Die Bürde der schwarzen Magier III - Das Heiligtum von Yukai
von Lady Sonea
Kurzbeschreibung
Anderthalb Jahre nach dem Massaker von Arvice ist Sonea noch immer gebrochen von ihrer Erfahrung mit Marika. Sachaka steht derweil gebeutelt von Kämpfen am Rande des Ruins. Als die Situation eskaliert und Kyralia erneut in Gefahr gerät, sind sich die Anführer der Kriegsparteien einig, dass nur noch Verhandlungen den Konflikt beenden können. Als Vermittler fordern sie den Mann, dessen Ruf sich bis über die Grenzen der Verbündeten Länder hinaus verbreitet hat: Auslandsadministrator Dannyl. Gegen den Willen des Hohen Lords entscheidet Sonea, Dannyl zum Ort der Verhandlungen, einem alten Tempel in der Wüste von Duna, zu eskortieren. Doch die Konferenz wirft ihre Schatten voraus und das nicht nur, weil Sonea sich wieder mit ihrer Vergangenheit konfrontiert sieht. Schon bald bemerken sie und Dannyl, dass jede Partei ihr eigenes Spiel spielt, und sie müssen die richtigen Verbündeten finden, um zu die drohende Katastrophe zu verhindern …
GeschichteAbenteuer, Fantasy / P18 / Mix
Hoher Lord Akkarin
Lord Dannyl
Lord Dorrien
Lord Rothen
Regin
Sonea
02.08.2016
04.06.2019
56
813.938
87
Alle Kapitel
290 Reviews
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Dieses Kapitel
11 Reviews
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09.08.2016
16.155
Hallo ihr Lieben,
Damit wären wir dann beim ersten regulären Kapitel. In diesem findet ein Ereignis statt, das für einige der Charaktere sowohl bedeutsam, als auch eine Grundvoraussetzung für ihre Entwicklung in dieser Geschichte ist.
Vielen lieben Dank an Okamii und Lady Jackie für die Reviews zum Prolog! Und ganz herzlichen Dank auch für die Empfehlungen <3
Ich hoffe, dass der Prolog auch dem Rest von euch einigermaßen gefallen hat, auch wenn keiner der Canoncharaktere darin seinen Auftritt hatte. Mir ist erst im Laufe der vergangenen Woche aufgegangen, dass ein Prolog ohne die Lieblingsfiguren vielleicht nicht so der Bringer sein könnte. Allerdings hätte es nichts an meiner Wahl geändert, weil ich die Szene mit Ivasako nicht grundlos gewählt habe.
Dafür kommen in diesem Kapitel ausschließlich Canoncharaktere zum Zuge :)
Zuletzt möchte ich noch ganz herzlich meinen lieben Testleserinnen für ihre großartige Arbeit und ihr Feedback zu den bisher gelesenen Kapiteln, ihre Ideen und ihre Geduld mit mir danken. Und weil sie Dinge sehen, die mir schon nicht mehr auffallen <3
Jedes Jahr, wenn der Winter Kyralia am festesten in seinen eisigen Griff geschlossen hatte, und die Winterstürme über Imardin fegten und die Dächer, Kuppeln und Türme der Stadt mit einer dichten Decke aus Schnee bedeckten, die sogar die Hüttenviertel in einem märchenhaften Glanz erstrahlen ließ, fand in der Gilde der Magier ein bedeutsames Ereignis statt: Die Abschlusszeremonie der Novizen aus der Winterabschlussklasse.
In diesem Jahr war es nicht anders. Dichter Schnee fiel aus tiefhängenden Wolken und begrub die Universität und das Gelände der Gilde unter einem dichten weißen Teppich. Lange Eiszapfen hingen von den Bögen und Fenstern des Universitätsgebäudes und der Magierquartiere herab und Erstsemesternovizen befreiten jeden Morgen die Wege von Eis und Schnee, die bis zu ihrer Abendschicht erneut eingeschneit waren.
„Wann werden sie uns endlich einlassen?“ Ungeduldig wippte Trassia auf ihren Zehenspitzen auf und ab. „Müssen sie erst noch beraten, wer von uns bestanden hat?“
„Das haben sie doch schon längst entschieden.“ Ihr Freund griff ihre Hände und zog sie zu sich, bis sie einander gegenüber standen. „Glaub mir, wäre es anders, hätte Sonea uns längst vorgewarnt.“
Sonea begnügte sich damit, Regin einen finsteren Blick zuzuwerfen. Warum mussten alle nur eine so große Sache aus diesem Tag machen?
„So ist es doch, oder?“, fügte ihr Freund mit offenkundiger Unsicherheit hinzu.
„Ich weiß nicht mehr als ihr“, antwortete Sonea.
Regin bedachte sie mit einem feixenden Blick. „Nutzt du denn nicht deine ’speziellen’ Beziehungen zu gewissen Magiern in der Führung der Gilde, um an Informationen solcher Art zu gelangen?“
Sonea verschränkte die Arme vor der Brust. So höflich und galant ihr Freund anderen Novizinnen gegenüber sein mochte, so würde die Hassliebe zwischen ihnen beiden ewig währen. In ihrem ersten Jahr waren sie erbitterte Todfeinde gewesen, bis sie Regin vor der gesamten Gilde eine Lektion erteilt hatte. Rückblickend fand sie es noch immer schwer zu glauben, dass sie inzwischen Freunde waren.
„Das ist genau das, was alle von mir erwarten“, gab sie zurück. „Ich sehe nicht ein, ihnen diesen Gefallen zu tun.“
Ein hochgewachsener Novize aus Lan begann zu lachen. „Du tätest besser daran, sie nicht noch weiter zu reizen, Regin. Sonst wirst du nicht mehr erleben, wie es ist, von allen Lord Regin genannt zu werden.“
Lord Regin … Sonea unterdrückte ein Schnauben. Sie fand, Regin war schon jetzt eingebildeter als ihm guttat.
Die Augen ihrer besten Freundin hatten sich bei Hals Worten indes vor Entsetzen geweitet. „Du wirst ihm doch nichts tun, nicht wahr, Sonea?“, fragte sie.
„Wenn er es darauf anlegt, dann kann er das gerne haben.“ Sonea musterte ihren Freund kühl. „Was wäre dir lieber Regin? Eine Niederlage beim Kyrima oder eine öffentliche Demütigung in der Arena?“
„Ich würde doch niemals etwas tun, um deinen Zorn zu erregen, verehrteste Sonea“, erwiderte Regin schmeichelnd.
Sonea verdrehte die Augen und wandte sich ab. Mit zwei Jahren über dem Altersdurchschnitt ihrer Klassenkameraden hatte sie sich schon zu Beginn ihres Studiums als zu alt für derlei Kindereien empfunden. Die fünf Jahre, die seit dem vergangen waren, hatten dieses Gefühl auf unerfreuliche Weise verstärkt. Daran trugen jedoch weniger Regin oder der Mann, der sie nach nur wenigen Monaten ihrem damaligen Mentor weggenommen hatte, die Schuld als das, was danach geschehen war.
Nachdem Sonea anderthalb Jahre unter dem Dach des Hohen Lords in dem Glauben gelebt hatte, er hätte sie zu seiner Novizin gewählt, damit sie Stillschweigen über sein finsteres Geheimnis bewahrte, hatte er sie schließlich in dieses eingeweiht. Die wahren Gründe, aus denen Akkarin schwarze Magie praktizierte, hatten Soneas schlechte Meinung über ihn komplett auf den Kopf gestellt und sie dazu gebracht, das einzig Richtige zu tun: sich Akkarin und seinem heimlichen Kampf anzuschließen.
Von da an hatte das Unheil seinen Lauf genommen. Ihre Entdeckung durch die höheren Magier hatte ihrem Untergrundkampf ein jähes Ende bereitet und die Schwäche der Gilde ihren Feinden offenbart. Die kleine Gruppe aus der Gesellschaft ausgestoßener Sachakaner, die Kyralia daraufhin angegriffen hatte, war nur ein Vorbote des Krieges gewesen, in dem die Gilde sich inzwischen befand. Denn das Wissen, dass in der Gilde schwarze Magie verboten war, hatte den Sachakanern die Chance geboten, Rache für einen vor langer Zeit verlorenen Krieg zu üben. Seitdem hatte die Gilde zahlreiche Verluste eingesteckt, darunter auch Magier und Novizen, die Sonea gekannt und gemocht hatte.
Am meisten von alldem quälten Sonea jedoch die Umstände, durch die dieser Krieg zu ihrem und Akkarins persönlichem Krieg geworden war.
Während Sonea ihre Klassenkameraden betrachtete, fragte sie sich, ob sie diese ganze Aufregung um den heutigen Tag besser verstehen könnte, wäre ihr Studium ohne all diese unerfreulichen Zwischenfälle verlaufen. Seit ihrer Aufnahme in die Gilde hatten sie gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Egal wie gut, oder wie schlecht sie und ihre Klassenkameraden bestanden hatten – sie alle würden ab morgen richtige Magierroben tragen. War das so spektakulär?
Vielleicht ist es anders, wenn man fünf Jahre lang Novizenroben getragen hat, überlegte sie. Bei ihrer und Akkarins Wiederaufnahme hatte die Gilde entschieden, dass sie unabhängig von ihrem Ausbildungsstatus und der später gewählten Disziplin, schwarze Roben tragen musste und dass diese bis zu den Knöcheln reichen sollten – als stumme Erinnerung an was sie war. Zu Beginn hatte Sonea sich damit gebrandmarkt gefühlt, inzwischen hatte die Gilde sie jedoch akzeptiert und brachte ihr einen Respekt und eine Loyalität entgegen, von der sie nicht glaubte, es verdient zu haben.
„Oh, ich kann es kaum erwarten, endlich grüne Roben zu tragen.“ Neben ihr stieß Trassia einen schwärmerischen Seufzer aus. „Davon habe ich geträumt, seit ich erfahren habe, dass ich magisches Potential habe.“
Sonea verspürte einen schmerzvollen Stich. Insgeheim empfand sie einen leisen Neid, weil ihre Freundin ihren Traum verwirklicht hatte. Auch sie hatte einst den Wunsch gehabt, Heilerin zu werden. Es war einer der Gründe gewesen, warum sie der Gilde überhaupt beigetreten war. Aber dann hatte sich alles geändert …
Wenn sie an diese ersten Wochen zurückdachte, erfüllte es Sonea noch immer mit Entsetzen, wie sehr sich alles seitdem geändert hatte. Wie sehr sie sich verändert hatte. Sie hatte Dinge erlebt, die sie nicht einmal ihrem schlimmsten Feind wünschte. Bis auf eine Ausnahme. Und dieser Mann hatte bekommen, was er verdient hatte. Einen tiefen Atemzug nehmend schob Sonea die Bitterkeit beiseite und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart.
An vielen Tagen fiel es ihr noch immer schwer, nicht an ihre Erlebnisse während des Krieges zu denken. Dann kostete es sie all ihre Kraft, vor den anderen Magiern und Novizen vorzugeben, sie wäre wohlauf. Sie wusste, sie würde in Erklärungsnot geraten, würde sie ihrer Maske auch nur einen Augenblick nachgeben und jemand nachhaken. Tatsächlich gab es nur einen, der wusste, was ihr wirklich in diesen sechs Monaten in Arvice widerfahren war. Aber er war auch der Einzige, vor dem Sonea sich für nichts zu schämen brauchte.
Die Türen der Gildenhalle schwangen auf und ein einzelner Magier, dessen Robe eine braune Schärpe trug, trat heraus. Sonea und ihre Klassenkameraden fuhren herum. Neben ihr hielt Trassia den Atem an.
„Verehrte Absolventen.“ Ein ungewohntes Lächeln hatte sich auf Rektor Jerriks Gesicht ausgebreitet. „Es ist soweit. Stellt euch alphabetisch in einer Reihe auf.“
Trassia verzog das Gesicht und löste sich zögernd von Regin, um den Platz hinter Sonea einzunehmen, während Seno sich zwischen sie und Regin schob. Sonea unterdrückte ein Seufzen. Was war nur mit allen Pärchen, dass sie sich benahmen, als wären sie zusammengewachsen?
„Für seine Verhältnisse hat er heute ziemlich gute Laune“, hörte sie Hal murmeln.
„Das kommt daher, dass er sich nach heute nicht mehr über uns ärgern braucht“, murmelte Benon ebenso leise.
„Nur, dass er dafür neue Novizen bekommt, über die er sich die nächsten fünf Jahre ärgern darf“, fügte Regin hinzu.
Der Rektor räusperte sich vernehmlich. „Ich muss doch sehr bitten.“
Auf Jerriks Zeichen folgten sie ihm in die Gildenhalle. Beim Anblick der überfüllten Sitzreihen verspürte Sonea eine jähe Panik. Es bedurfte außergewöhnlicher Anlässe, die gesamte Gilde zusammenzubringen. Eine Abschlusszeremonie erregte selten so viel Aufsehen, meistens kamen die Lehrer und die Familien der Absolventen und einige neugierige Magier. Dieses Mal war es jedoch anders und Sonea ahnte, das lag vor allem daran, dass sie unter den Absolventen war.
Sei nicht albern!, schalt sie sich. Du warst schon öfter hier als deine Klassenkameraden und das zu weitaus unerfreulicheren Anlässen.
Ihr Unbehagen beiseiteschiebend bemühte sie sich um einen neutralen Gesichtsausdruck und versuchte, die Zuschauer zu ignorieren. Ihren Blick fest auf die Empore und die höheren Magier gerichtet, schritt sie hinter Seno durch die Reihen von Magiern und Angehörigen der anderen Absolventen. Ihr Blick huschte flüchtig zu ihrem ersten Mentor, der ihr zuzwinkerte, und blieb dann bei dem Mann in den schwarzen Roben hängen, der direkt unter dem Stuhl des Königs saß. Als sich ihre Blicke begegneten, verzog sich sein Mund zu einem vertrauten Halblächeln.
Sonea spürte einen unwillkürlichen Schauer ihre Wirbelsäule hinab laufen. Sie senkte den Blick auf die Spitzen ihrer Stiefel, wohlwissend, dass er sie nicht aus den Augen lassen würde und mit der leisen Befürchtung, dass es ihn insgeheim amüsierte, weil sie noch immer so auf ihn reagierte.
Vor den höheren Magiern blieben die Absolventen stehen und stellten sich in einer Reihe auf. Rektor Jerrik trat vor sie und musterte sie über seine Hakennase hinweg mit einem Blick, der so etwas wie Wohlwollen ausdrücken sollte.
„Fünf Jahre ist es nun her, dass die meisten von Euch zuletzt hier standen und bei ihrer Aufnahmezeremonie die Roben erhielten, die ihr heute tragt, und euren ersten Eid gesprochen habt. Fünf Jahre, in denen ihr viel erlebt und gelernt und Eure Disziplinen gewählt habt.“ Sein Blick fiel auf Regin und Sonea. „Einige von euch stießen erst später zu dieser Klasse hinzu. Und obwohl ihr euch während des Krieges auseinanderentwickelt habt und einige von Euch in ihrem letzten Jahr nur noch Privatunterricht erhielten, steht ihr nun doch wieder alle zusammen hier.“
Das stimmte nicht ganz, wusste Sonea. Poril, der während ihres ersten Jahres in dieser Klasse gewesen war, hatte das Jahr wiederholen müssen. Sie hatte gehört, dass er es inzwischen ins dritte Jahr geschafft hatte. Bei diesem Tempo würde er mindestens noch fünf weitere Jahre brauchen, bis er hier stehen durfte. Aber wahrscheinlich war es leichter, das Unschöne an einem solchen Tag zu ignorieren.
„Heute werden eure Mentoren euch aus ihrer Obhut entlassen“, fuhr Jerrik fort. „Diejenigen, die keinen Mentor haben, werden von mir entlassen. Anschließend werdet ihr die Roben der Disziplin, die ihr erwählt habt, erhalten. Von heute an seid ihr keine Novizen mehr, sondern Magier und Magierinnen unserer Gilde.“
Jerrik machte eine Handbewegung zu einer der nächsten Sitzreihen. Ein Novize mit einem Tablett, auf dem acht lederne Mappen lagen, eilte mit eifriger Miene herbei.
„Ich werde nun die Abschlusszeugnisse verteilen“, teilte der Rektor ihnen mit.
Anfangen mit Benon traten die Absolventen vor Jerrik, der diesen eine der Mappen überreichte. Mit jedem Absolventen wechselte der Rektor einige Worte und schüttelte ihm die Hand. Nach Hal folgte Trassias erster Freund Narron, der wie Soneas Freundin die Heilkunst gewählt hatte.
„Regin von Winar, Haus Paren.“
Regins Brust schwoll an, als er auf Jerrik zu schritt. Sonea beobachtete, wie er seine Mappe entgegen nahm, sich bedankte und sich dann mit wichtigtuerischer Miene neben Narron stellte. Nach ihm kam Seno an die Reihe, der sich überschwänglich bei Jerrik bedankte.
„Sonea von Delvon, Haus Velan.“
Sonea zuckte zusammen. Auch nach fast zwei Jahren empfand sie es als seltsam, einem Haus anzugehören. Bei ihrer Aufnahmezeremonie war sie einfach nur Sonea gewesen und hatte sich insgeheim dafür geschämt. Der Name ’von Delvon’ erfüllte sie jedoch mit einem ungeahnten Stolz, denn für sie war es nicht irgendein Name.
Einen tiefen Atemzug nehmend trat sie auf den Rektor zu.
„Meinen Glückwunsch, Sonea.“ Mit einem übertrieben freundlichen Lächeln, von dem Sonea wusste, dass es ihr nur galt, weil Jerrik sowohl sie als auch ihren Mentor bis ins Mark fürchtete, überreichte er ihr ihre Mappe. „Du bist die Beste in dieser Abschlussklasse.“
„Ich danke Euch, Rektor Jerrik“, erwiderte sie sein Lächeln erwidernd. Ihre Überraschung war indes nur mäßig. Sie hatte hart gearbeitet, um den an sie gestellten Erwartungen gerecht zu werden und sich mit großem Eifer in die Prüfungsvorbereitungen gestürzt – mit dem positiven Nebeneffekt, dass sie weniger Zeit mit Grübeln und unerwünschten Gedanken verbracht hatte.
„Ich bitte nun die Mentoren der Absolventen zu mir, um die Novizen aus ihrer Obhut zu entlassen“, sprach Jerrik, nachdem auch Trassia und Yalend ihre Zeugnisse erhalten hatten.
Mehrere Magier lösten sich aus den Sitzreihen und bahnten sich ihren Weg zu den Novizen. Von der Empore stieg ein Mann in roten Roben herab. Als alle Mentoren vor ihren Novizen standen, erhob sich der schwarzgewandete Magier von seinem Platz, seine Roben ein wirbelnder Schatten, als er die Stufen hinab schritt und vor Sonea stehenblieb. Für einen langen Moment bohrten sich seine dunklen Augen in ihre. Dann legte er eine Hand auf ihre Schulter.
„Ich entlasse dich aus meiner Obhut, Sonea“, sprach er die obligatorischen Worte.
„Ich danke Euch für die Ausbildung, die Ihr mir gewährt und die Unterstützung, die Ihr mir gegeben habt, Hoher Lord“, erwiderte sie sich über den unsicheren Klang ihrer Stimme ärgernd.
Es war nur eine alberne Formel. Dennoch fühlte es sich an, als würde sich dadurch etwas zwischen ihnen für immer verändern. Sonea wusste nicht, ob sie diese Veränderung begrüßen sollte. Ich hätte nie gedacht, ich würde es einmal bedauern nicht mehr seine Novizin zu sein, fuhr es ihr durch den Kopf. Damals, in ihrem ersten Jahr, war sie nicht glücklich über den Wechsel ihres Mentors gewesen. Wo sie zu Rothen ein nahezu väterliches Verhältnis gepflegt hatte, hatte sie Akkarin gefürchtet und dafür gehasst, dass er sie von dem Mann, der sich ihrer von Anfang an angenommen hatte, getrennt hatte. Und obwohl sie schließlich erkannt hatte, dass Akkarin sie mehr förderte, als Rothen es je vermocht hätte, und sie schließlich aufgehört hatte, ihn zu hassen, hatte Sonea ihn in den folgenden Jahren oft genug für seine Härte verflucht. Ein Echo ihrer einstigen Furcht vor ihm war indes geblieben. Aber sie hatte sich in etwas verwandelt, das Sonea um nichts in der Welt missen wollte.
„Die Absolventen werden nun nacheinander ihren Eid als Magier sprechen“, teilte Jerrik den Anwesenden mit.
„Gib mir deine Mappe“, murmelte Akkarin hinter ihr.
Sonea wandte sich zu ihm um und übergab ihm ihre Mappe. Seine Hände berührten die ihren einen Augenblick länger als nötig. Es genügte, um ein vertrautes Kribbeln auszulösen.
„Ich bin die Beste in meinem Jahrgang“, erklärte sie ihm stolz.
Akkarin nickte kaum merklich. „Ich habe das Zeugnis auch unterschrieben.“ Er öffnete die Mappe und ließ sie einen Blick hineinwerfen. Neben Jerriks steifer Signatur erkannte sie Akkarins elegante Handschrift. Natürlich!, dachte Sonea. Der Hohe Lord war das Oberhaupt aller Magier. Also stand sein Name auf jedem Abschlusszeugnis.
„Dreh dich um“, murmelte Akkarin.
Ihm ein kurzes Lächeln schenkend gehorchte Sonea und beobachtete, wie ihre Klassenkameraden ihren Eid als Magier leisteten. Einige Teile davon entsprachen jenem Eid, den sie bei ihrer Aufnahmezeremonie geleistet hatten. Benon, Narron und Regin schworen ihn direkt dem König von Kyralia, der mit seinen beiden Beratern Lord Rolden und Lord Mirken an der Spitze der Empore saß, Hal, Seno und Yalend leisteten ihren Eid auf die Herrscher ihrer Heimatländer Lan, Vin und Elyne, die einen ihrer in Imardin stationierten Diplomaten geschickt hatten.
Obwohl Sonea in ihrer Vergangenheit schon mehrfach einen Eid hatte schwören müssen, darunter auch vor ihrem König, waren ihre Beine weich, als sie aus der Reihe der Absolventen trat und vor der Empore auf ein Knie ging. Als sie sprach, zwang sie sich zu einer klaren, ruhigen Stimme.
„Ich gelobe, niemals wissentlich einem Mann oder einer Frau zu schaden, es sei denn, dies geschieht zur Verteidigung der Verbündeten Länder. Dies beinhaltet Männer und Frauen aller Klassen und jeden Alters. Von heute an werde ich von allen politischen Fehden meines Hauses mit anderen Häusern Abstand nehmen.“
Das ist doch albern, dachte sie. Was interessieren mich die Streitigkeiten von Haus Velan mit anderen Häusern? Ein Schnauben unterdrückend fuhr sie fort:
„Ich gelobe, den Gesetzen der Gilde zu gehorchen und dem König meines Landes Kyralia zu dienen.“
Und er hat der einzige König zu sein, dem ich diene.
Sonea machte eine Pause und holte tief Luft. Der nächste Teil würde als einziger nur von ihr gesprochen werden. Ohne hinzusehen, wusste sie, dass sämtliche Blicke in der Gildehalle auf sie gerichtet waren und sie spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte.
„Ich gelobe, die mir bekannten bösen Formen von Magie nur zur Verteidigung der Verbündeten Länder und nur auf Befehl meines Königs zu verwenden und mein Wissen darüber friedlich und gewaltfrei zu erweitern, um die Gilde und die Verbündeten Länder vor unseren Feinden zu bewahren.“
Als sie geendet hatte, wurde sie sich der Stille in der Gildehalle bewusst. Sonea wusste, alle Augen waren auf sie gerichtet. Entschlossen verdrängte sie ihr Unbehagen. Sie sah zu dem Mann an der Spitze der Empore, der sie mit seinen grünen Augen eingehend musterte.
„Erhebt Euch, Lady Sonea“, sprach er.
Mit klopfendem Herzen erhob Sonea sich. Nur mit Mühe widerstand sie dem Drang, ihre feucht gewordenen Handflächen an ihrer Robe abzuwischen. Ihr Blick fiel auf Rothen, der ihr ein aufmunterndes Lächeln schenkte. Etwas ruhiger kehrte sie zurück auf ihren Platz.
„Du warst sehr gut“, murmelte Akkarin hinter ihr.
Sonea wandte den Kopf. Statt einer Antwort brachte sie nur ein verlegenes Lächeln zustande.
Nachdem auch Trassia und Yalend ihren Eid gesprochen hatten, trat ein weiterer Novize mit einem Stapel aus roten, grünen und purpurfarbenen Stoffen und einer schwarzen Lage Stoff neben den Rektor.
Sonea runzelte die Stirn. Sie hatte bereits Magierroben. Warum bekam sie neue? Als die Gilde Akkarin erneut zu ihrem Oberhaupt erwählt hatte, war ihre schwarze Schärpe durch eine braune ausgetauscht worden, um ihren Rang von dem ihres Mentors abzuheben. Gemäß dieser Logik brauchte sie nun nur eine Schärpe in der Farbe der von ihr gewählten Disziplin: Rot.
Wenn Sonea darüber nachdachte, dann empfand sie es als eine seltsame Ironie, dass Schwarz seit Jahrhunderten die Farbe des Hohen Lords war. Bis Akkarins Geheimnis ans Licht gekommen war, hatte niemand das in Frage gestellt. Nach ihrer beider Wiederaufnahme hatte die Gilde jedoch entschieden, dass schwarze Roben von schwarzen Magiern getragen werden sollten und dass der Hohe Lord von nun an Weiß trug. Akkarins Wiederwahl hatte die Diskussion um die Farben der Roben erneut entfacht. Er hatte das Weiß kategorisch abgelehnt und man hatte sich schließlich darauf geeinigt, dass der Hohe Lord als einziger schwarzer Magier auch eine schwarze Schärpe tragen durfte. Sonea fragte sich indes, was geschehen würde, wenn der nächste Hohe Lord kein schwarzer Magier war.
„Das Incal“, sagte Akkarin leise hinter ihr. „Oder willst du es weiterhin tragen?“
Soneas Blick fiel auf das kleine Symbol, das mit Goldfäden auf ihren Ärmel gestickt war und dass sie als Novizin des Hohen Lords auszeichnete: die von einem Y geteilte Raute – das Incal der Gilde. Sie hatte sich so daran gewöhnt, es zu tragen, dass es ihr nicht mehr auffiel. Jetzt, wo sie aufgehört hatte, Akkarins Novizin zu sein, stand es ihr jedoch nicht mehr zu. Schließlich war sie nicht die Hohe Lady.
Der Rektor blieb mit seinem Gehilfen vor ihr stehen. Nur noch drei Roben waren übrig. Eine grüne, eine purpurfarbene und eine schwarze.
„Lady Sonea, es ist mir eine Ehre, Euch Eure Roben zu überreichen.“ Jerrik nahm die oberste Robe von dem Stapel und reichte sie ihr.
„Ich danke Euch, Rektor“, erwiderte sie und nahm das Bündel aus schwarzem Stoff entgegen, in das ein breites Stück tiefroter Stoff eingefaltet war. Etwas Goldenes fing ihren Blick ein. Es war jedoch nicht das Incal der Gilde, es war eine Hand und eine Sichel. Soneas Atem stockte. Das alte Symbol für schwarze Magie.
„Aber das geht nicht ...“, stammelte sie.
„Für die Leiterin der schwarzmagischen Studien ist das durchaus angemessen“, erklang eine tiefe Stimme hinter ihr.
Sonea wandte sich um und starrte Akkarin an. Sie fühlte sich bevorzugt. Sie war unsicher, was sie davon halten sollte, weil sie nicht wusste, ob er seinen Einfluss geltend gemacht hatte oder ob die höheren Magier das in einem Akt des Mitleids beschlossen hatten.
„Es ist weder das Eine noch das Andere“, sagte Akkarin.
Sie betrachtete ihn mit schmalen Augen, weil er schon wieder ihre Oberflächengedanken gelesen hatte. „Sondern?“
„Das Symbol soll deine einzigartige Position in der Gilde betonen“, erklärte er ihr. „Deine Forschung könnte unser Überleben sichern.“
Sonea nickte. Nach ihrer Wiederaufnahme war für Akkarin das Amt des Leiters der schwarzmagischen Studien geschaffen worden, weil die Gilde erkannt hatte, dass sie seine Hilfe angesichts des drohenden Krieges brauchten. Sonea hatte ihm assistiert und das Amt schließlich nach seiner zweiten Wahl zum Hohen Lord übernommen. Allerdings hatten ihre Experimente seitdem geruht, weil die Abschlussprüfungen wichtiger gewesen waren und die Verbündeten der Gilde die Situation mit Sachaka unter Kontrolle hatten. Nichtsdestotrotz wäre die Gilde dumm, würde sie nicht Vorkehrungen treffen, um auch ohne Verbündete möglichst wehrhaft zu sein.
Nachdem alle Roben verteilt waren, erklärte Jerrik die Zeremonie für beendet. Die Freunde und Familien der Absolventen verließen ihre Plätze, um den neuen Magiern zu gratulieren. Die höheren Magier und einige Lehrer kamen vor die Empore und sprachen Sonea ihre Glückwünsche aus. Sogar König Merin und seine beiden Berater gratulierten ihr. Sonea spürte, wie sich etwas in ihr löste. Diese Menschen gratulierten ihr nicht wegen ihres Mentors oder aus Mitleid, sondern weil sie sich für sie freuten. Und irgendwie bedeutete ihr das bei Merin mehr als bei allen Magiern zusammen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Sonea den König von Kyralia gehasst hatte. Seitdem hatte Merin jedoch viel für sie und die Menschen, die ihr wichtig waren, getan. Verglichen mit anderen Herrschern, mit denen sie das zweifelhafte Vergnügen gehabt hatte, war er kein so übler König, fand sie.
Zuletzt fand Sonea sich einem purpurgewandten Magier gegenüber, dessen graues Haar nur noch Spuren seines einstigen Schwarz zeigte.
Sein Anblick löste ein plötzliches Gefühl von Wärme aus.
„Herzlichen Glückwunsch, Sonea!“, rief er und umarmte sie. „Wahrhaftig, du hast es geschafft!“
Sonea rang nach Luft. „Danke, Rothen.“
„Und Jahrgangsbeste! Wahrhaftig!“
Sie winkte verlegen ab. „Das hat weniger mit meinem Ehrgeiz als mit den hohen Ansprüchen meines Mentors zu tun.“ Sie löste sich von ihm und wandte sich zu Akkarin. „Ich fürchte, ich muss Euch dafür danken.“
Auch wenn ich dich deswegen oft verflucht habe, fügte sie in Gedanken hinzu.
