so wie die Fähigkeit Lippen zu lesen. John flüstert sie Moriarty scheinbar ganz leise in sein rechtes Ohr. Nicht manisch lächelnd oder hämisch, lediglich mit einem in sich verschlossenen Gesichtsausdruck. Es ist offensichtlich, dass er jedes Wort so meint, wie er es sagt.
In diesem Moment durchflutet Sherlock so eine Erleichterung aber auch Befriedigung, dass er fast laut auflacht. Wären hier außer dem Geiselnehmer und John nicht noch die ganzen Polizisten, die ihn die ganze Zeit im Blick behalten, er würde es einfach tun. So jedoch breitet sich auf seinem Gesicht nur kurz dieser Ausdruck der völligen Befriedigung aus, bevor er sich wieder verschließt und hinter seiner professionell kühlen Maske versteckt.
Noch immer die Waffe an der Schläfe des anderen Mannes dreht John den Kopf nach hinten und verhindert so, dass Sherlock ablesen kann, was er den anderen Geiseln zurufen kann. Als eine der Geiseln aus der Warteschlange – die sich trotz der Geiselnahme, oder vielleicht genau deswegen, erstaunlich gut gehalten hat – ausbricht, in den Laden läuft und kurz drauf wiederkommt, kann Sherlock ein Schmunzeln nicht verstecken. Es braucht nur ein paar Griffe, die John scheinbar locker von der Hand gehen und Moriarty ist ein hübsch verpacktes Paket aus Mensch und Kabelbinder.
»Ich weiß gar nicht, woher das Wissen kam«, gibt John leicht schmunzelnd zu. Tatsächlich hat er noch nie einen Menschen mit Kabelbindern gefesselt, eigentlich noch nicht einmal mit Handschellen – wenn wurde er gefesselt, aber das ist keine Geschichte, die heute erzählt wird. Das jedoch so ein Wissen und diese Fähigkeit in ihm steckt, damit hat er nicht gerechnet.
»Vielleicht haben Sie es mal in einer Serie oder einem Film gesehen?«, schlägt Sherlock vor.
»Und dann soll ich das heute noch so gut abrufen können?«, in der Tat hat John schon von sowas gehört, es jedoch meist nicht glauben können.
»Das menschliche Gehirn ist leistungsfähiger als die meisten glauben. Es wäre durchaus möglich, dass Sie die Handgriffe einmal nebenbei gesehen und dann verinnerlicht haben. Manches nehmen wir wahr, ohne es zu merken und vergessen es danach nicht mehr.« Während Sherlock nun gerade an seine Deduktionen denkt, denkt John nicht so abstrakt. Er denkt an Wangenknochen und Lippen, die er jede Nacht in seinen Träumen nachfährt, allerdings sieht er diese ja auch oft genug.
Mit einem Mal ist John ganz müde, der Tag – sowieso nicht einer seiner besten – hängt ihm ebenso schwer in den Knochen, wie er es bei Sherlock tut. Ein Gähnen kann er nicht verbergen, er versucht es aber auch gar nicht. Wenn dir eine Waffe an den Kopf gehalten wurde, du mehrfach Angst um dein Leben hattest und zeitgleich auch noch in Liebeskummer gebadet hast, ist dir ein dämliches Gähnen so egal wie nur was. Die Schläfen massierend, nimmt er schon die Teekanne in Augenschein, als sie ihm einfach weggeschnappt wird.
»Nehmen Sie sich einen Keks und entspannen Sie sich, während Sie mir den Rest erzählen, gieße ich Ihnen noch einmal Tee nach.«
Als John den Laden verlässt, sieht er zum ersten Mal die ganze Kavallerie, scheinbar steht vor ihm die gesamte Metropolitan Police. Mit erhobenen Waffen und einem sorgenvollen Blick auf ihn und die Waffe. Was er versteht. Mittlerweile ist er wieder ganz bei sich und durchaus in der Lage zu verstehen, wie es für die Polizei aussehen muss. Er sichert die Waffe, nimmt das Magazin raus und wirft es mitsamt der Waffe weit von sich, bevor er sich hinkniet.
