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Vanitas - Der Herzog von Grafton

von Jaxxi
Kurzbeschreibung
GeschichteMystery, Übernatürlich / P12 / Gen
Anthony Lockwood Der Schädelgeist George Cubbins Holly Munro Lucy Carlyle Qill Kipps
22.12.2016
22.04.2017
9
25.472
3
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
1 Review
 
28.12.2016 4.283
 
Soo, ich hoffe der Einstieg hat euch gefallen. In diesem Kapitel gibt es einen kleinen Nebenfall, der mir spontan eingefallen ist. Schließlich müssen unsere Agenten die Abende bis zur Reise nach Grafton auch irgendwie sinnvoll verbringen :D Wie immer freue ich mich natürlich sehr über eure Meinungen zum Kapitel!

Kapitel 2

Die Fahrt zum alten Mullet gestaltete sich als nicht besonders spannend. Um halb zehn Uhr morgens waren allerdings alle Busse und Taxen überfüllt, weshalb wir statt einer halben eine ganze Stunde zu dem Geschäft brauchten. Außerdem waren wir gezwungen, Bahn zu fahren, was Lockwood überhaupt nicht passte.

Statt also gemütlich neben dem Leiter unserer Agentur im Taxi zu sitzen, fand ich mich gegen ihn gequetscht in einer überfüllten U-Bahn wieder, die verdächtig nach Hundekot stank. Der Grund hierfür war auch nur ein paar Meter von uns entfernt und verrichtete seelenruhig sein Geschäft, während die Besitzerin schlief. Sie und der Gestank erinnerten mich irgendwie an Flo Bones.

Als wir uns schließlich an der Haltestelle Scotland Yard mit Ellenbogen und Knien den Weg nach draußen freigekämpft hatten, sagte Lockwood geplättet: „Nie wieder! Das ist ja die Hölle!“
Ich nickte zustimmend: „Gut, dass wir sonst nachts arbeiten“
Nach einem kurzen Spaziergang zum Laden unseres Vertrauens, betraten wir das kleine Geschäft, das wie immer so vollgestopft war, dass man sich im Laden kaum rühren konnte. Einzig und allein der Verkäufer, der alte Mullet selbst, konnte sich fortbewegen, ohne etwas zu berühren oder umzuwerfen.

Nachdem wir ein wenig Smalltalk betrieben hatten, kauften wir unsere Ausrüstung zusammen. In unsere Rucksäcke wanderten mehrere Tüten Eisenspäne und Salzkörner, sowie die dazugehörigen Bomben, außerdem neue Leuchtbomben und Griechisches Feuer.
„Seht mal, das ist vor einer Woche neu gekommen!“, der Alte hielt uns eine besonders große Leuchtbombe unter die Nase. Auf Lockwoods fragenden Blick hin drehte der Verkäufer das Paket und wir konnten sehen, dass an der Unterseite ein Zeitzünder befestigt war.
„Damit können Sie ihre Angriffe besser planen!“, der Verkäufer lächelte uns goldzahnig an und wir konnten nicht anders, als ihm zusätzlich drei Stück von den neuen Bomben abzukaufen.

„Erinnere mich bitte daran, George keine von denen hier zu geben“, meinte Lockwood, als er unseren Kauf (natürlich mit Zündern) in seinen Rucksack stopfte, „Ich will mir gar nicht ausmalen, was er damit anstellen könnte“

„Ja, es wäre wirklich schade um die Portland Row“, antwortete ich grinsend und Lockwood schnaubte belustigt.

Ich beobachtete ihn von der Seite. Sein braunes Haar, das über die letzten paar Wochen etwas länger geworden war als sonst, hing ihm tief in die Stirn, fast bis hinunter auf seine dunklen Augen. Es gab Leute, denen standen lange nicht mehr geschnittene Haare überhaupt nicht (zum Beispiel George), aber Lockwoods Erscheinung machte das gar nichts aus. Im Gegenteil, es stand ihm ausgezeichnet. Wie eigentlich alles. Was das Aussehen anging, konnte Lockwood wohl niemand das Wasser reichen. Holly kam vielleicht an seine Eleganz heran, aber für meinen Geschmack schminkte sie sich ein bisschen zu stark.