Akkarins Mundwinkel zuckten. „Alles andere wäre eine Verschwendung deines Potentials gewesen“, erwiderte er trocken.
Sonea verkniff sich eine passende Erwiderung. Das hatte Zeit bis später.
„Du kommst doch heute Abend zum Essen?“, wandte sie sich wieder an Rothen. Ein absurder Teil von ihr fürchtete, er würde absagen. Wenn er schon nicht derjenige war, aus dessen Obhut sie heute entlassen worden war, dann wollte sie ihn wenigstens irgendwie daran teilhaben lassen. Sie hatte ihm viel zu verdanken. Er hatte sie Lesen und Schreiben gelehrt und viel Geduld investiert, damit sie sich wie eine junge Frau aus den Häusern benahm. Was auch geschehen war – er hatte nie aufgehört, zu ihr zu halten. Und er hatte ihr gezeigt, wie sie ihre Magie kontrollieren konnte. Sie hatte ihm zu verdanken, dass sie überhaupt hier war.
Zu ihrer Erleichterung lächelte Rothen. „Natürlich werde ich kommen.“ Seine hellblauen Augen zwinkerten. Er sah zu Akkarin. „Eine Einladung des Hohen Lords und seiner Frau sollte man schließlich nicht ausschlagen.“
„Man tut besser daran, es nicht zu tun“, stimmte Akkarin zu.
„Wir kommen natürlich auch.“ Trassia und Regin waren zu ihnen getreten, ihre Zeugnismappen und Roben unter den Arm geklemmt. Zu Soneas Erheiterung hielten sie schon wieder Händchen. „Doch jetzt müssen wir gehen. Wir müssen noch unsere Zimmer im Novizenquartier räumen und unser neues Apartment beziehen“, erklärte Trassia strahlend. „Oder besser gesagt: Wir müssen darauf achten, dass die Diener alles richtig einpacken.“
Sonea lächelte. Jetzt wo ihre beiden Freunde Magier waren, konnten sie offiziell zusammenleben. Sie verstand Trassias Vorfreude daher nur allzu gut. Es war so viel besser, als jeden Morgen alleine aufzuwachen. Ein wenig bedauerte sie jedoch auch, dass es bei ihr niemals eine bewusste, gemeinsame Entscheidung gewesen war. Aber es war auch eine völlig andere Ausgangssituation gewesen.
„Wenn ihr zu spät kommt, weiß ich Bescheid“, bemerkte sie trocken.
Rothen kicherte.
Ihre Freundin erröte schlagartig. „Daran hatte ich gar nicht gedacht!“, rief sie entsetzt.
Sonea heuchelte ein verständnisvolles Nicken. Sie war nicht sicher, ob sie Trassia das glauben sollte.
Ihre Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als sich aus den sich leerenden Sitzreihen ein unscheinbarer junger Mann löste und sich zwischen den herumstehenden Gruppen von Magiern und Gästen seinen Weg zu ihnen bahnte. Er trug die Uniform der Stadtwache mit dem Abzeichen eines Captains darauf.
„Cery!“, sie löste sich von Akkarins Seite und eilte auf ihren Freund aus Kindertagen zu. „Du bist gekommen!“
„Auch wenn du für mich nicht mehr oder weniger Magierin bist als vorher, wollte ich mir das nicht entgehen lassen.“ Lachend umarmte Cery sie und klopfte sie auf die Schulter. „Muss ich jetzt ’Lady’ sagen und mich vor dir verneigen?“
„Untersteh’ dich!“, rief sie und drohte ihm mit dem Zeigefinger.
Cery hob die Schultern. „Ich versteh’ sowieso nicht, wieso sie so ’ne steife Zeremonie veranstalten, nur damit ihr Magier richtige Roben tragen dürft.“
„Diese steife Zeremonie markiert den Zeitpunkt, ab dem das Studium vorbei ist“, erklärte Sonea. „Für die meisten Novizen ist das ein Anlass zur Freude.“
„Wenn ich ’n Magier wäre, dann würde ich so viel lernen, wie ich könnte. Das muss doch unglaublich spannend sein!“
„Nicht, wenn man ein verwöhnter Sprössling der Häuser ist“, murmelte Sonea.
Cery lachte. „Hai!“, rief er. „Dann kann die Gilde froh sein, dass sie dich hat!“
Sonea schnaubte leise. „Komm“, sagte sie dann und zog ihn zu den anderen.
„Ceryni“, grüßte Akkarin, als sie die kleine Gruppe erreicht hatten. „Wie geht es deiner Familie?“
Cery deutete eine Verneigung an. Sonea wusste, er tat das weniger wegen Akkarin als wegen der anderen Magier. Als ehemaliger Dieb war er zu stolz, um vor der Gilde Demut zu zeigen. „Die Kinder schreien und machen ihre Windeln voll. Nenia und ich haben seit Monaten keine Nacht durchgeschlafen.“
Die kleine Tessia war vor wenigen Wochen mitten während Soneas Prüfungsphase zur Welt gekommen. Errin war mittlerweile fast ein Jahr alt und aus der schlimmsten Schreiphase heraus, dafür jedoch umso aktiver und entdeckungswütiger. Sonea wollte sich nicht ausmalen, wie anstrengend das für Cery und seine Frau zusammen mit einem zuwendungsbedürftigen Neugeborenen sein musste.
„Der ganz normale Wahnsinn also“, bemerkte sie.
Ihr Freund nickte grinsend. „Du kennst das ja.“ Dann wurde er wurde er wieder ernst. „Und deswegen kann ich auch heute Abend nicht kommen. Nenia’s mit den beiden Bälgern und dem Geschäft überfordert und ich kann ihr nur helfen, wenn ich dienstfrei hab’.“
„Das macht nichts“, sagte Sonea. „Kommt vorbei, wenn die Kinder etwas ruhiger sind. Oder ich besuche euch, sobald ich wieder Zeit habe.“
Und vielleicht ist das auch besser so, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie wollte einen heiteren Abend mit Freunden verbringen, doch sie brauchte nur an Regin und seine Abneigung gegenüber den Hüttenleuten zu denken, um zu ahnen, dass es mit ihm und Cery an einem Tisch nicht lange gutgehen würde. Sie bedachte ihren einstigen Widersacher mit einem prüfenden Seitenblick. Jetzt mochte er sich noch gleichgültig geben, doch Sonea kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er das keinen ganzen Abend durchhielt.
Sie spürte, wie Akkarin eine Hand zwischen ihre Schulterblätter legte.
„Wir sollten gehen. Es gibt noch einiges zu tun, bis unsere Gäste kommen.“
So wie für Trassia und Regin?, dachte Sonea amüsiert. Insgeheim verlangte es ihr jedoch nach der Stille und dem Frieden in der Residenz. Jetzt, wo die Zeremonie vorbei war und sich die noch beim Sprechen des Eides verspürte Furcht gelegt hatte, wurde es anstrengend, die Maske aufrechtzuerhalten.
„Ja, Hoher Lord“, sagte sie daher.
Das Kichern und die vielsagenden Blicke ihrer Freunde ignorierend, verabschiedete Sonea sich von diesen und verließ dann mit Akkarin die Gildehalle. Mit dem größer werdenden Abstand spürte sie, wie die Anspannung von ihr abfiel und sie glaubte, wieder atmen zu können.
„Muss ich mein Studierzimmer jetzt räumen?“, fragte, während sie durch den leeren Korridor schritten und die Schritte ihrer Stiefel an den Wänden widerhallten.
„Sonea, du kannst in deinem Studierzimmer bleiben, solange du willst“, antwortete der Hohe Lord. „Auch wenn ich es für angemessener halte, dir einen größeren Raum für deine Arbeit zur Verfügung zu stellen. In der Residenz ist genug Platz.“
„Ich werde darüber nachdenken“, sagte Sonea nicht wissend, ob sie sich über dieses Angebot freuen sollte.
Sie traten ins Freie und schritten die Stufen der Universität hinab.
„Also plant Ihr nicht, in der nächsten Zeit wieder einen Novizen zu wählen?“, fragte Sonea betont beiläufig. Diese Frage beschäftigte sie, seit die Gilde ihr Verbot, Akkarin dürfe nach Sonea keinen Novizen ausbilden, sofern es nicht dem Zweck eines Nachfolgers diente, aufgehoben hatte. Sie hatte es jedoch nie gewagt, das Thema anzuschneiden, aus Furcht vor Akkarins Antwort. Mit ihrem Abschluss hatte dieses Thema jedoch an Aktualität gewonnen.
Bei ihrer Wiederaufnahme hatte die Gilde entschieden, dass weder Akkarin noch Sonea jemals wieder unterrichten durften. Soneas eigener Unterricht und die Ausbildung eines Nachfolgers, die dazu diente, das Geheimnis schwarzer Magie zu bewahren, waren davon ausgenommen. Nachdem Akkarin sein altes Amt jedoch wieder aufgenommen hatte, hatte die Gilde diese Regeln wieder aufgehoben, weil sie sich vor den Häusern und überall in den Verbündeten Ländern lächerlich gemacht hätte, würde sie die Rechte ihres Anführers beschneiden. Insgeheim war Sonea jedoch überzeugt, dass die Magier noch immer fürchteten, Akkarin würde aus jedem Novizen, dem er sich annahm, einen schwarzen Magier machen, so wie es mit ihr geschehen war. Die Wahrheit war jedoch, dass der Hohe Lord nie Interesse daran gezeigt hatte, einen Schüler zu haben. Und es hatte Sonea all ihre Überzeugungskraft gekostet, ihn dazu zu bringen, sie in schwarzer Magie zu unterweisen.
„Nein. Das hat Zeit, bis wir unsere Nachfolger ausbilden.“
Sonea atmete innerlich auf. Trotzdem war die Angelegenheit für sie noch nicht erledigt. Sie wusste, sie würde das Gefühl verlieren, etwas Besonderes zu sein, sobald Akkarin einen neuen Novizen wählte. Und in diesem ganz speziellen Fall wollte sie etwas Besonderes sein. Da sie eines Tages beide einen Nachfolger brauchten, war es jedoch unvermeidlich, dass Akkarin eines Tages wieder einen Novizen wählte. Sonea wusste, sie würde jedem anderen Novizen mit Eifersucht begegnen. Ganz besonders würde es eine Novizin sein. Die Novizen fürchteten Akkarin, aber es gab auch eine Reihe von Mädchen, die alles dafür geben würden, um Soneas Platz einzunehmen. Obwohl sie wusste, sie durfte sich Akkarins Gefühlen sicher sein, war ihr der Gedanke, dass sich eine hypothetische Novizin in ihn verlieben könnte, unerträglich.
„Sonea, du weißt, ich habe kein Interesse daran, Novizen auszubilden“, sagte Akkarin.
Sie nickte. Sie wusste, er hatte sie selbst nur gewählt, weil ihn die Umstände dazu gezwungen hatten.
„Du sollst jedoch wissen, dass ich den oder diejenige nach seiner Eignung auswählen werde“, fuhr er fort. „Diese Entscheidung sollte wohlüberlegt und nicht auf Grund von persönlichen Vorlieben getroffen werden.“
Sie unterdrückte ein Seufzen. „Ja, Hoher Lord.“
Es war sinnlos mit ihm zu diskutieren, wenn seine Entscheidung bereits feststand. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass das jetzt der Fall war. Zudem schien er bereits zu wissen, weswegen sie sich gegrämt hatte. Sie hielt inne. Hatte er etwa …?
Ihr Blick fiel auf den Ring an ihrer rechten Hand. Nein, wahrscheinlich ist das gar nicht nötig gewesen, überlegte sie.
Sie stiegen die Stufen zur Residenz des Hohen Lords empor. Die Tür schwang auf und sie traten in die Empfangshalle. Sie waren zuhause.
„Ich sollte mich umziehen“, sagte Sonea und wandte sich zur Treppe.
„Sonea, ich …“, begann Akkarin.
Einer Ahnung folgend, wandte sie sich zu ihm um.
„Versuch gar nicht erst, es mir auszutreiben“, sagte sie bestimmt. Sie würde ihn so lange mit ’Hoher Lord’ anreden, wie es ihr gefiel. Sie empfand zu viel Respekt und Ehrfurcht vor ihm, um sich das zu verkneifen. Und das wusste er. In gewissen Situationen verlangte er es sogar von ihr.
Akkarin lachte leise. „Darauf wollte ich nicht hinaus.“ Er streckte eine Hand nach ihr aus und zog sie zu sich. „Es besteht kein Grund, Eifersucht auf einen potentiellen Novizen zu haben“, sagte er sanft. „Niemand kann jemals deinen Platz einnehmen.“
„Ich weiß“, flüsterte sie. „Es ist nur … ich bin das Hüttenmädchen. Während du dir meiner immer sicher sein kannst, wäre es vermessen, dasselbe bei dir vorauszusetzen.“
„Du kannst dir meiner immer sicher sein“, erwiderte Akkarin. „Aber es gab eine Zeit, da wusste ich nicht, ob ich mir deiner noch sicher sein kann.“
Wie hatte sie das vergessen können! Plötzlich kam Sonea sich idiotisch vor, weil sie überhaupt an ihm gezweifelt hatte. Sie sprachen fast nie über davor, weil die Erinnerungen schmerzhaft waren und sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie das Gespräch überhaupt dorthin geführt hatte. Sie hasste sich für ihre Unsicherheit und sie hasste es, dass sie Akkarin brauchte, um sie ihr zu nehmen. Das war einmal anders gewesen. Aber das war davor gewesen.
„Es tut mir leid“, flüsterte sie. „Ich wollte nicht …“
Sie brach ab, als das kühle Leder des Handschuhs an seiner rechten Hand über ihre Wange strich und schließlich in ihrem Nacken verweilte. Akkarin tat einen Schritt auf sie zu, dann beugte er sich zu ihr hinab und drückte seine Lippen auf ihre. Ihre Lippen öffnend erwiderte Sonea den Kuss.
„Möchtest du mitkommen?“, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
„Bist du sicher?“
„Das bin ich.“
„Es ist noch genug Zeit bis unsere Gäste kommen“, wandte sie ein.
Akkarin seufzte leise. „Ich fürchte, du musst dich bis danach gedulden. Ich muss arbeiten. Zudem wartet oben jemand auf dich.“
Sonea schob ihre Enttäuschung beiseite. Sie war es gewohnt, dass ihm seine Position in der Gilde wenig Zeit ließ. Trotzdem wünschte sie manchmal, es wäre anders.
Er küsste sie erneut, dieses Mal intensiver.
„Also heute Abend?“
Er löste sich von ihr.
„Ja.“
Sonea verdrehte innerlich die Augen. Er war so unfair, wenn er seine subtilen Waffen einsetzte, um sie dorthin zu bringen, wo er sie haben wollte.
Ihre neue Robe und die Mappe mit ihrem Zeugnis an die Brust gedrückt stieg sie die Treppe zu ihrem privaten Räumen empor.
Als der Diener die Tür öffnete, stieß Trassia einen leisen Schrei des Entzückens aus. „Oh, Regin! Das ist so wundervoll!“ Regin mit sich ziehend, eilte sie in den Raum. Ihre grüne Robe wirbelte hinter ihr her. „Sieh dir nur an, wie viel größer es ist, als unsere Zimmer im Novizenquartier! Allein das Wohnzimmer ist fast so groß, wie mein Zimmer zuhause!“
„Ich weiß“, sagte er lachend. „In jedem anderen Fall wäre ich in den Inneren Ring gezogen.“
Er bedeutete den Dienern, die Kisten mit ihren Habseligkeiten zu den Kisten, die bereits von ihren Familien eingetroffen waren, zu stellen und sich zu entfernen. Er und Trassia würden ihr Apartment später einrichten. Trassia hatte sich in den Kopf gesetzt, diese Arbeit unbedingt selbst zu erledigen, damit sie nicht alles umräumen musste, wenn die Diener fertig waren.
Typisch Frauen, dachte Regin. Anderthalb Jahre mit Trassia und einige frühere weniger ernstgemeinte Erfahrungen hatten ihn jedoch gelehrt, dass es klüger war, seine Meinung für sich zu behalten. Frauen konnten sehr unangenehm werden, wenn man sie kritisierte. Sogar so sanftmütige wie Trassia.
Seine Freundin war bereits zum Fenster geeilt. „Oh, sieh nur! Von hier aus kann man die Residenz des Hohen Lords sehen!“
Regin trat hinter sie und drehte sie herum. „Ich glaube nicht, dass Sonea und Akkarin es gut fänden, wenn du sie beobachtest“, sagte er. Obwohl das durchaus interessant sein könnte …
Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er alles getan, um Soneas Geheimnisse herauszufinden und gegen sie zu benutzen. In ihrem ersten Jahr an der Universität hatte er sie regelrecht gehasst. Gehasst, weil die Gilde seiner Meinung nach keine Kinder aus den Hüttenvierteln aufnehmen sollte. Entgegen seiner Erwartung war Sonea nicht dumm und ungebildet, sondern hatte ihn in allem übertroffen. Für Regin war das nur schwer zu ertragen gewesen. Er hatte hart gearbeitet, um die erste Klasse zu überspringen und sie nicht mehr sehen zu müssen und selbst dort war sie ihm zuvorgekommen. Ein ganzes Jahr lang hatte Regin alles versucht, um ihr das Leben schwerzumachen, damit sie endlich aufgab. Selbst nachdem sie völlig unverdient Akkarins Novizin geworden war, hatte er nicht davor zurückgeschreckt, sie zu piesacken. Es hatte eine herbe Niederlage bei einem formalen Duell, Monate des Aus-dem-Weg-Gehens und eine Invasion einer Horde unzivilisierter Sachakaner benötigt, dass sie beste Freunde geworden waren.
Und durch sie waren er und Trassia sich überhaupt erst nähergekommen.
Im Nachhinein verstand Regin nicht, was ihn dazu getrieben hatte, Sonea derart nachzustellen. Obwohl sie beide keinen Hehl daraus machten, dass sie sich immer noch nicht allzu gut leiden konnten, war sie ihm ein besserer Freund als alle seine Freunde unter den männlichen Novizen zusammen. Und irgendwie fiel es ihm schwer, jemand so Grobes wie sie als Mädchen zu sehen.
Nicht so wie Trassia …
Die Wangen seiner Freundin hatten sich derweil rosa gefärbt. „So etwas würde ich nie tun!“, rief sie mit einem leisen Vorwurf in der Stimme.
Regin lachte. „Ihr Schlafzimmer geht zum Wald.“
Sie stieß einen spielerischen Finger gegen seine Brust. „Und woher weißt du das so genau? Hast du geschnüffelt?“
Statt einer Antwort küsste er sie. Er hörte, wie Trassia empört nach Luft schnappte, dann teilten sich ihre Lippen willig und erwiderten den Kuss. In einem Anflug unkontrollierter Emotionen schob Regin sie gegen das Fenstersims. Reflexartig fuhr seine Hand ihren Oberschenkel hinauf. Dann fiel ihm jedoch wieder ein, dass sie jetzt lange Magierroben trug. Sie zu dem Punkt zu bringen, an dem es interessant wurde, würde von nun an umständlicher werden.
Obwohl Regin diesen Tag lange herbeigesehnt hatte, fühlte es sich seltsam an, richtige Magierroben zu tragen. Regin fühlte sich damit älter – so erwachsen. Ab heute würde man von ihm erwarten, dass er sich nicht mehr wie ein Novize benahm und mit einem Mal wünschte er, er könnte noch ein weiteres Jahr Novize sein. Doch auch Trassia war kein Mädchen mehr. Sie waren nicht mehr Regin und Trassia, sondern Lord Regin und Lady Trassia.
Ein seltsamer Gedanke, dachte er. Ihre Namen klangen dadurch nicht nur erwachsener, es hörte sich auch vielmehr nach dem an, was sie waren. Ein Paar.
Als Trassias Fäuste leicht gegen seine Brust drückten, ließ er sie los. „Wir können es jetzt nicht tun“, sagte sie. „Wir sind heute Abend eingeladen und wollten vorher noch alles einräumen.“
„Das können wir auch morgen machen, liebste Trassia.“
„Ich muss morgen zur ersten Stunde im Heilerquartier sein. Lady Vinara wird mich einweisen und mir eine Aufgabe zuteilen.“
„So früh?“, fragte Regin. Irgendwie hatte er immer angenommen, als Magier könne man ausschlafen. Zumindest, sofern man nicht Lehrer war und die erste Stunde unterrichtete.
„Im Heilerquartier gibt es immer viel zu tun.“
Deswegen bin ich nicht Heiler geworden, dachte Regin. Und weil das eine Disziplin für Mädchen ist. Er selbst würde am nächsten Morgen noch Zeit für ein gemütliches Frühstück haben, bevor Balkan ihn erwartete. Das Oberhaupt der Krieger hatte sich seiner Ausbildung angenommen, nachdem Regins Onkel in der Schlacht gegen die Sachakaner in der Ettkriti-Ebene vor fast zwei Jahren gefallen war. Es hatte Regin mit Stolz erfüllt, dass der Mann, der ein Jahr lang das Amt des Hohen Lords innegehabt hatte, das Werk seines Onkels fortgeführt hatte. Balkan hatte großes Potential in ihm gesehen und ihn entsprechend gefördert. Während des Krieges hatte er Regin an Besprechungen teilnehmen lassen, um ihm einen Einblick in die Aufgaben des Oberhauptes der Krieger zu geben. Mit Akkarin als Anführer ihrer Armee war die Funktion des Hohen Lords für einige Monate überflüssig geworden. Für Regin war indes offensichtlich gewesen, dass Balkan sich in seiner alten Rolle sehr viel wohler wie als Anführer der Gilde gefühlt hatte und er nahm an, das war ein nicht unbedeutender Grund für Balkans Rücktritt gewesen. Nichtsdestotrotz hatte Regin in dieser Zeit viel von seinem Mentor gelernt. Und von jetzt an würde er ganz offiziell Balkans Assistent sein. Und wenn dieser eines Tages in Ruhestand ging, würde Regin vielleicht seinen Platz einnehmen.
„Dann verschieben wir das Einräumen aufs Wochenende.“
„Da sind wir bei deinen Eltern eingeladen.“
Das hatte Regin bereits wieder erfolgreich verdrängt. Er liebte seine Eltern, doch es missfiel ihm, dass sie auch nach fünf Jahren in der Gilde versuchten, seine Zukunft für ihn zu planen. Aus diesem Grund hatte er das Feiern seines Abschlusses mit ihnen aufgeschoben und die Einladung des Hohen Lords angenommen. Die Einladung beim mächtigsten Mann der Gilde und seiner Frau war immer ein Vorwand, einer anderen Verpflichtung fernzubleiben. Zudem fühlte er sich nach fünf Jahren Studium mehr in der Gilde verwurzelt, als bei seiner Familie. Trassia hatte dem Essen bei Akkarin und Sonea, ohne den wahren Grund zu kennen, zugestimmt und die Feier mit ihrer eigenen Familie ebenfalls verschoben. Im Gegensatz zu Regin sah sie ihre Familie jedoch relativ häufig. Beide Elternpaare waren zudem zur Abschlusszeremonie gekommen und Regin war insgeheim froh, dass sie dabei einander nicht begegnet waren.
Obwohl es sie mit Stolz erfüllte, dass ihr Sohn ein Magier war, versuchten Regins Eltern, Einfluss auf sein Leben und seine Entscheidungen auszuüben. Bis er mit Trassia zusammengekommen war, hatte sich das in Grenzen gehalten. Doch seit sie von ihr wussten, versuchten sie auch diesen Teil seines Lebens zu beeinflussen. Dass die Begegnung nur bis zum Wochenende verschoben worden war, missfiel Regin im Nachhinein.
Ob ich einen Vorwand erfinden kann, um den Besuch zu verschieben?
„Regin, ich würde wirklich gerne“, sagte Trassia, „aber ich kann mich hier drin erst wirklich wohl fühlen, wenn alles eingerichtet ist. Und was das Wohlfühlen betrifft: Das kann nicht noch ein paar Tage warten.“
Frauen, dachte er erneut. „Dann verschieben wir den Spaß-Teil auf später, liebste Trassia“, gab er nach.
Trassia nickte und ließ sich von ihm zu einer der Türen ziehen, die vom Wohnzimmer wegführten. Hinter der ersten Tür befand sich das Schlafzimmer. Der Raum war überraschend groß. Die eine Wand wurde von einem großen Bett ausgefüllt, die andere von einem Kleiderschrank und einer Kommode mit Spiegel. Vor dem Fenster standen zwei bequeme Sessel. Hinter einer unscheinbaren Tür befand sich ein kleiner Waschraum, dessen Ausstattung sehr viel mehr nach Regins Geschmack war, als jener in seinem alten Zimmer im Novizenquartier.
„Was ist hinter dieser Tür?“, fragte Trassia, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrten. Sie deutete auf eine Tür auf der anderen Seite des Raumes, die zwischen einem leeren Bücherregal und einer Vitrine, die nur einige wenige Tassen und Gläser enthielt, leicht zu übersehen war.
„Eine Besenkammer?“ Regin zuckte die Achseln. „Eine Geheimtür zu unseren Nachbarn, denen wir uns noch vorstellen sollten?“
Seine Freundin war bereits vorausgeeilt. „Da ist noch ein Raum!“, rief sie entzückt. „Komm, sieh dir das an!“
Ein Seufzen unterdrückend folgte Regin ihr. Trassia stand in einem Raum, nicht größer als ein Zimmer im Novizenquartier. Bis auf einen Schrank war das Zimmer leer.
„Wir können ein Büro daraus machen“, überlegte er. „Oder ein Gästezimmer. Falls eine deiner Freundinnen Ehekrach hat und die Nacht woanders verbringen will.“ Zumindest bei Luzille mit ihrem elynischen Temperament konnte er sich das lebhaft vorstellen. Allerdings würde es wohl vielmehr Balkan derjenige sein, der ausquartiert wurde. Sonea und Akkarin schienen hingegen nie zu streiten. Zudem bezweifelte Regin insgeheim, der Hohe Lord würde seiner Frau erlauben, in einem anderen Bett als seinem eigenen zu schlafen.
Trassia wandte sich um. Ihre dunklen Augen leuchteten aufgeregt. „Oder wir machen daraus ein Babyzimmer.“
Regin starrte sie an, als wäre sie nicht mehr ganz bei Verstand. „Ein Babyzimmer?“, brachte er hervor.
„Jetzt, wo wir zusammenwohnen, können wir doch auch Kinder bekommen“, erklärte Trassia wie selbstverständlich.
„Kinder?“
„Du weißt schon, diese kleinen, niedlichen …“ Trassia betrachtete ihn verstört. „Sonea hat auch eines.“
„Das ist etwas anderes.“ Akkarin musste mindestens fünfzehn Jahre älter als Regin sein. Er hatte genug erlebt, um eine solche Verantwortung auf sich zu nehmen. Regin hatte gerade seinen Abschluss gemacht. Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich an das Leben eines Magiers zu gewöhnen, geschweige denn, dass er sich reif genug dazu fühlte. Und da sollte er Vater werden? Allein die Vorstellung erfüllte ihn mit Unbehagen. „Wir sind noch nicht einmal anderthalb Jahre zusammen.“
„Sonea und Akkarin waren auch nicht länger zusammen, als sie schwanger wurde.“
„Das war ein Unfall, wenn ich mich richtig erinnere.“ Sofern es wirklich von ihm war. In der Gilde wurde gemunkelt, dass der Vater des Kindes womöglich ein gewisser sachakanischer Magier war. Regin verstand nicht viel von Babies. Aber wenn die Gerüchte stimmten, würde es dann nicht weniger kyralisch aussehen? „Und sie haben davor schon lange zusammengewohnt.“
Diese Antwort schien Trassia nicht zu gefallen. „Ich dachte, wir lieben uns“, protestierte sie.
„Das tun wir auch.“ Kopfschüttelnd schloss er sie in seine Arme. „Aber möchtest du wirklich jetzt schon ein Kind bekommen? Es ist sehr viel Arbeit und Verantwortung. Und wir hätten kaum Zeit für uns.“
„Wir hatten in unserem letzten Studienjahr auch kaum Zeit für uns.“ Erzürnt schob sie ihn von sich. „Regin, was ist dein Problem?“
Mit einem solchen Ausbruch hatte er nicht gerechnet. „Liebste Trassia“, begann er. „Ich, ah … ich liebe dich. Aber ich bin dazu nicht bereit.“ In ihren Augen konnte er sehen, dass er das Falsche gesagt hatte. „Das heißt, ich bin es noch nicht.“
Der Ausdruck in ihren dunklen Augen verlor ein wenig von ihrem Zorn.
„Lass uns doch erst einmal ein wenig unsere Zweisamkeit genießen, bevor wir sie wieder aufgeben“, fügte er hinzu.
„Ja, schon“, gab sie nach.
Regin schenkte ihr sein charmantestes Lächeln. „Und jetzt lass uns auspacken, damit wir heute Abend Zeit für uns haben.“
Nachdem sie sich umgezogen hatte, betrat Sonea das Zimmer, das Akkarin ein Jahr zuvor direkt neben ihrem Studierzimmer hatte errichten lassen. Beide Räume waren mit einer Tür verbunden, die Sonea in den letzten sechs Monaten öfter durchquert hatte, als die Türen zum Flur. Eine kleine, dunkelhaarige Frau saß in einem Sessel und sang leise Lieder für das Baby in ihrem Arm. Als Sonea eintrat, sah sie auf.
„Hallo, Jonna“, sagte Sonea. Ihr Blick fiel auf das Baby. „Wie geht es Lorlen?“
„Er ist gewickelt und gefüttert und hat eine Stunde Mittagsschlaf gehalten.“
Sonea lächelte. „Danke, dass du auf ihn aufgepasst hast.“
„Das tue ich gerne.“ Ihre Tante stand auf und reichte Sonea das Baby. Lorlen streckte seine pummeligen Ärmchen nach ihr aus und gluckste, wobei ein wenig Sabber zwischen seinen Lippen hervorquoll. Den Sabber ignorierend, nahm Sonea ihren Sohn entgegen und drückte ihn an die Brust.
„Hallo, mein kleiner Schatz“, flüsterte sie und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Obwohl noch klein und pummelig, fand sie, er war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Zu lange hatte sie befürchtet, er würde jemand anderem ähneln. Sie hätte nicht gewusst, ob sie Lorlen dann auch so sehr lieben könnte. „Hat Tante Jonna sich lieb um dich gekümmert?“
Das Baby gluckste und strampelte mit seinen Beinchen. Es an sich drückend setzte Sonea sich in einen Sessel ihrer Tante gegenüber.
„Wie war deine Abschlussfeier?“, fragte Jonna.
„Sehr feierlich. Schade, dass du und Ranel nicht dabei waren. Es hätte bestimmt niemand etwas dagegen gehabt, hättest du Lorlen mitgebracht …“
„Sonea, du kennst doch unsere Einstellung zu den Magiern“, begann ihre Tante.
