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Vanitas - Der Herzog von Grafton

von Jaxxi
Kurzbeschreibung
GeschichteMystery, Übernatürlich / P12 / Gen
Anthony Lockwood Der Schädelgeist George Cubbins Holly Munro Lucy Carlyle Qill Kipps
22.12.2016
22.04.2017
9
25.472
3
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14 Reviews
Dieses Kapitel
4 Reviews
 
 
22.12.2016 3.688
 
So, neue Fanfiktion, neues Glück würde ich sagen :D Da ich ja jetzt endlich Mrs. Barretts Gruft, alias Die Puppenspielerin beendet habe (und Das Mädchen mit der Fliegerbrille zu groß zu werden scheint), begnüge ich mich erst mal mit einem neuen Fall, der an das Ende des vierten Bandes anknüpft (Spoilerwarnung!). Das Projekt soll ca. 10 Kapitel umfassen, damit es nicht zu groß wird, also freut euch (oder auch nicht xD). Natürlich freue ich mich immer über Reviews und Feedback, also traut euch, mir zu schreiben! :D

Kapitel 1

Eine Woche nach diesem Vorfall war Lockwood und Co. wieder voll im Geschäft. Zwar hatte die Eröffnung des Schädels, Penelope und Marissa Fittes seien ein und dieselbe Person eingeschlagen wie eine Bombe, doch nach ganzen Tagen und Nächten des Spekulierens hatten wir uns wieder auf unsere eigentliche Aufgabe konzentriert: Und zwar London zu einer geisterfreien Zone zu machen.
Bisher lautete unsere plausibelste Theorie, dass der Geist von der gestorbenen Marissa Fittes es irgendwie geschafft hatte, in ihre Enkelin zu fahren und diese zu besetzen. Ganz abwegig schien mir diese Vermutung nicht zu sein, da auch Bickerstaffs Geist damals die Kontrolle über Albert Joplin erlangt hatte. Allerdings hatten wir keinen blassen Schimmer, wie nicht nur ihr Charakter, sondern auch ihr Aussehen übernommen werden konnte.
Die meiner Meinung nach lächerlichste Theorie (die nebenbei bemerkt von George kam) besagte, dass Penelope in die Vergangenheit gereist war, und mit ihrer Großmutter die Rollen getauscht hatte. Dabei hatte sich die Leiterin der Agentur Fittes allerdings in der Jahreszahl vertan und war ausversehen in das Erwachsenenleben ihrer Großmutter hineingeplatzt, anstatt sie als Kind aufzusuchen. Daraufhin hatte Marissa ihrer Enkelin mit einem Suppenlöffel eins über den Schädel gezogen, ihre Klamotten geklaut und war als Erwachsene zurück in unsere Zeit gereist, um die Agentur weiterzuführen.
Wie gesagt, die Idee stammte von George, nicht von mir.

Wo war ich stehen geblieben? Ach ja! Geisterfreie Zone!
Jedenfalls hatten wir diese Nacht so einiges durchgemacht und waren um halb fünf Uhr morgens todmüde ins Bett gefallen. Fragt mich bitte nicht, was sich ereignet hat! Ich sage nur: Eine von George bereits benutzte Zahnbürste und ein gebrauchtes Taschentuch von Lockwood sind keine geeigneten Dinge, um einen Widergänger zu vertreiben. Merkt euch das!