„Wollen wir zurückfahren?“, fragte Lockwood und riss mich damit aus meinen Gedanken, „Oder vielleicht lieber gehen? Einen weiteren Hund in der U-Bahn halte ich nicht aus. Ich glaube, er hat mir auf den Schuh gepinkelt!“

„Stell dich nicht so an, er war mindestens zwei Meter von dir entfernt“, ich nahm ihm meinen Rucksack aus der Hand, verabschiedete mich vom alten Mullet und trat heraus auf die Straße. Kalte Februarluft empfing mich und ich wickelte mich fester in Schal und Jacke ein.
Wieso musste es im Winter auch so kalt sein? Für meinen Geschmack war der Sommer in England immer viel zu kurz.

Erstaunlicherweise brauchten wir für den Rückweg nur knapp über eine Stunde. Da ich ebenso wie Lockwood der Meinung war, dass langsames Gehen Zeitverschwendung ist, konnte ich problemlos mit seinen langen Beinen Schritt halten.

Wir plauderten fast die ganze Zeit über und hielten nur ein einziges Mal an, damit ich ein paar alte Bekannte von mir grüßen konnte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte ich nämlich das Team vom missmutigen Mr. Farnaby entdeckt. Ted, Tina und Dave schlichen über den Gehweg wie drei besonders armselige Waberer.
Trotzdem ging ich ihnen mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht entgegen und brachte ein fast überzeugend fröhliches „Hi Leute“ heraus.
Die Reaktionen fielen weniger glücklich aus: Ted sagte mit einem schüchternen Lächeln auf dem Gesicht ein leises „Hallo“ heraus, Dave nickte mir nichtssagend zu und Tina blickte zu Boden und murmelte irgendetwas Unverständliches.
Innerlich vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen. Wie konnte man nur dermaßen teilnahmslos sein?

Trotzdem ließ ich mich nicht entmutigen: „Wie geht’s euch so? Was habt ihr getrieben in den letzten Wochen?“

„Schreibtischdienst“, murmelte Ted, der so blass war, dass er fast im Nebel, der sich wie ein Spinnennetz durch die Straßen Londons zog, verschwand.

„Seit Mr. Rotwell verschwunden ist, hat Penelope Fittes das Kommando übernommen“, flüsterte Tina und ich musste mich ein wenig zu ihr hinunterbeugen, um alles zu verstehen.

„Alle Agenten von unserer Agentur müssen sich einer Fähigkeitsprüfung unterziehen, um zu beweisen, dass sie für den Außendienst geeignet sind“, erklärte Dave weiter und ließ die Schultern hängen.

Ich lächelte ihm aufmunternd zu: „Und wie habt ihr abgeschnitten?“

„Wir sind durchgefallen“, sagte Ted trocken, „Deshalb sitzen wir jetzt am Empfangstresen und müssen für die erwachsenen Berater Frühstück holen“

„Oh“, machte ich und hoffte, dass sie das als Ausdruck meines nicht vorhandenen Mitgefühls deuten würden. Ehrlich gesagt hätte ich ebenfalls keinem von ihnen jemals die Erlaubnis erteilt, in einem Außenteam zu arbeiten.

„Luce?“, erklang Lockwoods Stimme hinter mir und unterbrach die peinliche Stille, „Wir müssen weiter“
Erleichtert lächelte ich meinen ehemaligen Kollegen noch einmal zu: „Na dann, man sieht sich!“, und lief dann schnell hinter dem Leiter unserer Agentur her.

Sobald wir außer Hörweite der Rotwell oder inzwischen eher Fittes Agenten waren, wandte sich Lockwood an mich: „Was waren das denn für Trantüten? Sag bloß nicht, dass du mal mit denen zusammengearbeitet hast?“

„Diese Trantüten heißen Ted, Tina und Dave und doch, habe ich leider“, erwiderte ich und erinnerte mich mit düsterer Miene an unseren gemeinsamen Einsatz, „Wobei man das eigentlich nicht Zusammenarbeit nennen kann. Ich habe den Job gemacht, während sich die drei zu ihrem Berater verkrümelt haben“

Lockwood blickte den dreien noch einmal hinterher: „Typisch Rotwell. Zum Glück ist die Agentur jetzt Geschichte. Und wieso trägt dieser Ted eigentlich einen Mantel? Er ist nicht der Typ für Mäntel. Er sieht darin aus wie eine Vogelscheuche!“, so ging das eine ganze Weile weiter, bis ich Lockwood besänftigte: „Keine Angst, dir stehen Mäntel besser“, was ja auch stimmte.

