Vanitas - Der Herzog von Grafton
von Jaxxi
Kurzbeschreibung
SPOILERWARNUNG: SPIELT NACH DEM VIERTEN BAND! Die Mitarbeiter von Lockwood und Company haben sich zwar geschworen, das Geheimnis der mächtigsten Frau Londons aufzudecken, doch natürlich muss sich die Agentur auch über Wasser halten. Da kommt der neue Klient, der sich als Herzog von Grafton vorstellt, doch gerade recht. Ein scheinbar einfacher Fall nimmt eine überraschende Wendung und plötzlich stehen Lockwood, Lucy, George, Holly und Kipps einem alten Bekannten gegenüber.
GeschichteMystery, Übernatürlich / P12 / Gen
Anthony Lockwood
Der Schädelgeist
George Cubbins
Holly Munro
Lucy Carlyle
Qill Kipps
22.12.2016
22.04.2017
9
25.472
3
Alle Kapitel
14 Reviews
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Dieses Kapitel
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27.02.2017
2.813
Soo, hattet ihr ein schönes Karnevalswochende? Ich bin dem ganzen entflohen und war stattdessen Snowboarden :3 und hab hier weitergeschrieben. Viel Spaß beim Lesen und bei: Locklyle?!
Kapitel 6
Wie gesagt, knappe drei Stunden später waren wir schlauer. Der Butler führte uns durch schier endlose, prachtvolle Galerien, prunkvolle Säle und protzige Gemächer. Ich fürchtete langsam, dass mir die Adjektive mit P ausgingen, um die Umgebung zu beschreiben.
Doch so kostbar und exotisch die Einrichtung des erhabenen Landsitzes auch war, nach dem fünften Speisesaal wurde es langweilig.
Sehr langweilig.
Selbst die glitzerndsten Kronleuchter verloren ihren Schimmer und auch die schönsten Bettvorleger stellten sich letztendlich als normale Teppiche heraus. Nur zu gern hätte ich mich in eines der kostbaren Himmelbetten gelegt und ein wenig geschlafen. Aber das ging natürlich nicht. Wir waren professionelle Agenten und waren stets dabei, dies zu zeigen. Zumindest bemühten wir uns. Nur gelegentlich gab es kleine Ausrutscher.
So rutschte beispielsweise Lockwoods Kopf während eines besonders langweiligen Vortrags über die Beschaffenheit des Küchenbodens immer weiter an der Wand herunter, an die er sich gelehnt hatte. Ich hatte ihn gerade noch mit einem Stupser in die Seite vor dem Einschlafen bewahren können.
Eine kurze Weile später kratzte George sich hörbar am Hintern und gähnte ohne vorgehaltene Hand so laut, dass die Vögel vor dem Fenster davonflogen.
Ich selbst ertappte mich anschließend dabei, im Stehen Schäfchen zu zählen und auch Holly blickte müde auf den Boden vor sich und bekam nicht mit, dass wir anderen bereits einen Raum weitergegangen waren.
Der Einzige, der kein bisschen müde wirkte war Quill Kipps. Er zeigte sich wirklich interessiert und professionell. Er stellte die richtigen Fragen, lachte und stand stets aufrecht und musterhaft. Ich zog schon in Erwägung, ihn gegen das alte Regal im Flur einzutauschen.
Nachdem die Führung gegen halb sechs Uhr abends beendet war, eilte der Butler schnell zu seinem Herrn, der im Salon Platz genommen hatte. Während der gesamten Zeit, hatten wir den Herzog nicht einmal zu Gesicht bekommen.
Schließlich ließen wir uns ermattet in der Eingangshalle auf den Boden fallen.
„In einer halben Stunde wird es anfangen zu dämmern“, sagte George, während er flach auf dem Boden lag. Er sprach durch die Hände, die er vor seine Augen gelegt hatte: „Ich glaube ich werde mein Leben lang keine teuren Ming Vasen mehr sehen können“
„Ich auch nicht“, stimmte ich murmelnd zu, „Mir tanzen immer noch Lichtpunkte von den vielen Kronleuchtern vor den Augen“
Sogar Holly hatte es aufgegeben, seriös auszusehen und hockte stattdessen neben mir auf dem Boden: „Ich bin jetzt schon hundemüde. Und wir werden noch die ganze Nacht wach sein“
„Und müssten eigentlich bis halb sieben drei verschiedene Lager errichtet haben“, fügte Lockwood gähnend hinzu, „Wieso muss dieses Haus auch fünf Esszimmer haben? Zwei würden doch locker ausreichen!“
Damit fielen unsere Blicke auf Kipps, der sich noch gar nicht beschwert hatte (und nebenbei bemerkt auch der Einzige von uns war, der noch stand). Er blickte geringschätzig auf uns hinunter: „Was seid ihr denn bitte für Weicheier?“
George runzelte mit finsterem Gesichtsausdruck die Stirn: „Das nimmst du zurück“
Dafür fing er sich bloß ein Kopfschütteln des ehemaligen Fitten Agenten ein: „Ihr wurdet gerade mal knappe drei Stunden („Das waren mindestens dreieinhalb!“, warf Lockwood ein) durch das Anwesen eines Klienten geführt und seid schon so fertig? Das ist doch ein Witz oder?“
Wir blickten ihn finster an. Jeder auf seine eigene Art und Weise. Holly strich sich die Kleidung im Sitzen glatt, George putzte aufgebracht seine Brille und Lockwood stand auf und ich ließ mich von ihm auf die Füße ziehen.