Deshalb waren wir auch nicht gerade erfreut, als es pünktlich um acht Uhr morgens an unserer Haustür klingelte.
Die ersten drei Minuten überhörte ich das unerträgliche schnarrende Geräusch beflissen, doch als das Klingeln danach noch immer nicht verebbte, zog ich mir grummelnd meinen alten grauen Bademantel an und tappte noch fast blind vom Schlafen hinaus in den Flur.
Mehr tot als lebendig schleppte ich mich die Stufen hinunter und auf der Haupttreppe gab es ein kurzes Handgemenge, weil meine beiden Kollegen ebenfalls auf die Idee gekommen waren, die Tür zu öffnen.
Nachdem wir drei es fröstelnd und gähnend es in die Diele geschafft hatten, nestelte Lockwood an der Kette, die die Haustür von Innen verschloss, herum. Noch immer schrillte der Ton durch das ganze Haus und brachte mein armes, müdes Trommelfell zum Vibrieren.
Doch der Ton stoppte abrupt, ich entspannte mich innerlich und wäre fast im Stehen wieder eingeschlafen.
Der Leiter unserer ausgesprochen verschlafenen Agentur hatte es endlich geschafft, die Haustür zu öffnen und wir starrten einen quälenden Moment lang in hellstes Sonnenlicht. Dann trat jemand auf die Schwelle und warf einen gnädigen Schatten über unsere vom Schlaf verkrusteten Augen.
Ich spürte, wie George, der eben noch mit hängenden Schultern und Armen neben mir gestanden hatte, plötzlich Haltung annahm. Auch Lockwood war mit seinen ungewaschenen Haaren, die in seltsamen Winkeln von seinem Kopf abstanden, neben der Tür erstarrt.

Die Reaktionen meiner Kollegen brachten mich dazu, den Ankömmling näher zu betrachten. Und schon beim ersten Blick auf den Mann wünschte ich mir, ich hätte wenigstens meinen etwas schöneren Morgenmantel angezogen.
Der Herr auf unserer Türschwelle war nicht irgendein Bürger Londons, das sah man auf den ersten Blick. Er trug den feinsten, mitternachtsblauesten Smoking, den ich je bei einem Mann gesehen hatte und von einer Marke, die mir gänzlich unbekannt war. Das weiße Hemd ordentlich in die zum Oberteil passende Hose gesteckt, musterte er uns zweifelnd. Ich sah, wie sich der kleine Oberlippenbart (natürlich auf den Millimeter genau gestutzt) wand, als wolle er schnell das Weite suchen. Die absolut gerade Nase über dem blonden Bärtchen sah aus, als würde sie einen unbekannten und unangenehmen Geruch wahrnehmen (was ich ihm nicht verübeln konnte, Holly war über das Wochenende bei ihren Eltern gewesen). Und aus seinen kleinen, eisblauen Augen konnte ich ablesen, dass unsere Aufmachung mit Nichten seinem Gesellschaftsstandard entsprach.

Trotzdem räusperte er sich vernehmlich und winkte lässig mit einer behandschuhten Hand über die Schulter. Ich reckte den Kopf und konnte eine weise Limousine erkennen, die sich auf den Wink hin in Bewegung setzte. Eigentlich hätte sie wohl wegfahren sollen, doch sie war so lang, dass sie nicht ohne Weiteres durch den Wendehammer fahren konnte, weshalb sie gezwungen war, zurückzusetzen.

„Seinen Sie gegrüßt, werte Herren und Damen“, sagte der Fremde nun hochgestochen und streckte Lockwood die behandschuhte Hand entgegen. Dieser ergriff sie und sagte wenig einfallsreich einfach nur: „Hallo…?“
„Steck dir dein Hemd in die Hose“, raunte ich George unauffällig aus dem Mundwinkel zu.
„Geht nicht, der Hosenbund ist kaputt“, wisperte dieser zurück, „Ich halte sie hinten die ganze Zeit fest, damit sie nicht herunterrutscht“
„Kommen Sie doch herein! Ähm, wollen Sie vielleicht eine Tasse… Tee?“, fragte Lockwood, der sich offensichtlich gerade gefangen hatte, „Oder, na ja, einen Orangensaft? Oder einen Whiskey?“
Der Mann lachte gönnerhaft: „Ich würde einen Tee vorziehen. Um genau zu sein, einen Scottish Blend, falls Sie welchen vorrätig haben“
Lockwood sah George fragend an: „Haben wir einen Scottish… was auch immer?“
George kratzte sich unauffällig am Hintern und überlegte: „Ich schau mal im Vorratsschrank“, lautete seine lahme Antwort und er schlurfte in Richtung Küche davon.

Oh oh, die Küche. Ich warf einen Blick durch die leicht geöffnete Tür und erstarrte. Der zweite Weltkrieg war bestimmt nichts gegen dieses Schlachtfeld gewesen. Überall stapelten sich leere Dosen, dreckiges oder zerbrochenes Geschirr und der Abfall war ebenfalls nicht entsorgt worden. George bahnte sich gerade einen Weg durch diese Müllhalde und war gezwungen, seine Hose loszulassen, da er sich mit Händen und Füßen den Weg frei schaufeln musste.
Schnell zog ich meinen Kopf aus der Tür, bevor sein Hosenbund den Abgang machte.