Alle Wut ist verraucht, einzig ein latentes Gefühl, genervt zu sein, bleibt zurück. Denn auch wenn alles vergleichsweise gut verlaufen ist und er seinen Kopf ein weiteres Mal aus der Schlinge ziehen konnte; eigentlich wollte er doch nur seine Ruhe. Doch das Gefühl, in einem Meer aus unausgesprochenen Gefühlen zu ertrinken ist wie weggespült. Denn letztlich kann solch ein Gefühl nicht dagegen ankommen, wenn man mit einer Waffe bedroht wird und bald stirbt.
Nachdem die Sondereinsatzkräfte und die Polizei alles gesichert haben, ist Sherlock sofort bei ihm am Krankenwagen. Sie sagen beide nichts, Sherlock, der noch immer ein Headset trägt und John, eingewickelt in eine hässliche orange Schockdecke. Ein paar schlanke, aber dennoch kraftvolle Hände ziehen ihn in eine feste, beinahe knochenbrechende, Umarmung. Seine eigenen Arme schlingen sich unter dem schwarzen Mantel um die schlanke Gestalt und ziehen ihn noch näher heran, sein Kopf kommt in Sherlocks Halskuhle zum Liegen.
Tief atmet John ein, erst so langsam wird ihm klar, wie knapp das doch heute war. Wie knapp er beinahe gestorben wäre, wie viel Glück er hatte. Wie knapp er daran war, sich selbst zu verlieren, zu etwas zu mutieren, dass er nie werden wollte. Ein tobsüchtiger, tief verletzter Soldat, der gefangen ist in einer Welt, die nicht existiert.
Erst das Räuspern eines der Polizisten holt sie beide aus ihren Träumen zurück und lässt sie sich langsam lösen. John ist klar, wie das aussehen muss, sein Therapeut, der ihn im Arm hält, viel inniger als es sich für ein typisches Arzt-Patienten-Verhältnis gehört. Eher wie alte Freunde, wie beste Freunde, vielleicht sogar ein Hauch weit wie es ein Liebhaber tun würde. In John reift ein Verdacht, der ihm die Luft zum Atmen nimmt. Vielleicht kann es ja doch sein, dass… Immerhin hatte er schon während der Geiselnahme den Eindruck, aber wahrscheinlich ist es ja doch nur ein Hirngespinst. Proportional zu der Hoffnung, die ihm diese Umarmung schenkt, wächst aber auch die Sorge. Er will sich keinen neuen Arzt suchen und noch weniger möchte er, dass Sherlock seine Approbation verliert.
Dann jedoch richtet er seinen Blick auf den Polizist und muss sich schwer zusammenreißen, um ihn nicht, nach einem Moment der Überlegung und schließlich des Erkennens, als Schusswunde im rechten Bein anzusprechen. Das wirkt meistens nicht sonderlich angenehm auf ehemalige Patienten. Stattdessen mustert er nur Bein und Arm, beobachtet die Bewegungsabläufe und erkennt dann, trotz Hose und dem Rest, dass scheinbar alles gut verheilt ist.
Noch bevor der Polizist etwas sagen kann, dreht sich Sherlock schwungvoll auf seinen Fußballen um. Er nimmt in einer fließenden Bewegung das Headset ab, während er anfängt zu sprechen:
»Die Weste liegt wieder in Ihrem Auto, hier haben Sie das Headset wieder. Dr. John Watson, wird jetzt mit mir kommen und morgen bei Ihnen seine Aussage machen!«
Ohne zu zögern greift Sherlock nach Johns Hand und zieht ihn in die Höhe. Danach zieht er ihn ohne einen Blick zurück, einfach hinter sich her, vertraut aber auch blind darauf, dass er ihm folgen wird, selbst wenn er loslässt. Auf dem Weg weg von diesem Ort kann John nur wenige Gesprächsfetzen wahrnehmen, während er mit Sherlock an Polizisten und Autos vorbei hetzt. Mehrfach dringt das Wort ›Freak‹ zu ihm hoch, es dauert eine Weile, bis er begreift, wem es gilt. Eine größere Weile noch, bis er den Drang einer Polizistin eine saftige Ohrfeige zu geben hinunter gewürgt hat. Danach bemüht er sich, nicht hin, sondern wegzuhören. Dennoch bekommt er mit, dass der Anruf von einer nicht zurückverfolgbaren Telefonnummer erfolgte.