„Also damals bei Fittes ist uns das andauernd passiert“, setzte Kipps erneut an. Es machte ihm sichtlich Spaß, uns ein wenig zu ärgern. „Teilweise waren die Führungen da sogar noch länger und die Häuser und Schlösser noch größer. Reiche Leute prahlen nun mal gern mit ihrem Besitz, und sei dieser noch so heimgesucht. Das Problem ist, wenn du dich dann nicht so beeindruckt verhältst, wie sie es wollen, beschweren sie sich bei deinem Chef und du kriegst den Ärger“
Lockwood sah etwas verdrießlich aus und ich wusste auch genau warum. Fittes war in London natürlich viel bekannter, als unsere kleine Agentur (obwohl wir in den letzten Jahren einiges an Bekanntheit erlang haben!). Und größere Unternehmen werden normalerweise von reichen Leuten arrangiert. Wir dagegen nahmen noch immer Aufträge aus dem East End an, und ich wusste, dass Lockwood diese Tatsache insgeheim ärgerte. Zwar ging er jeden neuen Auftrag mit viel Elan und Herzblut an, doch Schemen und Waberer waren einfach Kleinkram und entlockten uns inzwischen nicht einmal mehr ein müdes Gähnen. Sie waren eher eine Last, als eine Bedrohung.
Und jetzt behauptete Kipps fast tagtäglich mit Leuten vom adligen Kaliber zu tun gehabt zu haben. Kein Wunder, dass Lockwood verbittert dreinschaute.
Doch dann vollzog sich mal wieder eine seiner typischen Veränderungen. Plötzlich gingen die vor Müdigkeit halb geschlossenen Augenlieder auf, den Mund umspielte ein kleines Lächeln, das wenn nötig sofort zu einem offenen werden könnte und er strich sich die Haare verwegen in die Stirn. Auf einmal wirkte er, als hätte er einen erholsamen, zwölfstündigen Schlaf hinter sich.
Er drehte sich zu uns anderen um und die Energie, die in seinen Augen blitzte, ließ mich plötzlich geradestehen.
„Kipps hat Recht“, sagte er mit einer weit ausholenden Geste, „Wir dürfen jetzt nicht einschlafen! Bis es halb sieben ist, haben wir noch eine Menge zu tun!“, mit zwei schnellen Schritten ging er auf George zu und zog ihn auf die Füße, „George, du machst dich an die Arbeit und vergleichst deinen Grundriss des Hauses mit dem Original. Sieh nach, ob es irgendwelche Abweichungen gibt und trag diese ein!“, ein Mantelwehen später war Lockwood bei Holly angelangt und half auch ihr beim Aufstehen, „Holly, du kümmerst dich mit Kipps um die Kettenkreise in jedem Stockwerk. Sucht euch günstige Plätze, die von allen Seiten der Flure gut zu erreichen sind und passt auf, dass genügend Abwermaterialien in jeder Station bereitliegen!“
Erwartungsvoll machte ich einen Schritt nach vorn.
Lockwood drehte sich schwungvoll zu mir um und zwinkerte mir zu: „Und wir beide Luce gehen in der Zwischenzeit das Haus noch einmal ab. Ich möchte wissen, ob und wo du eventuell übernatürliche Echos vernimmst. Inzwischen müsste es dafür schon spät genug sein. Hast du noch eine Kopie des Grundrisses George?“
Unser Archivar fummelte am Verschluss seines riesigen Rucksacks herum und brachte schließlich ein etwas zerknittertes Blatt Papier zum Vorschein. Lockwood nahm es dankend an, legte mir eine Hand auf die Schulter und führte mich ein Stück von den anderen weg.
„Du hast das Geisterglas dabei?“, fragte er leise, damit Kipps ihn nicht hörte.
Ich nickte: „Natürlich“
„Gut, ich denke, der Schädel könnte ebenfalls nützlich sein“, er blickte sich mit besorgtem Blick in der inzwischen düsteren Eingangshalle um, „Fühlst du dich auch so merkwürdig beobachtet? Ich meine, wir sind zwar gut vorbereitet, aber irgendwie … ich weiß auch nicht. Ich habe einfach das Gefühl, dass hier etwas faul ist“
„Also ich mochte diesen Herzog von Anfang an nicht“, stellte ich klar, „Ich finde er an sich, also seine Person, wirkt so… geschauspielert. Einerseits kalt und herablassend, aber dennoch spendet er gutherzig für die Armen und ist gut Freund mit all den Dörflern“
„Ja, eine merkwürdige Mischung“, stimmte Lockwood mir mit etwas abwesendem Blick zu. Ich kannte das schon, dies war sein typisches Nachdenk-Gesicht. Wenn ich Glück hatte, würde er mir seine Gedanken sofort mitteilen und wenn ich Pech hatte, musste ich warten, bis irgendeine Katastrophe passierte.
Ein paar Sekunden lang sagte Lockwood gar nichts und ich wartete gespannt ab. Dann richtete er den Blick wieder auf mich: „Wir sollten langsam losgehen. Hol deinen Rucksack und wir treffen uns in fünf Minuten wieder hier“, damit machte er kehrt und ging schnellen Schrittes davon.
Ich seufzte. Dann musste ich wohl oder übel auf die Katastrophe warten.