„Ähm, wieso kommen Sie nicht mit ins Wohnzimmer, Mr. …?“, plötzlich fiel mir auf, dass wir uns vor lauter Überraschung nicht nach dem Namen unseres Klienten erkundigt hatten. Wie peinlich!
Doch dieser ergriff bereitwillig das Wort: „Mein Name ist Henry Oliver Charles FitzRoy, zwölfter Herzog von Grafton“, sagte er würdevoll, aber ein bisschen aufgesetzt, als wolle er unbedingt Eindruck schinden.
Unwillkürlich wickelte ich mich noch fester in meinen grauen, von Motten zerfressenen Bademantel und wünschte mir nichts lieber, als mich umziehen zu können. Lockwood sah in seinem blau weiß karierten Schlafanzug wenigstens nicht wie ein Obdachloser aus. Nur George war noch schlimmer angezogen als ich, aber er war leider nicht mehr im Raum, sodass die missbilligenden Blicke des Herzogs an mir hängen blieben.

„Wohnzimmer ist eine gute Idee“, griff Lockwood meinen Vorschlag auf und bewegte sich in Richtung Küchentür.
Ihr müsst wissen, dass der Eingangsbereich der Portland Row folgendermaßen aufgebaut ist: Wenn man durch die Tür unser trautes Heim betritt, findet man sich in einem ungefähr drei Meter langen Flur wieder. Auf der rechten Seite befindet sich unsere Garderobe, auf der Linken die Tür zur Küche und gegenüber des Eingangs eine Verbindungstür, die direkt ins Wohnzimmer führt.
Um in die Stube zu kommen, benutzten wir normalerweise den Weg der uns durch die Küche führte. Dort standen immer die neuesten Nachrichten auf unserem weisen Tuch und vor allem gab es dort Essen. Es gibt nichts schöneres, als nach einem Einsatz nach Hause zu kommen, Tee zu trinken und Kekse zu essen.
Aufgrund dieser Angewohnheit war die Verbindungstür vom Flur ins Wohnzimmer eigentlich immer abgeschlossen. Mit Pausen war ich jetzt schon über zwei Jahre bei Lockwood und Co. angestellt und niemand hatte je diesen Durchgang geöffnet. Doch nun schien dieser Zeitpunkt gekommen zu sein.

„Wie wäre, es, wenn wir hier lang gehen?“, fragte ich zuckersüß und zog Lockwood von der Tür weg. An unseren Gast gewandt sagte ich: „Dort drinnen ist es ein wenig… unordentlich“
Wieder dieses gönnerhafte Lächeln. Wie konnte ein Mensch nur so viele Zähne besitzen? „Ich bin mir sicher, so schlimm ist es nicht“
„Ich denke, das wollen Sie nicht herausfinden“, antwortete Lockwood zerstreut und versuchte, die Tür zum Wohnzimmer zu öffnen. Aber nach jahrelanger Vernachlässigung klemmte diese natürlich. Mit einem entschuldigenden Lächeln in Richtung unseres Klienten warf Lockwood sich letztendlich mit den Schultern gegen die Tür, die daraufhin mit einem lauten Krachen aufflog.

Das Wohnzimmer war zwar aufgeräumter als die Küche, aber von Ordnung konnte man lange noch nicht sprechen. Unsere freien Tage hatten wir fast ausschließlich im Wohnraum der Portland Row verbracht und deshalb alles Mögliche nach unten geschleppt. Dazu gehörten eine komplette Comicsammlung (von George), Zeichenequipment (von mir) und Trainingssachen (natürlich von Lockwood). Ich entdeckte sogar ein Schminkkästchen, dass wohl keinem von uns dreien viel nützen würde.