Als wir schließlich wieder vor der Portland Row standen, wehte uns aus dem gekippten Küchenfenster bereits ein herrlicher Duft um die Nasen.

„Wie haben wir die letzten drei Tage nur überlebt?“, fragte Lockwood gut gelaunt, während wir unsere Jacken an die Garderobe hingen.

„Ich weiß nicht, aber ich glaube wir haben ungefähr zehn Donutpackungen gegessen“, entgegnete ich und erinnerte mich, dass die Papiermülltonne fast geplatzt war.

Wir setzten uns an den Tisch und unsere Sekretärin nahm uns gegenüber Platz. Zu meiner Überraschung tat sie sich von uns dreien die größte Portion Nudeln auf und kippte ohne mit der gezupften Wimper zu zucken eine Menge Soße darüber. Als sie Lockwoods und meine ungläubigen Blicke sah, kräuselte sich ihre makellose Stirn: „Ich hab seit gestern Abend nichts mehr gegessen!“
Lockwood und ich atmeten erleichtert auf und begannen, über die Nudeln herzufallen.

„Wasch schteht heuschte denn an?“, fragte ich mit vollem Mund.
Holly schluckte erst hinunter, dann antwortete sie: „Sogar zwei Aufträge“

„Zschwei?“, unterbrach ich sie und verschluckte mich prompt.

„Ich dachte auch, es wäre nur einer“, stimmte Lockwood mir zu, während er mir auf den Rücken klopfte.

Holly rollte die Spaghetti elegant auf ihre Gabel: „Ich habe auch nur einen Termin vereinbart, aber einer von euch muss in den letzten vier Tagen noch einen Auftrag angenommen haben“

„Das war bestimmt George“, murmelte Lockwood verdrießlich, „Er wollte mich bestimmt ärgern, weil ich seine Lieblingspantoffeln weggeworfen habe. Die haben aber auch entsetzlich gestunken!“

„Wie dem auch sei, dem Buch zufolge hat eine Klientin aus Ealing angerufen. Ihr Kind hat berichtet, dass es unter dem Fenster seines Zimmers ein paar Nächte lang in Folge immer wieder einen Mann mit langen Haaren und etwas in der Hand hat stehen sehen. Außerdem soll nachts im Haus ab und zu eine unheimliche Musik erklingen“, berichtete Holly und tupfte sich den nicht mal ansatzweise dreckigen Mund mit ihrer Servierte ab.

„Und der andere Auftrag?“, fragte Lockwood, überlegte kurz und tat sich noch eine ordentliche Portion auf den Teller.
„Bei dem handelt es sich um einen alten Mann aus Redbridge der behauptet, sein Kleiderschrank wäre vom Teufel besessen. Als sein Enkel letzte Woche bei ihm übernachtet hat, meinte der Kleine, er hätte den Schrank kichern gehört“, Holly stellte ihren Teller in die Spüle. Eine zweite Portion wäre ja auch viel zu viel verlangt gewesen.

„Der Mann unter dem Fenster klingt für mich nach einem Typ Eins“, sagte ich, sobald ich wieder normal Luft holen konnte, „Anscheinend bewegt er sich ja nie von seinem Platz weg. Der kichernde Schrank könnte heimtückischer sein“

„Der Meinung bin ich auch“, stimmte mir Lockwood zu meiner Freude zu, „Daher schlage ich vor, dass wir uns folgendermaßen aufteilen –!“

„Holly und George nehmen den Fenstersteher und wir beide gehen zu dem verrückten Opa?“, ich grinste meinen Chef an. Doch dieser schien bereits andere Pläne zu haben: „Du vergisst, dass George wahrscheinlich bis Mitternacht im Archiv ist. Daher müssen wir die Fälle unter uns dreien aufteilen. Wir machen es lieber so, dass du mit Holly zu dem Großvater geht und ich mir allein den Typ Eins vornehme“

Bei dieser Nachricht tat mein Herz keinen Freudensprung, sondern stolperte eher kurz. Klar, mit Holly zusammenzuarbeiten war inzwischen in Ordnung, aber trotzdem wäre ich natürlich lieber mit Lockwood allein losgezogen. Allerdings konnte ich nicht behaupten, dass Lockwoods Entscheidung unlogisch war, weshalb ich nicht protestierte.