Unauffällig schnappte ich mir meinen Rucksack traf gerade wieder bei den großen Treppen ein, als Lockwood angejoggt kam.
„Wo warst du?“, fragte ich sofort, doch er schnitt mir lächelnd das Wort ab: „Erklär ich dir später, jetzt müssen wir erst mal los. Ich glaube du kannst den Verschluss am Glas öffnen, Kipps und Holly sind ein Stockwerk über uns“
Ich tat, wie mir geheißen und schob den Riegel des Glases so weit zurück, dass es sich einen Spalt breit öffnete. Ich hatte erwartet, dass der Schädel sofort anfangen würde, mir beleidigende Worte zuzuflüstern, doch ich irrte mich. Im Glas pulsierte kein Ektoplasma und auch keine sägende Stimme kratzte an meinem Verstand.
Lockwood und ich beugten uns über das Glas und mein Chef stupste es leicht an.
Wir warteten.
Nichts geschah.
Lockwood zog die Augenbrauen zusammen: „Können Geister schlafen?“
„Vielleicht ist er irgendwie ins Jenseits gewechselt“, vermutete ich und berührte ebenfalls das Glas.
„Nenn es nicht so!“, Lockwood sah mich verstimmt an und ich seufzte. Diese Diskussion hatten wir in der Zwischenzeit häufiger gehabt. Lockwood wollte dem Jenseits, wie ich es gern nannte, partout keinen Namen geben.
„Entschuldigung, dann halt andere Seite, die Hölle oder das Totenreich. Ist doch egal, wie wir es nennen, Hauptsache wir wissen, was gemeint ist“
„Ich bevorzuge ja den Ort des Endes, aber mich fragt ja sowieso niemand“, schallte es auf einmal verschnupft aus dem Geisterglas. Es leuchtete sacht in meinen Händen und war ein ganzes Stück kälter geworden.
Ich sah den Schädel überrascht an: „Aha. Du redest ja doch noch mit mir“
„Nö!“
„Was hat er gesagt?“, fragte Lockwood verwirrt.
Ich zögerte kurz: „Er meint, dass das Jenseits“, - Lockwood blickte finster -, „Von ihm Ort des Endes genannt wird und dass er nicht mir reden will“
„Aber das hat er doch schon“
„Hab ich gar nicht!“, kam es beleidigt aus dem Glas.
Auf einmal breitete sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus und ich drehte das Geisterglas so, dass die Vorderseite des nackten Schädels auf dem Boden zu mir zeigte. Ich blickte nun auf ein schwach leuchtendes Gesicht aus Ektoplasma, das den Mund schmollend verzogen hatte.
„Du bist eingeschnappt!“, stellte ich triumphierend fest.
„Bin ich gar nicht!“
Ich zuckte gelassen mit den Schultern: „Na gut, wenn du mir so kommst, kann ich den Verschluss auch eigentlich wieder schließen“, ich ließ meine Hand langsam zum Schieber wandern. Ich beobachtete wie die Augen der Fratze unter mir meinen Fingern folgten.
Kurz bevor ich den Hebel betätigen konnte, fing der Geist erneut an zu klagen: „Was soll’s, schließ mich doch wieder hier drinnen ein! Du willst dich ja sowieso nicht mit mir unterhalten! Ich als Typ Drei bin doch eh zu nichts nütze! Geh‘ und hab Spaß mit deinem Lockwood!“
Ich beschloss, den letzten Satz zu überhören und teilte Lockwood mit, was der Schädel von sich gegeben hatte. Daraufhin fing auch er an zu grinsen: „Ich glaube, du schenkst ihm nicht genug Beachtung“
„Vielleicht sollte ich ihn häufiger an der Leine ausführen“, stimmte ich zu.
„Euch ist aber bewusst, dass ich jedes Wort höre?“, ertönte erneut die beleidigte Stimme.
„Nicht mehr, wenn ich diesen Hebel hier umlege“, sagte ich munter und werkelte an diesem herum.
„Okay, okay“, Der Schädel machte einen Rückzieher, „Wenn du meine Gesellschaft so dringend nötig hast, werde ich mich dazu herablassen, mit dir zu reden!“
„Warum nicht gleich so?“, ich hielt das Geisterglas auf Gesichtshöhe und lächelte den Schädel an. Zur Antwort zeigte er mir eine seiner schönsten Fratzen. Diese ließ mich jedoch kalt, mein Grinsen wurde höchstens noch eine Spur breiter und das Gesicht sackte enttäuscht in sich zusammen. Das Ektoplasma verzog sich beinahe komplett und der Schädel war wieder sichtbar.
Die nächste halbe Stunde verbrachten Lockwood, der Geist und ich damit, Euston Hall im Laufschritt noch einmal zu durchqueren. In jedem Flur, in jedem Raum und jeder noch so kleinen Abstellkammer blieben wir mehrere Sekunden stehen und stellten unsere Sinne auf Empfang. Lockwood spähte in die dämmernde Dunkelheit, Ich lauschte und der Schädel gab seine abfälligen Kommentare zum Besten.
Zu unserer großen Überraschung nahmen wir nur wenige, übernatürliche Echos wahr. An manchen Stellen des Hauses hörte ich ein Schleifen, an anderen eher ein Kratzen. Manchmal herrschte lediglich Funkstille. Lockwood meldete ab und zu Geisternebel zu sehen, doch dieser stellte sich meistens nur als optische Täuschung heraus.