In einem Kopf beginnt sich langsam ein Bild zusammen zu setzen. Die Puzzleteilchen drehen sich hin und her und kehren langsam an ihren angestammten Platz zurück, um ihn zu einer Erkenntnis zu bringen. John ahnt anhand der Anzahl der Teilchen, dass es doch was Größeres sein muss.
Seltsam still ist es zwischen den Beiden, als sie endlich die Absperrung passieren. Ohne genau zu wissen wohin, folgt John einfach Sherlock, der in aller Selbstverständlichkeit vorgeht. Sherlock für sich ist zu sehr in Gedanken, um zu bemerken, dass auch John geistig nicht anwesend ist. John will Sherlock nicht loslassen, am Liebsten nie wieder. John weiß, dass es nicht richtig ist, seinen Arzt zu lieben und ist unglaublich froh, dass Sherlock draußen in Sicherheit war. Wenn er sich überlegt, was alles hätte passieren können, was alles passiert ist…
Johns Gedanken kommen mit einem Mal zur Ruhe, denn Sherlock sagt etwas, dass ihn nachdenken lässt. Wie er so darüber nachdenkt, muss John ihm einfach recht geben.
»Es ist aber nichts passiert. Sie können so viel Wenn und Aber anbringen, wie Sie wollen: Nichts ist sicher. Sie können über die Straße gehen und überfahren werden. Sie könnten bei einem kurzen Spaziergang um die Häuserecke von einer herunterfallenden Flugzeugtoilette erschlagen werden. Im Leben ist nichts sicher, außer der Tod, der kommt immer.«
Sherlock lässt John noch einige Minuten, um diese Erklärung wirken zu lassen. Ihre Gehirne sind müde. Es ist ein Wunder, dass ihre Augenlider der Schwerkraft noch immer trotzen. Da darf John auch etwas länger über diesem Satz brüten.
»Aber ich schwöre Ihnen: Wenn Sie sich noch einmal in solch eine Gefahr begeben, werden Sie mich kennenlernen. Ich habe mir doch nicht monatelang so eine Mühe mit Ihnen gegeben. Dafür gesorgt, dass Sie eben nicht mehr selbstmordgefährdet sind und endlich Ihre Comfort-Zone verlassen, als dass Sie jetzt von einem billigen Supermarkträuber erschossen werden!«, setzt Sherlock nach als er registriert, dass John wieder voll da ist.
Verdutzt schauen sie sich an, keiner von beiden hat mit so einem Ausbruch gerechnet. Dann jedoch kreist das erste Schmunzeln um Johns Mundwinkel, vertieft sich zu einem schmalen Lächeln, einem Grinsen und schließlich einem ausgewachsenem Lachen. Sekunden später erfüllen zwei laute Männerlachen den Raum, es ist ein Befreiungsschlag nach diesem beklemmenden Tag.
Es ist John, der als Erstes wieder ruhiger wird. Doch endlich nach gefühlten Stunden in grauem Vergehen sitzt der Schalk wieder dort, wo er hingehört und das Leuchten ist in seine Augen zurückgekehrt. Dort ist nichts Kaltes mehr, nichts mutiges, nichts Wahnhaftes. Es ist einfach nur noch John Watson, der es faustdick hinter den Ohren hat.