Holly sah mich erfreut an: „Ein Mädels-Abend also“ und ich lächelte mechanisch zurück. Ach komm schon, schalt ich mich innerlich, so schlimm ist das doch wirklich nicht!

„Sollen wir für unseren Fall irgendetwas recherchieren?“, fragte Holly munter, während sie das Geschirr abspülte.

„Ich glaube nicht, dass ihr irgendwas finden würdet“, antwortete Lockwood und trug unser Geschirr zu ihr, „Wenn es zu jedem Schrank in London eine Akte geben würde, würde das Archiv sicher die gesamte Altstadt einnehmen. Aber ich denke, ich fahre gleich mal zu George hinüber“

Ich sah ihn verwundert an: „Du willst recherchieren?“

Er schmunzelte und sah mich mit neckischem Blick an: „Du kommst auf Ideen Luce! Ich sage George, dass er was über dieses Grundstück in Erfahrung bringen soll und gehe dann einen Tee trinken!“
Holly lachte mit mir über seinen Kommentar und ein weiteres Mal freute ich mich einfach nur, wieder hier zu sein.

Was war nur los mit mir?

Noch vor einem halben Jahr hätte ich Lockwoods Reaktion auf meinen Teamvorschlag als Vertrauensbruch betrachtet, doch nun nahm ich seine Aufteilung ganz gelassen hin und ärgerte mich nicht einmal mehr darüber, mit Holly zusammenarbeiten zu müssen?

Wahrscheinlich lag es daran, dass ich mit Lockwood ein Erlebnis teilte, an das die anderen nicht herankamen. Etwas, dass nur wir beide gesehen und überlebt hatten.
Natürlich sprach ich von unserem Besuch auf der anderen Seite, wie George sie immer nannte. Das konnte uns wirklich keiner nachmachen! Wir waren lebendig aus dem Reich der Toten zurückgekehrt!

Da Holly und ich nichts zu recherchieren hatten, wollten wir so früh wie möglich zu unserem Klienten aufbrechen. Wir packten unsere Ausrüstung zusammen und achteten darauf, möglichst viele Abwehrmittel mitzunehmen, da wir nicht wussten, was uns erwarten würde. Zwar stellten Eisenketten und Degen eine Behinderung für meine übernatürliche Gabe dar, doch Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Schließlich hatte ich nicht nur einmal erlebt, wie ein harmlos wirkender Geist, sich als erstaunlich hinterlistig erwiesen hatte.

Geplant war eigentlich, dass wir um fünf Uhr ein Taxi nach Redbridge nahmen, doch im letzten Moment entdeckte Holly hinter Georges Schreibtisch seinen geheimen Donutvorrat, der zur Hälfte bereits vergammelt war und ein Eigenleben zu führen schien.
Erbarmungslos, wie sie im Haushalt nun mal war, warf Holly kurzentschlossen das ganze Lager in die Mülltonne, die daraufhin aus allen Nähten platzte. Wir waren gezwungen, auch die Tonnen der Nachbarn zu befüllen.
Und so kam es, dass sich unser Aufbruch um eine Dreiviertelstunde verzögerte und wir erst um halb Sieben vor der Haustür des alten Mr. Morgan standen.

Wir klingelten und ich klopfte Holly grinsend auf die Schulter: „Ich überlasse dir das Reden“, meist war der Umgang mit alten Personen schwierig und ich hatte keine Lust, schon so früh am Abend Mordgelüste zu bekommen.

Nach einigen Sekunden öffnete sich die Tür und ein sehr sehr alter Mann stand vor uns. Seine blasse Haut zog sich wie nasses Papier über seine hervorstehenden Knochen und war dermaßen faltig, dass ich seine Augen und seinen Mund nur ausfündig machen konnte, weil ich wusste, wo sie bei Menschen normalerweise lagen.
Außerdem hatte der Alte riesige Segelohren, in denen zwei besonders große Hörgeräte steckten.