„Ja, ich weiß.“ Sonea unterdrückte ein Seufzen. Jonna und ihr Mann Ranel waren ihre nächsten und einzigen Verwandten. Zu Soneas Bedauern fürchteten sie die Magier zu sehr, um sich oft in der Gilde blicken zu lassen. Bedeutsamen Ereignissen, zu denen viele Magier zusammenkamen, blieben sie daher gänzlich fern. „Es hätte mir nur viel bedeutet.“ Sonea zuckte die Schultern. „Zu meiner Hochzeit seid ihr auch gekommen.“
„Das war ja auch das viel wichtigere Ereignis in deinem Leben.“
Sonea verdrehte die Augen. Aus Jonnas Sicht kam das der Wahrheit gleich. Sie rechnete es ihrer Familie hoch an, dass sie für diesen einen Tag ihre Furcht vor den Magiern überwunden hatten.
„Wie fühlt es sich an, nicht mehr die Novizin deines Mannes zu sein?“
„Seltsam.“ Sonea runzelte die Stirn. „Ich habe mich so sehr daran gewöhnt, dass ich fürchte, es könnte etwas an unserer Beziehung zum Negativen verändern.“
„Aber er ist noch immer der Hohe Lord“, wandte Jonna augenzwinkernd ein.
Sonea spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Ja“, sagte sie. „Das ist er.“
„Akkarin ist ein Mann, zu dem man aufsehen muss.“ Jonna kicherte. „Und das sage ich jetzt nicht wegen seiner Größe.“
„Ich weiß, was du meinst.“ Sonea streckte ihren Willen nach dem Stoffharrel in Lorlens Bettchen aus und reichte ihn ihrem Sohn, der gierig danach griff. „Wir werden sehen, wie sich alles von jetzt an entwickelt. Ich versuche, mir deswegen keine Sorgen zu machen. Wir haben sehr viel Schlimmeres überstanden. Unsere Beziehung wird wohl kaum daran scheitern, dass ich jetzt eine richtige Magierin bin.“
„Das denke ich auch.“
Eine richtige Magierin. Schaudernd dachte sie daran, wie sie in der überfüllten Gildehalle ihren Eid gesprochen hatte. Es hatte sich sehr viel endgültiger angefühlt, als bei ihrer Aufnahmezeremonie. Das Gefühl war ähnlich dem gewesen, als sie ihren Eheschwur gesprochen hatte.
„Bleibst du zum Essen?“
Ihre Tante schüttelte den Kopf. „Ranel und die Kinder erwarten, dass ich für sie koche.“
Sonea überlegte, ihre Familie für einen anderen Abend einzuladen, verwarf die Idee jedoch wieder. Auch wenn die beiden sich mit ihrem Mann gut verstanden, fühlten sie sich in der Welt der Häuser und Magier unwohl. „Ich komme euch bald einmal besuchen.“
Jonna lächelte. „Jetzt solltest du dazu ja Zeit haben. Oder wirst du jetzt noch beschäftigter sein?“
„Ich bin die Leiterin der schwarzmagischen Studien. Ich werde nicht den ganzen Tag in meinem Kellerlabor sitzen und experimentieren.“ Es war keine Position, mit der man seinen kompletten Tag verbrachte. Das bot Sonea die Möglichkeit, im Krankenhaus in den Hüttenvierteln auszuhelfen und ihren Traum auch mit der Wahl einer anderen Disziplin zu verwirklichen. Seit der Errichtung des Krankenhauses war ihr dies zuerst wegen des Ausgehverbots und später wegen ihres Lernpensums verwehrt worden, doch nun stand dem nichts mehr im Wege. Von da aus war es zudem nur ein kurzer Weg zu ihrer Familie. „Gerne komme ich euch öfter besuchen. Wenn euch das lieber ist, lasse ich Akkarin dann zuhause.“
„Hai!“, rief Jonna. „Das würde Hania nicht mögen!“
Seit seiner ersten Begegnung mit Soneas Familie, war ihre kleine Nichte völlig in Akkarin vernarrt. Obwohl er distanziert und ehrfurchtgebietend war und Erwachsene ihn zu fürchten pflegten, waren Kinder aus einem Sonea unerfindlichen Grund von ihm angetan. Sonea hatte Ähnliches bei diversen Festen im Palast erlebt, auf die sie ihren Mann im vergangenen Jahr begleitet hatte. Für sie entbehrte das jeglicher Logik. Wenn Erwachsene schon vor ihm in Ehrfurcht erstarrten, müssten Kinder dann nicht schreiend vor ihm die Flucht ergreifen?
„Ich dachte auch eher an dich und Ranel.“
„Ranel hat ihn inzwischen recht gern.“
Sonea erinnerte sich noch allzu lebhaft daran, wie sie Akkarin ihrer Familie vorgestellt und ihr Onkel ihm eine unangenehme Frage nach der anderen über seine Einkünfte, Soneas Studium und ihre Beziehung gestellt hatte. Akkarin hatte dies mit stoischer Gelassenheit und leiser Erheiterung über sich ergehen lassen.
Ich muss doch rausfinden, ob Lord Akkarin der Richtige für unsere Sonea ist, hatte Ranel sich verteidigt, nachdem Jonna ihn schließlich zurechtgewiesen hatte.
Einen vertrauten Schmerz verspürend schob Sonea die Erinnerung beiseite.
„Dann werde ich ihn hin und wieder mitbringen“, sagte sie und fragte sich zugleich, wie es wirken würde, wenn der Hohe Lord die Familie seiner Frau in den Hüttenvierteln besuchte.
Das brachte sie auf ein anderes Thema.
„Jonna“, begann sie einen tiefen Atemzug nehmend. „Du und Ranel habt jahrelang für mich gesorgt. Ihr habt mich großgezogen und darauf geachtet, dass ein guter und verantwortungsbewusster Mensch aus mir wird. Ich will mich dafür bedanken.“
„Das haben wir gern getan, Sonea.“
In einer heftigen Bewegung schüttelte Sonea den Kopf. „Nein, Jonna. Von jetzt an werde ich euch jeden Monat etwas von meinem Geld geben.“
„Nein, Sonea. Tu das nicht. Wir kommen klar.“
„Nehmt es wenigstens, um euren Kindern ein besseres Leben zu bieten“, beharrte Sonea. „Ihr könntet Euch eine Bleibe im Nordviertel mieten. Oder ein eigenes Geschäft aufbauen.“
Jonna zögerte.
„Wir haben dort selbst ein paar Jahre gewohnt. Komm schon, Jonna.“
„Bis der König uns wieder in die Hüttenviertel getrieben hat.“
„Dieses Mal wird es anders.“ Ein Plan begann in ihr zu reifen. Jonna und Ranel durften jedoch erst davon erfahren, wenn sie alles in die Wege geleitet hatte. Sie hoffte nur, Akkarin würde dabei mitmachen. „Ich werde dafür sorgen, dass ihr dort wohnen könnt, solange ihr wollt.“
Die Augen ihrer Tante weiteten sich. „Und wie willst du das machen?“
„Jonna, du vergisst, mit wem ich verheiratet bin“, sagte Sonea streng. „Ich kann nicht zulassen, dass ihr weiterhin in diesen Zuständen lebt. Ich weiß, es geht euch besser als den meisten Hüttenleuten. Trotzdem muss ich darauf bestehen, dass ihr ins Nordviertel zieht. Ich habe die Mittel, euch das zu ermöglichen. Bitte, lass mich das für euch tun.“
Jonna seufzte. „Das muss ich mit Ranel besprechen“, sagte sie stur. Sie erhob sich. „Aber jetzt muss ich gehen.“ Sie küsste Lorlen auf die Stirn und tätschelte Soneas Arm. „Du kommst uns doch bald besuchen, oder?“
„Das habe ich doch gesagt. Grüß Ranel von mir.“
Als sie fort war, blieb Sonea noch eine Weile in ihrem Sessel sitzen. Der fahle Winternachmittag neigte sich seinem Ende zu. Die Schneewolken hatten sich verzogen und die Strahlen der untergehenden Sonne tauchten die weißen Wände der Universität in orangefarbenes Feuer.
Was wird sich jetzt alles ändern?, fragte sie sich. Vor ihrer Tante hatte sie sich zuversichtlich gegeben. In Wirklichkeit hatte sie jedoch keine Ahnung, wie ihr Leben von nun an weitergehen sollte. Die Hälfte ihres Studiums waren sie und Akkarin ein Paar gewesen. Für Sonea hatte es sich natürlich angefühlt, zugleich auch seine Novizin zu sein. Es jetzt nicht mehr zu sein, war verwirrend und beängstigend.
Jonna hat recht, dachte sie. Er ist immer noch Hoher Lord. Und noch so einiges andere, was sie niemandem erzählen würde. Sie hatte heute nur einen Eid gesprochen. Was sollte das an ihren Gefühlen ändern? Trotzdem fühlte es sich an, als habe sie damit ein Band zwischen ihnen gekappt. Und das alles, obwohl sie noch immer glaubte, ihn mehr denn je zu brauchen.
Aber von nun an würde es auch einfacher werden. Ein Paar zu sein hatte vieles verkompliziert. Als sie aus ihrer Verbannung zurückgekehrt waren, hatten sie ihre Beziehung geheim halten müssen. Sie hatte ihn mit Lord Akkarin angesprochen und sich vor ihm verneigt, wie es sich für eine Novizin gehörte. Später hatte sie das im Privaten beibehalten, um ihn aufzuziehen oder weil sie – aus ernsthaften oder unanständigen Gründen – das Gefühl hatte, respektvoll sein zu müssen. Und es hatte ihr geholfen, Studium und Privates zu trennen. Nach ihrer Hochzeit hatte er darauf bestanden, dass sie damit aufhörte. Aber nachdem er sie aus Arvice zurückgebracht hatte und sie sich vor einigen Magiern fast zu Boden geworfen hätte, hatte sie damit wieder angefangen, um sich daran zu gewöhnen, dass sie nicht mehr unter sachakanischen Barbaren lebte.
Und jetzt muss ich mich daran gewöhnen, es überhaupt nicht mehr zu tun, dachte sie kopfschüttelnd. Ob ich mich je daran gewöhnen kann?
„Du magst in der untersten Klasse der Gesellschaft aufgewachsen sein, doch du hast den Stolz eines Königs. Eines Tages wird jeder sich vor dir verneigen, Sonea. Das wird für dich sogar noch schwerer zu akzeptieren sein.“
Sonea seufzte. Was sie betraf, so war ihr Stolz gebrochen worden. Sie war, was Sachaka aus ihr gemacht hatte – und das war ganz sicher nichts, wovor man sich verneigte.
Als Lorlen zu quengeln begann, war das Licht dunkelblau geworden. Schon bald würden die ersten Gäste kommen. Sonea schuf eine Lichtkugel und sandte sie hinter einen Wandschirm. Dann schälte sie sich aus ihrer Robe und gab Lorlen die Brust.
Ihre Erklärung, ihr Kind selbst Stillen zu wollen, hatte, nachdem Soneas Dienerin es weitergetratscht hatte, einen Sturm der Empörung unter den weiblichen Magiern ausgelöst. Sonea hatte den Protest jedoch ignoriert, sie wollte sich so um ihren Sohn kümmern, wie ihre Mutter es mit ihr getan hatte.
Frauen aus den Häusern pflegten ihre Kinder nicht selbst zu stillen, sondern gaben sie einer Amme. Jonna hingegen behauptete, das Stillen wäre wichtig für die Bindung zwischen Mutter und Kind. Die Frauen in den Hüttenvierteln gaben ihren Kindern oft fast ein ganzes Jahr oder länger die Brust. Obwohl Sonea entschieden hatte, ihren Sohn so lange zu stillen, wie ihre Brüste Milch produzierten, hatte sie sich dennoch zu einer Amme überreden lassen, weil sie durch ihr Studium und ihre Position in der Gilde nicht immer die Zeit hatte, ihren Sohn selbst zu füttern.
Caria war daher nach kurzer Zeit neben ihren Aufgaben als Amme, zu Soneas Dienerin geworden. Lorlen war im vergangenen Sommer geboren worden. Das letzte Halbjahr bis zu ihren Abschlussprüfungen war Sonea für jede Unterstützung dankbar gewesen. Obwohl Akkarin, Rothen und Takan sich ebenfalls liebevoll um ihren kleinen Sohn gekümmert hatten, so hatten diese auch ihre eigenen Verpflichtungen zu erfüllen. Für ihre Tante, die hin und wieder zu Besuch kam, galt dasselbe.
Sonea wusste, ohne die Unterstützung dieser Menschen und ohne den Privatunterricht, der auf Grund ihres Amtes als Leiterin der schwarzmagischen Studien flexibel gestaltet worden war, würde sie vermutlich noch immer studieren.
Als Lorlen satt war, richtete sie ihre Robe. Dann hob sie ihren Sohn hoch und trug ihn über den Flur auf die Rückseite der Residenz. Vor einem Raum mit einer verzierten Doppeltür blieb sie stehen. Als sie das Holz berührte, schwangen die Türflügel zurück und Sonea trat in den dahinterliegenden Raum.
In den Bücherregalen entlang der Wände und weiteren dazu senkrecht aufgestellten drängten sich Bücher aller erdenklicher Dicken und Größen. Einige waren neu und enthielten die literarischen Ergüsse berühmter Dichter und Poeten aus den Verbündeten Ländern, andere waren Kopien bedeutender magischer Werke oder Chroniken und Tagebücher, manche davon älter als die Gilde. Ein großer Schrank, dessen magisches Schloss nur Sonea und Akkarin öffnen konnten, enthielt sämtliche Bücher über schwarze Magie, die sie in den vergangenen Jahren angesammelt hatten.
Sie fand Akkarin an seinem Schreibtisch, am anderen Ende der Bibliothek. Große Fenster boten einen Blick auf den verschneiten Wald. Als sie näher trat, sah er auf.
„Ist schon Schlafenszeit?“, fragte er.
„Bald. Ich dachte, du würdest vorher noch ein wenig Zeit mit deinem Sohn verbringen wollen.“
„Ich bin hier gleich fertig. Wie gefallen dir deine neuen Roben?“
„Sie sind großartig“, antwortete Sonea. „Anscheinend fand Lorlen das auch, denn er hat sofort darauf gesabbert.“
Akkarin lachte leise. Er bündelte einen Stapel Post und legte ihn in eine Box mit Briefen, die an die Gilde weitergeleitet wurden. Das goldene Incal an seinem Ärmel schimmerte im Schein seiner Lichtkugel, doch es konnte nicht über die Entstellung hinwegtäuschen, die sich unter seinem rechten Handschuh verbarg.
„Sind die alle für Osen?“, fragte Sonea, den Schreibtisch umrundend.
Ihr Mann nickte. „Es ist immer wieder beeindruckend, wie hartnäckig sich manche Leute weigern, gewisse Anfragen direkt an den Administrator zu schicken“, sagte er. „Anscheinend versprechen sie sich mehr davon, sie an mich zu schicken, weil ich den größeren Einfluss habe.“
„Oder es ist, weil sie dich mehr mögen.“
Akkarin schnaubte leise. „Es gibt einen Unterschied zwischen Respekt und Akzeptanz, Sonea.“
Sonea bezweifelte, dass die Gilde und die Leute aus den Häusern es nur akzeptiert hatten, dass Akkarin ein zweites Mal Hoher Lord geworden war. Nachdem er die Gilde durch den Krieg mit Sachaka geführt hatte, war es nicht viel mehr als eine Formalität gewesen. Insgeheim bewunderte sie ihn dafür. Wie schwer musste es ihm gefallen sein, sich um die Sicherheit der Gilde zu kümmern, anstatt auf eigene Faust nach Sachaka zurückzukehren und sie zu suchen!
„Deine Entführung hat ihn mehr mitgenommen, als er die anderen hat glauben lassen“, hatte Rothen ihr nach ihrer Rückkehr anvertraut. Er hatte ihr von einem Gespräch mit Akkarin berichtet, das kurz nach der Schlacht gegen Marikas Stoßtrupp vor den Toren von Imardin stattgefunden hatte. Nahezu zeitgleich hatten die Magier am Fort erfahren, dass Sachakaner unterwegs in die Stadt waren und wo Sonea festgehalten wurde. Akkarin war mit Balkan und einer Gruppe Krieger nach Imardin geeilt, um die Stadt zu beschützen. Anschließend war er mit einer Spionin der Verräter nach Arvice aufgebrochen.
Wenn Sonea darüber nachdachte, dann hätte sie ebenso entschieden. Er hätte die Gilde nicht ihrem Schicksal überlassen können, nur um sie zu retten. Auch wenn es ihr lieber gewesen wäre, hätte er sie früher gefunden, so hätte sie nicht gewollt, dass er in Sachaka sein Leben für sie riskierte. Es war richtig gewesen, die Spione des Königs und die Verräter nach ihr suchen zu lassen und sich zu stärken, um bereit zu sein, wenn sie gefunden wurde.
Ihr Blick fiel auf ein Päckchen.
„Was ist das?“
„Es ist für dich. Ich wollte es dir später geben.“
Sie blinzelte überrascht. „Für mich?“
Akkarin erhob sich und nahm ihr Lorlen ab. Er wirkte erheitert. „Mach es doch einfach auf.“
Neugierig und nicht ohne eine gewisse Aufregung, griff Sonea nach dem Päckchen. Es fühlte sich fest und schwer an. Neugierig schlug sie das Papier auseinander und zog den Inhalt heraus. Es war ein Buch. Für einen Moment blinzelte sie verwirrt, dann hätte sie beinahe laut aufgelacht, als sie den Titel entzifferte.
„’Im Land des sichelförmigen Mondes’ von Ashaki Dikacha“, las sie auf Sachakanisch. Sie schlug das Inhaltsverzeichnis auf und blätterte darin. Die Seiten waren illustriert und hatten winzige kunstvolle Symbole an ihren Rändern. Es war ein Märchenbuch. „Mond über den Rachiro-Hügeln. Der Prophet von Ilytia. Die Herrin der Aschenwüste.“ Sie sah auf. „Mit diesen Geschichten habe ich Sachakanisch gelernt!“
„Ich habe lange überlegt, ob ich es dir geben soll“, sagte Akkarin. „Ich war nicht sicher, ob du dich über ein solches Geschenk freuen würdest.“
„Dieser Teil gehört zu den angenehmeren Erinnerungen.“ Sonea dachte daran zurück, wie sie diese Märchen mit Danyara gelesen hatte. Danyara, die ihr mehr als nur eine Freundin gewesen war. Die junge Frau hatte sie geduldig korrigiert, wenn sie ein Wort falsch ausgesprochen hatte, und hatte ihr neue Begriffe erklärt. Von allen Erinnerungen, die sie an Arvice hatte, gehörte ihre Zeit mit Danyara zu den Dingen, die Sonea nicht vergessen wollte. Es bedeutete ihr viel, dass ihr Mann das akzeptiert hatte.
„Danke“, sagte sie und umarmte Akkarin. „So werde ich die Sprache nicht verlernen.“ Und sie konnte die Märchen Lorlen eines Tages vorlesen oder sie für ihn übersetzen.
„Ich dachte mir, du würdest so reagieren.“ Akkarin musterte sie nachdenklich. „Bei deiner Entschlossenheit, dich deinen Erlebnissen zu stellen.“
„Es ist besser, sie als Teil von mir zu akzeptieren, als sie zu ignorieren“, sagte Sonea hart. „Und ich bin froh, dass du das auch so siehst.“
„Wer könnte das besser verstehen?“, murmelte er.
Sonea lächelte schief und sparte sich eine passende Antwort. Sie beide wussten, dass seine Erfahrungen in Sachaka ihn nicht einmal annähernd darauf hatten vorbereiten können. Sie waren indes auf ihre eigene Weise entsetzlich gewesen. Aber er hatte wegen der Dinge, die ihr in Arvice widerfahren waren und die sie getan hatte, auch nie auf sie herabgesehen. Wie auch, wenn er sich nicht einmal an ihrer niederen Herkunft störte?
„Gib doch einfach zu, dass du gewisse Veränderungen meiner Person ausnutzt, weil sie dir gelegen kommen“, neckte sie ihn.
Ihr Mann warf einen Blick zu seinem Sohn, der inzwischen eingeschlafen war, als wolle er sich davon vergewissern, dass er nicht mithören konnte. Sonea war jeden Tag aufs Neue fasziniert, wie schnell Lorlen ruhig wurde, wenn er bei seinem Vater war, während er von ihr in seinen munteren Phasen oft nur schwer zu bändigen war.
„Selbstverständlich tue ich das.“ Akkarins Hand fuhr in ihren Nacken, dann beugte er sich zu ihr hinab und küsste sie verlangend.
Eine Weile gab Sonea sich ganz seinem Kuss hin, froh, dass sie ihm hatte ausreden können, sie übervorsichtig zu behandeln. Sie beide hatten ihre dunklen Seiten, doch dadurch waren sie einander näher gekommen, als sie je für möglich gehalten hätte.
„Ich muss dich um einen Gefallen bitten“, sagte sie, nachdem er wieder von ihr abgelassen hatte.
„Was für einen Gefallen?“
„Ich brauche Geld. Viel Geld.“
„Du hast Ersparnisse. Genügen die nicht für das, was du mit dem Geld machen möchtest?“
„Das weiß ich noch nicht genau. Ich habe gewisse Pläne. Für meine Familie. Natürlich würde ich alles zurückzahlen.“
„Ah, dann brauchst du nicht nur Geld, sondern auch die richtigen Beziehungen.“
Sonea machte einen Schritt auf ihn zu. „Ich denke, die habe ich bereits.“
Akkarins Mundwinkel zuckten. „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“
Rothen schlüpfte in eine frische Robe, die getragene ließ er zu Boden fallen, damit Tania wusste, dass sie sie in die Wäscherei bringen konnte. Dann band er seine Schärpe zu und verließ das Schlafzimmer.
Als er sein Wohnzimmer betrat, sah seine Dienerin von ihrer Arbeit auf. „Kann ich noch etwas für Euch tun, Mylord?“
„Danke, Tania. Nimm die schmutzige Wäsche mit, dann kannst du für heute gehen.“
Tania nickte und räumte seine benutzte Tasse und die Reste von seinem Nachmittagsmahl fort. „Ich wünsche Euch einen schönen Abend, Mylord. Grüßt Sonea und den Hohen Lord.“
Rothen lächelte. „Das mache ich. Gute Nacht, Tania.“
Er verließ die Magierquartiere. Den direkten Weg durch die verschneiten Gärten wählend, hielt er auf die Residenz des Hohen Lords zu. Der Schnee war von Novizen aus dem ersten Jahr frisch von den Wegen geräumt worden, andere hatten bei Einbruch der Dämmerung die Laternen entlang der Wege angezündet. Über den Dächern der Stadt verweilte noch ein Streifen Orange, während die Nacht ihren dunkelblauen Mantel bereits über den übrigen Himmel ausgebreitet hatte, auf dem hier und da die ersten Sterne glitzerten.
Als das düstere, zweistöckige Gebäude zwischen den Bäumen auftauchte, erschauderte Rothen unwillkürlich. Eine längst überfällige Aussprache, unzählige formale Dinner und eine selbstmörderische Rettungsaktion hatten nicht ausgereicht, dass er nicht ein gewisses Unbehagen bei diesem Anblick verspürte. Auch wenn er Akkarin verziehen hatte und ihn inzwischen für so einiges schätzte, würde dessen Reaktion darauf, dass Rothen und Sonea sein finsteres Geheimnis herausgefunden hatten, irgendwie immer zwischen ihnen stehen.
Obwohl er Soneas Urteil vertraute, hatte er nicht gutheißen können, dass sie und Akkarin schließlich ein Paar geworden waren. Trotz aller ehrbaren Absichten hinter Akkarins früheren Taten war er gefährlich und schreckte vor nichts zurück, um die Gilde zu beschützen. Nur Sonea zuliebe hatte Rothen sich mit dem schwarzen Magier ausgesprochen und sich mit dem Gedanken angefreundet, dass dieser Mann seine Sonea mit ins Bett nahm. Denn offenkundig tat ihr diese Beziehung gut und auch Akkarin wirkte seitdem bei persönlichen Begegnungen weniger kühl und distanziert. Kurz vor Ausbruch des Krieges hatten die beiden schwarzen Magier geheiratet und Rothen hatte auf Soneas Bitte hin bereitwillig die Rolle des Brautvaters übernommen.
Der Krieg und Soneas Entführung hatten dem Glück der beiden schwarzen Magier jedoch ein jähes Ende gesetzt. Obwohl sie seitdem einander näher denn je schienen, hatte ihre Beziehung sich verändert, ohne dass Rothen genau sagen konnte, was sich verändert hatte. Es war wie ein stummes Einverständnis, das mit ihren jeweiligen Erlebnissen in Sachaka zu tun hatte. Sonea wirkte oft düster und ihr Mann schien zuweilen düsterer denn je, sofern das überhaupt möglich war. Es bedrückte Rothen, dass er seine Ziehtochter vor alldem nicht hatte bewahren können und er konnte sich nicht einmal annähernd vorstellen, wie dieses halbe Jahr für Akkarin gewesen sein musste.
Durch Sonea ist mein Leben wieder lebenswert geworden, hatte der schwarze Magier damals gesagt. Ohne sie bin ich nichts.
An jenem Tag hatte Rothen eine leise Ahnung dessen erhalten, wie entsetzlich es für Akkarin sein musste, dass die Frau, die er liebte, in die Fänge seines größten Feindes geraten war. Es barg für ihn ein Grauen, das er nicht einmal an Yilaras Tod bemessen konnte.
Ich werde versuchen, sie zu retten, hatte Akkarin versprochen. Doch wenn ich scheitere, dann werde auch ich nicht zurückkommen.
Dann scheitert nicht, hatte Rothen in einem seltenen Anflug von Zuneigung und Furcht, sowohl um ihn als auch um Sonea, verlangt.
Und er war nicht gescheitert. Gemeinsam mit einigen Magierinnen der Verräter war Akkarin in den Palast von Arvice eingedrungen, hatte seine Frau befreit und zugleich durch eine List an die einhundert von Marikas Anhängern getötet. Der König von Sachaka hingegen war durch Soneas Hand gestorben, nachdem Akkarin zuvor seine Kraft genommen hatte. Auch wenn einige Magier diese Version bezweifelten, weil Soneas Kräfte damals blockiert gewesen waren, so brauchte Rothen nur in ihre Augen zu sehen, um zu wissen, dass sie es getan hatte.
Sie hat ihn hingerichtet, dachte Rothen. Sie hat einen König hingerichtet. Obwohl Sonea im Krieg gegen die Sachakaner wiederholt getötet hatte, passte diese Kaltblütigkeit nicht zu ihr. Dass sie es dennoch getan hatte, zeigte, wie sehr sie unter diesem Mann gelitten hatte, und offenbarte Rothen ein Wissen, das er zugleich fürchtete.
Jetzt, fast zwei Jahre später, waren die Kämpfe nicht mehr nur auf Sachakaner und Gilde beschränkt. Die Gilde hatte sich mit den Verrätern verbündet – einer Gruppe schwarzer Magierinnen, die in Sachaka für Gerechtigkeit kämpfte und ihre Feinde davon abhielt, nach Kyralia einzudringen. Sachaka selbst drohte ein zweiter Bürgerkrieg, da der neue Imperator den Frieden im eigenen Land nur halten konnte, indem er seine Gegner in die Ödländer verbannte und den Rest mit Rache an den Mördern seines Vorgängers und dessen Anhängern vertröstete. Um gegen die Gilde und die Verräter zu bestehen, hatte Kachiro ein Bündnis mit den barbarischen Duna aus dem heißen Land im Norden Sachakas geschlossen. Ihre Magier machten nun Jagd auf die Verräter – im vergangenen Herbst waren sie sogar einmal kurz davor gewesen, das Versteck der Verräter zu finden – und es sah nicht so aus, als würde dieser Krieg so bald ein Ende finden.
Die Gilde selbst lebte nur in einem scheinbaren Frieden, der Kriegszustand war auch nach zwei Jahren nicht aufgehoben. Es würde erst Frieden herrschen, wenn die Sachakaner aufhörten, nach Kyralia zu trachten.
Und wenn die Verräter fielen, dann fiel auch die Gilde.
Und das alles nur, weil die Entdeckung, dass das Oberhaupt der Gilde schwarze Magie praktiziert, für einen Skandal gesorgt hat, der bis nach Sachaka reichte!, dachte Rothen. Tagelang hatten sich die Magier damals per Gedankenrede über Akkarin und seine Novizin unterhalten. Kurz darauf hatte eine kleine Gruppe Sachakaner die Gilde angegriffen und als die Nachricht nach Arvice vorgedrungen war, hatte der damalige König Sachakas seine Chance gewittert, sich zurückzuholen, was nach Ansicht seines Volkes rechtmäßig zu seinem Land gehörte. Nur weniger Monate später hatte die Gilde sich mehreren hundert schwarzen Magiern gegenübergesehen, die sie nur dank alchemistischer Waffen und schwarzmagischer Artefakte bezwungen hatte.
Im Nachhinein fand Rothen, es war ein Fehler gewesen, Akkarin seines Amtes zu entheben. Balkan mochte ein fähiger Anführer gewesen sein, aber es hatte ihm an Akkarins politischem und diplomatischem Geschick gemangelt. In dem einen Jahr von Balkans Amtszeit war die Gilde zerstrittener und gespaltener denn je gewesen. Mit Ausbruch des Krieges hatten immer mehr Magier verlangt, dass Akkarin die Gilde wieder anführte. Durch seine selbstlose und heldenhafte Rettung der Gilde bei der Schlacht von Imardin und seine Entscheidung, der Gilde seiner eigenen Frau gegenüber den Vorzug zu geben und sie anschließend in einer Selbstmordmission zu befreien, genoss Akkarin mehr Bewunderung und Respekt denn je.
Balkans Rücktritt war nur die logische Konsequenz dessen gewesen. Seine Entscheidung war jedoch einzigartig in der Geschichte der Gilde. Die Gilde wählte ihren Anführer auf Lebenszeit, und sofern dieser nicht gegen seinen Eid verstieß und ein Verbrechen beging, blieb er Hoher Lord bis zu seinem Tod. Indem die Gilde Akkarin mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt hatte, hatte sie ihm verziehen, dass er jahrelang hinter ihrem Rücken schwarze Magie praktiziert hatte. Zugleich hatte seine Rückkehr zur Macht für großes Aufsehen gesorgt und Rothen bezweifelte nicht, dass die Sachakaner davon wussten.