Sein Blick fixiert Sherlock, ist diesmal ganz offen, verschleiert nichts mehr. Langsam hebt er die rechte Hand, führt mit ihr einen müden aber strammen Salut aus.
»Aye aye Captain!«
Wieder erfüllt ihr Lachen den Behandlungsraum. Mrs. Hudson, die draußen vorbei zur Teeküche geht, atmet erleichtert auf. Wenn ihre Jungs schon wieder lachen, kann es nicht so schlimm gewesen sein. Denn es gibt nichts, dass ein ehrliches Lachen verbergen kann – zumindest nicht vor ihr. Die Frage ist einfach nur, wie lange sie es noch vor einander verbergen können und wollen.
Eine halbe Stunde später ist auch diese Sitzung Geschichte. Die letzten Minuten verliefen ruhig, wortlos. Sherlock, der einfach müde ist und nun deutlich den Schlafmangel der letzten Tage merkt, hat keine Lust zu reden. John hingegen ist wieder wach, nicht komplett, aber wach genug. Zwei Dinge kreisen in seinem Kopf, beides kann er nur zum Teil wegschieben. Schiebt er das eine, kommt das andere zurück und umgekehrt.
Ihre Verabschiedung fällt ebenso still aus. Sie reichen sich die Hände, lächeln sich an und versuchen mit Blicken zu sagen, was sie noch nicht aussprechen können. Dass sie dabei ihre Hände einen Tick zu lange und viel zu fest halten, fällt ihnen fast gar nicht auf. Vielleicht suchen sie in einander die Bestätigung noch da zu sein, nicht tot oder weggetreten zu sein, vielleicht aber auch suchen sie in einander die Bestätigung für ihre eigenen Gefühle.
*****
John Watson ist niemand, der sich drückt, aber jetzt gerade, in diesem Moment, würde er seine Prinzipien gerne über den Haufen werfen. Denn eines der beiden Rätsel in seinem Kopf hat er aufgelöst – zumindest geht er fest davon aus –, nun muss er sich diesem nur noch stellen.
Er atmet tief durch, erinnert sich an seinen Vorsatz, nicht wegzulaufen, und klopft schließlich an die Tür. Sie ist ihm durchaus bekannt, obwohl er sie noch nie durchschritten hat. Von innen hört er ein kühles, aber keineswegs unhöfliches, herein.
Prof. Mycroft Holmes ist nicht leicht zu überraschen, dennoch schafft John Watson es in regelmäßigen Abständen. Sich seinem Bruder zu stellen und das Lauschen zuzugeben, trotz diverser Rückschläge nicht den Mut zu verlieren, auch nach so einem Tag wie heute noch aufrecht zu stehen. Es verlangt ihm Respekt ab – einen Respekt, den er in diesem Fall nur zu gerne gibt.
»Prof. Holmes? Ich hoffe, ich störe nicht?«, fragt John und bleibt dabei in der Tür stehen. Er wird es versuchen, aber im Notfall ist er eher aus der Praxis, als ein wildgewordenes Karnickel Helau rufen kann.
»Nein natürlich nicht. Dann hätte ich Ihnen das schon mitgeteilt.«
»Ich weiß nicht recht, wie ich beginnen soll. Eventuell mache ich mich damit zum völligen Affen, aber dann ist es eben so.«
Was Mycroft dann hört, verlangt ihm keinen Respekt mehr ab – eher eine Menge Hochachtung. Wie viel Grips und Verstand ein Goldfisch doch haben kann. Es ist eine Mischung aus Geheimnummern, seinen mutmaßlichen Kontakten zum SIS, Verkehrskameras und einer gewissen Sorge um seinen kleinen Bruder.