Das einzig auffällige am alten Landsitz waren die Bilder, die alle Flure schmückten. Vor ein paar Stunden waren sie mir nicht im Gedächtnis geblieben, doch je dunkler es draußen wurde, desto gruseliger wirkten sie.
So gut wie alle Gemälde zeigten leicht bekleidete Frauen auf einem pechschwarzen Hintergrund. Meist fielen ihnen die Haare ins Gesicht, das in allen Fällen ausdruckslos war. Die Lippen geschlossen, die Augen zu. Man könnte meinen, der Maler hätte Spaß daran gehabt, nackte, schlafende Frauen zu portraitieren.
Kurz bevor wir wieder zu den anderen stießen, sprach ich Lockwood auf mein unwohles Gefühl an. Dieser reagierte zu meiner Verwunderung überrascht: „Du findest die Bilder … gruselig? Die sind mir noch gar nicht aufgefallen“, er blickte das nächstbeste an der Wand an. Es zeigte eine viktorianische Dame die zusammengesunken auf einem hohen Lehnstuhl saß. Das schwarze Haar fiel ihr in das ausdruckslose, schlafende Gesicht. Außerdem schien auch sie mit ihrem Stuhl im großen Nichts zu sitzen. Der Hintergrund war pechschwarz.
Ich konnte nicht erklären warum, aber allein vom Hinschauen, lief mir ein eiskalter Schauer den Rücken herunter. Meine Nackenhaare stellten sich auf und ich bekam eine Gänsehaut. Ich war versucht, das Bild zu berühren und wollte doch eigentlich davon weglaufen.
Lockwood sah das Gemälde nur skeptisch an: „Also ich finde die Frau ziemlich hässlich und unproportioniert. Die Pinselführung ist auch nicht das Maß der Dinge und die Größe des Stuhls stimmt im Vergleich zu ihr nicht. Oha, siehst du, wie schlampig hier am Sessel gearbeitet wurde?“, er schüttelte bedauernd den Kopf, „Wer immer das gemalt hat, hatte weder Ahnung von Proportionen, noch vom Pinselduktus“
Jetzt war es an mir verwirrt zu blicken. Ich war ja bereits damit vertraut, dass Lockwood so einiges wusste, was man ihm auf den ersten Blick nicht zutraute, aber dass er auf einmal auch Kunstkritiker war, war selbst mir neu.
Er musste meinen fragenden Blick bemerkt haben, denn mit einem leichten Lächeln fügte er noch hinzu: „Als Kind haben mich meine Eltern oft auf Kunstmessen oder in Museen geschleift“, sein Blick verdunkelte sich etwas, „Damals hab ich mich deswegen oft beschwert, weil ich eigentlich nur zuhause spielen wollte, aber ein wenig ist doch hängen geblieben“, er strich mit seinen langen Fingern nachdenklich über das Gemälde, „Sie würden uns jetzt mit Sicherheit den Künstler, das Alter und den Wert sagen können…“, sein Blick hing sehnsuchtsvoll an dem alten Gemälde und ich hatte das Gefühl, dass er geradewegs durch den Rahmen in seine Vergangenheit schaute.
Ich war über mich selbst überrascht, aber ich legte Lockwood mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Normalerweise hielt ich mich aus Respekt vor seiner Privatsphäre mit solchen Reaktionen zurück, was war los mit mir?
Lockwood blickte mich ungefähr so überrascht an, wie ich mich fühlte. Dann räusperte er sich, wandte sich von dem Gemälde ab und die Trauer fiel ebenso augenblicklich von ihm. Er nahm meine Hand, die immer noch auf seiner Schulter lag, in seine. Ich wurde augenblicklich rot und fixierte eine schwarze Fliese am Boden. Plötzlich hatte ich keine Ahnung, was ich tun sollte.
Lockwood offensichtlich auch nicht. Er räusperte sich verlegen und drückte meine Hand kurz, dann beugte er sich zu mir und sagte nur: „Danke Luce“
Diese Worte werde ich wohl mein Leben lang nicht mehr vergessen. Ich wünschte wirklich, ich könnte ihn und mich so in Erinnerung behalten. Hand in Hand stehend, drehte sich die Welt einen Augenblick lang nur noch um uns. Ich wünsche es mir wirklich…
Aber wisst ihr, wie ich Trampel damals reagiert habe? Gedacht habe ich etwas anderes, aber gesagt habe ich folgendes:
„Ach kein Problem“, sagte ich, setzte ein strahlendes Lächeln auf und entzog ihm meine Hand. Totale Überforderung führt halt manchmal zu bescheuerten Übersprunghandlungen. In diesem Moment hätte ich mich am liebsten selbst geohrfeigt, aber stattdessen lief ich den dunkel werdenden Gang entlang in Richtung Eingangshalle.
„Wir wollten uns schon vor fünf Minuten wieder mit den anderen treffen!“, rief ich über die Schulter und ich konnte gerade noch erkennen, wie Lockwood einmal kurz den Kopf schüttelte und mir dann folgte.
„Wow“, ertönte plötzlich eine hämische Stimme aus meinem Rucksack. Innerlich zuckte ich zusammen. Der Schädel hatte alles gesehen und gehört.
„Das war ja mal peinlich“, sagte er süffisant und ahmte meine Stimme nach, „Ach, kein Problem! Herrlich, ich habe nicht mehr so gelacht, seit ich tot bin! Ihr seid zum Schießen! Hey- nein! Lass das!“
Ich war gerade dabei den Hebel zu schließen.