Inzwischen kam es Rothen so vor, als wäre das Ausüben schwarzer Magie nie ein Verbrechen gewesen. Die drei Gildenmagier, die in das Geheimnis eingeweiht waren, hatten sich indes einigen Bedingungen beugen müssen. Das Ausgehverbot und das Verbot zu unterrichten waren inzwischen wieder aufgehoben. Sonea und Lord Sarrin, der kurz vor dem Krieg als Reserve ausgebildet worden war, mussten sich jedoch regelmäßigen Kontrollen durch die höheren Magier unterziehen. Als Hoher Lord war Akkarin nach einer längeren Diskussion davon ausgenommen worden, doch er ließ die Kontrollen freiwillig über sich ergehen, um den Magiern die Sicherheit zu geben, die sie brauchten.
Seltsam nur, dass die Sachakaner keine Schwierigkeiten mit ihren schwarzen Magiern haben, fuhr es Rothen durch den Kopf. Und das, obwohl sie so unzivilisiert und barbarisch sind.
Rothen erklomm die Stufen zum Eingang der Residenz des Hohen Lords. Seit Akkarin und Sonea wieder hier wohnten, war das Gebäude etwas weniger unheimlich, als während Akkarins erster Amtszeit als Hoher Lord. Die Fenster im Obergeschoss waren hell erleuchtet und zu beiden Seiten des Eingangs brannten Lampen. Im letzten Sommer waren die Stufen mit Blumentöpfen dekoriert gewesen. Jetzt türmte sich indes der Schnee zu beiden Seiten der Treppe.
Ganz würde Rothen jedoch nie aufhören, bei dem Anblick Unbehagen zu verspüren.
Die Türen schwangen auf, bevor er überhaupt anklopfen konnte. Stirnrunzelnd trat er ein.
Der Empfangsraum war verlassen und Rothen begann sich zu fragen, ob er zu früh war.
Dann hörte er Schritte und Akkarins Diener eilte durch eine Tür ein Tablett mit Gläsern vor sich tragend. Als er Rothen sah, hielt er inne.
„Guten Abend, Mylord“, sagte er sich verneigend. „Der Hohe Lord und Lady Sonea erwarten Euch im Speisesaal. Wenn Ihr mir bitte folgen würdet.“
Takan wandte sich nach links und stieg eine Treppe empor. Rothen folgte ihm auf einen Flur, auf dem jene Räume der Residenz lagen, die Besucher für gewöhnlich zu sehen bekamen. Die privaten Räume des Hohen Lords und seiner Frau befanden sich indes auf der anderen Seite. Dort war er bis jetzt nur gewesen, als Sonea gerade ihren kleinen Sohn geboren hatte. Und einmal, als er sie und den kleinen Lorlen wenig später besucht hatte.
Der Diener trat durch die weit geöffneten Türen des Speisesaals.
„Lord Rothen ist eingetroffen“, verkündete er. Er stellte die Gläser auf eine Anrichte, dann verneigte er sich und eilte wieder hinaus.
„Guten Abend Hoher Lord“, grüßte Rothen, einen Schritt in den Raum machend. „Lady Sonea.“ Sein Blick fiel auf den jungen Mann in den roten Roben und die grüngewandete Frau neben ihm. „Lord Regin und Lady Trassia.“
Soneas beste Freunde fuhren herum. Für einen Augenblick sah es aus, als wollten sie sich vor ihm verneigen, dann zupfte Regin seine Freundin am Ärmel.
Rothen verkniff sich ein Lächeln. In spätestens ein paar Tagen würden sie sich daran gewöhnt haben, richtige Magier zu sein.
„Rothen!“ Sonea löste sich von der Seite ihres Mannes. Ihr Weinglas beiseitestellend, schritt sie auf ihn zu und ergriff seine Hände. „Wie schön, dass du da bist!“
„Den Abschluss deines Studiums zu feiern kann ich mir doch nicht entgehen lassen“, erwiderte er. Er betrachtete Sonea genauer. Sie war schon lange nicht mehr das kleine, unsichere, abgemagerte Mädchen aus den Hüttenvierteln, dem er sich angenommen hatte und auf das Leben in der Gilde vorbereitet hatte. Sonea war zu einer selbstbewussten, hübschen Frau herangewachsen. An diesem Abend trug sie ihr Haar zusammen, wie es sich für eine kyralische Ehefrau gehörte, jedoch auf eine exotische Weise hochgesteckt. Der Schmuck in ihrem Haar wirkte ebenfalls exotisch. Rothen schüttelte unwillkürlich den Kopf. Warum hatte sie diese Sachen aus Sachaka mitgebracht und trug sie, wenn die Monate in Marikas Palast offenkundig traumatisch gewesen waren? Sonea sprach nie darüber, aber er sah es in ihren Augen, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Warum also hielt sie so daran fest? Oder tat sie das vielleicht, um vorzugeben, alles wäre nur halb so schlimm gewesen?
„Ich hoffe, du fühlst dich nicht einsam unter so vielen Paaren“, sagte sie. „Ich wollte Dannyl einladen, aber er hat momentan in Vin zu tun.“
„Seit Dannyl nach Elyne versetzt wurde, habe ich gelernt, ohne ihn klarzukommen“, erwiderte Rothen lächelnd. Sein ehemaliger Novize hatte es weit gebracht. Vom zweiten Botschafter zu Elyne war er nach dem Krieg gegen Sachaka zum Auslandsadministrator befördert worden. Seine hartnäckigen Verhandlungen über ein Bündnis mit den Verrätern, die sich als überaus stur und unflexibel erwiesen hatten, hatten viel dazu beigetragen. Obwohl Rothen oft bedauerte, dass sein Freund nur noch selten nach Imardin kam und er ihre heiteren Gespräche vermisste, war er zugleich stolz, weil Dannyl in seinem Leben so weit gekommen war.
„Möchtest du ein Glas Wein vorab?“, fragte Sonea, ganz die perfekte Gastgeberin gebend. „Das Abendessen wird sich leider ein wenig verzögern, weil wir noch auf Lord Balkan und Luzille warten.“
„Die sich wahrscheinlich noch fertig frisieren muss“, hörte er Regin murmeln, dicht gefolgt von einem leisen „Au!“, als Trassia ihn in die Seite stieß.
Rothen kicherte. „Sehr gerne“, sagte er zu seiner ehemaligen Novizin gewandt. „Anurischer Dunkelwein nehme ich an?“
„Fünf Jahre gelagert.“ Akkarin drückte ihm ein goldverziertes Glas befüllt mit der dunkelroten Flüssigkeit in die Hand. „Der Jahrgang erschien mir angesichts des Anlasses als passend.“
Auch in der Gegenwart seiner Frau empfand Rothen den Hohen Lord als furchteinflößend. Seine hochgewachsene Gestalt und die harschen Gesichtszüge, die durch sein langes schwarzes Haar, das er auf altmodische Weise im Nacken zusammengebunden trug, betont wurden, trugen nicht unwesentlich dazu bei. Rothen bildete sich jedoch auch ein, dass eine Aura der Macht von Akkarin ausging, die zweifelsohne von seinem jahrelangen Gebrauch schwarzer Magie kam, und dass es das war, das die Gilde schon früher dazu gebracht hatte, vor ihm in Ehrfurcht zu erstarren. Er versuchte sich vorzustellen, wie es sein mochte, mit einem solchen Menschen zusammenzuleben oder gar verheiratet zu sein – und scheiterte.
Bemüht, sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen, nahm er das Glas entgegen. Auch wenn er ahnte, der schwarze Magier hatte davon längst aus seinen Gedanken erfahren. Es war kein Geheimnis, dass Akkarin die Oberflächengedanken anderer Magier und auch von Menschen mit latentem magischen Potential lesen konnte. Seit seinem ’Unfall’ bei der Invasion der Ichani geschah dies oft ungewollt. Rothen hatte sich daher von Sonea zeigen lassen, wie er seine Gedanken verbergen konnte, wenn er nicht wollte, dass ihr Mann diese mitbekam.
Seine unerfreulichen Gedanken vertreibend hob er sein Glas. „Auf dich, Sonea!“
Sie stießen an.
„Ich bin wirklich froh, dass du gekommen bist, Rothen“, sagte Sonea, nachdem sie beide einen Schluck getrunken hatten. „Das bedeutet mir wirklich viel.“
Rothen war tief bewegt. Jedoch nicht wegen ihrer Worte, sondern wegen dem, was sie nicht gesagt hatte. „Das ist doch selbstverständlich“, erwiderte er.
Nachdem er Sonea als Novizin verloren hatte, hatte er sie nicht unterrichten dürfen. Und als sich schließlich die Chance dazu ergeben hatte, hatte Sonea gute Gründe gehabt, sie auszuschlagen. Rothen konnte ihr das nicht übelnehmen und er wusste, dass sie sich deswegen insgeheim schuldig fühlte.
„Wie geht es Farand?“, fragte Sonea.
„Er hat in dieser Woche noch zwei Prüfungen. Und dafür lernt er fleißig.“
Sonea runzelte die Stirn. „Tut er das nicht immer? Ist es nicht noch ein halbes Jahr bis zu seinen Abschlussprüfungen?“
„Wenn er weiterhin lernt, ja“, antwortete Rothen. „Allerdings hege ich letzter Zeit die Befürchtung, dass er anfängt, sich für Mädchen zu interessieren.“
Sonea hob die Augenbrauen. „Farand ist achtundzwanzig, Rothen! Natürlich interessiert er sich für Mädchen!“
„Aber diese sind mehr als zehn Jahre jünger“, wandte Rothen ein. Der Elyner war bereits Mitte zwanzig gewesen, als die Gilde ihn aufgenommen hatte. Um ihm das Leben unter den Magiern zu erleichtern, hatte Rothen die Verantwortung für ihn übernommen. Wie sich herausgestellt hatte, war Farand mit einer außergewöhnlichen Intelligenz und einer großen Vorliebe für Alchemie gesegnet. Sein Alter bescherte ihm zudem eine höhere Auffassungsgabe als den anderen Novizen und Rothen freute sich bereits darauf, dass Farand nach seinem Abschluss offiziell zu seinem Assistenten wurde.
„Ah, die Novizinnen sind doch die interessantesten“, warf Regin ein. „Sie sind jung und unschuldig. Zumindest meistens.“
„Regin!“, entfuhr es Soneas Freundin entsetzt.
„Was hast du?“, fragte der junge Mann betont unschuldig. „So hast auch du mein Interesse erweckt.“
Trassia bedachte ihn mit einem finsteren Blick und wandte sich ab. Sonea schenkte Rothen ein entschuldigendes Lächeln und wandte sich dann zu ihrer Freundin. Und plötzlich fand Rothen sich dem schwarzen Magier allein gegenüber.
Ein Seufzen unterdrückend nippte er an seinem Wein, bemüht, um sein Unbehagen zu überspielen. Als Gastgeberin war es Soneas Pflicht, die weiblichen Gäste zu unterhalten. Und er hatte so eine Ahnung, dass Trassia ein größeres Redebedürfnis als er hatte.
„Ich verstehe, wenn Euch der heutige Abend unangenehm ist“, brach Akkarin das Schweigen, nachdem beide Männer eine Weile einander angestarrt hatten. „Ihr hättet derjenige sein sollen, der Sonea heute aus seiner Obhut entlässt.“
Rothen winkte ab. „Darüber bin ich hinweg. Tatsächlich muss ich Euch danken, weil Ihr Euch so intensiv ihrer Ausbildung gewidmet habt. Dank Euch hat sie erreicht, als es ihr unter meiner Anleitung möglich gewesen wäre.“
Über das Gesicht des Hohen Lord huschte der Anflug eines Lächelns. „Das hat sie, nicht wahr?“, sagte er seltsam ironisch.
Nicht wissend, wie er diese Bemerkung verstehen sollte, entschied Rothen, es war Zeit, es mit einem anderen Thema zu versuchen. „Ich bin gespannt, wie die neuen Winternovizen sind“, sagte er. „Der letzte Jahrgang hat sich einen Klassenkampf geliefert, der beinahe den nächsthöheren Jahrgang in Mitleidenschaft gezogen hat.“
„Nun, ich bin sicher, Ihr werdet in Eurer Klasse alles tun, um den Novizen die Wertevorstellungen der Gilde zu vermitteln.“ Mit einem Stirnrunzeln schwenkte Akkarin den Wein in seinem Glas. „Angesichts der Ereignisse des letzten Halbjahres bin ich jedoch zu der Ansicht gelangt, dass es nicht schaden könnte, für die Novizen aus den Häusern einen Vorbereitungskurs mit den Schwerpunkten Moral und Sozialverhalten zu veranstalten, so wie wir die weniger Privilegierten in dem Basiswissen unterrichten, das sie benötigen, um an unserer Universität zu studieren.“
Rothen nickte. „Da stimme ich Euch zu. Ich bin sicher, nach dem letzten Halbjahr werden der Rektor und die übrigen Studienleiter diese Idee begrüßen.“
Akkarin lachte leise. „Das ist wahrscheinlich.“
Seit die Gilde auch Kinder aus den Hüttenvierteln und den Familien der Bauern, Kaufleute und Handwerker aufnahm, kamen jedes Halbjahr zwei neue Klassen hinzu, in denen Novizen aus allen Bevölkerungsschichten gemischt wurden, um die Integration der nicht-adligen Sprösslinge zu fördern. Das verlief indes nicht immer reibungslos. Während die Kinder aus den Häusern mit dem Rest der Klasse nichts zu tun haben wollten, blieben die Kinder aus dem Äußeren Ring aus Misstrauen gegenüber ihren Klassenkameraden für sich. Die Kinder aus der Mittelschicht der Bevölkerung schlugen sich dabei meist auf die eine oder die andere Seite.
In einer der beiden Klassen, die zum Sommerhalbjahr ihr Studium begonnen hatten, war die Situation eskaliert, als einer der Novizen aus den Häusern begonnen hatte, sich mit anderen gegen die Kinder aus den Hüttenvierteln zu verbünden. Nach nur wenigen Wochen hatten sich die Feinseligkeiten auf die Parallelklasse ausgeweitet und hatten schließlich sogar die Novizen aus dem zweiten Jahr gegeneinander aufgebracht, die bis dahin zu einer Art stillschweigendem Friedensabkommen gefunden hatten. Als Folge dessen hatten einige Magier gefordert, dass nur noch Kinder aus der Ober- und Mittelschicht Kyralias aufgenommen werden sollten. Die Oberhäupter einiger einflussreicher Häuser hatten sich diesem Protest angeschlossen, nachdem die Neuigkeiten über die Kämpfe der Novizen bis in den Inneren Ring vorgedrungen waren.
Der König hatte den Protest jedoch im Keim erstickt und auf das von ihm erlassene Gesetz hingewiesen, dass die Gilde dazu verpflichtete, Kinder aus allen Bevölkerungsschichten auszubilden, sofern ihr magisches Potential und ihre Intelligenz den Anforderungen entsprachen.
„Das Problem mit den Klassenkämpfen würde sich vermutlich in Wohlgefallen auflösen, wenn die Lehrer strenger zu den Novizen wären“, sagte Regin. „Und damit meine ich streng sowohl zu den Novizen aus den Häusern als auch zu denen aus der Unterschicht. Doch sie lassen ihren Schülern zu viel durchgehen, weil sie die Novizen aus der Unterschicht insgeheim verachten.“
So wie dir, dachte Rothen. Er hatte nicht vergessen, wie Regin seine ehemalige Novizin während ihres ersten Studienjahres schikaniert hatte. Inzwischen mochten sie beste Freunde geworden sein, Regins Charakter hatte sich indes kaum verändert. Seine Niedertracht richtete sich jetzt nur gegen andere.
„Das mag früher so gewesen sein“, sagte er. „Doch die Lehrer, die diese Klassen unterrichten, werden nach ihrer Toleranz ausgewählt. Ich denke, es ist vielmehr eine Frage der Überforderung.“
„Was sich vermeiden ließe, wenn die Lehrer strenger wären.“
„Strenge funktioniert nur in Verbindung mit Fairness“, sprach Akkarin. „Novizen sind nicht dumm, sie merken, wenn sie ungerecht behandelt werden. Und das macht sie rebellisch.“
Rothen unterdrückte ein Kichern. „Wenn sie sich gegen ihre Lehrer zusammentun, würde das ihre Streitigkeiten auch beenden.“
„Lasst das nicht Eure Novizen hören“, riet der Hohe Lord.
„Sie würden sie nur vergessen, bis sie einen Lehrer bekommen, der sie nicht ungerecht behandelt“, wandte Regin ein.
Rothens Erleichterung kannte keine Grenzen, als die Tür aufging und Takan mit der Nachricht, Lord Balkan und seine Frau seinen eingetroffen, eintrat. Nur wenige Augenblicke später traten das Oberhaupt der Krieger und eine kleine Elynerin mit widerspenstigen goldenen Locken ein. Trotz der winterlichen Kälte trug sie ein dünnes, tief ausgeschnittenes Kleid mit kurzen Rüschenärmeln. Als Ehefrau eines Magiers hielt Luzille es nicht für nötig, sich in Pelze zu wickeln, wenn sie mit ihrem Mann ausging.
„Guten Abend“, dröhnte Balkan. „Hoher Lord, Lady Sonea. Meine Frau und ich danken für die Einladung.“
Sonea löste sich von ihrer Freundin, um ihre neuen Gäste zu begrüßen.
„Guten Abend, Lord Balkan“, sagte sie und es kam Rothen so vor, als müsse sie sich die Verneigung verkneifen. „Und Luzille“, fuhr sie ein Lächeln aufsetzend fort.
Die beiden Frauen küssten einander auf beide Wangen. Luzille erhielt ein Glas Wein, und nachdem sie die anderen Anwesenden begrüßt hatte, beteiligte sich an der Konversation von Sonea und Trassia.
Balkan trat zu Rothen und den anderen beiden Männern. „Ich bitte um Entschuldigung für unsere Verspätung“, sagte er. „Diese war wieder einmal dem Hang zum Perfektionismus zu verschulden, den meine Frau bei ihrem Aussehen an den Tag legt.“
Akkarin warf einen Blick zu den Frauen, wo Luzille damit begonnen hatte, auf Trassia einzureden. „Das ist ihr wahrhaftig gelungen.“
„Das hätte sich vermeiden lassen, hätte sie früher damit begonnen, sich zurechtzumachen“, brummte Balkan.
Der Hohe Lord winkte ab. „Takan war ohnehin noch mit den letzten Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt. Jedoch ...“, seine Augen wanderten zur Tür und verengten sich, „... ist er genau zum richtigen Zeitpunkt damit fertig geworden.“
Die Türen schwangen erneut auf und Takan trat ein, ein großes Tablett voll mit kleinen Schälchen vor sich her balancierend. Ein köstlicher Duft stieg in Rothens Nase, und als er einen Blick auf die aufwändig zubereiteten Speisen warf, ahnte er, Akkarins Diener hatte sich wieder einmal selbst übertroffen.
Der Hohe Lord und seine Frau lösten sich von ihren Gästen und nahmen ihre Plätze an den Kopfenden der Tafel ein. Nachdem sich auch die Gäste gesetzt hatten, beschrieb Takan die verschiedenen Gerichte, füllte ihre Weingläser auf und zog sich zurück.
Dann begannen sie zu essen.
„Was für ein wundervoller Abend.“ Luzille umarmte Sonea so fest, dass diese sich von den Brüsten der anderen Frau erdrückt fühlte. „Vielen Dank noch einmal für die Einladung, meine Süße und noch einmal meine besten Wünsche zu deinem Abschluss.“
„Danke“, erwiderte Sonea atemlos.
Luzille wandte sich zu Akkarin. „Und Euch danke ich selbstverständlich auch, Hoher Lord. Richtet Eurem Koch aus, dass das Essen wie immer vorzüglich war.“
„Das wird Takan gewiss freuen“, erwiderte Akkarin trocken.
Die junge Elynerin griff nach Soneas Händen. „Morgen gehe ich im Krankenhaus aushelfen“, teilte sie ihr mit. „Du weißt schon, niedere Arbeiten für Nichtmagier. Ich würde mich freuen, wenn du dich mir anschließt.“
„Ich habe noch keine Pläne für morgen.“ Sonea sah zu ihrem Mann. „Es sei denn, der Hohe Lord besteht darauf, dass ich morgen mit meiner Forschung beginne.“
Akkarin schüttelte den Kopf. „Geh ruhig. Es spricht nichts dagegen, wenn du an einem oder zwei Tagen im Krankenhaus aushilfst. Du hast lange genug darauf gewartet.“
„Danke.“ Sonea schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, dann wandte sie sich wieder zu Luzille. „Dann sehen wir uns morgen früh. Wann wolltest du los?“
„Oh, das hat Zeit, meine Liebe. Schlaf dich morgen erst einmal aus. Du kannst mir eine Nachricht schicken, wenn du soweit bist.“
„Und da solltet Ihr meiner Frau nicht widersprechen, Lady Sonea“, fügte Balkan hinzu. Er bot Luzille seinen Arm. „Sie kann in dieser Hinsicht recht durchsetzungsfähig sein.“
Sonea zog es vor, nichts darauf zu erwidern. In dieser Ehe war Balkan nicht derjenige, der die Roben anhatte.
„Und weil ich so durchsetzungsfähig bin, gehen wir jetzt nach Hause“, erklärte Luzille fröhlich. Sie hängte sich bei ihrem Mann ein. „Komm mein kleiner brummiger Bovar, verabschiede dich vom Hohen Lord und seiner Frau.“
Zu Soneas Erheiterung verdrehte das Oberhaupt der Krieger die Augen. „Hoher Lord, Lady Sonea, ich wünsche eine gute Nacht.“
„Ebenso, Lord Balkan“, wünschte Akkarin mit unterdrückter Erheiterung.
Das seltsame Paar verließ den Empfangsraum. Als die Tür aufging und ein eisiger Luftstoß hineinfegte, quiekte Luzille auf. Bevor sich die Tür wieder hinter ihnen schloss, sah Sonea noch, wie Balkan einen Wärmeschild um sich und seine Frau errichtete und diese sich an seinen Arm schmiegte.
Dann fiel die Tür zu und sperrte Schnee und Kälte aus.
„Endlich!“, entfuhr es Sonea. „Ich dachte schon, sie gehen nie!“
„Du hast dich gut gehalten“, erwiderte Akkarin.
„Aber es hat mich so unglaublich viel Kraft gekostet.“ Sonea seufzte. Mehr als ein Jahr war seit ihrer Rückkehr vergangen und noch immer hatte sie das Gefühl, sich verstellen zu müssen. Ohne die Vorbereitungen für die Abschlussprüfungen als Ausrede war es schlimmer denn je. „Ich kann nicht mehr so wie früher sein. Ich weiß nicht mehr, wie ich früher war.“
„Weil die alte Sonea in Sachaka gestorben ist“, erwiderte Akkarin sanft. „Du stehst vor einem neuen Lebensabschnitt, Sonea. Ich verstehe, dass du unsicher bist. Doch setz dich nicht so sehr unter Druck.“
„Vielleicht hast du recht“, gab sie widerwillig nach. Sie fürchtete die Veränderung, die dieser Tag in ihr Leben gebracht hatte. Vielleicht war sie darüber, die anderen Magier nicht hinter ihre Maske blicken zu lassen, so paranoid geworden, dass sie glaubte, sie würden noch immer mit Mitleid oder Verachtung auf sie blicken, wenn sie sie fallenließ. Die anderen Magier würden inzwischen längst vergessen haben, dass sie ein halbes Jahr fort gewesen war. Wahrscheinlich würden sie es nicht einmal wagen, Spekulationen anzustellen, weil sie ihren Mann zu sehr fürchteten. Dennoch zog Sonea es vor, ihnen dazu keinen Anlass zu geben. Sie durften es niemals erfahren.
Außer ihr und Akkarin kannte niemand die Wahrheit über Arvice. Aber vor ihm brauchte Sonea sich weder schämen noch verstellen. Bei ihm brauchte sie nicht stark sein. Bei ihm konnte sie sein, was Sachaka aus ihr gemacht hatte.
Tatsächlich half seine Nähe in ihren schwachen Momenten am besten. Sie vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit. Akkarin hatte ihr das Versprechen abverlangt, nie wieder einen Fuß nach Sachaka zu setzen, er würde nicht zulassen, dass ihr etwas Derartiges ein zweites Mal widerfuhr. Und wenn seine dunkle Seite sie in Besitz nahm, war es nur allzu leicht zu vergessen.
Als sie aufsah, bemerkte sie, dass Akkarin sie nachdenklich musterte. „Sollen wir schlafen gehen?“, fragte er behutsam. „Oder ist dir mehr nach einer Planänderung in Form einer Runde Kyrima?“
„Die ich dann wieder verliere?“ Sonea musterte ihn mit schmalen Augen. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich bin für Schlafen gehen. Das heißt, sofern du nicht wieder auf die Idee kommst, mich wie ein junges Harrel zu behandeln.“
Akkarins Mundwinkel zuckten. Er streckte seine gesunde Hand nach ihr aus. „Das habe ich aufgegeben, als ich erkannt habe, dass ich dir damit keinen Gefallen tue“, sagte er trocken.
Sonea legte ihre Hand in seine stets kühle. Und weil ich dich dazu gebracht habe, deine dunkle Seite zu akzeptieren, fügte sie in Gedanken hinzu, während sie die Treppe emporstiegen. Auch wenn er sich ihr zuliebe darauf eingelassen hatte, so steckte dahinter ein nicht geringer Anteil Eigennützigkeit. Sie ahnte, dass er sogar zu mehr fähig war, als er ihr gegenüber zeigte, dies jedoch zurückhielt, weil er fürchtete, die Kontrolle zu verlieren. Gefragt hatte sie ihn nie. Wegen ihrer Schwangerschaft und der anschließenden Vorbereitung auf die Abschlussprüfungen hatte sich dazu auch keine Gelegenheit ergeben, das weiter zu vertiefen.
Und ein wenig fürchtete Sonea die Antwort auch.
Auf dem Weg zu ihrem Schlafzimmer sahen sie nach Lorlen. Das Baby lag in seinem kleinen Bettchen und schlief tief und fest. Dabei wirkte es so friedlich und hinreißend, dass Sonea nur mit Mühe dem Drang widerstehen konnte, es hochzunehmen und an sich zu drücken. Einst wäre sie an der Vorstellung gescheitert, wie es möglich war, so viel Liebe für etwas so Winziges zu empfinden. Es war ein ähnlich überwältigendes Gefühl wie die Liebe, die sie für seinen Vater empfand.
„Von allen Dingen, die damals passiert sind, ist er mit Abstand das beste“, flüsterte sie. „Denn er ist entstanden, als wir uns am meisten geliebt haben.“
Statt einer Antwort drückte Akkarin ihre Hand nur. „Komm“, murmelte er dann. „Sonst wecken wir ihn auf.“
Sonea nickte und folgte ihm ins Schlafzimmer. In ihr Bedürfnis nach Nähe hatte sich inzwischen eine dunkle Vorfreude gemischt. Sie hatte nicht vergessen, dass Akkarin sie auf den Abend vertröstet hatte.
Akkarins Augen verengten sich und die Schlafzimmertür schwang auf. Er dämpfte seine Lichtkugel und ließ sie vorausschweben. Sonea trat vor ihre Kommode und nahm das Haarnetz mit den Goldfäden ab, dann löste sie die Nadeln aus ihrer Frisur und schüttelte ihr Haar, bis es lang und schwer über ihre Schultern wallte. Mit einem Seufzen streifte sie ihre Stiefel ab und schlüpfte aus ihrer Robe.
„Komm her, Sonea.“
Sonea fuhr herum.
Ihr Mann saß auf einer Bank am Fußende des Bettes, das Kinn auf seine behandschuhte Hand gestützt. Sein Blick ließ sie erschaudern.
„Ja, Hoher Lord“, sagte sie und schritt auf ihn zu.
Akkarins dunkle Augen wanderten über das kurze seidene Unterkleid, das er ihr zu Lorlens Geburt geschenkt hatte und das nur wenig der Phantasie überließ. Seine Hand fuhr in ihren Nacken und zog sie zu sich um sie zu küssen. Sonea japste nach Luft, als seine andere Hand unter ihr Hemd glitt und über ihre Haut strich und rasch wärmer wurde. Sonea schlang die Arme um ihn und ließ zu, dass er den Stoff ihres Unterkleides emporschob und sie schließlich vollends auszog. Ungeduldig nestelte sie an der Schärpe seiner Robe. Akkarin lachte leise und erhob sich, um ihr dabei zu helfen, ihn zu entkleiden. Als er nur noch mit einer Hose bekleidet war, setzte er sich wieder auf die Bank. Seine Hand kehrte zurück in ihren Nacken, doch anstatt sie erneut zu küssen, drückte er sie auf die Knie.
Eine Weile betrachtete er sie, die Stirn nachdenklich gerunzelt, so als wolle er sich vergewissern, dass sie bereit war, dann fuhren seine Hände durch ihr Haar und er beugte sich zu ihr herab, um sie voll Verlangen erneut zu küssen. Sonea streckte ihre Arme empor, um sie um seinen Nacken zu legen, doch er bekam ihre Handgelenke zu fassen und hielt sie fest.
„Gib mir deine Kraft.“
Ein Schaudern verspürend konnte Sonea nur nicken. Jeden Abend gab sie ihm ihre verbleibende Magie. Es geschah selten, dass Akkarin ihre Magie einforderte, wenn sie gerade dabei waren, miteinander ins Bett zu gehen. Sonea hätte indes keine Einwände gehabt, würde er ihre Magie jeden Abend auf diese Weise nehmen. Weil ihr gefiel, wofür dieses Ritual stand. Sie hasste es, schwach zu sein und ihre Magie war alles, was ihr Stärke verlieh, wenn sie selbst schwach war und seit Arvice fühlte sie sich allenthalben schwach. Bei Akkarin fühlte sich Schwachsein jedoch richtig an.
Als seine langen Finger sich um ihre Handgelenke schlangen, schloss sie Augen und sandte ihm ihre verbleibende Magie und hörte erst auf, als er ’genug’ sagte.
Sonea sah zu ihm auf. Akkarin streckte eine Hand nach ihr aus und strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Die Zuneigung und die Autorität, die in dieser einfachen Geste lagen, waren ein stilles Versprechen an das, was nun folgen würde. Mit einem neuerlichen Schaudern zwang Sonea ihre Ungeduld zurück. Während sich seine dunklen Augen in ihre bohrten, löste sie die Schnürung seiner Hose. Dann zog er ihren Kopf hinab auf seinen Schoß.
Fragen zum Kapitel
Wie hat euch die Abschlussfeier gefallen? Passt sie für euch zur konservativen Gilde?
Glaubt ihr, dass Regins und Trassias Zusammenleben gutgehen könnte?
Findet ihr Lorlen ist ein passender Name für das Baby?
Glaubt ihr, dass es Rothen insgeheim sehr mitnimmt, dass nicht er derjenige war, der Sonea aus seiner Obhut entlassen hat?