„Oh Mist, er ist schwerhörig“, murmelte ich Holly zu, doch diese machte einen Schritt auf den Mann zu und begrüßte ihn überfreundlich: „Guten Abend, wir sind Agenten der Agentur Lockwood und Co, die sie letzten Donnerstag beauftragt haben, sich ihren Kleiderschrank einmal genau anzusehen“

Als Antwort folgte nur ein halb gerufenes: „WAS?“

Holly war gezwungen, ihren Text noch drei Mal zu wiederholen, bis Mr. Morgan sie endlich verstanden. Währenddessen tarnte ich meinen Lachanfall als Keuchhusten, aber wahrscheinlich hätte ich mir diese Mühe gar nicht machen müssen. Für den Alten musste die Welt inzwischen wohl fast ein Stummfilm sein.
Mr. Morgan geleitete uns in seine kleine, aber aufgeräumte Küche und machte sich sofort daran, uns brummelnd einen Tee aufzusetzen, während er unsere gerufenen Fragen beantwortete.

„Wann war ihr Enkel denn das letzte Mal hier?“, schrie Holly den alten Mann an und dieser antwortete ebenso laut: „Letzte Woche Mittwoch, Mädel! Danach hat er sich nicht mehr hier hin getraut!“

„Zu welcher Tageszeit hat er das Kichern denn gehört?“, rief ich und versuchte gleichzeitig, meine übersinnlichen Ohren auf Empfang zu stellen. Es fiel mir jedoch äußerst schwer, mich bei der Lautstärke im Zimmer zu konzentrieren.
„Mein Sohn hat ihn mir am frühen Abend vorbeigebracht! Ich sollte ihn über Nacht hierbehalten, da er und seine Frau auf einer Lesung waren!“

Holly trug währenddessen alles Wichtige ordentlich in unseren Notizblock ein.
„Wie lange besitzen Sie ihren Kleiderschrank denn schon?“, fragte sie laut.
Der Alte überlegte kurz: „Ich weiß nicht, er gehörte bereits meinen Eltern. Ich habe ihn geerbt“, rief er dann schulterzuckend.

Holly und ich sahen uns vielsagend an. Mit alten Möbelstücken war nicht zu spaßen. Sie konnten über Generationen hinweg keinen Mucks von sich geben und dann zack, waren sie die Mörder eines arglos schlafenden Ehepaars.

Ich sah auf meine Uhr. Wir hatten bereits kurz vor acht und draußen war es dunkel.
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würden wir jetzt gern mit unserer Arbeit beginnen!“, rief ich laut und zeigte zur Untermalung meiner Worte auf die Zimmerdecke, „Sie kommen am besten nicht mit nach oben! Welche Tür ist die zu ihrem Schlafzimmer?“

„Wenn Sie die Treppe hinaufgehen nach rechts und dann die letzte Tür des Flures!“, kam die laute Antwort und Holly und ich sammelten unsere Taschen zusammen. Gemeinsam traten wir aus der Küche und gingen leise die Treppe hinauf.

„Ich glaube, ich bin morgen früh heiser“, murmelte Holly, während sie ihr Haar zu einem Knoten zusammenband.

„Und hast einen Hörsturz“, fügte ich hinzu und war erleichtert, wieder mit jemandem reden zu können, den ich nicht anschreien musste.

Holly lächelte mich dankbar an. Bei ihr spürte man noch immer, dass sie mit einem letzten Rest Angst kämpfte. Betrat man dagegen an Lockwoods Seite ein heimgesuchtes Haus, durchdrang einen ebenfalls seine Vorfreude. Und war man mit George unterwegs, konnte man selbst nicht anders, als im wissenschaftlichen Sinne begeistert zu sein.