„Halt!“, auf einmal klang der Schädel wieder freundlicher, „Sieh es doch positiv, anscheinend mag Lockwood dich auch, er -!“
Aber dieses Mal ließ ich mich nicht auf einen Streit ein. Das Scharnier rastete ein, der Schädel verstummte und auf einmal herrschte Stille in meinem Kopf. Nur der letzte halbe Satz des Geistes echote noch in meinen Gedanken: Anscheinend mag dich auch…
Dieser Satz hatte die merkwürdigen Bilder sofort aus meinem Gedächtnis verbannt.
Kapitel 6
Wie gesagt, knappe drei Stunden später waren wir schlauer. Der Butler führte uns durch schier endlose, prachtvolle Galerien, prunkvolle Säle und protzige Gemächer. Ich fürchtete langsam, dass mir die Adjektive mit P ausgingen, um die Umgebung zu beschreiben.
Doch so kostbar und exotisch die Einrichtung des erhabenen Landsitzes auch war, nach dem fünften Speisesaal wurde es langweilig.
Sehr langweilig.
Selbst die glitzerndsten Kronleuchter verloren ihren Schimmer und auch die schönsten Bettvorleger stellten sich letztendlich als normale Teppiche heraus. Nur zu gern hätte ich mich in eines der kostbaren Himmelbetten gelegt und ein wenig geschlafen. Aber das ging natürlich nicht. Wir waren professionelle Agenten und waren stets dabei, dies zu zeigen. Zumindest bemühten wir uns. Nur gelegentlich gab es kleine Ausrutscher.
So rutschte beispielsweise Lockwoods Kopf während eines besonders langweiligen Vortrags über die Beschaffenheit des Küchenbodens immer weiter an der Wand herunter, an die er sich gelehnt hatte. Ich hatte ihn gerade noch mit einem Stupser in die Seite vor dem Einschlafen bewahren können.
Eine kurze Weile später kratzte George sich hörbar am Hintern und gähnte ohne vorgehaltene Hand so laut, dass die Vögel vor dem Fenster davonflogen.
Ich selbst ertappte mich anschließend dabei, im Stehen Schäfchen zu zählen und auch Holly blickte müde auf den Boden vor sich und bekam nicht mit, dass wir anderen bereits einen Raum weitergegangen waren.
Der Einzige, der kein bisschen müde wirkte war Quill Kipps. Er zeigte sich wirklich interessiert und professionell. Er stellte die richtigen Fragen, lachte und stand stets aufrecht und musterhaft. Ich zog schon in Erwägung, ihn gegen das alte Regal im Flur einzutauschen.
Nachdem die Führung gegen halb sechs Uhr abends beendet war, eilte der Butler schnell zu seinem Herrn, der im Salon Platz genommen hatte. Während der gesamten Zeit, hatten wir den Herzog nicht einmal zu Gesicht bekommen.
Schließlich ließen wir uns ermattet in der Eingangshalle auf den Boden fallen.
„In einer halben Stunde wird es anfangen zu dämmern“, sagte George, während er flach auf dem Boden lag. Er sprach durch die Hände, die er vor seine Augen gelegt hatte: „Ich glaube ich werde mein Leben lang keine teuren Ming Vasen mehr sehen können“
„Ich auch nicht“, stimmte ich murmelnd zu, „Mir tanzen immer noch Lichtpunkte von den vielen Kronleuchtern vor den Augen“
Sogar Holly hatte es aufgegeben, seriös auszusehen und hockte stattdessen neben mir auf dem Boden: „Ich bin jetzt schon hundemüde. Und wir werden noch die ganze Nacht wach sein“
„Und müssten eigentlich bis halb sieben drei verschiedene Lager errichtet haben“, fügte Lockwood gähnend hinzu, „Wieso muss dieses Haus auch fünf Esszimmer haben? Zwei würden doch locker ausreichen!“
Damit fielen unsere Blicke auf Kipps, der sich noch gar nicht beschwert hatte (und nebenbei bemerkt auch der Einzige von uns war, der noch stand). Er blickte geringschätzig auf uns hinunter: „Was seid ihr denn bitte für Weicheier?“
George runzelte mit finsterem Gesichtsausdruck die Stirn: „Das nimmst du zurück“
Dafür fing er sich bloß ein Kopfschütteln des ehemaligen Fitten Agenten ein: „Ihr wurdet gerade mal knappe drei Stunden („Das waren mindestens dreieinhalb!“, warf Lockwood ein) durch das Anwesen eines Klienten geführt und seid schon so fertig? Das ist doch ein Witz oder?“
Wir blickten ihn finster an. Jeder auf seine eigene Art und Weise. Holly strich sich die Kleidung im Sitzen glatt, George putzte aufgebracht seine Brille und Lockwood stand auf und ich ließ mich von ihm auf die Füße ziehen.