Wie denkt ihr über die aktuelle Beziehung von Sonea und Akkarin? Welche Anzeichen seht ihr, dass ihre Entführung ihre Beziehung noch immer beeinträchtigen könnte? Was könnte der Grund sein, warum sich von Luzille beim Abschied so überfallen fühlt?
Und zuletzt: Wie denkt ihr über die Ereignisse, die zwischen diesem Kapitel und D2K geschehen sind?
- Soneas Schwangerschaft und das Leben mit dem Baby
- die Entwicklungen in der Gilde bzgl. ihrer Öffnung gegenüber der einfachen Bevölkerung
- der noch immer andauernde Konflikt in Sachaka
Im nächsten Kapitel werden einige weitere Hauptfiguren dieser Geschichte eingeführt und es geht um neue Aufgaben.
Damit wären wir dann beim ersten regulären Kapitel. In diesem findet ein Ereignis statt, das für einige der Charaktere sowohl bedeutsam, als auch eine Grundvoraussetzung für ihre Entwicklung in dieser Geschichte ist.
Vielen lieben Dank an Okamii und Lady Jackie für die Reviews zum Prolog! Und ganz herzlichen Dank auch für die Empfehlungen <3
Ich hoffe, dass der Prolog auch dem Rest von euch einigermaßen gefallen hat, auch wenn keiner der Canoncharaktere darin seinen Auftritt hatte. Mir ist erst im Laufe der vergangenen Woche aufgegangen, dass ein Prolog ohne die Lieblingsfiguren vielleicht nicht so der Bringer sein könnte. Allerdings hätte es nichts an meiner Wahl geändert, weil ich die Szene mit Ivasako nicht grundlos gewählt habe.
Dafür kommen in diesem Kapitel ausschließlich Canoncharaktere zum Zuge :)
Zuletzt möchte ich noch ganz herzlich meinen lieben Testleserinnen für ihre großartige Arbeit und ihr Feedback zu den bisher gelesenen Kapiteln, ihre Ideen und ihre Geduld mit mir danken. Und weil sie Dinge sehen, die mir schon nicht mehr auffallen <3
***
Teil 1
Kapitel 1 – Die Abschlussfeier
Jedes Jahr, wenn der Winter Kyralia am festesten in seinen eisigen Griff geschlossen hatte, und die Winterstürme über Imardin fegten und die Dächer, Kuppeln und Türme der Stadt mit einer dichten Decke aus Schnee bedeckten, die sogar die Hüttenviertel in einem märchenhaften Glanz erstrahlen ließ, fand in der Gilde der Magier ein bedeutsames Ereignis statt: Die Abschlusszeremonie der Novizen aus der Winterabschlussklasse.
In diesem Jahr war es nicht anders. Dichter Schnee fiel aus tiefhängenden Wolken und begrub die Universität und das Gelände der Gilde unter einem dichten weißen Teppich. Lange Eiszapfen hingen von den Bögen und Fenstern des Universitätsgebäudes und der Magierquartiere herab und Erstsemesternovizen befreiten jeden Morgen die Wege von Eis und Schnee, die bis zu ihrer Abendschicht erneut eingeschneit waren.
„Wann werden sie uns endlich einlassen?“ Ungeduldig wippte Trassia auf ihren Zehenspitzen auf und ab. „Müssen sie erst noch beraten, wer von uns bestanden hat?“
„Das haben sie doch schon längst entschieden.“ Ihr Freund griff ihre Hände und zog sie zu sich, bis sie einander gegenüber standen. „Glaub mir, wäre es anders, hätte Sonea uns längst vorgewarnt.“
Sonea begnügte sich damit, Regin einen finsteren Blick zuzuwerfen. Warum mussten alle nur eine so große Sache aus diesem Tag machen?
„So ist es doch, oder?“, fügte ihr Freund mit offenkundiger Unsicherheit hinzu.
„Ich weiß nicht mehr als ihr“, antwortete Sonea.
Regin bedachte sie mit einem feixenden Blick. „Nutzt du denn nicht deine ’speziellen’ Beziehungen zu gewissen Magiern in der Führung der Gilde, um an Informationen solcher Art zu gelangen?“
Sonea verschränkte die Arme vor der Brust. So höflich und galant ihr Freund anderen Novizinnen gegenüber sein mochte, so würde die Hassliebe zwischen ihnen beiden ewig währen. In ihrem ersten Jahr waren sie erbitterte Todfeinde gewesen, bis sie Regin vor der gesamten Gilde eine Lektion erteilt hatte. Rückblickend fand sie es noch immer schwer zu glauben, dass sie inzwischen Freunde waren.
„Das ist genau das, was alle von mir erwarten“, gab sie zurück. „Ich sehe nicht ein, ihnen diesen Gefallen zu tun.“
Ein hochgewachsener Novize aus Lan begann zu lachen. „Du tätest besser daran, sie nicht noch weiter zu reizen, Regin. Sonst wirst du nicht mehr erleben, wie es ist, von allen Lord Regin genannt zu werden.“
Lord Regin … Sonea unterdrückte ein Schnauben. Sie fand, Regin war schon jetzt eingebildeter als ihm guttat.
Die Augen ihrer besten Freundin hatten sich bei Hals Worten indes vor Entsetzen geweitet. „Du wirst ihm doch nichts tun, nicht wahr, Sonea?“, fragte sie.
„Wenn er es darauf anlegt, dann kann er das gerne haben.“ Sonea musterte ihren Freund kühl. „Was wäre dir lieber Regin? Eine Niederlage beim Kyrima oder eine öffentliche Demütigung in der Arena?“
„Ich würde doch niemals etwas tun, um deinen Zorn zu erregen, verehrteste Sonea“, erwiderte Regin schmeichelnd.
Sonea verdrehte die Augen und wandte sich ab. Mit zwei Jahren über dem Altersdurchschnitt ihrer Klassenkameraden hatte sie sich schon zu Beginn ihres Studiums als zu alt für derlei Kindereien empfunden. Die fünf Jahre, die seit dem vergangen waren, hatten dieses Gefühl auf unerfreuliche Weise verstärkt. Daran trugen jedoch weniger Regin oder der Mann, der sie nach nur wenigen Monaten ihrem damaligen Mentor weggenommen hatte, die Schuld als das, was danach geschehen war.
Nachdem Sonea anderthalb Jahre unter dem Dach des Hohen Lords in dem Glauben gelebt hatte, er hätte sie zu seiner Novizin gewählt, damit sie Stillschweigen über sein finsteres Geheimnis bewahrte, hatte er sie schließlich in dieses eingeweiht. Die wahren Gründe, aus denen Akkarin schwarze Magie praktizierte, hatten Soneas schlechte Meinung über ihn komplett auf den Kopf gestellt und sie dazu gebracht, das einzig Richtige zu tun: sich Akkarin und seinem heimlichen Kampf anzuschließen.
Von da an hatte das Unheil seinen Lauf genommen. Ihre Entdeckung durch die höheren Magier hatte ihrem Untergrundkampf ein jähes Ende bereitet und die Schwäche der Gilde ihren Feinden offenbart. Die kleine Gruppe aus der Gesellschaft ausgestoßener Sachakaner, die Kyralia daraufhin angegriffen hatte, war nur ein Vorbote des Krieges gewesen, in dem die Gilde sich inzwischen befand. Denn das Wissen, dass in der Gilde schwarze Magie verboten war, hatte den Sachakanern die Chance geboten, Rache für einen vor langer Zeit verlorenen Krieg zu üben. Seitdem hatte die Gilde zahlreiche Verluste eingesteckt, darunter auch Magier und Novizen, die Sonea gekannt und gemocht hatte.
Am meisten von alldem quälten Sonea jedoch die Umstände, durch die dieser Krieg zu ihrem und Akkarins persönlichem Krieg geworden war.
Während Sonea ihre Klassenkameraden betrachtete, fragte sie sich, ob sie diese ganze Aufregung um den heutigen Tag besser verstehen könnte, wäre ihr Studium ohne all diese unerfreulichen Zwischenfälle verlaufen. Seit ihrer Aufnahme in die Gilde hatten sie gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Egal wie gut, oder wie schlecht sie und ihre Klassenkameraden bestanden hatten – sie alle würden ab morgen richtige Magierroben tragen. War das so spektakulär?
Vielleicht ist es anders, wenn man fünf Jahre lang Novizenroben getragen hat, überlegte sie. Bei ihrer und Akkarins Wiederaufnahme hatte die Gilde entschieden, dass sie unabhängig von ihrem Ausbildungsstatus und der später gewählten Disziplin, schwarze Roben tragen musste und dass diese bis zu den Knöcheln reichen sollten – als stumme Erinnerung an was sie war. Zu Beginn hatte Sonea sich damit gebrandmarkt gefühlt, inzwischen hatte die Gilde sie jedoch akzeptiert und brachte ihr einen Respekt und eine Loyalität entgegen, von der sie nicht glaubte, es verdient zu haben.
„Oh, ich kann es kaum erwarten, endlich grüne Roben zu tragen.“ Neben ihr stieß Trassia einen schwärmerischen Seufzer aus. „Davon habe ich geträumt, seit ich erfahren habe, dass ich magisches Potential habe.“
Sonea verspürte einen schmerzvollen Stich. Insgeheim empfand sie einen leisen Neid, weil ihre Freundin ihren Traum verwirklicht hatte. Auch sie hatte einst den Wunsch gehabt, Heilerin zu werden. Es war einer der Gründe gewesen, warum sie der Gilde überhaupt beigetreten war. Aber dann hatte sich alles geändert …
Wenn sie an diese ersten Wochen zurückdachte, erfüllte es Sonea noch immer mit Entsetzen, wie sehr sich alles seitdem geändert hatte. Wie sehr sie sich verändert hatte. Sie hatte Dinge erlebt, die sie nicht einmal ihrem schlimmsten Feind wünschte. Bis auf eine Ausnahme. Und dieser Mann hatte bekommen, was er verdient hatte. Einen tiefen Atemzug nehmend schob Sonea die Bitterkeit beiseite und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart.
An vielen Tagen fiel es ihr noch immer schwer, nicht an ihre Erlebnisse während des Krieges zu denken. Dann kostete es sie all ihre Kraft, vor den anderen Magiern und Novizen vorzugeben, sie wäre wohlauf. Sie wusste, sie würde in Erklärungsnot geraten, würde sie ihrer Maske auch nur einen Augenblick nachgeben und jemand nachhaken. Tatsächlich gab es nur einen, der wusste, was ihr wirklich in diesen sechs Monaten in Arvice widerfahren war. Aber er war auch der Einzige, vor dem Sonea sich für nichts zu schämen brauchte.
Die Türen der Gildenhalle schwangen auf und ein einzelner Magier, dessen Robe eine braune Schärpe trug, trat heraus. Sonea und ihre Klassenkameraden fuhren herum. Neben ihr hielt Trassia den Atem an.
„Verehrte Absolventen.“ Ein ungewohntes Lächeln hatte sich auf Rektor Jerriks Gesicht ausgebreitet. „Es ist soweit. Stellt euch alphabetisch in einer Reihe auf.“
Trassia verzog das Gesicht und löste sich zögernd von Regin, um den Platz hinter Sonea einzunehmen, während Seno sich zwischen sie und Regin schob. Sonea unterdrückte ein Seufzen. Was war nur mit allen Pärchen, dass sie sich benahmen, als wären sie zusammengewachsen?
„Für seine Verhältnisse hat er heute ziemlich gute Laune“, hörte sie Hal murmeln.
„Das kommt daher, dass er sich nach heute nicht mehr über uns ärgern braucht“, murmelte Benon ebenso leise.
„Nur, dass er dafür neue Novizen bekommt, über die er sich die nächsten fünf Jahre ärgern darf“, fügte Regin hinzu.
Der Rektor räusperte sich vernehmlich. „Ich muss doch sehr bitten.“
Auf Jerriks Zeichen folgten sie ihm in die Gildenhalle. Beim Anblick der überfüllten Sitzreihen verspürte Sonea eine jähe Panik. Es bedurfte außergewöhnlicher Anlässe, die gesamte Gilde zusammenzubringen. Eine Abschlusszeremonie erregte selten so viel Aufsehen, meistens kamen die Lehrer und die Familien der Absolventen und einige neugierige Magier. Dieses Mal war es jedoch anders und Sonea ahnte, das lag vor allem daran, dass sie unter den Absolventen war.
Sei nicht albern!, schalt sie sich. Du warst schon öfter hier als deine Klassenkameraden und das zu weitaus unerfreulicheren Anlässen.
Ihr Unbehagen beiseiteschiebend bemühte sie sich um einen neutralen Gesichtsausdruck und versuchte, die Zuschauer zu ignorieren. Ihren Blick fest auf die Empore und die höheren Magier gerichtet, schritt sie hinter Seno durch die Reihen von Magiern und Angehörigen der anderen Absolventen. Ihr Blick huschte flüchtig zu ihrem ersten Mentor, der ihr zuzwinkerte, und blieb dann bei dem Mann in den schwarzen Roben hängen, der direkt unter dem Stuhl des Königs saß. Als sich ihre Blicke begegneten, verzog sich sein Mund zu einem vertrauten Halblächeln.
Sonea spürte einen unwillkürlichen Schauer ihre Wirbelsäule hinab laufen. Sie senkte den Blick auf die Spitzen ihrer Stiefel, wohlwissend, dass er sie nicht aus den Augen lassen würde und mit der leisen Befürchtung, dass es ihn insgeheim amüsierte, weil sie noch immer so auf ihn reagierte.
Vor den höheren Magiern blieben die Absolventen stehen und stellten sich in einer Reihe auf. Rektor Jerrik trat vor sie und musterte sie über seine Hakennase hinweg mit einem Blick, der so etwas wie Wohlwollen ausdrücken sollte.
„Fünf Jahre ist es nun her, dass die meisten von Euch zuletzt hier standen und bei ihrer Aufnahmezeremonie die Roben erhielten, die ihr heute tragt, und euren ersten Eid gesprochen habt. Fünf Jahre, in denen ihr viel erlebt und gelernt und Eure Disziplinen gewählt habt.“ Sein Blick fiel auf Regin und Sonea. „Einige von euch stießen erst später zu dieser Klasse hinzu. Und obwohl ihr euch während des Krieges auseinanderentwickelt habt und einige von Euch in ihrem letzten Jahr nur noch Privatunterricht erhielten, steht ihr nun doch wieder alle zusammen hier.“
Das stimmte nicht ganz, wusste Sonea. Poril, der während ihres ersten Jahres in dieser Klasse gewesen war, hatte das Jahr wiederholen müssen. Sie hatte gehört, dass er es inzwischen ins dritte Jahr geschafft hatte. Bei diesem Tempo würde er mindestens noch fünf weitere Jahre brauchen, bis er hier stehen durfte. Aber wahrscheinlich war es leichter, das Unschöne an einem solchen Tag zu ignorieren.
„Heute werden eure Mentoren euch aus ihrer Obhut entlassen“, fuhr Jerrik fort. „Diejenigen, die keinen Mentor haben, werden von mir entlassen. Anschließend werdet ihr die Roben der Disziplin, die ihr erwählt habt, erhalten. Von heute an seid ihr keine Novizen mehr, sondern Magier und Magierinnen unserer Gilde.“
Jerrik machte eine Handbewegung zu einer der nächsten Sitzreihen. Ein Novize mit einem Tablett, auf dem acht lederne Mappen lagen, eilte mit eifriger Miene herbei.
„Ich werde nun die Abschlusszeugnisse verteilen“, teilte der Rektor ihnen mit.
Anfangen mit Benon traten die Absolventen vor Jerrik, der diesen eine der Mappen überreichte. Mit jedem Absolventen wechselte der Rektor einige Worte und schüttelte ihm die Hand. Nach Hal folgte Trassias erster Freund Narron, der wie Soneas Freundin die Heilkunst gewählt hatte.
„Regin von Winar, Haus Paren.“
Regins Brust schwoll an, als er auf Jerrik zu schritt. Sonea beobachtete, wie er seine Mappe entgegen nahm, sich bedankte und sich dann mit wichtigtuerischer Miene neben Narron stellte. Nach ihm kam Seno an die Reihe, der sich überschwänglich bei Jerrik bedankte.
„Sonea von Delvon, Haus Velan.“
Sonea zuckte zusammen. Auch nach fast zwei Jahren empfand sie es als seltsam, einem Haus anzugehören. Bei ihrer Aufnahmezeremonie war sie einfach nur Sonea gewesen und hatte sich insgeheim dafür geschämt. Der Name ’von Delvon’ erfüllte sie jedoch mit einem ungeahnten Stolz, denn für sie war es nicht irgendein Name.
Einen tiefen Atemzug nehmend trat sie auf den Rektor zu.
„Meinen Glückwunsch, Sonea.“ Mit einem übertrieben freundlichen Lächeln, von dem Sonea wusste, dass es ihr nur galt, weil Jerrik sowohl sie als auch ihren Mentor bis ins Mark fürchtete, überreichte er ihr ihre Mappe. „Du bist die Beste in dieser Abschlussklasse.“
„Ich danke Euch, Rektor Jerrik“, erwiderte sie sein Lächeln erwidernd. Ihre Überraschung war indes nur mäßig. Sie hatte hart gearbeitet, um den an sie gestellten Erwartungen gerecht zu werden und sich mit großem Eifer in die Prüfungsvorbereitungen gestürzt – mit dem positiven Nebeneffekt, dass sie weniger Zeit mit Grübeln und unerwünschten Gedanken verbracht hatte.
„Ich bitte nun die Mentoren der Absolventen zu mir, um die Novizen aus ihrer Obhut zu entlassen“, sprach Jerrik, nachdem auch Trassia und Yalend ihre Zeugnisse erhalten hatten.
Mehrere Magier lösten sich aus den Sitzreihen und bahnten sich ihren Weg zu den Novizen. Von der Empore stieg ein Mann in roten Roben herab. Als alle Mentoren vor ihren Novizen standen, erhob sich der schwarzgewandete Magier von seinem Platz, seine Roben ein wirbelnder Schatten, als er die Stufen hinab schritt und vor Sonea stehenblieb. Für einen langen Moment bohrten sich seine dunklen Augen in ihre. Dann legte er eine Hand auf ihre Schulter.
„Ich entlasse dich aus meiner Obhut, Sonea“, sprach er die obligatorischen Worte.
„Ich danke Euch für die Ausbildung, die Ihr mir gewährt und die Unterstützung, die Ihr mir gegeben habt, Hoher Lord“, erwiderte sie sich über den unsicheren Klang ihrer Stimme ärgernd.
Es war nur eine alberne Formel. Dennoch fühlte es sich an, als würde sich dadurch etwas zwischen ihnen für immer verändern. Sonea wusste nicht, ob sie diese Veränderung begrüßen sollte. Ich hätte nie gedacht, ich würde es einmal bedauern nicht mehr seine Novizin zu sein, fuhr es ihr durch den Kopf. Damals, in ihrem ersten Jahr, war sie nicht glücklich über den Wechsel ihres Mentors gewesen. Wo sie zu Rothen ein nahezu väterliches Verhältnis gepflegt hatte, hatte sie Akkarin gefürchtet und dafür gehasst, dass er sie von dem Mann, der sich ihrer von Anfang an angenommen hatte, getrennt hatte. Und obwohl sie schließlich erkannt hatte, dass Akkarin sie mehr förderte, als Rothen es je vermocht hätte, und sie schließlich aufgehört hatte, ihn zu hassen, hatte Sonea ihn in den folgenden Jahren oft genug für seine Härte verflucht. Ein Echo ihrer einstigen Furcht vor ihm war indes geblieben. Aber sie hatte sich in etwas verwandelt, das Sonea um nichts in der Welt missen wollte.
„Die Absolventen werden nun nacheinander ihren Eid als Magier sprechen“, teilte Jerrik den Anwesenden mit.
„Gib mir deine Mappe“, murmelte Akkarin hinter ihr.
Sonea wandte sich zu ihm um und übergab ihm ihre Mappe. Seine Hände berührten die ihren einen Augenblick länger als nötig. Es genügte, um ein vertrautes Kribbeln auszulösen.
„Ich bin die Beste in meinem Jahrgang“, erklärte sie ihm stolz.
Akkarin nickte kaum merklich. „Ich habe das Zeugnis auch unterschrieben.“ Er öffnete die Mappe und ließ sie einen Blick hineinwerfen. Neben Jerriks steifer Signatur erkannte sie Akkarins elegante Handschrift. Natürlich!, dachte Sonea. Der Hohe Lord war das Oberhaupt aller Magier. Also stand sein Name auf jedem Abschlusszeugnis.
„Dreh dich um“, murmelte Akkarin.
Ihm ein kurzes Lächeln schenkend gehorchte Sonea und beobachtete, wie ihre Klassenkameraden ihren Eid als Magier leisteten. Einige Teile davon entsprachen jenem Eid, den sie bei ihrer Aufnahmezeremonie geleistet hatten. Benon, Narron und Regin schworen ihn direkt dem König von Kyralia, der mit seinen beiden Beratern Lord Rolden und Lord Mirken an der Spitze der Empore saß, Hal, Seno und Yalend leisteten ihren Eid auf die Herrscher ihrer Heimatländer Lan, Vin und Elyne, die einen ihrer in Imardin stationierten Diplomaten geschickt hatten.
Obwohl Sonea in ihrer Vergangenheit schon mehrfach einen Eid hatte schwören müssen, darunter auch vor ihrem König, waren ihre Beine weich, als sie aus der Reihe der Absolventen trat und vor der Empore auf ein Knie ging. Als sie sprach, zwang sie sich zu einer klaren, ruhigen Stimme.
„Ich gelobe, niemals wissentlich einem Mann oder einer Frau zu schaden, es sei denn, dies geschieht zur Verteidigung der Verbündeten Länder. Dies beinhaltet Männer und Frauen aller Klassen und jeden Alters. Von heute an werde ich von allen politischen Fehden meines Hauses mit anderen Häusern Abstand nehmen.“
Das ist doch albern, dachte sie. Was interessieren mich die Streitigkeiten von Haus Velan mit anderen Häusern? Ein Schnauben unterdrückend fuhr sie fort:
„Ich gelobe, den Gesetzen der Gilde zu gehorchen und dem König meines Landes Kyralia zu dienen.“
Und er hat der einzige König zu sein, dem ich diene.
Sonea machte eine Pause und holte tief Luft. Der nächste Teil würde als einziger nur von ihr gesprochen werden. Ohne hinzusehen, wusste sie, dass sämtliche Blicke in der Gildehalle auf sie gerichtet waren und sie spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte.
„Ich gelobe, die mir bekannten bösen Formen von Magie nur zur Verteidigung der Verbündeten Länder und nur auf Befehl meines Königs zu verwenden und mein Wissen darüber friedlich und gewaltfrei zu erweitern, um die Gilde und die Verbündeten Länder vor unseren Feinden zu bewahren.“
Als sie geendet hatte, wurde sie sich der Stille in der Gildehalle bewusst. Sonea wusste, alle Augen waren auf sie gerichtet. Entschlossen verdrängte sie ihr Unbehagen. Sie sah zu dem Mann an der Spitze der Empore, der sie mit seinen grünen Augen eingehend musterte.
„Erhebt Euch, Lady Sonea“, sprach er.
Mit klopfendem Herzen erhob Sonea sich. Nur mit Mühe widerstand sie dem Drang, ihre feucht gewordenen Handflächen an ihrer Robe abzuwischen. Ihr Blick fiel auf Rothen, der ihr ein aufmunterndes Lächeln schenkte. Etwas ruhiger kehrte sie zurück auf ihren Platz.
„Du warst sehr gut“, murmelte Akkarin hinter ihr.
Sonea wandte den Kopf. Statt einer Antwort brachte sie nur ein verlegenes Lächeln zustande.
Nachdem auch Trassia und Yalend ihren Eid gesprochen hatten, trat ein weiterer Novize mit einem Stapel aus roten, grünen und purpurfarbenen Stoffen und einer schwarzen Lage Stoff neben den Rektor.
Sonea runzelte die Stirn. Sie hatte bereits Magierroben. Warum bekam sie neue? Als die Gilde Akkarin erneut zu ihrem Oberhaupt erwählt hatte, war ihre schwarze Schärpe durch eine braune ausgetauscht worden, um ihren Rang von dem ihres Mentors abzuheben. Gemäß dieser Logik brauchte sie nun nur eine Schärpe in der Farbe der von ihr gewählten Disziplin: Rot.
Wenn Sonea darüber nachdachte, dann empfand sie es als eine seltsame Ironie, dass Schwarz seit Jahrhunderten die Farbe des Hohen Lords war. Bis Akkarins Geheimnis ans Licht gekommen war, hatte niemand das in Frage gestellt. Nach ihrer beider Wiederaufnahme hatte die Gilde jedoch entschieden, dass schwarze Roben von schwarzen Magiern getragen werden sollten und dass der Hohe Lord von nun an Weiß trug. Akkarins Wiederwahl hatte die Diskussion um die Farben der Roben erneut entfacht. Er hatte das Weiß kategorisch abgelehnt und man hatte sich schließlich darauf geeinigt, dass der Hohe Lord als einziger schwarzer Magier auch eine schwarze Schärpe tragen durfte. Sonea fragte sich indes, was geschehen würde, wenn der nächste Hohe Lord kein schwarzer Magier war.
„Das Incal“, sagte Akkarin leise hinter ihr. „Oder willst du es weiterhin tragen?“
Soneas Blick fiel auf das kleine Symbol, das mit Goldfäden auf ihren Ärmel gestickt war und dass sie als Novizin des Hohen Lords auszeichnete: die von einem Y geteilte Raute – das Incal der Gilde. Sie hatte sich so daran gewöhnt, es zu tragen, dass es ihr nicht mehr auffiel. Jetzt, wo sie aufgehört hatte, Akkarins Novizin zu sein, stand es ihr jedoch nicht mehr zu. Schließlich war sie nicht die Hohe Lady.
Der Rektor blieb mit seinem Gehilfen vor ihr stehen. Nur noch drei Roben waren übrig. Eine grüne, eine purpurfarbene und eine schwarze.
„Lady Sonea, es ist mir eine Ehre, Euch Eure Roben zu überreichen.“ Jerrik nahm die oberste Robe von dem Stapel und reichte sie ihr.
„Ich danke Euch, Rektor“, erwiderte sie und nahm das Bündel aus schwarzem Stoff entgegen, in das ein breites Stück tiefroter Stoff eingefaltet war. Etwas Goldenes fing ihren Blick ein. Es war jedoch nicht das Incal der Gilde, es war eine Hand und eine Sichel. Soneas Atem stockte. Das alte Symbol für schwarze Magie.
„Aber das geht nicht ...“, stammelte sie.
„Für die Leiterin der schwarzmagischen Studien ist das durchaus angemessen“, erklang eine tiefe Stimme hinter ihr.
Sonea wandte sich um und starrte Akkarin an. Sie fühlte sich bevorzugt. Sie war unsicher, was sie davon halten sollte, weil sie nicht wusste, ob er seinen Einfluss geltend gemacht hatte oder ob die höheren Magier das in einem Akt des Mitleids beschlossen hatten.
„Es ist weder das Eine noch das Andere“, sagte Akkarin.
Sie betrachtete ihn mit schmalen Augen, weil er schon wieder ihre Oberflächengedanken gelesen hatte. „Sondern?“
„Das Symbol soll deine einzigartige Position in der Gilde betonen“, erklärte er ihr. „Deine Forschung könnte unser Überleben sichern.“
Sonea nickte. Nach ihrer Wiederaufnahme war für Akkarin das Amt des Leiters der schwarzmagischen Studien geschaffen worden, weil die Gilde erkannt hatte, dass sie seine Hilfe angesichts des drohenden Krieges brauchten. Sonea hatte ihm assistiert und das Amt schließlich nach seiner zweiten Wahl zum Hohen Lord übernommen. Allerdings hatten ihre Experimente seitdem geruht, weil die Abschlussprüfungen wichtiger gewesen waren und die Verbündeten der Gilde die Situation mit Sachaka unter Kontrolle hatten. Nichtsdestotrotz wäre die Gilde dumm, würde sie nicht Vorkehrungen treffen, um auch ohne Verbündete möglichst wehrhaft zu sein.
Nachdem alle Roben verteilt waren, erklärte Jerrik die Zeremonie für beendet. Die Freunde und Familien der Absolventen verließen ihre Plätze, um den neuen Magiern zu gratulieren. Die höheren Magier und einige Lehrer kamen vor die Empore und sprachen Sonea ihre Glückwünsche aus. Sogar König Merin und seine beiden Berater gratulierten ihr. Sonea spürte, wie sich etwas in ihr löste. Diese Menschen gratulierten ihr nicht wegen ihres Mentors oder aus Mitleid, sondern weil sie sich für sie freuten. Und irgendwie bedeutete ihr das bei Merin mehr als bei allen Magiern zusammen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Sonea den König von Kyralia gehasst hatte. Seitdem hatte Merin jedoch viel für sie und die Menschen, die ihr wichtig waren, getan. Verglichen mit anderen Herrschern, mit denen sie das zweifelhafte Vergnügen gehabt hatte, war er kein so übler König, fand sie.
Zuletzt fand Sonea sich einem purpurgewandten Magier gegenüber, dessen graues Haar nur noch Spuren seines einstigen Schwarz zeigte.
Sein Anblick löste ein plötzliches Gefühl von Wärme aus.
„Herzlichen Glückwunsch, Sonea!“, rief er und umarmte sie. „Wahrhaftig, du hast es geschafft!“
Sonea rang nach Luft. „Danke, Rothen.“
„Und Jahrgangsbeste! Wahrhaftig!“
Sie winkte verlegen ab. „Das hat weniger mit meinem Ehrgeiz als mit den hohen Ansprüchen meines Mentors zu tun.“ Sie löste sich von ihm und wandte sich zu Akkarin. „Ich fürchte, ich muss Euch dafür danken.“
Auch wenn ich dich deswegen oft verflucht habe, fügte sie in Gedanken hinzu.
Akkarins Mundwinkel zuckten. „Alles andere wäre eine Verschwendung deines Potentials gewesen“, erwiderte er trocken.
Sonea verkniff sich eine passende Erwiderung. Das hatte Zeit bis später.
„Du kommst doch heute Abend zum Essen?“, wandte sie sich wieder an Rothen. Ein absurder Teil von ihr fürchtete, er würde absagen. Wenn er schon nicht derjenige war, aus dessen Obhut sie heute entlassen worden war, dann wollte sie ihn wenigstens irgendwie daran teilhaben lassen. Sie hatte ihm viel zu verdanken. Er hatte sie Lesen und Schreiben gelehrt und viel Geduld investiert, damit sie sich wie eine junge Frau aus den Häusern benahm. Was auch geschehen war – er hatte nie aufgehört, zu ihr zu halten. Und er hatte ihr gezeigt, wie sie ihre Magie kontrollieren konnte. Sie hatte ihm zu verdanken, dass sie überhaupt hier war.