„Hoffen wir, dass das ganze Geschreie deine Gabe nicht beeinträchtigt hat“, scherzte Holly um die Stimmung zu lockern, „Hörst du denn schon was?“

Bedauernd schüttelte ich langsam den Kopf. Obwohl ich all meine Sinne auf Empfang gestellt hatte, hörte ich nur das Knarzen der Stufen unter unseren Füßen.
„Um ehrlich zu sein höre und fühle ich gar nichts“, antwortete ich leise und irgendwie ein wenig verärgert. Normalerweise konnte ich schon an der Atmosphäre eines Hauses feststellen, ob es heimgesucht war, oder nicht, „Wie sieht’s bei dir aus?“

„Auch nichts“

Irgendwie tat es meinem Stolz gut, das von ihr zu hören.
Inzwischen hatten wir die Treppe hinter uns gelassen und standen im ersten Stock. Wir knipsten unsere Taschenlampen an und betrachteten in ihrem Schein die altmodischen Tapeten, Möbel und Bilder. Hätte mir jemand die Aufgabe erteilt, mir das Haus einen über siebzig Jahre alten Mannes vorzustellen, hätte ich mir genau diese Einrichtung ausgemalt.

Ohne uns abzusprechen, zog ich mein Thermometer hervor und Holly ihren Notizblock.

„Hier sind es zwanzig Grad“, stellte ich überrascht fest. Die Heizungen liefen, es herrschte keine bedrohliche Atmosphäre und hören konnte ich immer noch nichts. War dieses Haus wirklich heimgesucht?

Holly schien Ähnliches zu denken: „Also entweder ist der Geist hier wirklich schlau, oder Mr. Morgans Enkel leidet an Wahnvorstellungen“, aber trotzdem flüsterte sie.
Ich nickte: „Könnte beides gut sein. Lass uns mal in Richtung Schlafzimmer gehen“
Die ersten paar Schritte in Richtung der besagten Tür konnte ich keine Geräusche vernehmen. Doch als wir den Flur halb hinter uns gelassen hatten, hörte ich auf einmal etwas.

Ganz leise, es war fast nur der Hauch eines Geräuschs, aber dennoch unverkennbar. Jemand kicherte vor sich hin.
Ich blieb ganz plötzlich stehen, sodass Holly, die dicht hinter mir gewesen war, in mich hineinlief.

„Hörst du das?“, flüsterte ich angespannt, obwohl sich die Atmosphäre des Hauses nicht verändert hatte. Es war wie in einem Horrorfilm. Stumm macht er dir nichts aus, aber sobald du den Ton anstellst, fürchtest du dich wie ein kleines Kind. Nicht, dass ich jemals Angst vor solch banalen Dingen gehabt hätte. Ich rede gerade über erfundene, andere Personen, okay?

„Nein“, wisperte Holly zurück und sah mich mit ihren dunklen Augen angsterfüllt an, „Wonach klingt es denn?“

„Nach einem heiseren Lachen“, ich versuchte, mich mehr auf meine übersinnliche Begabung zu konzentrieren, aber das Kichern wurde nicht lauter. Es verharrte am Rande meines Bewusstseins, wie das nervtötende Summen einer Mücke. Trotzdem tat es dazu bei, mir einen eiskalten Schauer den Rücken hinunter zu jagen.

„Okay“, sagte ich langsam und atmete tief durch, um mich zu beruhigen, „Das ist die Tür zum Schlafzimmer oder?“

„Ja“

„Wir müssen hineingehen“

„Ich wünschte, wir könnten das umgehen“, murmelte Holly schwach lächelnd.
Ich drückte ihr kurz den Arm und sie stellte sich hinter mich. Na großartig, dann musste ich wohl die Tür öffnen. Eigentlich wäre George dran gewesen…

„Gib mir Rückendeckung“, zischte ich über meine Schulter und ich hörte, wie Holly ihren Degen aus der Halterung zog und eine Salzbombe vom Gürtel löste.
Stumm hielt ich drei Finger in die Luft und nahm sie der Reihe nach hinunter. Sobald sich meine Faust geschlossen hatte, drückte ich die Türklinke mit der linken Hand hinunter. Noch immer kicherte es leise in meinem Hinterkopf, als lache der Geist mich aus.