„Entschuldigen Sie die Unordnung Mr. FitzRoy, wir haben nicht damit gerechnet, so früh am Morgen einen Klienten zu empfangen“, deklamierte Lockwood und warf seine gebrauchten Trainingshosen hinter meinen Sessel. Ich machte mich ebenfalls nützlich und warf sämtliche Comics, die ich finden konnte, mit einem fiesen Grinsen in den Sack für Papiermüll. Das würde George bestimmt auf die Palme bringen.
Anstatt sich ebenfalls für das frühe Erscheinen zu entschuldigen, zuckte der Herzog nur mit den Schultern und ließ sich (äußerst vorsichtig) auf das sauberste Ende des Sofas nieder.

In diesem Moment kam George mit einem riesigen Tablett in den Händen zur Tür herein und blieb dort vorsorglich stehen. Seine Schlafanzughose hing bedenklich tief.

„Kannst du mir mal helfen Luce?“, fragte er unschuldig und ich nahm ihm rasch das Tablet aus den Händen, bevor noch ein Unglück passierte. Lockwood machte derweil eines der großen Fenster auf, um die Tatsache zu überspielen, dass wir seit Tagen nicht mehr gelüftet hatten. Ich gab es nur ungern zu, aber ohne Holly funktionierte in diesem Haushalt nichts mehr.
Schließlich nahmen wir alle Platz. George warf sich in seinen Lieblingssessel und kratzte sich wohlig an einer unaussprechlichen Stelle, Lockwood setzte sich aufrecht in seinen Lehnstuhl und gab sich Mühe, trotz seines Aussehens professionell zu wirken und ich ließ mich ermattet neben unseren Klienten aufs Sofa fallen.

Lockwood räusperte sich: „Nun gut, kommen wir zum Geschäftlichen. Wenn Sie uns in dieser Herrgottsfrühe aufsuchen, muss es dafür einen triftigen Grund geben Mr. FitzRoy?“
Die Oberlippe des Herzogs kräuselte sich kaum merklich: „Allerdings. Ich habe bereits eine knapp zweistündige Autofahrt hinter mir. Thetford ist schließlich nicht gerade um die Ecke“, seine Worte klangen unterschwellig anklagend. Mit gerunzelter Stirn blickte ich zu Lockwood hinüber, der einen gespielt mitleidigen Blick aufgesetzt hatte: „Das tut mir… ähm… leid?“
„Muss es nicht, meine Limousine ist sehr bequem“, der Herzog lachte bellend auf und spätestens von diesem Moment an konnte ich ihn nicht mehr leiden, „Wie auch immer, ich habe ein Problem“
„Mit Besuchern?“, fragte George und kritzelte etwas in sein Notizbuch.
Der Herzog blickte ihn kühl an: „Ja, mit… Besuchern“ Mr. FitzRoy gehörte wohl auch zu den Erwachsenen, die ungern Geister Vokabeln in den Mund nahmen.
„Mein Landhaus, Euston Hall, ist von dieser Plage betroffen“, sprach der Mann in hochnäsigem Tonfall weiter, „Und ich hatte eigentlich vor, das Haus diesen Sommer zu beziehen. Nun haben die Jüngeren Putzkräfte seltsame Schwingungen wahrgenommen und weigern sich, das Haus weiter auf Vordermann zu bringen“
„Das klingt vorerst nach einer typischen Heimsuchung“, überlegte Lockwood und sah zu mir hinüber, „Was sagst du dazu Luce?“

Obwohl ich unseren Klienten am liebsten mit einem saftigen Tritt in den Hintern vor die Tür befördern würde, verhielt ich mich professionell: „Sie haben nur seltsame Schwingungen gespürt? Nichts anderes? Haben sie vielleicht etwas gesehen oder gehört?“, hakte ich nach und ich konnte sehen, wie Unmut über das Gesicht des Herzogs flog.
„Sie sind nicht lange genug im Haus geblieben, um das zu überprüfen“, sagte Mr. FitzRoy kühl und blickte mich an, als wäre ich irgendein ekelhaftes Insekt. Ich konnte mich nicht länger zurückhalten und sah ihm ebenso feindselig in die Augen. Nur weil er adelig war, konnte er nicht jeden wie Dreck behandeln, der ihm nicht passte!
Lockwood, der die veränderte Stimmung bemerkt hatte, räusperte sich: „Ähm, haben Ihnen Ihre Haushaltskräfte denn nicht mehr erzählt? Sie haben keine weiteren Hinweise für uns?“
„Nein“, nun nahm der Herzog Lockwood ins Visier und setzte ein schleimiges Lächeln auf, „Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß“
„Hat in ihrem Landsitz vielleicht einmal ein Mord stattgefunden?“, fragte George dazwischen. Er saß aufrecht in seinem durchhängenden Sessel und hatte seine eulenartigen Augen wie zwei große Scheinwerfer auf unseren Klienten gerichtet. Dieser sah unseren Archivar schief an, ehe er antwortete: „Sehe ich aus, wie ein Historiker? Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich nichts Weiteres weiß! Hören Sie mir überhaupt zu?“