Zu ihrer Erleichterung lächelte Rothen. „Natürlich werde ich kommen.“ Seine hellblauen Augen zwinkerten. Er sah zu Akkarin. „Eine Einladung des Hohen Lords und seiner Frau sollte man schließlich nicht ausschlagen.“
„Man tut besser daran, es nicht zu tun“, stimmte Akkarin zu.
„Wir kommen natürlich auch.“ Trassia und Regin waren zu ihnen getreten, ihre Zeugnismappen und Roben unter den Arm geklemmt. Zu Soneas Erheiterung hielten sie schon wieder Händchen. „Doch jetzt müssen wir gehen. Wir müssen noch unsere Zimmer im Novizenquartier räumen und unser neues Apartment beziehen“, erklärte Trassia strahlend. „Oder besser gesagt: Wir müssen darauf achten, dass die Diener alles richtig einpacken.“
Sonea lächelte. Jetzt wo ihre beiden Freunde Magier waren, konnten sie offiziell zusammenleben. Sie verstand Trassias Vorfreude daher nur allzu gut. Es war so viel besser, als jeden Morgen alleine aufzuwachen. Ein wenig bedauerte sie jedoch auch, dass es bei ihr niemals eine bewusste, gemeinsame Entscheidung gewesen war. Aber es war auch eine völlig andere Ausgangssituation gewesen.
„Wenn ihr zu spät kommt, weiß ich Bescheid“, bemerkte sie trocken.
Rothen kicherte.
Ihre Freundin erröte schlagartig. „Daran hatte ich gar nicht gedacht!“, rief sie entsetzt.
Sonea heuchelte ein verständnisvolles Nicken. Sie war nicht sicher, ob sie Trassia das glauben sollte.
Ihre Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als sich aus den sich leerenden Sitzreihen ein unscheinbarer junger Mann löste und sich zwischen den herumstehenden Gruppen von Magiern und Gästen seinen Weg zu ihnen bahnte. Er trug die Uniform der Stadtwache mit dem Abzeichen eines Captains darauf.
„Cery!“, sie löste sich von Akkarins Seite und eilte auf ihren Freund aus Kindertagen zu. „Du bist gekommen!“
„Auch wenn du für mich nicht mehr oder weniger Magierin bist als vorher, wollte ich mir das nicht entgehen lassen.“ Lachend umarmte Cery sie und klopfte sie auf die Schulter. „Muss ich jetzt ’Lady’ sagen und mich vor dir verneigen?“
„Untersteh’ dich!“, rief sie und drohte ihm mit dem Zeigefinger.
Cery hob die Schultern. „Ich versteh’ sowieso nicht, wieso sie so ’ne steife Zeremonie veranstalten, nur damit ihr Magier richtige Roben tragen dürft.“
„Diese steife Zeremonie markiert den Zeitpunkt, ab dem das Studium vorbei ist“, erklärte Sonea. „Für die meisten Novizen ist das ein Anlass zur Freude.“
„Wenn ich ’n Magier wäre, dann würde ich so viel lernen, wie ich könnte. Das muss doch unglaublich spannend sein!“
„Nicht, wenn man ein verwöhnter Sprössling der Häuser ist“, murmelte Sonea.
Cery lachte. „Hai!“, rief er. „Dann kann die Gilde froh sein, dass sie dich hat!“
Sonea schnaubte leise. „Komm“, sagte sie dann und zog ihn zu den anderen.
„Ceryni“, grüßte Akkarin, als sie die kleine Gruppe erreicht hatten. „Wie geht es deiner Familie?“
Cery deutete eine Verneigung an. Sonea wusste, er tat das weniger wegen Akkarin als wegen der anderen Magier. Als ehemaliger Dieb war er zu stolz, um vor der Gilde Demut zu zeigen. „Die Kinder schreien und machen ihre Windeln voll. Nenia und ich haben seit Monaten keine Nacht durchgeschlafen.“
Die kleine Tessia war vor wenigen Wochen mitten während Soneas Prüfungsphase zur Welt gekommen. Errin war mittlerweile fast ein Jahr alt und aus der schlimmsten Schreiphase heraus, dafür jedoch umso aktiver und entdeckungswütiger. Sonea wollte sich nicht ausmalen, wie anstrengend das für Cery und seine Frau zusammen mit einem zuwendungsbedürftigen Neugeborenen sein musste.
„Der ganz normale Wahnsinn also“, bemerkte sie.
Ihr Freund nickte grinsend. „Du kennst das ja.“ Dann wurde er wurde er wieder ernst. „Und deswegen kann ich auch heute Abend nicht kommen. Nenia’s mit den beiden Bälgern und dem Geschäft überfordert und ich kann ihr nur helfen, wenn ich dienstfrei hab’.“
„Das macht nichts“, sagte Sonea. „Kommt vorbei, wenn die Kinder etwas ruhiger sind. Oder ich besuche euch, sobald ich wieder Zeit habe.“
Und vielleicht ist das auch besser so, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie wollte einen heiteren Abend mit Freunden verbringen, doch sie brauchte nur an Regin und seine Abneigung gegenüber den Hüttenleuten zu denken, um zu ahnen, dass es mit ihm und Cery an einem Tisch nicht lange gutgehen würde. Sie bedachte ihren einstigen Widersacher mit einem prüfenden Seitenblick. Jetzt mochte er sich noch gleichgültig geben, doch Sonea kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er das keinen ganzen Abend durchhielt.
Sie spürte, wie Akkarin eine Hand zwischen ihre Schulterblätter legte.
„Wir sollten gehen. Es gibt noch einiges zu tun, bis unsere Gäste kommen.“
So wie für Trassia und Regin?, dachte Sonea amüsiert. Insgeheim verlangte es ihr jedoch nach der Stille und dem Frieden in der Residenz. Jetzt, wo die Zeremonie vorbei war und sich die noch beim Sprechen des Eides verspürte Furcht gelegt hatte, wurde es anstrengend, die Maske aufrechtzuerhalten.
„Ja, Hoher Lord“, sagte sie daher.
Das Kichern und die vielsagenden Blicke ihrer Freunde ignorierend, verabschiedete Sonea sich von diesen und verließ dann mit Akkarin die Gildehalle. Mit dem größer werdenden Abstand spürte sie, wie die Anspannung von ihr abfiel und sie glaubte, wieder atmen zu können.
„Muss ich mein Studierzimmer jetzt räumen?“, fragte, während sie durch den leeren Korridor schritten und die Schritte ihrer Stiefel an den Wänden widerhallten.
„Sonea, du kannst in deinem Studierzimmer bleiben, solange du willst“, antwortete der Hohe Lord. „Auch wenn ich es für angemessener halte, dir einen größeren Raum für deine Arbeit zur Verfügung zu stellen. In der Residenz ist genug Platz.“
„Ich werde darüber nachdenken“, sagte Sonea nicht wissend, ob sie sich über dieses Angebot freuen sollte.
Sie traten ins Freie und schritten die Stufen der Universität hinab.
„Also plant Ihr nicht, in der nächsten Zeit wieder einen Novizen zu wählen?“, fragte Sonea betont beiläufig. Diese Frage beschäftigte sie, seit die Gilde ihr Verbot, Akkarin dürfe nach Sonea keinen Novizen ausbilden, sofern es nicht dem Zweck eines Nachfolgers diente, aufgehoben hatte. Sie hatte es jedoch nie gewagt, das Thema anzuschneiden, aus Furcht vor Akkarins Antwort. Mit ihrem Abschluss hatte dieses Thema jedoch an Aktualität gewonnen.
Bei ihrer Wiederaufnahme hatte die Gilde entschieden, dass weder Akkarin noch Sonea jemals wieder unterrichten durften. Soneas eigener Unterricht und die Ausbildung eines Nachfolgers, die dazu diente, das Geheimnis schwarzer Magie zu bewahren, waren davon ausgenommen. Nachdem Akkarin sein altes Amt jedoch wieder aufgenommen hatte, hatte die Gilde diese Regeln wieder aufgehoben, weil sie sich vor den Häusern und überall in den Verbündeten Ländern lächerlich gemacht hätte, würde sie die Rechte ihres Anführers beschneiden. Insgeheim war Sonea jedoch überzeugt, dass die Magier noch immer fürchteten, Akkarin würde aus jedem Novizen, dem er sich annahm, einen schwarzen Magier machen, so wie es mit ihr geschehen war. Die Wahrheit war jedoch, dass der Hohe Lord nie Interesse daran gezeigt hatte, einen Schüler zu haben. Und es hatte Sonea all ihre Überzeugungskraft gekostet, ihn dazu zu bringen, sie in schwarzer Magie zu unterweisen.
„Nein. Das hat Zeit, bis wir unsere Nachfolger ausbilden.“
Sonea atmete innerlich auf. Trotzdem war die Angelegenheit für sie noch nicht erledigt. Sie wusste, sie würde das Gefühl verlieren, etwas Besonderes zu sein, sobald Akkarin einen neuen Novizen wählte. Und in diesem ganz speziellen Fall wollte sie etwas Besonderes sein. Da sie eines Tages beide einen Nachfolger brauchten, war es jedoch unvermeidlich, dass Akkarin eines Tages wieder einen Novizen wählte. Sonea wusste, sie würde jedem anderen Novizen mit Eifersucht begegnen. Ganz besonders würde es eine Novizin sein. Die Novizen fürchteten Akkarin, aber es gab auch eine Reihe von Mädchen, die alles dafür geben würden, um Soneas Platz einzunehmen. Obwohl sie wusste, sie durfte sich Akkarins Gefühlen sicher sein, war ihr der Gedanke, dass sich eine hypothetische Novizin in ihn verlieben könnte, unerträglich.
„Sonea, du weißt, ich habe kein Interesse daran, Novizen auszubilden“, sagte Akkarin.
Sie nickte. Sie wusste, er hatte sie selbst nur gewählt, weil ihn die Umstände dazu gezwungen hatten.
„Du sollst jedoch wissen, dass ich den oder diejenige nach seiner Eignung auswählen werde“, fuhr er fort. „Diese Entscheidung sollte wohlüberlegt und nicht auf Grund von persönlichen Vorlieben getroffen werden.“
Sie unterdrückte ein Seufzen. „Ja, Hoher Lord.“
Es war sinnlos mit ihm zu diskutieren, wenn seine Entscheidung bereits feststand. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass das jetzt der Fall war. Zudem schien er bereits zu wissen, weswegen sie sich gegrämt hatte. Sie hielt inne. Hatte er etwa …?
Ihr Blick fiel auf den Ring an ihrer rechten Hand. Nein, wahrscheinlich ist das gar nicht nötig gewesen, überlegte sie.
Sie stiegen die Stufen zur Residenz des Hohen Lords empor. Die Tür schwang auf und sie traten in die Empfangshalle. Sie waren zuhause.
„Ich sollte mich umziehen“, sagte Sonea und wandte sich zur Treppe.
„Sonea, ich …“, begann Akkarin.
Einer Ahnung folgend, wandte sie sich zu ihm um.
„Versuch gar nicht erst, es mir auszutreiben“, sagte sie bestimmt. Sie würde ihn so lange mit ’Hoher Lord’ anreden, wie es ihr gefiel. Sie empfand zu viel Respekt und Ehrfurcht vor ihm, um sich das zu verkneifen. Und das wusste er. In gewissen Situationen verlangte er es sogar von ihr.
Akkarin lachte leise. „Darauf wollte ich nicht hinaus.“ Er streckte eine Hand nach ihr aus und zog sie zu sich. „Es besteht kein Grund, Eifersucht auf einen potentiellen Novizen zu haben“, sagte er sanft. „Niemand kann jemals deinen Platz einnehmen.“
„Ich weiß“, flüsterte sie. „Es ist nur … ich bin das Hüttenmädchen. Während du dir meiner immer sicher sein kannst, wäre es vermessen, dasselbe bei dir vorauszusetzen.“
„Du kannst dir meiner immer sicher sein“, erwiderte Akkarin. „Aber es gab eine Zeit, da wusste ich nicht, ob ich mir deiner noch sicher sein kann.“
Wie hatte sie das vergessen können! Plötzlich kam Sonea sich idiotisch vor, weil sie überhaupt an ihm gezweifelt hatte. Sie sprachen fast nie über davor, weil die Erinnerungen schmerzhaft waren und sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie das Gespräch überhaupt dorthin geführt hatte. Sie hasste sich für ihre Unsicherheit und sie hasste es, dass sie Akkarin brauchte, um sie ihr zu nehmen. Das war einmal anders gewesen. Aber das war davor gewesen.
„Es tut mir leid“, flüsterte sie. „Ich wollte nicht …“
Sie brach ab, als das kühle Leder des Handschuhs an seiner rechten Hand über ihre Wange strich und schließlich in ihrem Nacken verweilte. Akkarin tat einen Schritt auf sie zu, dann beugte er sich zu ihr hinab und drückte seine Lippen auf ihre. Ihre Lippen öffnend erwiderte Sonea den Kuss.
„Möchtest du mitkommen?“, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
„Bist du sicher?“
„Das bin ich.“
„Es ist noch genug Zeit bis unsere Gäste kommen“, wandte sie ein.
Akkarin seufzte leise. „Ich fürchte, du musst dich bis danach gedulden. Ich muss arbeiten. Zudem wartet oben jemand auf dich.“
Sonea schob ihre Enttäuschung beiseite. Sie war es gewohnt, dass ihm seine Position in der Gilde wenig Zeit ließ. Trotzdem wünschte sie manchmal, es wäre anders.
Er küsste sie erneut, dieses Mal intensiver.
„Also heute Abend?“
Er löste sich von ihr.
„Ja.“
Sonea verdrehte innerlich die Augen. Er war so unfair, wenn er seine subtilen Waffen einsetzte, um sie dorthin zu bringen, wo er sie haben wollte.
Ihre neue Robe und die Mappe mit ihrem Zeugnis an die Brust gedrückt stieg sie die Treppe zu ihrem privaten Räumen empor.
***
Als der Diener die Tür öffnete, stieß Trassia einen leisen Schrei des Entzückens aus. „Oh, Regin! Das ist so wundervoll!“ Regin mit sich ziehend, eilte sie in den Raum. Ihre grüne Robe wirbelte hinter ihr her. „Sieh dir nur an, wie viel größer es ist, als unsere Zimmer im Novizenquartier! Allein das Wohnzimmer ist fast so groß, wie mein Zimmer zuhause!“
„Ich weiß“, sagte er lachend. „In jedem anderen Fall wäre ich in den Inneren Ring gezogen.“
Er bedeutete den Dienern, die Kisten mit ihren Habseligkeiten zu den Kisten, die bereits von ihren Familien eingetroffen waren, zu stellen und sich zu entfernen. Er und Trassia würden ihr Apartment später einrichten. Trassia hatte sich in den Kopf gesetzt, diese Arbeit unbedingt selbst zu erledigen, damit sie nicht alles umräumen musste, wenn die Diener fertig waren.
Typisch Frauen, dachte Regin. Anderthalb Jahre mit Trassia und einige frühere weniger ernstgemeinte Erfahrungen hatten ihn jedoch gelehrt, dass es klüger war, seine Meinung für sich zu behalten. Frauen konnten sehr unangenehm werden, wenn man sie kritisierte. Sogar so sanftmütige wie Trassia.
Seine Freundin war bereits zum Fenster geeilt. „Oh, sieh nur! Von hier aus kann man die Residenz des Hohen Lords sehen!“
Regin trat hinter sie und drehte sie herum. „Ich glaube nicht, dass Sonea und Akkarin es gut fänden, wenn du sie beobachtest“, sagte er. Obwohl das durchaus interessant sein könnte …
Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er alles getan, um Soneas Geheimnisse herauszufinden und gegen sie zu benutzen. In ihrem ersten Jahr an der Universität hatte er sie regelrecht gehasst. Gehasst, weil die Gilde seiner Meinung nach keine Kinder aus den Hüttenvierteln aufnehmen sollte. Entgegen seiner Erwartung war Sonea nicht dumm und ungebildet, sondern hatte ihn in allem übertroffen. Für Regin war das nur schwer zu ertragen gewesen. Er hatte hart gearbeitet, um die erste Klasse zu überspringen und sie nicht mehr sehen zu müssen und selbst dort war sie ihm zuvorgekommen. Ein ganzes Jahr lang hatte Regin alles versucht, um ihr das Leben schwerzumachen, damit sie endlich aufgab. Selbst nachdem sie völlig unverdient Akkarins Novizin geworden war, hatte er nicht davor zurückgeschreckt, sie zu piesacken. Es hatte eine herbe Niederlage bei einem formalen Duell, Monate des Aus-dem-Weg-Gehens und eine Invasion einer Horde unzivilisierter Sachakaner benötigt, dass sie beste Freunde geworden waren.
Und durch sie waren er und Trassia sich überhaupt erst nähergekommen.
Im Nachhinein verstand Regin nicht, was ihn dazu getrieben hatte, Sonea derart nachzustellen. Obwohl sie beide keinen Hehl daraus machten, dass sie sich immer noch nicht allzu gut leiden konnten, war sie ihm ein besserer Freund als alle seine Freunde unter den männlichen Novizen zusammen. Und irgendwie fiel es ihm schwer, jemand so Grobes wie sie als Mädchen zu sehen.
Nicht so wie Trassia …
Die Wangen seiner Freundin hatten sich derweil rosa gefärbt. „So etwas würde ich nie tun!“, rief sie mit einem leisen Vorwurf in der Stimme.
Regin lachte. „Ihr Schlafzimmer geht zum Wald.“
Sie stieß einen spielerischen Finger gegen seine Brust. „Und woher weißt du das so genau? Hast du geschnüffelt?“
Statt einer Antwort küsste er sie. Er hörte, wie Trassia empört nach Luft schnappte, dann teilten sich ihre Lippen willig und erwiderten den Kuss. In einem Anflug unkontrollierter Emotionen schob Regin sie gegen das Fenstersims. Reflexartig fuhr seine Hand ihren Oberschenkel hinauf. Dann fiel ihm jedoch wieder ein, dass sie jetzt lange Magierroben trug. Sie zu dem Punkt zu bringen, an dem es interessant wurde, würde von nun an umständlicher werden.
Obwohl Regin diesen Tag lange herbeigesehnt hatte, fühlte es sich seltsam an, richtige Magierroben zu tragen. Regin fühlte sich damit älter – so erwachsen. Ab heute würde man von ihm erwarten, dass er sich nicht mehr wie ein Novize benahm und mit einem Mal wünschte er, er könnte noch ein weiteres Jahr Novize sein. Doch auch Trassia war kein Mädchen mehr. Sie waren nicht mehr Regin und Trassia, sondern Lord Regin und Lady Trassia.
Ein seltsamer Gedanke, dachte er. Ihre Namen klangen dadurch nicht nur erwachsener, es hörte sich auch vielmehr nach dem an, was sie waren. Ein Paar.
Als Trassias Fäuste leicht gegen seine Brust drückten, ließ er sie los. „Wir können es jetzt nicht tun“, sagte sie. „Wir sind heute Abend eingeladen und wollten vorher noch alles einräumen.“
„Das können wir auch morgen machen, liebste Trassia.“
„Ich muss morgen zur ersten Stunde im Heilerquartier sein. Lady Vinara wird mich einweisen und mir eine Aufgabe zuteilen.“
„So früh?“, fragte Regin. Irgendwie hatte er immer angenommen, als Magier könne man ausschlafen. Zumindest, sofern man nicht Lehrer war und die erste Stunde unterrichtete.
„Im Heilerquartier gibt es immer viel zu tun.“
Deswegen bin ich nicht Heiler geworden, dachte Regin. Und weil das eine Disziplin für Mädchen ist. Er selbst würde am nächsten Morgen noch Zeit für ein gemütliches Frühstück haben, bevor Balkan ihn erwartete. Das Oberhaupt der Krieger hatte sich seiner Ausbildung angenommen, nachdem Regins Onkel in der Schlacht gegen die Sachakaner in der Ettkriti-Ebene vor fast zwei Jahren gefallen war. Es hatte Regin mit Stolz erfüllt, dass der Mann, der ein Jahr lang das Amt des Hohen Lords innegehabt hatte, das Werk seines Onkels fortgeführt hatte. Balkan hatte großes Potential in ihm gesehen und ihn entsprechend gefördert. Während des Krieges hatte er Regin an Besprechungen teilnehmen lassen, um ihm einen Einblick in die Aufgaben des Oberhauptes der Krieger zu geben. Mit Akkarin als Anführer ihrer Armee war die Funktion des Hohen Lords für einige Monate überflüssig geworden. Für Regin war indes offensichtlich gewesen, dass Balkan sich in seiner alten Rolle sehr viel wohler wie als Anführer der Gilde gefühlt hatte und er nahm an, das war ein nicht unbedeutender Grund für Balkans Rücktritt gewesen. Nichtsdestotrotz hatte Regin in dieser Zeit viel von seinem Mentor gelernt. Und von jetzt an würde er ganz offiziell Balkans Assistent sein. Und wenn dieser eines Tages in Ruhestand ging, würde Regin vielleicht seinen Platz einnehmen.
„Dann verschieben wir das Einräumen aufs Wochenende.“
„Da sind wir bei deinen Eltern eingeladen.“
Das hatte Regin bereits wieder erfolgreich verdrängt. Er liebte seine Eltern, doch es missfiel ihm, dass sie auch nach fünf Jahren in der Gilde versuchten, seine Zukunft für ihn zu planen. Aus diesem Grund hatte er das Feiern seines Abschlusses mit ihnen aufgeschoben und die Einladung des Hohen Lords angenommen. Die Einladung beim mächtigsten Mann der Gilde und seiner Frau war immer ein Vorwand, einer anderen Verpflichtung fernzubleiben. Zudem fühlte er sich nach fünf Jahren Studium mehr in der Gilde verwurzelt, als bei seiner Familie. Trassia hatte dem Essen bei Akkarin und Sonea, ohne den wahren Grund zu kennen, zugestimmt und die Feier mit ihrer eigenen Familie ebenfalls verschoben. Im Gegensatz zu Regin sah sie ihre Familie jedoch relativ häufig. Beide Elternpaare waren zudem zur Abschlusszeremonie gekommen und Regin war insgeheim froh, dass sie dabei einander nicht begegnet waren.
Obwohl es sie mit Stolz erfüllte, dass ihr Sohn ein Magier war, versuchten Regins Eltern, Einfluss auf sein Leben und seine Entscheidungen auszuüben. Bis er mit Trassia zusammengekommen war, hatte sich das in Grenzen gehalten. Doch seit sie von ihr wussten, versuchten sie auch diesen Teil seines Lebens zu beeinflussen. Dass die Begegnung nur bis zum Wochenende verschoben worden war, missfiel Regin im Nachhinein.
Ob ich einen Vorwand erfinden kann, um den Besuch zu verschieben?
„Regin, ich würde wirklich gerne“, sagte Trassia, „aber ich kann mich hier drin erst wirklich wohl fühlen, wenn alles eingerichtet ist. Und was das Wohlfühlen betrifft: Das kann nicht noch ein paar Tage warten.“
Frauen, dachte er erneut. „Dann verschieben wir den Spaß-Teil auf später, liebste Trassia“, gab er nach.
Trassia nickte und ließ sich von ihm zu einer der Türen ziehen, die vom Wohnzimmer wegführten. Hinter der ersten Tür befand sich das Schlafzimmer. Der Raum war überraschend groß. Die eine Wand wurde von einem großen Bett ausgefüllt, die andere von einem Kleiderschrank und einer Kommode mit Spiegel. Vor dem Fenster standen zwei bequeme Sessel. Hinter einer unscheinbaren Tür befand sich ein kleiner Waschraum, dessen Ausstattung sehr viel mehr nach Regins Geschmack war, als jener in seinem alten Zimmer im Novizenquartier.
„Was ist hinter dieser Tür?“, fragte Trassia, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrten. Sie deutete auf eine Tür auf der anderen Seite des Raumes, die zwischen einem leeren Bücherregal und einer Vitrine, die nur einige wenige Tassen und Gläser enthielt, leicht zu übersehen war.
„Eine Besenkammer?“ Regin zuckte die Achseln. „Eine Geheimtür zu unseren Nachbarn, denen wir uns noch vorstellen sollten?“
Seine Freundin war bereits vorausgeeilt. „Da ist noch ein Raum!“, rief sie entzückt. „Komm, sieh dir das an!“
Ein Seufzen unterdrückend folgte Regin ihr. Trassia stand in einem Raum, nicht größer als ein Zimmer im Novizenquartier. Bis auf einen Schrank war das Zimmer leer.
„Wir können ein Büro daraus machen“, überlegte er. „Oder ein Gästezimmer. Falls eine deiner Freundinnen Ehekrach hat und die Nacht woanders verbringen will.“ Zumindest bei Luzille mit ihrem elynischen Temperament konnte er sich das lebhaft vorstellen. Allerdings würde es wohl vielmehr Balkan derjenige sein, der ausquartiert wurde. Sonea und Akkarin schienen hingegen nie zu streiten. Zudem bezweifelte Regin insgeheim, der Hohe Lord würde seiner Frau erlauben, in einem anderen Bett als seinem eigenen zu schlafen.
Trassia wandte sich um. Ihre dunklen Augen leuchteten aufgeregt. „Oder wir machen daraus ein Babyzimmer.“
Regin starrte sie an, als wäre sie nicht mehr ganz bei Verstand. „Ein Babyzimmer?“, brachte er hervor.
„Jetzt, wo wir zusammenwohnen, können wir doch auch Kinder bekommen“, erklärte Trassia wie selbstverständlich.
„Kinder?“
„Du weißt schon, diese kleinen, niedlichen …“ Trassia betrachtete ihn verstört. „Sonea hat auch eines.“
„Das ist etwas anderes.“ Akkarin musste mindestens fünfzehn Jahre älter als Regin sein. Er hatte genug erlebt, um eine solche Verantwortung auf sich zu nehmen. Regin hatte gerade seinen Abschluss gemacht. Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich an das Leben eines Magiers zu gewöhnen, geschweige denn, dass er sich reif genug dazu fühlte. Und da sollte er Vater werden? Allein die Vorstellung erfüllte ihn mit Unbehagen. „Wir sind noch nicht einmal anderthalb Jahre zusammen.“
„Sonea und Akkarin waren auch nicht länger zusammen, als sie schwanger wurde.“
„Das war ein Unfall, wenn ich mich richtig erinnere.“ Sofern es wirklich von ihm war. In der Gilde wurde gemunkelt, dass der Vater des Kindes womöglich ein gewisser sachakanischer Magier war. Regin verstand nicht viel von Babies. Aber wenn die Gerüchte stimmten, würde es dann nicht weniger kyralisch aussehen? „Und sie haben davor schon lange zusammengewohnt.“
Diese Antwort schien Trassia nicht zu gefallen. „Ich dachte, wir lieben uns“, protestierte sie.
„Das tun wir auch.“ Kopfschüttelnd schloss er sie in seine Arme. „Aber möchtest du wirklich jetzt schon ein Kind bekommen? Es ist sehr viel Arbeit und Verantwortung. Und wir hätten kaum Zeit für uns.“
„Wir hatten in unserem letzten Studienjahr auch kaum Zeit für uns.“ Erzürnt schob sie ihn von sich. „Regin, was ist dein Problem?“
Mit einem solchen Ausbruch hatte er nicht gerechnet. „Liebste Trassia“, begann er. „Ich, ah … ich liebe dich. Aber ich bin dazu nicht bereit.“ In ihren Augen konnte er sehen, dass er das Falsche gesagt hatte. „Das heißt, ich bin es noch nicht.“
Der Ausdruck in ihren dunklen Augen verlor ein wenig von ihrem Zorn.
„Lass uns doch erst einmal ein wenig unsere Zweisamkeit genießen, bevor wir sie wieder aufgeben“, fügte er hinzu.
„Ja, schon“, gab sie nach.
Regin schenkte ihr sein charmantestes Lächeln. „Und jetzt lass uns auspacken, damit wir heute Abend Zeit für uns haben.“
***
Nachdem sie sich umgezogen hatte, betrat Sonea das Zimmer, das Akkarin ein Jahr zuvor direkt neben ihrem Studierzimmer hatte errichten lassen. Beide Räume waren mit einer Tür verbunden, die Sonea in den letzten sechs Monaten öfter durchquert hatte, als die Türen zum Flur. Eine kleine, dunkelhaarige Frau saß in einem Sessel und sang leise Lieder für das Baby in ihrem Arm. Als Sonea eintrat, sah sie auf.
„Hallo, Jonna“, sagte Sonea. Ihr Blick fiel auf das Baby. „Wie geht es Lorlen?“
„Er ist gewickelt und gefüttert und hat eine Stunde Mittagsschlaf gehalten.“
Sonea lächelte. „Danke, dass du auf ihn aufgepasst hast.“
„Das tue ich gerne.“ Ihre Tante stand auf und reichte Sonea das Baby. Lorlen streckte seine pummeligen Ärmchen nach ihr aus und gluckste, wobei ein wenig Sabber zwischen seinen Lippen hervorquoll. Den Sabber ignorierend, nahm Sonea ihren Sohn entgegen und drückte ihn an die Brust.
„Hallo, mein kleiner Schatz“, flüsterte sie und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Obwohl noch klein und pummelig, fand sie, er war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Zu lange hatte sie befürchtet, er würde jemand anderem ähneln. Sie hätte nicht gewusst, ob sie Lorlen dann auch so sehr lieben könnte. „Hat Tante Jonna sich lieb um dich gekümmert?“
Das Baby gluckste und strampelte mit seinen Beinchen. Es an sich drückend setzte Sonea sich in einen Sessel ihrer Tante gegenüber.
„Wie war deine Abschlussfeier?“, fragte Jonna.
„Sehr feierlich. Schade, dass du und Ranel nicht dabei waren. Es hätte bestimmt niemand etwas dagegen gehabt, hättest du Lorlen mitgebracht …“
„Sonea, du kennst doch unsere Einstellung zu den Magiern“, begann ihre Tante.
„Ja, ich weiß.“ Sonea unterdrückte ein Seufzen. Jonna und ihr Mann Ranel waren ihre nächsten und einzigen Verwandten. Zu Soneas Bedauern fürchteten sie die Magier zu sehr, um sich oft in der Gilde blicken zu lassen. Bedeutsamen Ereignissen, zu denen viele Magier zusammenkamen, blieben sie daher gänzlich fern. „Es hätte mir nur viel bedeutet.“ Sonea zuckte die Schultern. „Zu meiner Hochzeit seid ihr auch gekommen.“
„Das war ja auch das viel wichtigere Ereignis in deinem Leben.“
Sonea verdrehte die Augen. Aus Jonnas Sicht kam das der Wahrheit gleich. Sie rechnete es ihrer Familie hoch an, dass sie für diesen einen Tag ihre Furcht vor den Magiern überwunden hatten.