Die Schlafzimmertür schwang leise auf und anstatt einem Besucher empfing uns nur gähnende Leere. Der Raum war rechteckig, wobei wir uns auf der schmalen Seite des Zimmers befanden. Mr. Morgan hielt wohl nichts von Dekoration, denn bis auf eine Kommode, ein Bett und einen Schrank war sein Schlafgemach völlig leer. Okay, auf dem Boden lag ein brauner Bettvorleger, aber dieser war über die Jahrzehnte des Gebrauchs fast mit dem Fußboden verwachsen.

Kaum atmend blickte ich mich im Zimmer um. Kein Geisternebel, kein Miasma, keine Geisterstarre, kein kriechendes Grauen. Wieder hatte sich die Atmosphäre kaum verändert. Nur das Lachen war lauter geworden und es war offensichtlich, dass sich seine Quelle im Großen, vom Alter verblichenen Schrank befand.

Holly tippte mir auf einmal auf die Schulter und ich bekam einen Riesenschreck.

„Musst du das so plötzlich machen?“, fuhr ich sie wütend an, beruhigte mich aber im selben Moment wieder, „Sorry. Aber du kannst auch einfach mit mir reden“

„Okay, entschuldige“, murmelte sie und setzte an, noch etwas zu sagen, doch ich schnitt ihr das Wort ab: „Das Lachen ist lauter geworden, aber sonst bemerke ich keine Begleiterscheinungen. Du?“

„Ich auch nicht, aber -!“

Wieder unterbrach ich sie: „Ich würde sagen, wir ziehen trotzdem hier einen Eisenkettenkreis und legen unser Zeug darin ab. Dann nehmen wir den Schrank genau unter die Lupe. Bei Gefahr ziehen wir uns sofort in den Kreis zurück, einver -, ja bitte?“, sagte ich, denn Holly hatte wie in der Schule die Hand gehoben.

„Das klingt jetzt vielleicht komisch“, begann sie zögernd, „Aber ich vernehme das Kichern jetzt auch. Und ich war nie ein großes Talent im Hören“

Diese Nachricht warf meinen ganzen Plan durcheinander. Stirnrunzelnd blickte ich meine Kollegin an: „Aber das müsste dann ja bedeuten, -!“

„Dass das Lachen nicht von einem Besucher kommt“, beendete Holly den Satz für mich, „Ich finde, wir sollten aber trotzdem auf Nummer Sicher gehen und einen Bannkreis ziehen“

Gesagt, getan. Nicht einmal einen Wimpernschlag später standen wir in einem ordentlich gezogenen Eisenkreis. Ich stellte meinen Rucksack, der heute leichter als sonst war, auf dem Boden ab.
Ich hatte das Geisterglas nicht mitgenommen, da ich eine gewisse Paranoia davor entwickelt hatte, dass es noch einmal abhanden kam. Für kleinere Fälle blieb der Schädel also hinter Georges alten Trainingsanzügen im Keller versteckt. Wir alle waren uns einig gewesen, dass sich mögliche Diebe lieber selbst der Polizei auslieferten, als in Georges Wäsche zu wühlen.
Alle bis auf den Schädel natürlich. Dieser hatte eine Woche lang nicht mehr mit mir gesprochen, nachdem ich ihm den Ort des Verstecks eröffnet hatte.

„So“, sagte ich aufgeräumt, schnappte mir meinen Degen und eine Salzbombe und machte einen Schritt aus dem schützenden Kreis heraus, „Dann wollen wir der Sache mal auf den Grund gehen“

Holly ahmte meine Bewegungen nach und schließlich standen wir beide Seite an Seite vor den alten Schranktüren. Das Lachen war noch einmal um einiges lauter geworden, jedoch war es bei Weitem nicht mehr so angsteinflößend wie vor fünf Minuten. Der gute Horrorfilm hatte sich in einen Schlechten verwandelt.

„Machst du -?“, mehr musste Holly gar nicht sagen. Seufzend legte ich beide Hände auf die Schranktüren und zog sie in einem Rutsch auf.

Abgestandene Luft wehte uns entgegen und Holly schrie auf. Ich auch, aber nicht, weil wir dem Grauen persönlich ins Gesicht blickten, sondern nur weil meine Kollegin mich ein weiteres Mal erschreckt hatte.