»Ich weiß also, dass damals in Kirkcaldy die Straßen menschenleer waren, an der nächsten Kreuzung hing aber eine Verkehrskamera. Zudem wurde ich in einer der besten Kliniken des Landes behandelt, obwohl diese gar keine Notfallambulanz haben. Dann kam der Anruf zur Geiselnahme bei Tesco heute nicht von einem Angestellten oder Zeugen, sondern von einer Nummer, die man nicht zurückverfolgen kann. Wenn ich jetzt beide Geschehnisse in Verbindung setze, dazu das Gefühl nehme, überwacht zu werden, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder Ihr Bruder muss mich wegen einer ausgewachsenen Paranoia behandeln oder ich muss Ihnen danken.«
Mycroft schluckt leise, kaum vernehmbar. So direkt hat ihn noch nie jemand auf seine Machenschaften angesprochen, geschweige denn, ihm gedankt. Er kann machen, was er will für dieses Land, was er bekommt ist Respekt, jedoch kein Dank. Von bestimmten Menschen erfährt er auch, dass er ihnen Angst macht, doch ehrlicher Dank? Nie dagewesen.
Bevor er jedoch seinen Kern zeigen kann – und seinen Ruf für immer zerstören – geht er den üblichen Weg:
»Angenommen, Sie liegen mit ihrer zweiten Vermutung richtig, ergibt sich daraus noch mehr. Sie kennen meine Verbindungen und wissen, zu was ich fähig bin. Sie wissen, wen ich kontrolliere, für wen ich arbeite. Deshalb kann ich Ihnen nur eines raten: Verletzen Sie meinen Bruder niemals, oder es wird Ihnen noch leidtun.«
Eigentlich will Mycroft John Angst machen, dafür sorgen, dass seinem kleinen Bruder eben niemals etwas geschieht, doch er macht John keine Angst, wie er sieht. In seine Augen schleicht sich so ein melancholischer Schleier, sein Lächeln bleibt, aber es wird immer trauriger. Natürlich, auch John hat Geschwister, vielleicht keinen Bruder, aber eine Schwester, um die er sich sorgt.
Mit einer Aufrichtigkeit, die Mycroft in der Politik oft schmerzlich vermisst, sieht John ihm in die Augen und meint mit leiser Stimme: »Das habe ich nicht vor.«
Heimlich, ohne es zu merken, kehrt Ruhe ein in der Praxis ›Holmes & Holmes‹. So erledigt Mrs. Hudson unten die letzten Papiere und packt ihre Tasche. Dr. Sherlock Holmes ist in seinem Sprechzimmer auf dem Sofa umgefallen und schläft tief und fest. John Watson und Prof. Mycroft Holmes geben sich beinahe freundschaftlich die Hand. Nach diesem anstrengenden Tag schließen sie friedlich einen Pakt, immer auf Sherlocks Wohl bedacht zu sein.
Mycroft geleitet John noch bis zur Tür und schließt dann hinter ihm ab, der Tag war lang und die Nacht zu kurz. Er räumt seine eigenen Akten weg und holt auch aus Sherlocks Zimmer die Akten. Auf dem Rückweg weckt er seinen Bruder vorsichtig, natürlich wird dies offiziell nie stattgefunden haben. Gähnend streckt sich Sherlock und trottet dann langsam hinter Mycroft die Treppe hinauf, nur noch ab ins Bett und einen merkwürdigen Traum eines eingestürzten Turmes weiter träumen. Von all seinen Argumenten, von all den Säulen, die seinen Ich-darf-nicht-Turm stützen, ist auch die vorletzte Säule umgefallen. Aus dem Duo ›Patient‹ und ›Er liebt mich ja doch nicht‹ ist nur noch die erste Säule über. Große Teile des Turmes liegen schon in Trümmern zwischen alten umgestürzten Säulen, was noch oben steht hat kräftig Schlagseite bekommen.
Sherlocks Herz hat erkannt, was es eigentlich immer wusste:
Sherlock liebt John, John liebt Sherlock.
Zusammen sein können sie dennoch nicht, denn die allerletzte Säule steht so starr und unbeweglich wie von jeher. Es ist zum Kotzen, doch sie können es beide nicht ändern. Denn Sherlock wird John nicht im Stich lassen, niemals.
TBC
[31.10.2017 // 7120 Worte]