„Wie fühlt es sich an, nicht mehr die Novizin deines Mannes zu sein?“
„Seltsam.“ Sonea runzelte die Stirn. „Ich habe mich so sehr daran gewöhnt, dass ich fürchte, es könnte etwas an unserer Beziehung zum Negativen verändern.“
„Aber er ist noch immer der Hohe Lord“, wandte Jonna augenzwinkernd ein.
Sonea spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Ja“, sagte sie. „Das ist er.“
„Akkarin ist ein Mann, zu dem man aufsehen muss.“ Jonna kicherte. „Und das sage ich jetzt nicht wegen seiner Größe.“
„Ich weiß, was du meinst.“ Sonea streckte ihren Willen nach dem Stoffharrel in Lorlens Bettchen aus und reichte ihn ihrem Sohn, der gierig danach griff. „Wir werden sehen, wie sich alles von jetzt an entwickelt. Ich versuche, mir deswegen keine Sorgen zu machen. Wir haben sehr viel Schlimmeres überstanden. Unsere Beziehung wird wohl kaum daran scheitern, dass ich jetzt eine richtige Magierin bin.“
„Das denke ich auch.“
Eine richtige Magierin. Schaudernd dachte sie daran, wie sie in der überfüllten Gildehalle ihren Eid gesprochen hatte. Es hatte sich sehr viel endgültiger angefühlt, als bei ihrer Aufnahmezeremonie. Das Gefühl war ähnlich dem gewesen, als sie ihren Eheschwur gesprochen hatte.
„Bleibst du zum Essen?“
Ihre Tante schüttelte den Kopf. „Ranel und die Kinder erwarten, dass ich für sie koche.“
Sonea überlegte, ihre Familie für einen anderen Abend einzuladen, verwarf die Idee jedoch wieder. Auch wenn die beiden sich mit ihrem Mann gut verstanden, fühlten sie sich in der Welt der Häuser und Magier unwohl. „Ich komme euch bald einmal besuchen.“
Jonna lächelte. „Jetzt solltest du dazu ja Zeit haben. Oder wirst du jetzt noch beschäftigter sein?“
„Ich bin die Leiterin der schwarzmagischen Studien. Ich werde nicht den ganzen Tag in meinem Kellerlabor sitzen und experimentieren.“ Es war keine Position, mit der man seinen kompletten Tag verbrachte. Das bot Sonea die Möglichkeit, im Krankenhaus in den Hüttenvierteln auszuhelfen und ihren Traum auch mit der Wahl einer anderen Disziplin zu verwirklichen. Seit der Errichtung des Krankenhauses war ihr dies zuerst wegen des Ausgehverbots und später wegen ihres Lernpensums verwehrt worden, doch nun stand dem nichts mehr im Wege. Von da aus war es zudem nur ein kurzer Weg zu ihrer Familie. „Gerne komme ich euch öfter besuchen. Wenn euch das lieber ist, lasse ich Akkarin dann zuhause.“
„Hai!“, rief Jonna. „Das würde Hania nicht mögen!“
Seit seiner ersten Begegnung mit Soneas Familie, war ihre kleine Nichte völlig in Akkarin vernarrt. Obwohl er distanziert und ehrfurchtgebietend war und Erwachsene ihn zu fürchten pflegten, waren Kinder aus einem Sonea unerfindlichen Grund von ihm angetan. Sonea hatte Ähnliches bei diversen Festen im Palast erlebt, auf die sie ihren Mann im vergangenen Jahr begleitet hatte. Für sie entbehrte das jeglicher Logik. Wenn Erwachsene schon vor ihm in Ehrfurcht erstarrten, müssten Kinder dann nicht schreiend vor ihm die Flucht ergreifen?
„Ich dachte auch eher an dich und Ranel.“
„Ranel hat ihn inzwischen recht gern.“
Sonea erinnerte sich noch allzu lebhaft daran, wie sie Akkarin ihrer Familie vorgestellt und ihr Onkel ihm eine unangenehme Frage nach der anderen über seine Einkünfte, Soneas Studium und ihre Beziehung gestellt hatte. Akkarin hatte dies mit stoischer Gelassenheit und leiser Erheiterung über sich ergehen lassen.
Ich muss doch rausfinden, ob Lord Akkarin der Richtige für unsere Sonea ist, hatte Ranel sich verteidigt, nachdem Jonna ihn schließlich zurechtgewiesen hatte.
Einen vertrauten Schmerz verspürend schob Sonea die Erinnerung beiseite.
„Dann werde ich ihn hin und wieder mitbringen“, sagte sie und fragte sich zugleich, wie es wirken würde, wenn der Hohe Lord die Familie seiner Frau in den Hüttenvierteln besuchte.
Das brachte sie auf ein anderes Thema.
„Jonna“, begann sie einen tiefen Atemzug nehmend. „Du und Ranel habt jahrelang für mich gesorgt. Ihr habt mich großgezogen und darauf geachtet, dass ein guter und verantwortungsbewusster Mensch aus mir wird. Ich will mich dafür bedanken.“
„Das haben wir gern getan, Sonea.“
In einer heftigen Bewegung schüttelte Sonea den Kopf. „Nein, Jonna. Von jetzt an werde ich euch jeden Monat etwas von meinem Geld geben.“
„Nein, Sonea. Tu das nicht. Wir kommen klar.“
„Nehmt es wenigstens, um euren Kindern ein besseres Leben zu bieten“, beharrte Sonea. „Ihr könntet Euch eine Bleibe im Nordviertel mieten. Oder ein eigenes Geschäft aufbauen.“
Jonna zögerte.
„Wir haben dort selbst ein paar Jahre gewohnt. Komm schon, Jonna.“
„Bis der König uns wieder in die Hüttenviertel getrieben hat.“
„Dieses Mal wird es anders.“ Ein Plan begann in ihr zu reifen. Jonna und Ranel durften jedoch erst davon erfahren, wenn sie alles in die Wege geleitet hatte. Sie hoffte nur, Akkarin würde dabei mitmachen. „Ich werde dafür sorgen, dass ihr dort wohnen könnt, solange ihr wollt.“
Die Augen ihrer Tante weiteten sich. „Und wie willst du das machen?“
„Jonna, du vergisst, mit wem ich verheiratet bin“, sagte Sonea streng. „Ich kann nicht zulassen, dass ihr weiterhin in diesen Zuständen lebt. Ich weiß, es geht euch besser als den meisten Hüttenleuten. Trotzdem muss ich darauf bestehen, dass ihr ins Nordviertel zieht. Ich habe die Mittel, euch das zu ermöglichen. Bitte, lass mich das für euch tun.“
Jonna seufzte. „Das muss ich mit Ranel besprechen“, sagte sie stur. Sie erhob sich. „Aber jetzt muss ich gehen.“ Sie küsste Lorlen auf die Stirn und tätschelte Soneas Arm. „Du kommst uns doch bald besuchen, oder?“
„Das habe ich doch gesagt. Grüß Ranel von mir.“
Als sie fort war, blieb Sonea noch eine Weile in ihrem Sessel sitzen. Der fahle Winternachmittag neigte sich seinem Ende zu. Die Schneewolken hatten sich verzogen und die Strahlen der untergehenden Sonne tauchten die weißen Wände der Universität in orangefarbenes Feuer.
Was wird sich jetzt alles ändern?, fragte sie sich. Vor ihrer Tante hatte sie sich zuversichtlich gegeben. In Wirklichkeit hatte sie jedoch keine Ahnung, wie ihr Leben von nun an weitergehen sollte. Die Hälfte ihres Studiums waren sie und Akkarin ein Paar gewesen. Für Sonea hatte es sich natürlich angefühlt, zugleich auch seine Novizin zu sein. Es jetzt nicht mehr zu sein, war verwirrend und beängstigend.
Jonna hat recht, dachte sie. Er ist immer noch Hoher Lord. Und noch so einiges andere, was sie niemandem erzählen würde. Sie hatte heute nur einen Eid gesprochen. Was sollte das an ihren Gefühlen ändern? Trotzdem fühlte es sich an, als habe sie damit ein Band zwischen ihnen gekappt. Und das alles, obwohl sie noch immer glaubte, ihn mehr denn je zu brauchen.
Aber von nun an würde es auch einfacher werden. Ein Paar zu sein hatte vieles verkompliziert. Als sie aus ihrer Verbannung zurückgekehrt waren, hatten sie ihre Beziehung geheim halten müssen. Sie hatte ihn mit Lord Akkarin angesprochen und sich vor ihm verneigt, wie es sich für eine Novizin gehörte. Später hatte sie das im Privaten beibehalten, um ihn aufzuziehen oder weil sie – aus ernsthaften oder unanständigen Gründen – das Gefühl hatte, respektvoll sein zu müssen. Und es hatte ihr geholfen, Studium und Privates zu trennen. Nach ihrer Hochzeit hatte er darauf bestanden, dass sie damit aufhörte. Aber nachdem er sie aus Arvice zurückgebracht hatte und sie sich vor einigen Magiern fast zu Boden geworfen hätte, hatte sie damit wieder angefangen, um sich daran zu gewöhnen, dass sie nicht mehr unter sachakanischen Barbaren lebte.
Und jetzt muss ich mich daran gewöhnen, es überhaupt nicht mehr zu tun, dachte sie kopfschüttelnd. Ob ich mich je daran gewöhnen kann?
„Du magst in der untersten Klasse der Gesellschaft aufgewachsen sein, doch du hast den Stolz eines Königs. Eines Tages wird jeder sich vor dir verneigen, Sonea. Das wird für dich sogar noch schwerer zu akzeptieren sein.“
Sonea seufzte. Was sie betraf, so war ihr Stolz gebrochen worden. Sie war, was Sachaka aus ihr gemacht hatte – und das war ganz sicher nichts, wovor man sich verneigte.
Als Lorlen zu quengeln begann, war das Licht dunkelblau geworden. Schon bald würden die ersten Gäste kommen. Sonea schuf eine Lichtkugel und sandte sie hinter einen Wandschirm. Dann schälte sie sich aus ihrer Robe und gab Lorlen die Brust.
Ihre Erklärung, ihr Kind selbst Stillen zu wollen, hatte, nachdem Soneas Dienerin es weitergetratscht hatte, einen Sturm der Empörung unter den weiblichen Magiern ausgelöst. Sonea hatte den Protest jedoch ignoriert, sie wollte sich so um ihren Sohn kümmern, wie ihre Mutter es mit ihr getan hatte.
Frauen aus den Häusern pflegten ihre Kinder nicht selbst zu stillen, sondern gaben sie einer Amme. Jonna hingegen behauptete, das Stillen wäre wichtig für die Bindung zwischen Mutter und Kind. Die Frauen in den Hüttenvierteln gaben ihren Kindern oft fast ein ganzes Jahr oder länger die Brust. Obwohl Sonea entschieden hatte, ihren Sohn so lange zu stillen, wie ihre Brüste Milch produzierten, hatte sie sich dennoch zu einer Amme überreden lassen, weil sie durch ihr Studium und ihre Position in der Gilde nicht immer die Zeit hatte, ihren Sohn selbst zu füttern.
Caria war daher nach kurzer Zeit neben ihren Aufgaben als Amme, zu Soneas Dienerin geworden. Lorlen war im vergangenen Sommer geboren worden. Das letzte Halbjahr bis zu ihren Abschlussprüfungen war Sonea für jede Unterstützung dankbar gewesen. Obwohl Akkarin, Rothen und Takan sich ebenfalls liebevoll um ihren kleinen Sohn gekümmert hatten, so hatten diese auch ihre eigenen Verpflichtungen zu erfüllen. Für ihre Tante, die hin und wieder zu Besuch kam, galt dasselbe.
Sonea wusste, ohne die Unterstützung dieser Menschen und ohne den Privatunterricht, der auf Grund ihres Amtes als Leiterin der schwarzmagischen Studien flexibel gestaltet worden war, würde sie vermutlich noch immer studieren.
Als Lorlen satt war, richtete sie ihre Robe. Dann hob sie ihren Sohn hoch und trug ihn über den Flur auf die Rückseite der Residenz. Vor einem Raum mit einer verzierten Doppeltür blieb sie stehen. Als sie das Holz berührte, schwangen die Türflügel zurück und Sonea trat in den dahinterliegenden Raum.
In den Bücherregalen entlang der Wände und weiteren dazu senkrecht aufgestellten drängten sich Bücher aller erdenklicher Dicken und Größen. Einige waren neu und enthielten die literarischen Ergüsse berühmter Dichter und Poeten aus den Verbündeten Ländern, andere waren Kopien bedeutender magischer Werke oder Chroniken und Tagebücher, manche davon älter als die Gilde. Ein großer Schrank, dessen magisches Schloss nur Sonea und Akkarin öffnen konnten, enthielt sämtliche Bücher über schwarze Magie, die sie in den vergangenen Jahren angesammelt hatten.
Sie fand Akkarin an seinem Schreibtisch, am anderen Ende der Bibliothek. Große Fenster boten einen Blick auf den verschneiten Wald. Als sie näher trat, sah er auf.
„Ist schon Schlafenszeit?“, fragte er.
„Bald. Ich dachte, du würdest vorher noch ein wenig Zeit mit deinem Sohn verbringen wollen.“
„Ich bin hier gleich fertig. Wie gefallen dir deine neuen Roben?“
„Sie sind großartig“, antwortete Sonea. „Anscheinend fand Lorlen das auch, denn er hat sofort darauf gesabbert.“
Akkarin lachte leise. Er bündelte einen Stapel Post und legte ihn in eine Box mit Briefen, die an die Gilde weitergeleitet wurden. Das goldene Incal an seinem Ärmel schimmerte im Schein seiner Lichtkugel, doch es konnte nicht über die Entstellung hinwegtäuschen, die sich unter seinem rechten Handschuh verbarg.
„Sind die alle für Osen?“, fragte Sonea, den Schreibtisch umrundend.
Ihr Mann nickte. „Es ist immer wieder beeindruckend, wie hartnäckig sich manche Leute weigern, gewisse Anfragen direkt an den Administrator zu schicken“, sagte er. „Anscheinend versprechen sie sich mehr davon, sie an mich zu schicken, weil ich den größeren Einfluss habe.“
„Oder es ist, weil sie dich mehr mögen.“
Akkarin schnaubte leise. „Es gibt einen Unterschied zwischen Respekt und Akzeptanz, Sonea.“
Sonea bezweifelte, dass die Gilde und die Leute aus den Häusern es nur akzeptiert hatten, dass Akkarin ein zweites Mal Hoher Lord geworden war. Nachdem er die Gilde durch den Krieg mit Sachaka geführt hatte, war es nicht viel mehr als eine Formalität gewesen. Insgeheim bewunderte sie ihn dafür. Wie schwer musste es ihm gefallen sein, sich um die Sicherheit der Gilde zu kümmern, anstatt auf eigene Faust nach Sachaka zurückzukehren und sie zu suchen!
„Deine Entführung hat ihn mehr mitgenommen, als er die anderen hat glauben lassen“, hatte Rothen ihr nach ihrer Rückkehr anvertraut. Er hatte ihr von einem Gespräch mit Akkarin berichtet, das kurz nach der Schlacht gegen Marikas Stoßtrupp vor den Toren von Imardin stattgefunden hatte. Nahezu zeitgleich hatten die Magier am Fort erfahren, dass Sachakaner unterwegs in die Stadt waren und wo Sonea festgehalten wurde. Akkarin war mit Balkan und einer Gruppe Krieger nach Imardin geeilt, um die Stadt zu beschützen. Anschließend war er mit einer Spionin der Verräter nach Arvice aufgebrochen.
Wenn Sonea darüber nachdachte, dann hätte sie ebenso entschieden. Er hätte die Gilde nicht ihrem Schicksal überlassen können, nur um sie zu retten. Auch wenn es ihr lieber gewesen wäre, hätte er sie früher gefunden, so hätte sie nicht gewollt, dass er in Sachaka sein Leben für sie riskierte. Es war richtig gewesen, die Spione des Königs und die Verräter nach ihr suchen zu lassen und sich zu stärken, um bereit zu sein, wenn sie gefunden wurde.
Ihr Blick fiel auf ein Päckchen.
„Was ist das?“
„Es ist für dich. Ich wollte es dir später geben.“
Sie blinzelte überrascht. „Für mich?“
Akkarin erhob sich und nahm ihr Lorlen ab. Er wirkte erheitert. „Mach es doch einfach auf.“
Neugierig und nicht ohne eine gewisse Aufregung, griff Sonea nach dem Päckchen. Es fühlte sich fest und schwer an. Neugierig schlug sie das Papier auseinander und zog den Inhalt heraus. Es war ein Buch. Für einen Moment blinzelte sie verwirrt, dann hätte sie beinahe laut aufgelacht, als sie den Titel entzifferte.
„’Im Land des sichelförmigen Mondes’ von Ashaki Dikacha“, las sie auf Sachakanisch. Sie schlug das Inhaltsverzeichnis auf und blätterte darin. Die Seiten waren illustriert und hatten winzige kunstvolle Symbole an ihren Rändern. Es war ein Märchenbuch. „Mond über den Rachiro-Hügeln. Der Prophet von Ilytia. Die Herrin der Aschenwüste.“ Sie sah auf. „Mit diesen Geschichten habe ich Sachakanisch gelernt!“
„Ich habe lange überlegt, ob ich es dir geben soll“, sagte Akkarin. „Ich war nicht sicher, ob du dich über ein solches Geschenk freuen würdest.“
„Dieser Teil gehört zu den angenehmeren Erinnerungen.“ Sonea dachte daran zurück, wie sie diese Märchen mit Danyara gelesen hatte. Danyara, die ihr mehr als nur eine Freundin gewesen war. Die junge Frau hatte sie geduldig korrigiert, wenn sie ein Wort falsch ausgesprochen hatte, und hatte ihr neue Begriffe erklärt. Von allen Erinnerungen, die sie an Arvice hatte, gehörte ihre Zeit mit Danyara zu den Dingen, die Sonea nicht vergessen wollte. Es bedeutete ihr viel, dass ihr Mann das akzeptiert hatte.
„Danke“, sagte sie und umarmte Akkarin. „So werde ich die Sprache nicht verlernen.“ Und sie konnte die Märchen Lorlen eines Tages vorlesen oder sie für ihn übersetzen.
„Ich dachte mir, du würdest so reagieren.“ Akkarin musterte sie nachdenklich. „Bei deiner Entschlossenheit, dich deinen Erlebnissen zu stellen.“
„Es ist besser, sie als Teil von mir zu akzeptieren, als sie zu ignorieren“, sagte Sonea hart. „Und ich bin froh, dass du das auch so siehst.“
„Wer könnte das besser verstehen?“, murmelte er.
Sonea lächelte schief und sparte sich eine passende Antwort. Sie beide wussten, dass seine Erfahrungen in Sachaka ihn nicht einmal annähernd darauf hatten vorbereiten können. Sie waren indes auf ihre eigene Weise entsetzlich gewesen. Aber er hatte wegen der Dinge, die ihr in Arvice widerfahren waren und die sie getan hatte, auch nie auf sie herabgesehen. Wie auch, wenn er sich nicht einmal an ihrer niederen Herkunft störte?
„Gib doch einfach zu, dass du gewisse Veränderungen meiner Person ausnutzt, weil sie dir gelegen kommen“, neckte sie ihn.
Ihr Mann warf einen Blick zu seinem Sohn, der inzwischen eingeschlafen war, als wolle er sich davon vergewissern, dass er nicht mithören konnte. Sonea war jeden Tag aufs Neue fasziniert, wie schnell Lorlen ruhig wurde, wenn er bei seinem Vater war, während er von ihr in seinen munteren Phasen oft nur schwer zu bändigen war.
„Selbstverständlich tue ich das.“ Akkarins Hand fuhr in ihren Nacken, dann beugte er sich zu ihr hinab und küsste sie verlangend.
Eine Weile gab Sonea sich ganz seinem Kuss hin, froh, dass sie ihm hatte ausreden können, sie übervorsichtig zu behandeln. Sie beide hatten ihre dunklen Seiten, doch dadurch waren sie einander näher gekommen, als sie je für möglich gehalten hätte.
„Ich muss dich um einen Gefallen bitten“, sagte sie, nachdem er wieder von ihr abgelassen hatte.
„Was für einen Gefallen?“
„Ich brauche Geld. Viel Geld.“
„Du hast Ersparnisse. Genügen die nicht für das, was du mit dem Geld machen möchtest?“
„Das weiß ich noch nicht genau. Ich habe gewisse Pläne. Für meine Familie. Natürlich würde ich alles zurückzahlen.“
„Ah, dann brauchst du nicht nur Geld, sondern auch die richtigen Beziehungen.“
Sonea machte einen Schritt auf ihn zu. „Ich denke, die habe ich bereits.“
Akkarins Mundwinkel zuckten. „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“
***
Rothen schlüpfte in eine frische Robe, die getragene ließ er zu Boden fallen, damit Tania wusste, dass sie sie in die Wäscherei bringen konnte. Dann band er seine Schärpe zu und verließ das Schlafzimmer.
Als er sein Wohnzimmer betrat, sah seine Dienerin von ihrer Arbeit auf. „Kann ich noch etwas für Euch tun, Mylord?“
„Danke, Tania. Nimm die schmutzige Wäsche mit, dann kannst du für heute gehen.“
Tania nickte und räumte seine benutzte Tasse und die Reste von seinem Nachmittagsmahl fort. „Ich wünsche Euch einen schönen Abend, Mylord. Grüßt Sonea und den Hohen Lord.“
Rothen lächelte. „Das mache ich. Gute Nacht, Tania.“
Er verließ die Magierquartiere. Den direkten Weg durch die verschneiten Gärten wählend, hielt er auf die Residenz des Hohen Lords zu. Der Schnee war von Novizen aus dem ersten Jahr frisch von den Wegen geräumt worden, andere hatten bei Einbruch der Dämmerung die Laternen entlang der Wege angezündet. Über den Dächern der Stadt verweilte noch ein Streifen Orange, während die Nacht ihren dunkelblauen Mantel bereits über den übrigen Himmel ausgebreitet hatte, auf dem hier und da die ersten Sterne glitzerten.
Als das düstere, zweistöckige Gebäude zwischen den Bäumen auftauchte, erschauderte Rothen unwillkürlich. Eine längst überfällige Aussprache, unzählige formale Dinner und eine selbstmörderische Rettungsaktion hatten nicht ausgereicht, dass er nicht ein gewisses Unbehagen bei diesem Anblick verspürte. Auch wenn er Akkarin verziehen hatte und ihn inzwischen für so einiges schätzte, würde dessen Reaktion darauf, dass Rothen und Sonea sein finsteres Geheimnis herausgefunden hatten, irgendwie immer zwischen ihnen stehen.
Obwohl er Soneas Urteil vertraute, hatte er nicht gutheißen können, dass sie und Akkarin schließlich ein Paar geworden waren. Trotz aller ehrbaren Absichten hinter Akkarins früheren Taten war er gefährlich und schreckte vor nichts zurück, um die Gilde zu beschützen. Nur Sonea zuliebe hatte Rothen sich mit dem schwarzen Magier ausgesprochen und sich mit dem Gedanken angefreundet, dass dieser Mann seine Sonea mit ins Bett nahm. Denn offenkundig tat ihr diese Beziehung gut und auch Akkarin wirkte seitdem bei persönlichen Begegnungen weniger kühl und distanziert. Kurz vor Ausbruch des Krieges hatten die beiden schwarzen Magier geheiratet und Rothen hatte auf Soneas Bitte hin bereitwillig die Rolle des Brautvaters übernommen.
Der Krieg und Soneas Entführung hatten dem Glück der beiden schwarzen Magier jedoch ein jähes Ende gesetzt. Obwohl sie seitdem einander näher denn je schienen, hatte ihre Beziehung sich verändert, ohne dass Rothen genau sagen konnte, was sich verändert hatte. Es war wie ein stummes Einverständnis, das mit ihren jeweiligen Erlebnissen in Sachaka zu tun hatte. Sonea wirkte oft düster und ihr Mann schien zuweilen düsterer denn je, sofern das überhaupt möglich war. Es bedrückte Rothen, dass er seine Ziehtochter vor alldem nicht hatte bewahren können und er konnte sich nicht einmal annähernd vorstellen, wie dieses halbe Jahr für Akkarin gewesen sein musste.
Durch Sonea ist mein Leben wieder lebenswert geworden, hatte der schwarze Magier damals gesagt. Ohne sie bin ich nichts.
An jenem Tag hatte Rothen eine leise Ahnung dessen erhalten, wie entsetzlich es für Akkarin sein musste, dass die Frau, die er liebte, in die Fänge seines größten Feindes geraten war. Es barg für ihn ein Grauen, das er nicht einmal an Yilaras Tod bemessen konnte.
Ich werde versuchen, sie zu retten, hatte Akkarin versprochen. Doch wenn ich scheitere, dann werde auch ich nicht zurückkommen.
Dann scheitert nicht, hatte Rothen in einem seltenen Anflug von Zuneigung und Furcht, sowohl um ihn als auch um Sonea, verlangt.
Und er war nicht gescheitert. Gemeinsam mit einigen Magierinnen der Verräter war Akkarin in den Palast von Arvice eingedrungen, hatte seine Frau befreit und zugleich durch eine List an die einhundert von Marikas Anhängern getötet. Der König von Sachaka hingegen war durch Soneas Hand gestorben, nachdem Akkarin zuvor seine Kraft genommen hatte. Auch wenn einige Magier diese Version bezweifelten, weil Soneas Kräfte damals blockiert gewesen waren, so brauchte Rothen nur in ihre Augen zu sehen, um zu wissen, dass sie es getan hatte.
Sie hat ihn hingerichtet, dachte Rothen. Sie hat einen König hingerichtet. Obwohl Sonea im Krieg gegen die Sachakaner wiederholt getötet hatte, passte diese Kaltblütigkeit nicht zu ihr. Dass sie es dennoch getan hatte, zeigte, wie sehr sie unter diesem Mann gelitten hatte, und offenbarte Rothen ein Wissen, das er zugleich fürchtete.
Jetzt, fast zwei Jahre später, waren die Kämpfe nicht mehr nur auf Sachakaner und Gilde beschränkt. Die Gilde hatte sich mit den Verrätern verbündet – einer Gruppe schwarzer Magierinnen, die in Sachaka für Gerechtigkeit kämpfte und ihre Feinde davon abhielt, nach Kyralia einzudringen. Sachaka selbst drohte ein zweiter Bürgerkrieg, da der neue Imperator den Frieden im eigenen Land nur halten konnte, indem er seine Gegner in die Ödländer verbannte und den Rest mit Rache an den Mördern seines Vorgängers und dessen Anhängern vertröstete. Um gegen die Gilde und die Verräter zu bestehen, hatte Kachiro ein Bündnis mit den barbarischen Duna aus dem heißen Land im Norden Sachakas geschlossen. Ihre Magier machten nun Jagd auf die Verräter – im vergangenen Herbst waren sie sogar einmal kurz davor gewesen, das Versteck der Verräter zu finden – und es sah nicht so aus, als würde dieser Krieg so bald ein Ende finden.
Die Gilde selbst lebte nur in einem scheinbaren Frieden, der Kriegszustand war auch nach zwei Jahren nicht aufgehoben. Es würde erst Frieden herrschen, wenn die Sachakaner aufhörten, nach Kyralia zu trachten.
Und wenn die Verräter fielen, dann fiel auch die Gilde.
Und das alles nur, weil die Entdeckung, dass das Oberhaupt der Gilde schwarze Magie praktiziert, für einen Skandal gesorgt hat, der bis nach Sachaka reichte!, dachte Rothen. Tagelang hatten sich die Magier damals per Gedankenrede über Akkarin und seine Novizin unterhalten. Kurz darauf hatte eine kleine Gruppe Sachakaner die Gilde angegriffen und als die Nachricht nach Arvice vorgedrungen war, hatte der damalige König Sachakas seine Chance gewittert, sich zurückzuholen, was nach Ansicht seines Volkes rechtmäßig zu seinem Land gehörte. Nur weniger Monate später hatte die Gilde sich mehreren hundert schwarzen Magiern gegenübergesehen, die sie nur dank alchemistischer Waffen und schwarzmagischer Artefakte bezwungen hatte.
Im Nachhinein fand Rothen, es war ein Fehler gewesen, Akkarin seines Amtes zu entheben. Balkan mochte ein fähiger Anführer gewesen sein, aber es hatte ihm an Akkarins politischem und diplomatischem Geschick gemangelt. In dem einen Jahr von Balkans Amtszeit war die Gilde zerstrittener und gespaltener denn je gewesen. Mit Ausbruch des Krieges hatten immer mehr Magier verlangt, dass Akkarin die Gilde wieder anführte. Durch seine selbstlose und heldenhafte Rettung der Gilde bei der Schlacht von Imardin und seine Entscheidung, der Gilde seiner eigenen Frau gegenüber den Vorzug zu geben und sie anschließend in einer Selbstmordmission zu befreien, genoss Akkarin mehr Bewunderung und Respekt denn je.
Balkans Rücktritt war nur die logische Konsequenz dessen gewesen. Seine Entscheidung war jedoch einzigartig in der Geschichte der Gilde. Die Gilde wählte ihren Anführer auf Lebenszeit, und sofern dieser nicht gegen seinen Eid verstieß und ein Verbrechen beging, blieb er Hoher Lord bis zu seinem Tod. Indem die Gilde Akkarin mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt hatte, hatte sie ihm verziehen, dass er jahrelang hinter ihrem Rücken schwarze Magie praktiziert hatte. Zugleich hatte seine Rückkehr zur Macht für großes Aufsehen gesorgt und Rothen bezweifelte nicht, dass die Sachakaner davon wussten.
Inzwischen kam es Rothen so vor, als wäre das Ausüben schwarzer Magie nie ein Verbrechen gewesen. Die drei Gildenmagier, die in das Geheimnis eingeweiht waren, hatten sich indes einigen Bedingungen beugen müssen. Das Ausgehverbot und das Verbot zu unterrichten waren inzwischen wieder aufgehoben. Sonea und Lord Sarrin, der kurz vor dem Krieg als Reserve ausgebildet worden war, mussten sich jedoch regelmäßigen Kontrollen durch die höheren Magier unterziehen. Als Hoher Lord war Akkarin nach einer längeren Diskussion davon ausgenommen worden, doch er ließ die Kontrollen freiwillig über sich ergehen, um den Magiern die Sicherheit zu geben, die sie brauchten.
Seltsam nur, dass die Sachakaner keine Schwierigkeiten mit ihren schwarzen Magiern haben, fuhr es Rothen durch den Kopf. Und das, obwohl sie so unzivilisiert und barbarisch sind.
