Die Bürde der schwarzen Magier III - Das Heiligtum von Yukai
von Lady Sonea
Kurzbeschreibung
Anderthalb Jahre nach dem Massaker von Arvice ist Sonea noch immer gebrochen von ihrer Erfahrung mit Marika. Sachaka steht derweil gebeutelt von Kämpfen am Rande des Ruins. Als die Situation eskaliert und Kyralia erneut in Gefahr gerät, sind sich die Anführer der Kriegsparteien einig, dass nur noch Verhandlungen den Konflikt beenden können. Als Vermittler fordern sie den Mann, dessen Ruf sich bis über die Grenzen der Verbündeten Länder hinaus verbreitet hat: Auslandsadministrator Dannyl. Gegen den Willen des Hohen Lords entscheidet Sonea, Dannyl zum Ort der Verhandlungen, einem alten Tempel in der Wüste von Duna, zu eskortieren. Doch die Konferenz wirft ihre Schatten voraus und das nicht nur, weil Sonea sich wieder mit ihrer Vergangenheit konfrontiert sieht. Schon bald bemerken sie und Dannyl, dass jede Partei ihr eigenes Spiel spielt, und sie müssen die richtigen Verbündeten finden, um zu die drohende Katastrophe zu verhindern …
GeschichteAbenteuer, Fantasy / P18 / Mix
Hoher Lord Akkarin
Lord Dannyl
Lord Dorrien
Lord Rothen
Regin
Sonea
02.08.2016
04.06.2019
56
813.938
87
Alle Kapitel
290 Reviews
290 Reviews
Dieses Kapitel
8 Reviews
8 Reviews
13.06.2017
15.773
Hallo ihr Lieben,
Wow, das letzte Kapitel hat ja für noch mehr Diskussion gesorgt, als das mit dem Anschlag! Ich bin hingerissen :) Und gespannt, welchen Eindruck das heutige hinterlässt. Wie auf Twitter und FB schon angekündigt, gibt es heute unter anderem eine Wahrheit über den bösen heißen König, die Sonea bis jetzt erfolgreich verdrängt hat.
Herzlichen Dank an Caparzo, Debbibebbi, Destiny Dark, Lady Kadala, Sabrina Snape, Lady Alanna für die Reviews zum letzten Kapitel und Black Glitter für die email-Diskussion :)
Und jetzt viel Spaß beim Lesen!
PS: Marika-Fans dürfen heute ein wenig Fangirlen ;)
Dannyl war entsetzt. So wie sie die Worte ausgesprochen hatte, klang es nicht, als hätte Marika nur jeden Tag ihre Kraft genommen oder sie hart arbeiten lassen. Etwas Derartiges hatte er von Anfang an befürchtet. Doch nach Soneas Rückkehr hatte sie es so aussehen lassen, als wäre sie eine politische Gefangene gewesen. Und er verstand, warum sie das getan hatte. Das war etwas, das man niemandem freiwillig erzählte.
Die Sachakaner machen keine politischen Gefangenen, erinnerte er sich an Akkarins Worte kurz nach der Schlacht in der Ettkriti-Ebene. Entweder sie töten ihre Opfer – oder sie versklaven sie.
Dannyl hatte das zweifelhafte Vergnügen gehabt, den König von Sachaka persönlich zu treffen. Marika war ein grausamer und unberechenbarer Mensch gewesen. Zweifelsohne hatte er Sonea mit Freuden für den Tod seiner Ashaki leiden lassen und ihr gezeigt, wo ihr Platz seiner Meinung nach war. Für die Sachakaner waren die Kyralier ein Volk von Sklaven. Marika hatte dabei keine Ausnahme dargestellt.
„Das ist entsetzlich“, sagte er tonlos. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
Sonea lächelte gequält. „Es ist in Ordnung, Dannyl. Du brauchst nichts sagen.“
„Möchtest du darüber reden?“, fragte er behutsam.
Sie hob die Schultern. „Das macht es nicht rückgängig.“
„Aber es hilft.“
Sie bedachte ihn mit einem sehr seltsamen Blick.
„Ich werde alles für mich behalten“, versprach er feierlich, eine Hand auf seine Brust legend.
„Oh, deswegen mache ich mir keine Sorgen.“ Sonea lächelte schief und blickte dann in die Ferne. „Es ist nur so, dass ich noch nie mit jemandem darüber gesprochen habe“, fuhr sie nach einer Weile fort. „Nicht einmal mit Rothen. Nur Akkarin weiß es, aber er wusste es bereits aus Marikas Gedanken.“
„Das hat es für dich sicher leichter gemacht, weil du es ihm nicht mehr erzählen musstest“, erwiderte Dannyl.