„Warum schreist du denn ständig?“, fuhr ich sie ein weiteres Mal wütend an, „Da kann man ja gar nicht anders, als auch Angst zu bekommen!“

„Tut mir leid, tut mir leid“, sagte sie hastig, „Und nur zu deiner Information, das war ein Überraschungsschrei!“

„Und wie soll ich den von einem Angstschrei unterscheiden?“

„Mein Angstschrei ist doch viel höher und langgezogener!“

Daraufhin schnaubte ich nur: „Wie wäre es, wenn wir vereinbaren, dass du, statt wirklich zu schreien, entweder Angst oder Überraschung sagst? Das würde mich wirklich entlasten!“

„Ich werde das nächste Mal, wenn wir in Lebensgefahr sind, daran denken“, erwiderte sie pampig und zeigte dann auf den Schrank, „Woher kommt denn nun das Lachen?“

„Keine Ahnung“

Wir betrachteten den Inhalt des Möbelstücks genauer. Ordentlich an einer Stange aufgereiht hingen etwa ein halbes Duzend Oberteile und Hemden. Auf der anderen Seite waren Hosen ebenso auf den Zentimeter genau übereinander zusammengelegt. Außerdem lagen mehrere Paar Socken daneben und eine (hoffentlich) frisch gewaschene Unterhose.

„Ui wie peinlich“, quiekte Holly, als sie diese aus Versehen berührte.

Ich rollte meinerseits mit den Augen und hielt mein Ohr dicht an die Kleidungsstücke. Das Lachen musste aus das hinteren linken Ecke des Schrankes kommen.
Ich schob die Pullover zur Seite und entdeckte einen kleinen Stapel Bücher hinter den Hosen. Dort musste der Ursprung des Kicherns sein!

Vorsichtig, um die Ordnung des alten Mannes nicht zu zerstören, tastete ich den Bücherstapel ab und schließlich schlossen sich meine Finger um etwas Weiches, das unter den Romanen gelegen hatte. Sobald ich es herausnahm, hörte das Lachen schlagartig auf und Holly leuchtete mit ihrer Taschenlampe darauf.

Wir beide stöhnten gleichzeitig auf. Es war ein Lachsack. Ihr wisst schon, diese kleinen mit einem Lautsprecher und Watte gefüllten Säckchen, die noch immer als Scherzartikel verkauft werden und angeblich gute Laune verbreiten sollen.
Anscheinend war die Batterie von diesem hier jedoch nicht mehr ganz auf der Höhe, denn das Lachen klang bereits angestrengt und mechanisch. Perfekt also, um kleinen Kindern Angst einzujagen.

„Oh Mann“, murmelte Holly und machte sich sofort daran, die Eisenkette wieder aufzurollen, während ich behutsam die Schranktüren schloss, „Das muss uns der Alte jetzt aber erklären“

Wie sich schließlich herausstellte, konnte sich der alte Mr. Morgan sogar an den Lachsack erinnern. Sein Enkel habe ihm diesen vor ungefähr zwei Wochen geschenkt, aber er selbst hatte nie etwas damit anfangen können, da er das Lachen nicht hören konnte. Deshalb hatte der Alte ihn im Schrank verstaut und ein paar Bücher daraufgelegt. Daher war das Lachen, dass normalerweise nur erklang, wenn man das Säckchen drückte, die ganze Zeit aktiv gewesen.

Da sein Enkelkind erst sieben Jahre alt war, hatte es natürlich zuerst auf einen Besucher geschlossen, als es das unheimliche Lachen gehört hatte.
Ende. Fall gelöst, niemand war gestorben. Holly und ich konnten diesen Abend eine gute Bilanz aufweisen.

Mr. Morgan zahlte uns den ausstehenden Stundenlohn und entschuldigte sich gleich mehrere Male in beträchtlicher Lautstärke. Als wir schließlich von geschrienen Abschiedsworten aus der Tür komplimentiert worden waren, atmeten wir beide auf. Mir klirrten noch immer die Ohren und ich war mir sicher, Mr. Morgans Stimme niemals wieder vergessen zu können.

Ein Gutes hatte der Abend aber gehabt: und zwar, dass wir nicht besonders viel Zeit mit dem Fall vertrödelt hatten. Ich weiß zwar nicht, wie es euch geht, aber auf mich wartete jetzt nur noch mein bequemes Bett in der Dachkammer.
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