Lockwood wirkte aufgrund dieser Worte vor den Kopf gestoßen, doch George lehnte sich lässig (so lässig, wie man in einem alten, löchrigen, grauen Schlafanzug aussehen kann) in seinem Sessel zurück.
„Das ist alles, was ich wissen wollte“, sagte er leise, aber bestimmt. Er ließ den Herzog nicht aus den Augen, was diesem offensichtlich nicht behagte. Das konnte ich jedoch nachvollziehen. Immer wenn George einen länger anschaut, hat man das Gefühl von oben bis unten gescannt zu werden. Manchmal glaubte ich, er konnte erkennen, wenn ein Mensch lügt.

Mr. FitzRoy verlor anscheinend langsam die Geduld. Er stand steif auf und wandte sich mit grimmigem Gesicht und zuckendem Schnurrbart an Lockwood: „Helfen Sie mir nun, oder muss ich mich an eine andere Agentur wenden?“
Lockwood erhob sich ebenfalls und sah den Herzog mit funkelnden Augen an. Das seltsame Benehmen des Adligen schien sein Interesse geweckt zu haben.
„Wir übernehmen den Fall“, sagte er und setzte sein schönstes, strahlendstes Lächeln auf. Wie durch ein Wunder wirkte Mr. FitzRoy daraufhin nicht mehr so angriffslustig und entspannte sich.
„Das will ich doch meinen“, erwiderte der Herzog von oben herab, „Sie hätten sich sonst eine Chance entgehen lassen“, er machte einen Schritt in Richtung Tür, „Ich muss mich nun empfehlen, ich habe noch einen dringenden Termin in Greenwich“, damit verschwand er in den Flur und Lockwood sprang eilig auf, um ihn zur Haustür zu geleiten.

Ermattet blickten George und ich uns an. Der Archivar nahm seine Brille ab und versuchte, sie an seinem Schlafanzug sauber zu wischen (was natürlich nicht funktionierte, da der das Oberteil bei Weitem dreckiger war, als die Brille). Aber an der Art und Weise wie er dies tat, konnte ich erkennen, dass er nachdachte.
Obwohl George auf seine Brille achtete, musste er meinen prüfenden Blick gespürt haben: „Er kam dir also komisch vor?“, fragte er nach einer Weile.
Ich nickte bestätigend: „Er war so –!“
„Eitel, hochnäsig, arrogant, überheblich, herablassend, anmaßend, dünkelhaft?“, ratterte George herunter, „Also wenn du mich fragst, ist das nicht komisch, sondern normal. Er ist schließlich adelig“
Ich blickte meinen Kollegen finster an: „Ich hasse Adlige. Und was zum Geier heißt dünkelhaft?“
„Ist ein anderes Wort für hochmütig“, antwortete George besserwisserisch und setzte sich seine Brille wieder auf die Nase. Ein Brummen verriet mir, dass er mit dem Ergebnis des Putzens nicht zufrieden war.
„Vielleicht solltest du deinen Schlafanzug mal waschen“, stichelte ich, doch George winkte sofort ab: „Damit würde ich meine Lebenseinstellung verraten. Übrigens, wo sind meine Comics?“
„Lockwood hat sie in den Müll geworfen“, antwortete ich grinsend und beobachtete zufrieden, wie George alarmiert aufsprang und im Müll zu wühlen begann.
In diesem Moment kam der Leiter unserer Agentur zurück ins Wohnzimmer und ließ sich erschöpft aufs Sofa fallen. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und murmelte: „Und ich hatte mich so darauf gefreut, auszuschlafen“
Ich warf einen Blick auf die alte Standuhr neben dem Regal mit den Traumfängern, die Lockwoods Eltern irgendwann einmal aus Afrika mitgebracht hatten. Schon zehn vor neun…