„Also damals bei Fittes ist uns das andauernd passiert“, setzte Kipps erneut an. Es machte ihm sichtlich Spaß, uns ein wenig zu ärgern. „Teilweise waren die Führungen da sogar noch länger und die Häuser und Schlösser noch größer. Reiche Leute prahlen nun mal gern mit ihrem Besitz, und sei dieser noch so heimgesucht. Das Problem ist, wenn du dich dann nicht so beeindruckt verhältst, wie sie es wollen, beschweren sie sich bei deinem Chef und du kriegst den Ärger“
Lockwood sah etwas verdrießlich aus und ich wusste auch genau warum. Fittes war in London natürlich viel bekannter, als unsere kleine Agentur (obwohl wir in den letzten Jahren einiges an Bekanntheit erlang haben!). Und größere Unternehmen werden normalerweise von reichen Leuten arrangiert. Wir dagegen nahmen noch immer Aufträge aus dem East End an, und ich wusste, dass Lockwood diese Tatsache insgeheim ärgerte. Zwar ging er jeden neuen Auftrag mit viel Elan und Herzblut an, doch Schemen und Waberer waren einfach Kleinkram und entlockten uns inzwischen nicht einmal mehr ein müdes Gähnen. Sie waren eher eine Last, als eine Bedrohung.
Und jetzt behauptete Kipps fast tagtäglich mit Leuten vom adligen Kaliber zu tun gehabt zu haben. Kein Wunder, dass Lockwood verbittert dreinschaute.
Doch dann vollzog sich mal wieder eine seiner typischen Veränderungen. Plötzlich gingen die vor Müdigkeit halb geschlossenen Augenlieder auf, den Mund umspielte ein kleines Lächeln, das wenn nötig sofort zu einem offenen werden könnte und er strich sich die Haare verwegen in die Stirn. Auf einmal wirkte er, als hätte er einen erholsamen, zwölfstündigen Schlaf hinter sich.
Er drehte sich zu uns anderen um und die Energie, die in seinen Augen blitzte, ließ mich plötzlich geradestehen.
„Kipps hat Recht“, sagte er mit einer weit ausholenden Geste, „Wir dürfen jetzt nicht einschlafen! Bis es halb sieben ist, haben wir noch eine Menge zu tun!“, mit zwei schnellen Schritten ging er auf George zu und zog ihn auf die Füße, „George, du machst dich an die Arbeit und vergleichst deinen Grundriss des Hauses mit dem Original. Sieh nach, ob es irgendwelche Abweichungen gibt und trag diese ein!“, ein Mantelwehen später war Lockwood bei Holly angelangt und half auch ihr beim Aufstehen, „Holly, du kümmerst dich mit Kipps um die Kettenkreise in jedem Stockwerk. Sucht euch günstige Plätze, die von allen Seiten der Flure gut zu erreichen sind und passt auf, dass genügend Abwermaterialien in jeder Station bereitliegen!“
Erwartungsvoll machte ich einen Schritt nach vorn.
Lockwood drehte sich schwungvoll zu mir um und zwinkerte mir zu: „Und wir beide Luce gehen in der Zwischenzeit das Haus noch einmal ab. Ich möchte wissen, ob und wo du eventuell übernatürliche Echos vernimmst. Inzwischen müsste es dafür schon spät genug sein. Hast du noch eine Kopie des Grundrisses George?“
Unser Archivar fummelte am Verschluss seines riesigen Rucksacks herum und brachte schließlich ein etwas zerknittertes Blatt Papier zum Vorschein. Lockwood nahm es dankend an, legte mir eine Hand auf die Schulter und führte mich ein Stück von den anderen weg.
„Du hast das Geisterglas dabei?“, fragte er leise, damit Kipps ihn nicht hörte.
Ich nickte: „Natürlich“
„Gut, ich denke, der Schädel könnte ebenfalls nützlich sein“, er blickte sich mit besorgtem Blick in der inzwischen düsteren Eingangshalle um, „Fühlst du dich auch so merkwürdig beobachtet? Ich meine, wir sind zwar gut vorbereitet, aber irgendwie … ich weiß auch nicht. Ich habe einfach das Gefühl, dass hier etwas faul ist“
„Also ich mochte diesen Herzog von Anfang an nicht“, stellte ich klar, „Ich finde er an sich, also seine Person, wirkt so… geschauspielert. Einerseits kalt und herablassend, aber dennoch spendet er gutherzig für die Armen und ist gut Freund mit all den Dörflern“
„Ja, eine merkwürdige Mischung“, stimmte Lockwood mir mit etwas abwesendem Blick zu. Ich kannte das schon, dies war sein typisches Nachdenk-Gesicht. Wenn ich Glück hatte, würde er mir seine Gedanken sofort mitteilen und wenn ich Pech hatte, musste ich warten, bis irgendeine Katastrophe passierte.
Ein paar Sekunden lang sagte Lockwood gar nichts und ich wartete gespannt ab. Dann richtete er den Blick wieder auf mich: „Wir sollten langsam losgehen. Hol deinen Rucksack und wir treffen uns in fünf Minuten wieder hier“, damit machte er kehrt und ging schnellen Schrittes davon.
Ich seufzte. Dann musste ich wohl oder übel auf die Katastrophe warten.
Unauffällig schnappte ich mir meinen Rucksack traf gerade wieder bei den großen Treppen ein, als Lockwood angejoggt kam.
„Wo warst du?“, fragte ich sofort, doch er schnitt mir lächelnd das Wort ab: „Erklär ich dir später, jetzt müssen wir erst mal los. Ich glaube du kannst den Verschluss am Glas öffnen, Kipps und Holly sind ein Stockwerk über uns“
Ich tat, wie mir geheißen und schob den Riegel des Glases so weit zurück, dass es sich einen Spalt breit öffnete. Ich hatte erwartet, dass der Schädel sofort anfangen würde, mir beleidigende Worte zuzuflüstern, doch ich irrte mich. Im Glas pulsierte kein Ektoplasma und auch keine sägende Stimme kratzte an meinem Verstand.