Rothen erklomm die Stufen zum Eingang der Residenz des Hohen Lords. Seit Akkarin und Sonea wieder hier wohnten, war das Gebäude etwas weniger unheimlich, als während Akkarins erster Amtszeit als Hoher Lord. Die Fenster im Obergeschoss waren hell erleuchtet und zu beiden Seiten des Eingangs brannten Lampen. Im letzten Sommer waren die Stufen mit Blumentöpfen dekoriert gewesen. Jetzt türmte sich indes der Schnee zu beiden Seiten der Treppe.
Ganz würde Rothen jedoch nie aufhören, bei dem Anblick Unbehagen zu verspüren.
Die Türen schwangen auf, bevor er überhaupt anklopfen konnte. Stirnrunzelnd trat er ein.
Der Empfangsraum war verlassen und Rothen begann sich zu fragen, ob er zu früh war.
Dann hörte er Schritte und Akkarins Diener eilte durch eine Tür ein Tablett mit Gläsern vor sich tragend. Als er Rothen sah, hielt er inne.
„Guten Abend, Mylord“, sagte er sich verneigend. „Der Hohe Lord und Lady Sonea erwarten Euch im Speisesaal. Wenn Ihr mir bitte folgen würdet.“
Takan wandte sich nach links und stieg eine Treppe empor. Rothen folgte ihm auf einen Flur, auf dem jene Räume der Residenz lagen, die Besucher für gewöhnlich zu sehen bekamen. Die privaten Räume des Hohen Lords und seiner Frau befanden sich indes auf der anderen Seite. Dort war er bis jetzt nur gewesen, als Sonea gerade ihren kleinen Sohn geboren hatte. Und einmal, als er sie und den kleinen Lorlen wenig später besucht hatte.
Der Diener trat durch die weit geöffneten Türen des Speisesaals.
„Lord Rothen ist eingetroffen“, verkündete er. Er stellte die Gläser auf eine Anrichte, dann verneigte er sich und eilte wieder hinaus.
„Guten Abend Hoher Lord“, grüßte Rothen, einen Schritt in den Raum machend. „Lady Sonea.“ Sein Blick fiel auf den jungen Mann in den roten Roben und die grüngewandete Frau neben ihm. „Lord Regin und Lady Trassia.“
Soneas beste Freunde fuhren herum. Für einen Augenblick sah es aus, als wollten sie sich vor ihm verneigen, dann zupfte Regin seine Freundin am Ärmel.
Rothen verkniff sich ein Lächeln. In spätestens ein paar Tagen würden sie sich daran gewöhnt haben, richtige Magier zu sein.
„Rothen!“ Sonea löste sich von der Seite ihres Mannes. Ihr Weinglas beiseitestellend, schritt sie auf ihn zu und ergriff seine Hände. „Wie schön, dass du da bist!“
„Den Abschluss deines Studiums zu feiern kann ich mir doch nicht entgehen lassen“, erwiderte er. Er betrachtete Sonea genauer. Sie war schon lange nicht mehr das kleine, unsichere, abgemagerte Mädchen aus den Hüttenvierteln, dem er sich angenommen hatte und auf das Leben in der Gilde vorbereitet hatte. Sonea war zu einer selbstbewussten, hübschen Frau herangewachsen. An diesem Abend trug sie ihr Haar zusammen, wie es sich für eine kyralische Ehefrau gehörte, jedoch auf eine exotische Weise hochgesteckt. Der Schmuck in ihrem Haar wirkte ebenfalls exotisch. Rothen schüttelte unwillkürlich den Kopf. Warum hatte sie diese Sachen aus Sachaka mitgebracht und trug sie, wenn die Monate in Marikas Palast offenkundig traumatisch gewesen waren? Sonea sprach nie darüber, aber er sah es in ihren Augen, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Warum also hielt sie so daran fest? Oder tat sie das vielleicht, um vorzugeben, alles wäre nur halb so schlimm gewesen?
„Ich hoffe, du fühlst dich nicht einsam unter so vielen Paaren“, sagte sie. „Ich wollte Dannyl einladen, aber er hat momentan in Vin zu tun.“
„Seit Dannyl nach Elyne versetzt wurde, habe ich gelernt, ohne ihn klarzukommen“, erwiderte Rothen lächelnd. Sein ehemaliger Novize hatte es weit gebracht. Vom zweiten Botschafter zu Elyne war er nach dem Krieg gegen Sachaka zum Auslandsadministrator befördert worden. Seine hartnäckigen Verhandlungen über ein Bündnis mit den Verrätern, die sich als überaus stur und unflexibel erwiesen hatten, hatten viel dazu beigetragen. Obwohl Rothen oft bedauerte, dass sein Freund nur noch selten nach Imardin kam und er ihre heiteren Gespräche vermisste, war er zugleich stolz, weil Dannyl in seinem Leben so weit gekommen war.
„Möchtest du ein Glas Wein vorab?“, fragte Sonea, ganz die perfekte Gastgeberin gebend. „Das Abendessen wird sich leider ein wenig verzögern, weil wir noch auf Lord Balkan und Luzille warten.“
„Die sich wahrscheinlich noch fertig frisieren muss“, hörte er Regin murmeln, dicht gefolgt von einem leisen „Au!“, als Trassia ihn in die Seite stieß.
Rothen kicherte. „Sehr gerne“, sagte er zu seiner ehemaligen Novizin gewandt. „Anurischer Dunkelwein nehme ich an?“
„Fünf Jahre gelagert.“ Akkarin drückte ihm ein goldverziertes Glas befüllt mit der dunkelroten Flüssigkeit in die Hand. „Der Jahrgang erschien mir angesichts des Anlasses als passend.“
Auch in der Gegenwart seiner Frau empfand Rothen den Hohen Lord als furchteinflößend. Seine hochgewachsene Gestalt und die harschen Gesichtszüge, die durch sein langes schwarzes Haar, das er auf altmodische Weise im Nacken zusammengebunden trug, betont wurden, trugen nicht unwesentlich dazu bei. Rothen bildete sich jedoch auch ein, dass eine Aura der Macht von Akkarin ausging, die zweifelsohne von seinem jahrelangen Gebrauch schwarzer Magie kam, und dass es das war, das die Gilde schon früher dazu gebracht hatte, vor ihm in Ehrfurcht zu erstarren. Er versuchte sich vorzustellen, wie es sein mochte, mit einem solchen Menschen zusammenzuleben oder gar verheiratet zu sein – und scheiterte.
Bemüht, sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen, nahm er das Glas entgegen. Auch wenn er ahnte, der schwarze Magier hatte davon längst aus seinen Gedanken erfahren. Es war kein Geheimnis, dass Akkarin die Oberflächengedanken anderer Magier und auch von Menschen mit latentem magischen Potential lesen konnte. Seit seinem ’Unfall’ bei der Invasion der Ichani geschah dies oft ungewollt. Rothen hatte sich daher von Sonea zeigen lassen, wie er seine Gedanken verbergen konnte, wenn er nicht wollte, dass ihr Mann diese mitbekam.
Seine unerfreulichen Gedanken vertreibend hob er sein Glas. „Auf dich, Sonea!“
Sie stießen an.
„Ich bin wirklich froh, dass du gekommen bist, Rothen“, sagte Sonea, nachdem sie beide einen Schluck getrunken hatten. „Das bedeutet mir wirklich viel.“
Rothen war tief bewegt. Jedoch nicht wegen ihrer Worte, sondern wegen dem, was sie nicht gesagt hatte. „Das ist doch selbstverständlich“, erwiderte er.
Nachdem er Sonea als Novizin verloren hatte, hatte er sie nicht unterrichten dürfen. Und als sich schließlich die Chance dazu ergeben hatte, hatte Sonea gute Gründe gehabt, sie auszuschlagen. Rothen konnte ihr das nicht übelnehmen und er wusste, dass sie sich deswegen insgeheim schuldig fühlte.
„Wie geht es Farand?“, fragte Sonea.
„Er hat in dieser Woche noch zwei Prüfungen. Und dafür lernt er fleißig.“
Sonea runzelte die Stirn. „Tut er das nicht immer? Ist es nicht noch ein halbes Jahr bis zu seinen Abschlussprüfungen?“
„Wenn er weiterhin lernt, ja“, antwortete Rothen. „Allerdings hege ich letzter Zeit die Befürchtung, dass er anfängt, sich für Mädchen zu interessieren.“
Sonea hob die Augenbrauen. „Farand ist achtundzwanzig, Rothen! Natürlich interessiert er sich für Mädchen!“
„Aber diese sind mehr als zehn Jahre jünger“, wandte Rothen ein. Der Elyner war bereits Mitte zwanzig gewesen, als die Gilde ihn aufgenommen hatte. Um ihm das Leben unter den Magiern zu erleichtern, hatte Rothen die Verantwortung für ihn übernommen. Wie sich herausgestellt hatte, war Farand mit einer außergewöhnlichen Intelligenz und einer großen Vorliebe für Alchemie gesegnet. Sein Alter bescherte ihm zudem eine höhere Auffassungsgabe als den anderen Novizen und Rothen freute sich bereits darauf, dass Farand nach seinem Abschluss offiziell zu seinem Assistenten wurde.
„Ah, die Novizinnen sind doch die interessantesten“, warf Regin ein. „Sie sind jung und unschuldig. Zumindest meistens.“
„Regin!“, entfuhr es Soneas Freundin entsetzt.
„Was hast du?“, fragte der junge Mann betont unschuldig. „So hast auch du mein Interesse erweckt.“
Trassia bedachte ihn mit einem finsteren Blick und wandte sich ab. Sonea schenkte Rothen ein entschuldigendes Lächeln und wandte sich dann zu ihrer Freundin. Und plötzlich fand Rothen sich dem schwarzen Magier allein gegenüber.
Ein Seufzen unterdrückend nippte er an seinem Wein, bemüht, um sein Unbehagen zu überspielen. Als Gastgeberin war es Soneas Pflicht, die weiblichen Gäste zu unterhalten. Und er hatte so eine Ahnung, dass Trassia ein größeres Redebedürfnis als er hatte.
„Ich verstehe, wenn Euch der heutige Abend unangenehm ist“, brach Akkarin das Schweigen, nachdem beide Männer eine Weile einander angestarrt hatten. „Ihr hättet derjenige sein sollen, der Sonea heute aus seiner Obhut entlässt.“
Rothen winkte ab. „Darüber bin ich hinweg. Tatsächlich muss ich Euch danken, weil Ihr Euch so intensiv ihrer Ausbildung gewidmet habt. Dank Euch hat sie erreicht, als es ihr unter meiner Anleitung möglich gewesen wäre.“
Über das Gesicht des Hohen Lord huschte der Anflug eines Lächelns. „Das hat sie, nicht wahr?“, sagte er seltsam ironisch.
Nicht wissend, wie er diese Bemerkung verstehen sollte, entschied Rothen, es war Zeit, es mit einem anderen Thema zu versuchen. „Ich bin gespannt, wie die neuen Winternovizen sind“, sagte er. „Der letzte Jahrgang hat sich einen Klassenkampf geliefert, der beinahe den nächsthöheren Jahrgang in Mitleidenschaft gezogen hat.“
„Nun, ich bin sicher, Ihr werdet in Eurer Klasse alles tun, um den Novizen die Wertevorstellungen der Gilde zu vermitteln.“ Mit einem Stirnrunzeln schwenkte Akkarin den Wein in seinem Glas. „Angesichts der Ereignisse des letzten Halbjahres bin ich jedoch zu der Ansicht gelangt, dass es nicht schaden könnte, für die Novizen aus den Häusern einen Vorbereitungskurs mit den Schwerpunkten Moral und Sozialverhalten zu veranstalten, so wie wir die weniger Privilegierten in dem Basiswissen unterrichten, das sie benötigen, um an unserer Universität zu studieren.“
Rothen nickte. „Da stimme ich Euch zu. Ich bin sicher, nach dem letzten Halbjahr werden der Rektor und die übrigen Studienleiter diese Idee begrüßen.“
Akkarin lachte leise. „Das ist wahrscheinlich.“
Seit die Gilde auch Kinder aus den Hüttenvierteln und den Familien der Bauern, Kaufleute und Handwerker aufnahm, kamen jedes Halbjahr zwei neue Klassen hinzu, in denen Novizen aus allen Bevölkerungsschichten gemischt wurden, um die Integration der nicht-adligen Sprösslinge zu fördern. Das verlief indes nicht immer reibungslos. Während die Kinder aus den Häusern mit dem Rest der Klasse nichts zu tun haben wollten, blieben die Kinder aus dem Äußeren Ring aus Misstrauen gegenüber ihren Klassenkameraden für sich. Die Kinder aus der Mittelschicht der Bevölkerung schlugen sich dabei meist auf die eine oder die andere Seite.
In einer der beiden Klassen, die zum Sommerhalbjahr ihr Studium begonnen hatten, war die Situation eskaliert, als einer der Novizen aus den Häusern begonnen hatte, sich mit anderen gegen die Kinder aus den Hüttenvierteln zu verbünden. Nach nur wenigen Wochen hatten sich die Feinseligkeiten auf die Parallelklasse ausgeweitet und hatten schließlich sogar die Novizen aus dem zweiten Jahr gegeneinander aufgebracht, die bis dahin zu einer Art stillschweigendem Friedensabkommen gefunden hatten. Als Folge dessen hatten einige Magier gefordert, dass nur noch Kinder aus der Ober- und Mittelschicht Kyralias aufgenommen werden sollten. Die Oberhäupter einiger einflussreicher Häuser hatten sich diesem Protest angeschlossen, nachdem die Neuigkeiten über die Kämpfe der Novizen bis in den Inneren Ring vorgedrungen waren.
Der König hatte den Protest jedoch im Keim erstickt und auf das von ihm erlassene Gesetz hingewiesen, dass die Gilde dazu verpflichtete, Kinder aus allen Bevölkerungsschichten auszubilden, sofern ihr magisches Potential und ihre Intelligenz den Anforderungen entsprachen.
„Das Problem mit den Klassenkämpfen würde sich vermutlich in Wohlgefallen auflösen, wenn die Lehrer strenger zu den Novizen wären“, sagte Regin. „Und damit meine ich streng sowohl zu den Novizen aus den Häusern als auch zu denen aus der Unterschicht. Doch sie lassen ihren Schülern zu viel durchgehen, weil sie die Novizen aus der Unterschicht insgeheim verachten.“
So wie dir, dachte Rothen. Er hatte nicht vergessen, wie Regin seine ehemalige Novizin während ihres ersten Studienjahres schikaniert hatte. Inzwischen mochten sie beste Freunde geworden sein, Regins Charakter hatte sich indes kaum verändert. Seine Niedertracht richtete sich jetzt nur gegen andere.
„Das mag früher so gewesen sein“, sagte er. „Doch die Lehrer, die diese Klassen unterrichten, werden nach ihrer Toleranz ausgewählt. Ich denke, es ist vielmehr eine Frage der Überforderung.“
„Was sich vermeiden ließe, wenn die Lehrer strenger wären.“
„Strenge funktioniert nur in Verbindung mit Fairness“, sprach Akkarin. „Novizen sind nicht dumm, sie merken, wenn sie ungerecht behandelt werden. Und das macht sie rebellisch.“
Rothen unterdrückte ein Kichern. „Wenn sie sich gegen ihre Lehrer zusammentun, würde das ihre Streitigkeiten auch beenden.“
„Lasst das nicht Eure Novizen hören“, riet der Hohe Lord.
„Sie würden sie nur vergessen, bis sie einen Lehrer bekommen, der sie nicht ungerecht behandelt“, wandte Regin ein.
Rothens Erleichterung kannte keine Grenzen, als die Tür aufging und Takan mit der Nachricht, Lord Balkan und seine Frau seinen eingetroffen, eintrat. Nur wenige Augenblicke später traten das Oberhaupt der Krieger und eine kleine Elynerin mit widerspenstigen goldenen Locken ein. Trotz der winterlichen Kälte trug sie ein dünnes, tief ausgeschnittenes Kleid mit kurzen Rüschenärmeln. Als Ehefrau eines Magiers hielt Luzille es nicht für nötig, sich in Pelze zu wickeln, wenn sie mit ihrem Mann ausging.
„Guten Abend“, dröhnte Balkan. „Hoher Lord, Lady Sonea. Meine Frau und ich danken für die Einladung.“
Sonea löste sich von ihrer Freundin, um ihre neuen Gäste zu begrüßen.
„Guten Abend, Lord Balkan“, sagte sie und es kam Rothen so vor, als müsse sie sich die Verneigung verkneifen. „Und Luzille“, fuhr sie ein Lächeln aufsetzend fort.
Die beiden Frauen küssten einander auf beide Wangen. Luzille erhielt ein Glas Wein, und nachdem sie die anderen Anwesenden begrüßt hatte, beteiligte sich an der Konversation von Sonea und Trassia.
Balkan trat zu Rothen und den anderen beiden Männern. „Ich bitte um Entschuldigung für unsere Verspätung“, sagte er. „Diese war wieder einmal dem Hang zum Perfektionismus zu verschulden, den meine Frau bei ihrem Aussehen an den Tag legt.“
Akkarin warf einen Blick zu den Frauen, wo Luzille damit begonnen hatte, auf Trassia einzureden. „Das ist ihr wahrhaftig gelungen.“
„Das hätte sich vermeiden lassen, hätte sie früher damit begonnen, sich zurechtzumachen“, brummte Balkan.
Der Hohe Lord winkte ab. „Takan war ohnehin noch mit den letzten Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt. Jedoch ...“, seine Augen wanderten zur Tür und verengten sich, „... ist er genau zum richtigen Zeitpunkt damit fertig geworden.“
Die Türen schwangen erneut auf und Takan trat ein, ein großes Tablett voll mit kleinen Schälchen vor sich her balancierend. Ein köstlicher Duft stieg in Rothens Nase, und als er einen Blick auf die aufwändig zubereiteten Speisen warf, ahnte er, Akkarins Diener hatte sich wieder einmal selbst übertroffen.
Der Hohe Lord und seine Frau lösten sich von ihren Gästen und nahmen ihre Plätze an den Kopfenden der Tafel ein. Nachdem sich auch die Gäste gesetzt hatten, beschrieb Takan die verschiedenen Gerichte, füllte ihre Weingläser auf und zog sich zurück.
Dann begannen sie zu essen.
***
„Was für ein wundervoller Abend.“ Luzille umarmte Sonea so fest, dass diese sich von den Brüsten der anderen Frau erdrückt fühlte. „Vielen Dank noch einmal für die Einladung, meine Süße und noch einmal meine besten Wünsche zu deinem Abschluss.“
„Danke“, erwiderte Sonea atemlos.
Luzille wandte sich zu Akkarin. „Und Euch danke ich selbstverständlich auch, Hoher Lord. Richtet Eurem Koch aus, dass das Essen wie immer vorzüglich war.“
„Das wird Takan gewiss freuen“, erwiderte Akkarin trocken.
Die junge Elynerin griff nach Soneas Händen. „Morgen gehe ich im Krankenhaus aushelfen“, teilte sie ihr mit. „Du weißt schon, niedere Arbeiten für Nichtmagier. Ich würde mich freuen, wenn du dich mir anschließt.“
„Ich habe noch keine Pläne für morgen.“ Sonea sah zu ihrem Mann. „Es sei denn, der Hohe Lord besteht darauf, dass ich morgen mit meiner Forschung beginne.“
Akkarin schüttelte den Kopf. „Geh ruhig. Es spricht nichts dagegen, wenn du an einem oder zwei Tagen im Krankenhaus aushilfst. Du hast lange genug darauf gewartet.“
„Danke.“ Sonea schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, dann wandte sie sich wieder zu Luzille. „Dann sehen wir uns morgen früh. Wann wolltest du los?“
„Oh, das hat Zeit, meine Liebe. Schlaf dich morgen erst einmal aus. Du kannst mir eine Nachricht schicken, wenn du soweit bist.“
„Und da solltet Ihr meiner Frau nicht widersprechen, Lady Sonea“, fügte Balkan hinzu. Er bot Luzille seinen Arm. „Sie kann in dieser Hinsicht recht durchsetzungsfähig sein.“
Sonea zog es vor, nichts darauf zu erwidern. In dieser Ehe war Balkan nicht derjenige, der die Roben anhatte.
„Und weil ich so durchsetzungsfähig bin, gehen wir jetzt nach Hause“, erklärte Luzille fröhlich. Sie hängte sich bei ihrem Mann ein. „Komm mein kleiner brummiger Bovar, verabschiede dich vom Hohen Lord und seiner Frau.“
Zu Soneas Erheiterung verdrehte das Oberhaupt der Krieger die Augen. „Hoher Lord, Lady Sonea, ich wünsche eine gute Nacht.“
„Ebenso, Lord Balkan“, wünschte Akkarin mit unterdrückter Erheiterung.
Das seltsame Paar verließ den Empfangsraum. Als die Tür aufging und ein eisiger Luftstoß hineinfegte, quiekte Luzille auf. Bevor sich die Tür wieder hinter ihnen schloss, sah Sonea noch, wie Balkan einen Wärmeschild um sich und seine Frau errichtete und diese sich an seinen Arm schmiegte.
Dann fiel die Tür zu und sperrte Schnee und Kälte aus.
„Endlich!“, entfuhr es Sonea. „Ich dachte schon, sie gehen nie!“
„Du hast dich gut gehalten“, erwiderte Akkarin.
„Aber es hat mich so unglaublich viel Kraft gekostet.“ Sonea seufzte. Mehr als ein Jahr war seit ihrer Rückkehr vergangen und noch immer hatte sie das Gefühl, sich verstellen zu müssen. Ohne die Vorbereitungen für die Abschlussprüfungen als Ausrede war es schlimmer denn je. „Ich kann nicht mehr so wie früher sein. Ich weiß nicht mehr, wie ich früher war.“
„Weil die alte Sonea in Sachaka gestorben ist“, erwiderte Akkarin sanft. „Du stehst vor einem neuen Lebensabschnitt, Sonea. Ich verstehe, dass du unsicher bist. Doch setz dich nicht so sehr unter Druck.“
„Vielleicht hast du recht“, gab sie widerwillig nach. Sie fürchtete die Veränderung, die dieser Tag in ihr Leben gebracht hatte. Vielleicht war sie darüber, die anderen Magier nicht hinter ihre Maske blicken zu lassen, so paranoid geworden, dass sie glaubte, sie würden noch immer mit Mitleid oder Verachtung auf sie blicken, wenn sie sie fallenließ. Die anderen Magier würden inzwischen längst vergessen haben, dass sie ein halbes Jahr fort gewesen war. Wahrscheinlich würden sie es nicht einmal wagen, Spekulationen anzustellen, weil sie ihren Mann zu sehr fürchteten. Dennoch zog Sonea es vor, ihnen dazu keinen Anlass zu geben. Sie durften es niemals erfahren.
Außer ihr und Akkarin kannte niemand die Wahrheit über Arvice. Aber vor ihm brauchte Sonea sich weder schämen noch verstellen. Bei ihm brauchte sie nicht stark sein. Bei ihm konnte sie sein, was Sachaka aus ihr gemacht hatte.
Tatsächlich half seine Nähe in ihren schwachen Momenten am besten. Sie vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit. Akkarin hatte ihr das Versprechen abverlangt, nie wieder einen Fuß nach Sachaka zu setzen, er würde nicht zulassen, dass ihr etwas Derartiges ein zweites Mal widerfuhr. Und wenn seine dunkle Seite sie in Besitz nahm, war es nur allzu leicht zu vergessen.
Als sie aufsah, bemerkte sie, dass Akkarin sie nachdenklich musterte. „Sollen wir schlafen gehen?“, fragte er behutsam. „Oder ist dir mehr nach einer Planänderung in Form einer Runde Kyrima?“
„Die ich dann wieder verliere?“ Sonea musterte ihn mit schmalen Augen. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich bin für Schlafen gehen. Das heißt, sofern du nicht wieder auf die Idee kommst, mich wie ein junges Harrel zu behandeln.“
Akkarins Mundwinkel zuckten. Er streckte seine gesunde Hand nach ihr aus. „Das habe ich aufgegeben, als ich erkannt habe, dass ich dir damit keinen Gefallen tue“, sagte er trocken.
Sonea legte ihre Hand in seine stets kühle. Und weil ich dich dazu gebracht habe, deine dunkle Seite zu akzeptieren, fügte sie in Gedanken hinzu, während sie die Treppe emporstiegen. Auch wenn er sich ihr zuliebe darauf eingelassen hatte, so steckte dahinter ein nicht geringer Anteil Eigennützigkeit. Sie ahnte, dass er sogar zu mehr fähig war, als er ihr gegenüber zeigte, dies jedoch zurückhielt, weil er fürchtete, die Kontrolle zu verlieren. Gefragt hatte sie ihn nie. Wegen ihrer Schwangerschaft und der anschließenden Vorbereitung auf die Abschlussprüfungen hatte sich dazu auch keine Gelegenheit ergeben, das weiter zu vertiefen.
Und ein wenig fürchtete Sonea die Antwort auch.
Auf dem Weg zu ihrem Schlafzimmer sahen sie nach Lorlen. Das Baby lag in seinem kleinen Bettchen und schlief tief und fest. Dabei wirkte es so friedlich und hinreißend, dass Sonea nur mit Mühe dem Drang widerstehen konnte, es hochzunehmen und an sich zu drücken. Einst wäre sie an der Vorstellung gescheitert, wie es möglich war, so viel Liebe für etwas so Winziges zu empfinden. Es war ein ähnlich überwältigendes Gefühl wie die Liebe, die sie für seinen Vater empfand.
„Von allen Dingen, die damals passiert sind, ist er mit Abstand das beste“, flüsterte sie. „Denn er ist entstanden, als wir uns am meisten geliebt haben.“
Statt einer Antwort drückte Akkarin ihre Hand nur. „Komm“, murmelte er dann. „Sonst wecken wir ihn auf.“
Sonea nickte und folgte ihm ins Schlafzimmer. In ihr Bedürfnis nach Nähe hatte sich inzwischen eine dunkle Vorfreude gemischt. Sie hatte nicht vergessen, dass Akkarin sie auf den Abend vertröstet hatte.
Akkarins Augen verengten sich und die Schlafzimmertür schwang auf. Er dämpfte seine Lichtkugel und ließ sie vorausschweben. Sonea trat vor ihre Kommode und nahm das Haarnetz mit den Goldfäden ab, dann löste sie die Nadeln aus ihrer Frisur und schüttelte ihr Haar, bis es lang und schwer über ihre Schultern wallte. Mit einem Seufzen streifte sie ihre Stiefel ab und schlüpfte aus ihrer Robe.
„Komm her, Sonea.“
Sonea fuhr herum.
Ihr Mann saß auf einer Bank am Fußende des Bettes, das Kinn auf seine behandschuhte Hand gestützt. Sein Blick ließ sie erschaudern.
„Ja, Hoher Lord“, sagte sie und schritt auf ihn zu.
Akkarins dunkle Augen wanderten über das kurze seidene Unterkleid, das er ihr zu Lorlens Geburt geschenkt hatte und das nur wenig der Phantasie überließ. Seine Hand fuhr in ihren Nacken und zog sie zu sich um sie zu küssen. Sonea japste nach Luft, als seine andere Hand unter ihr Hemd glitt und über ihre Haut strich und rasch wärmer wurde. Sonea schlang die Arme um ihn und ließ zu, dass er den Stoff ihres Unterkleides emporschob und sie schließlich vollends auszog. Ungeduldig nestelte sie an der Schärpe seiner Robe. Akkarin lachte leise und erhob sich, um ihr dabei zu helfen, ihn zu entkleiden. Als er nur noch mit einer Hose bekleidet war, setzte er sich wieder auf die Bank. Seine Hand kehrte zurück in ihren Nacken, doch anstatt sie erneut zu küssen, drückte er sie auf die Knie.
Eine Weile betrachtete er sie, die Stirn nachdenklich gerunzelt, so als wolle er sich vergewissern, dass sie bereit war, dann fuhren seine Hände durch ihr Haar und er beugte sich zu ihr herab, um sie voll Verlangen erneut zu küssen. Sonea streckte ihre Arme empor, um sie um seinen Nacken zu legen, doch er bekam ihre Handgelenke zu fassen und hielt sie fest.
„Gib mir deine Kraft.“
Ein Schaudern verspürend konnte Sonea nur nicken. Jeden Abend gab sie ihm ihre verbleibende Magie. Es geschah selten, dass Akkarin ihre Magie einforderte, wenn sie gerade dabei waren, miteinander ins Bett zu gehen. Sonea hätte indes keine Einwände gehabt, würde er ihre Magie jeden Abend auf diese Weise nehmen. Weil ihr gefiel, wofür dieses Ritual stand. Sie hasste es, schwach zu sein und ihre Magie war alles, was ihr Stärke verlieh, wenn sie selbst schwach war und seit Arvice fühlte sie sich allenthalben schwach. Bei Akkarin fühlte sich Schwachsein jedoch richtig an.
Als seine langen Finger sich um ihre Handgelenke schlangen, schloss sie Augen und sandte ihm ihre verbleibende Magie und hörte erst auf, als er ’genug’ sagte.
Sonea sah zu ihm auf. Akkarin streckte eine Hand nach ihr aus und strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Die Zuneigung und die Autorität, die in dieser einfachen Geste lagen, waren ein stilles Versprechen an das, was nun folgen würde. Mit einem neuerlichen Schaudern zwang Sonea ihre Ungeduld zurück. Während sich seine dunklen Augen in ihre bohrten, löste sie die Schnürung seiner Hose. Dann zog er ihren Kopf hinab auf seinen Schoß.
***
Fragen zum Kapitel
Wie hat euch die Abschlussfeier gefallen? Passt sie für euch zur konservativen Gilde?
Glaubt ihr, dass Regins und Trassias Zusammenleben gutgehen könnte?
Findet ihr Lorlen ist ein passender Name für das Baby?
Glaubt ihr, dass es Rothen insgeheim sehr mitnimmt, dass nicht er derjenige war, der Sonea aus seiner Obhut entlassen hat?
Wie denkt ihr über die aktuelle Beziehung von Sonea und Akkarin? Welche Anzeichen seht ihr, dass ihre Entführung ihre Beziehung noch immer beeinträchtigen könnte? Was könnte der Grund sein, warum sich von Luzille beim Abschied so überfallen fühlt?
Und zuletzt: Wie denkt ihr über die Ereignisse, die zwischen diesem Kapitel und D2K geschehen sind?
- Soneas Schwangerschaft und das Leben mit dem Baby
- die Entwicklungen in der Gilde bzgl. ihrer Öffnung gegenüber der einfachen Bevölkerung
- der noch immer andauernde Konflikt in Sachaka
Im nächsten Kapitel werden einige weitere Hauptfiguren dieser Geschichte eingeführt und es geht um neue Aufgaben.