„Schlafen lohnt sich jetzt auch nicht mehr“, merkte Lockwood gähnend an, „Mr. FitzRoy hat mir übrigens noch mitgeteilt, dass er uns in drei Tagen um Punkt zehn Uhr morgens vor seinem Anwesen erwartet. Die Adresse hat er mich auch gegeben. Am besten wir fahren mit dem Zug. Thetford ist wirklich nicht um die Ecke“
„Dann sind die Aufgaben ja klar“, erwiderte ich und duckte mich unter einer fliegenden Bananenschale weg, die George auf der Suche nach seinen Comics weggeschleudert hatte. Keine Ahnung, was die im Papiermüll zu suchen hatte.
„Richtig“, sagte Lockwood und setzte sich schwerfällig auf, „George fährt ins Archiv, Holly bringt hier alles in Ordnung und wir beide Luce füllen die Vorräte auf. Außerdem meine ich mich zu erinnern, dass wir heute Abend irgendeinen Termin haben…“, bevor er weiter den Tag durchplanen konnte, hörten wir, wie die Haustür aufging.
Das an sich war nicht beunruhigend, denn wir hatten Holly einen Zweitschlüssel anfertigen lassen, damit sie uns morgens nicht aus dem Schlaf klingelte. Mit dem Schrei, der nach dem Eintreten folgte, hatten wir nicht gerechnet.
Überrascht stürmten wir in die Diele und sahen, wie Holly im eleganten weißen Mantel und dunkelroten Rock bestürzt durch die Küchentür spähte.

„Was ist denn hier passiert?“, fragte sie streng statt einer Begrüßung.
Ich spürte, wie meine Kollegen instinktiv die Köpfe einzogen und tat es ihnen gleich. Männer spürten, wenn ein Donnerwetter nahte.
Als keiner von uns antwortete, schnaubte Holly bloß: „Da drinnen sieht es aus wie nach dem ersten Weltkrieg!“
„Eher der zweite…“, murmelte George halblaut, doch Holly überhörte ihn: „Da bin ich einmal für drei Tage bei meinen Eltern, und ihr schafft es in diesem kurzen Zeitraum mehr Müll zu produzieren, als eine zehnköpfige Familie in drei Wochen!“, sie spinkste über unsere Schultern hinweg ins Wohnzimmer, das nach Georges Müll-Wühl-Aktion nicht besser aussah als die Küche, „Warum liegt da eine Bananenschale auf dem Sofa?“
Lockwood schnellte geistesgegenwärtig nach vorn, nahm Holly den Mantel ab und hing ihn geschickt über die Kommode. Währenddessen schloss George unauffällig mit dem Fuß die Verbindungstür.
„Wir finden es auch super, dass du wieder da bist Holly! Aber wir haben nicht viel Zeit zu diskutieren, wir haben gerade einen neuen Auftrag reinbekommen und viel zu tun! George fährt in zehn Minuten ins Archiv und Luce und ich zu Mullet, um unsere Ausrüstung aufzufü - !“, er verstummte, als er Hollys vernichtenden Blick bemerkte. Innerlich grinste ich. Wer hätte gedacht, dass es unsere Sekretärin irgendwann schaffte, Lockwood mit einem Blick zum Schweigen zu bringen? Wohl niemand. Allerdings hatte ich ja auch erst vor zwei Wochen bemerkt, dass tief in ihr eine Verrückte steckte. Womit sie uns wohl als nächstes überraschte?
Wahrscheinlich damit, dass sie uns alle umbrachte, denn ihr Blick in diesem Moment verhieß wirklich nichts Gutes.
Wir schluckten. Jetzt kam wohl die verdiente Standpauke.