Lockwood und ich beugten uns über das Glas und mein Chef stupste es leicht an.
Wir warteten.
Nichts geschah.
Lockwood zog die Augenbrauen zusammen: „Können Geister schlafen?“
„Vielleicht ist er irgendwie ins Jenseits gewechselt“, vermutete ich und berührte ebenfalls das Glas.
„Nenn es nicht so!“, Lockwood sah mich verstimmt an und ich seufzte. Diese Diskussion hatten wir in der Zwischenzeit häufiger gehabt. Lockwood wollte dem Jenseits, wie ich es gern nannte, partout keinen Namen geben.
„Entschuldigung, dann halt andere Seite, die Hölle oder das Totenreich. Ist doch egal, wie wir es nennen, Hauptsache wir wissen, was gemeint ist“
„Ich bevorzuge ja den Ort des Endes, aber mich fragt ja sowieso niemand“, schallte es auf einmal verschnupft aus dem Geisterglas. Es leuchtete sacht in meinen Händen und war ein ganzes Stück kälter geworden.
Ich sah den Schädel überrascht an: „Aha. Du redest ja doch noch mit mir“
„Nö!“
„Was hat er gesagt?“, fragte Lockwood verwirrt.
Ich zögerte kurz: „Er meint, dass das Jenseits“, - Lockwood blickte finster -, „Von ihm Ort des Endes genannt wird und dass er nicht mir reden will“
„Aber das hat er doch schon“
„Hab ich gar nicht!“, kam es beleidigt aus dem Glas.
Auf einmal breitete sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus und ich drehte das Geisterglas so, dass die Vorderseite des nackten Schädels auf dem Boden zu mir zeigte. Ich blickte nun auf ein schwach leuchtendes Gesicht aus Ektoplasma, das den Mund schmollend verzogen hatte.
„Du bist eingeschnappt!“, stellte ich triumphierend fest.
„Bin ich gar nicht!“
Ich zuckte gelassen mit den Schultern: „Na gut, wenn du mir so kommst, kann ich den Verschluss auch eigentlich wieder schließen“, ich ließ meine Hand langsam zum Schieber wandern. Ich beobachtete wie die Augen der Fratze unter mir meinen Fingern folgten.
Kurz bevor ich den Hebel betätigen konnte, fing der Geist erneut an zu klagen: „Was soll’s, schließ mich doch wieder hier drinnen ein! Du willst dich ja sowieso nicht mit mir unterhalten! Ich als Typ Drei bin doch eh zu nichts nütze! Geh‘ und hab Spaß mit deinem Lockwood!“
Ich beschloss, den letzten Satz zu überhören und teilte Lockwood mit, was der Schädel von sich gegeben hatte. Daraufhin fing auch er an zu grinsen: „Ich glaube, du schenkst ihm nicht genug Beachtung“
„Vielleicht sollte ich ihn häufiger an der Leine ausführen“, stimmte ich zu.
„Euch ist aber bewusst, dass ich jedes Wort höre?“, ertönte erneut die beleidigte Stimme.
„Nicht mehr, wenn ich diesen Hebel hier umlege“, sagte ich munter und werkelte an diesem herum.
„Okay, okay“, Der Schädel machte einen Rückzieher, „Wenn du meine Gesellschaft so dringend nötig hast, werde ich mich dazu herablassen, mit dir zu reden!“
„Warum nicht gleich so?“, ich hielt das Geisterglas auf Gesichtshöhe und lächelte den Schädel an. Zur Antwort zeigte er mir eine seiner schönsten Fratzen. Diese ließ mich jedoch kalt, mein Grinsen wurde höchstens noch eine Spur breiter und das Gesicht sackte enttäuscht in sich zusammen. Das Ektoplasma verzog sich beinahe komplett und der Schädel war wieder sichtbar.
Die nächste halbe Stunde verbrachten Lockwood, der Geist und ich damit, Euston Hall im Laufschritt noch einmal zu durchqueren. In jedem Flur, in jedem Raum und jeder noch so kleinen Abstellkammer blieben wir mehrere Sekunden stehen und stellten unsere Sinne auf Empfang. Lockwood spähte in die dämmernde Dunkelheit, Ich lauschte und der Schädel gab seine abfälligen Kommentare zum Besten.
Zu unserer großen Überraschung nahmen wir nur wenige, übernatürliche Echos wahr. An manchen Stellen des Hauses hörte ich ein Schleifen, an anderen eher ein Kratzen. Manchmal herrschte lediglich Funkstille. Lockwood meldete ab und zu Geisternebel zu sehen, doch dieser stellte sich meistens nur als optische Täuschung heraus.
Das einzig auffällige am alten Landsitz waren die Bilder, die alle Flure schmückten. Vor ein paar Stunden waren sie mir nicht im Gedächtnis geblieben, doch je dunkler es draußen wurde, desto gruseliger wirkten sie.
So gut wie alle Gemälde zeigten leicht bekleidete Frauen auf einem pechschwarzen Hintergrund. Meist fielen ihnen die Haare ins Gesicht, das in allen Fällen ausdruckslos war. Die Lippen geschlossen, die Augen zu. Man könnte meinen, der Maler hätte Spaß daran gehabt, nackte, schlafende Frauen zu portraitieren.