Wie ihr sicher wisst, bereitet sich jeder Mensch unterschiedlich auf ein Donnerwetter vor. Manche setzen sich, manche atmen einmal tief durch und andere versuchen, den Schreienden zu ignorieren.
Auch wir drei hatten unsere verschiedenen Methoden: Lockwood lehnte sich mit verschränkten Armen und gespielt schuldbewusstem Blick gegen die Wand. George versuchte, sich hinter mir zu verstecken (was ihm natürlich nicht gelang) und ich ließ mir sofort alle Argumente, die unsere Faulheit verteidigten, durch den Kopf gehen.

Holly blickte von einem zum anderen, holte tief Luft, überlegte und pustete sie dann aus den Wangen wieder heraus: „Wisst ihr was? Eigentlich hab ich’s nicht anders erwartet“, sie warf uns trotzdem finstere Blicke zu, „Wenn ihr unbedingt losmüsst, räume ich halt auf“
Lockwood und ich warfen uns überraschte und erleichterte Blicke zu und George versuchte, sich unauffällig ins Wohnzimmer zu stehlen. Leider passte er nicht durch den schmalen Türschlitz.
„Aber“, setzte Holly noch triumphierend hinzu und wir alle erstarrten in unseren Bewegungen, „Vorher bringt ihr den Müll raus!“
Wir stöhnten alle drei gleichzeitig auf. In unseren Augen war eine eigentlich einfache Aufgabe, wie zum Beispiel den Müll in die Tonne zu bringen, schlimmer als vor einer Horde Widergänger davonzulaufen. Aber wenn diese kleine Unannehmlichkeit bedeutete, dass wir nicht beim Aufräumen helfen mussten, nahmen wir sie in Kauf. Trotzdem schlurften wir anschließend durchs Haus, als würden wir zum Galgen geführt werden.
Holly zog aufgrund unseres Verhaltens die gezupften Augenbrauen hoch, sagte jedoch nichts.

Eine halbe Stunde später standen wir uns in der Diele wieder gegenüber. Diesmal jedoch angezogen.
Ich hatte mich für meine üblichen Leggins mit Rock und Pulli entschieden, Lockwood trug einen seiner zahllosen Mäntel und George eine unaussprechliche Kombination aus Trainingsjacke und dazu passender viel zu großer Hose mit alten Turnschuhen. Darüber hinaus sahen all seine Klamotten aus, als seien sie aus den Achtzigern.
„Wieso ziehst du eigentlich immer Trainingssachen an?“, fragte ich, während ich unseren Archivar abschätzig musterte, „Du hast doch noch nie in deinem Leben Sport gemacht“
„Kümmer dich um deinen eigenen Kram Luce“, antwortete George gelassen und zog sich seine ausgebeulte, braune Jacke über die ockergelbe Anzug-Kombination, „Und wenn ich das mal so sagen darf, du bist auch nicht gerade ein Mode-Wunder. Grauer Rock, grauer Pulli, graue Jacke, das nenne ich nicht gerade stilsicher. Nimm dir lieber mal ein Beispiel an Holly“, mit diesen Worten verschwand er ganz schnell aus der Tür, bevor ich mich wütend auf ihn stürzen konnte.

„Bereit?“, Lockwood steckte seinen Kopf durch die Küchentür und drehte mich mit einem strahlenden Lächeln zu ihm um: „Von mir aus kann’s losgehen!“

Er grinste mich ebenfalls an und ging an mir vorbei zur Tür und hielt sie für mich auf. Allein diese kleine Geste machte mich glücklicher, als ich es in den vier Monaten meiner Solo-Karriere gewesen war. Die letzten drei Wochen, die ich wieder mit meinen Kollegen (inzwischen zählte ich Kipps dazu) verbracht hatte, hatten mir vor Augen geführt, dass ich in die Portland Row Nummer 35 gehörte. Und natürlich auch an die Seite von Lockwood. Unser Besuch auf der anderen Seite der Kette im Rotwell Institut hatte mir neuen Mut eingeflöst. Vielleicht hatte der Maskenjunge mir ja eine Zukunft offenbart, in der ich nicht an Lockwoods Seite gewesen war, und er deshalb gestorben war. Oder vielleicht hatte der Geist mir auch nur Angst machen wollen? Aber wenn Lockwood und ich es zusammen sogar schafften, aus einer toten Welt zu fliehen, was konnte uns dann noch aufhalten?
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