Kurz bevor wir wieder zu den anderen stießen, sprach ich Lockwood auf mein unwohles Gefühl an. Dieser reagierte zu meiner Verwunderung überrascht: „Du findest die Bilder … gruselig? Die sind mir noch gar nicht aufgefallen“, er blickte das nächstbeste an der Wand an. Es zeigte eine viktorianische Dame die zusammengesunken auf einem hohen Lehnstuhl saß. Das schwarze Haar fiel ihr in das ausdruckslose, schlafende Gesicht. Außerdem schien auch sie mit ihrem Stuhl im großen Nichts zu sitzen. Der Hintergrund war pechschwarz.
Ich konnte nicht erklären warum, aber allein vom Hinschauen, lief mir ein eiskalter Schauer den Rücken herunter. Meine Nackenhaare stellten sich auf und ich bekam eine Gänsehaut. Ich war versucht, das Bild zu berühren und wollte doch eigentlich davon weglaufen.
Lockwood sah das Gemälde nur skeptisch an: „Also ich finde die Frau ziemlich hässlich und unproportioniert. Die Pinselführung ist auch nicht das Maß der Dinge und die Größe des Stuhls stimmt im Vergleich zu ihr nicht. Oha, siehst du, wie schlampig hier am Sessel gearbeitet wurde?“, er schüttelte bedauernd den Kopf, „Wer immer das gemalt hat, hatte weder Ahnung von Proportionen, noch vom Pinselduktus“
Jetzt war es an mir verwirrt zu blicken. Ich war ja bereits damit vertraut, dass Lockwood so einiges wusste, was man ihm auf den ersten Blick nicht zutraute, aber dass er auf einmal auch Kunstkritiker war, war selbst mir neu.
Er musste meinen fragenden Blick bemerkt haben, denn mit einem leichten Lächeln fügte er noch hinzu: „Als Kind haben mich meine Eltern oft auf Kunstmessen oder in Museen geschleift“, sein Blick verdunkelte sich etwas, „Damals hab ich mich deswegen oft beschwert, weil ich eigentlich nur zuhause spielen wollte, aber ein wenig ist doch hängen geblieben“, er strich mit seinen langen Fingern nachdenklich über das Gemälde, „Sie würden uns jetzt mit Sicherheit den Künstler, das Alter und den Wert sagen können…“, sein Blick hing sehnsuchtsvoll an dem alten Gemälde und ich hatte das Gefühl, dass er geradewegs durch den Rahmen in seine Vergangenheit schaute.
Ich war über mich selbst überrascht, aber ich legte Lockwood mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Normalerweise hielt ich mich aus Respekt vor seiner Privatsphäre mit solchen Reaktionen zurück, was war los mit mir?
Lockwood blickte mich ungefähr so überrascht an, wie ich mich fühlte. Dann räusperte er sich, wandte sich von dem Gemälde ab und die Trauer fiel ebenso augenblicklich von ihm. Er nahm meine Hand, die immer noch auf seiner Schulter lag, in seine. Ich wurde augenblicklich rot und fixierte eine schwarze Fliese am Boden. Plötzlich hatte ich keine Ahnung, was ich tun sollte.
Lockwood offensichtlich auch nicht. Er räusperte sich verlegen und drückte meine Hand kurz, dann beugte er sich zu mir und sagte nur: „Danke Luce“
Diese Worte werde ich wohl mein Leben lang nicht mehr vergessen. Ich wünschte wirklich, ich könnte ihn und mich so in Erinnerung behalten. Hand in Hand stehend, drehte sich die Welt einen Augenblick lang nur noch um uns. Ich wünsche es mir wirklich…
Aber wisst ihr, wie ich Trampel damals reagiert habe? Gedacht habe ich etwas anderes, aber gesagt habe ich folgendes:
„Ach kein Problem“, sagte ich, setzte ein strahlendes Lächeln auf und entzog ihm meine Hand. Totale Überforderung führt halt manchmal zu bescheuerten Übersprunghandlungen. In diesem Moment hätte ich mich am liebsten selbst geohrfeigt, aber stattdessen lief ich den dunkel werdenden Gang entlang in Richtung Eingangshalle.
„Wir wollten uns schon vor fünf Minuten wieder mit den anderen treffen!“, rief ich über die Schulter und ich konnte gerade noch erkennen, wie Lockwood einmal kurz den Kopf schüttelte und mir dann folgte.
„Wow“, ertönte plötzlich eine hämische Stimme aus meinem Rucksack. Innerlich zuckte ich zusammen. Der Schädel hatte alles gesehen und gehört.
„Das war ja mal peinlich“, sagte er süffisant und ahmte meine Stimme nach, „Ach, kein Problem! Herrlich, ich habe nicht mehr so gelacht, seit ich tot bin! Ihr seid zum Schießen! Hey- nein! Lass das!“
Ich war gerade dabei den Hebel zu schließen.
„Halt!“, auf einmal klang der Schädel wieder freundlicher, „Sieh es doch positiv, anscheinend mag Lockwood dich auch, er -!“
Aber dieses Mal ließ ich mich nicht auf einen Streit ein. Das Scharnier rastete ein, der Schädel verstummte und auf einmal herrschte Stille in meinem Kopf. Nur der letzte halbe Satz des Geistes echote noch in meinen Gedanken: Anscheinend mag dich auch…
Dieser Satz hatte die merkwürdigen Bilder sofort aus meinem Gedächtnis verbannt.