„Wenn es doch bloß so einfach gewesen wäre.“ Die kleine schwarze Magierin seufzte. „In der Nacht, in der er mit den Verrätern in den Palast eingedrungen ist, war ich bei Marika. Als ich wach wurde, war Akkarin gerade dabei, seine Gedanken zu lesen. Er hat alles gesehen, was passiert ist. Er weiß sogar, was ich in gewissen Situationen gedacht oder gefühlt habe, sofern Marika es aus meinen Gedanken wusste.“ Sie schüttelte den Kopf. „Es wäre besser gewesen, hätte er das nicht getan. Aber er konnte es nicht lassen, weil er wissen wollte, was Marika mir angetan hat. Ich kann es ihm nicht verübeln.“ Sie verzog das Gesicht. „Selbst er wünscht sich manchmal, Marikas Gedanken niemals gelesen zu haben.“
Dannyl nickte mitfühlend. Jetzt begriff er, warum die beiden schwarzen Magier ihre Beziehung nicht hatten wiederaufnehmen können. Wie entsetzlich musste es für Akkarin gewesen sein, zu erfahren, was dieses Ungeheuer seiner Frau angetan hatte, und dabei dessen Gedanken und Empfindungen zu lauschen, als wären es seine eigenen? Die bloße Vorstellung erfüllte Dannyl mit Grauen.
Aber irgendwie hatten die beiden es geschafft. Weil das, was sie verband, weit über Liebe hinausging.
„Wenn du es wirklich wissen willst, werde ich dir davon erzählen.“ Soneas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ich vertraue dir, dass du mich nicht verurteilst und das Gehörte für dich behältst. Aber ich muss dich warnen: Einiges von dem, was mir widerfahren ist, ist nur schwer zu ertragen, anderes ist schwer zu begreifen, wenn man nicht dabei war.“
„Ich will es trotzdem versuchen.“
Sonea nickte. „Also schön. Sag hinterher nicht, du hättest es nicht so gewollt.“
Dannyl legte eine Hand auf seine Brust. „Das wird nicht passieren“, versprach er.
Ihre dunklen Augen begegneten seinen, dann lächelte sie. „Die ersten Wochen waren die schlimmsten“, erzählte sie die Beine mit ihren Armen umschlungen. „Die Sachakaner glaubten, Akkarin wäre tot, also glaubte ich es auch. Meine Kräfte waren blockiert, ich hatte alles verloren, was mir je etwas bedeutet hat. Ich war überzeugt, ich würde den Palast nie wieder verlassen. Marika wollte mich. Aber nicht nur für meine Magie und meine Informationen über die Gilde. Er hat mich in seine Cachira aufgenommen, zu der noch einige andere junge Frauen gehörten.“
Davon hatte Dannyl gehört. Doch in ihrem Bericht bei ihrer Rückkehr hatte sie es so hingestellt, als wäre dieser Ort für eine Kriegsgefangene ihres Standes angemessener als eine Kerkerzelle. Und die höheren Magier hatten ihr diese Geschichte abgekauft. Oder aus Gründen von Diskretion so getan.
„Jeden Abend hat er eine – oder manchmal auch mehrere – von uns ausgewählt und mit in seine Gemächer genommen“, fuhr Sonea fort. „Davon abgesehen haben wir in der Thronhalle getanzt und musiziert. Bei besonderen Anlässen haben wir ihn auch bedient. Wir hatten kostbare Kleider, Schmuck und gutes Essen und Wein. Eigentlich ein ganz angenehmes Leben bis auf diese eine Sache.“
Dannyl nickte. „Wobei ich es mir auch schon demütigend vorstelle, jemand anderen zu bedienen oder sich vor ihm zu Boden zu werfen.“
„Das war es auch. Aber es war weitaus schlimmer, mit ihm schlafen zu müssen. Er …“, sie zögerte, als müsse sie überlegen, ob sie ihn das wissen lassen durfte, „... hatte seine Methoden, seine Sklaven gefügig zu machen – allen voran die Mädchen aus seiner Cachira. Sex ist eine sehr mächtige Waffe, Dannyl.“
Dannyl nickte erneut. Insbesondere jene, die über Magie geboten, hatten es leicht, jemand anderen auf diese Weise zu manipulieren. Und schwarze Magier erst recht, dachte er, sich an eine Textpassage aus einem Buch erinnernd, das er und Tayend einst gefunden hatten.
„Wurde es irgendwann besser?“
Sonea nickte. „In den ersten Wochen habe ich mich ihm wieder und wieder widersetzt. Einmal habe ich versucht, eine Nachricht an die Gilde zu schmuggeln, um sie vor dem Mann zu warnen, den Marika nach Imardin schicken wollte. Marika ließ den Sklaven, der die Nachricht auf dem Markt einem kyralischen Händler übergeben sollte, vor meinen Augen zerstückeln.“ Sie schloss die Augen und schüttelte sich. „Er hat mich bestraft und anschließend für eine Woche in seinen Kerker geworfen. Als er mich wieder daraus entließ, wurde es noch schlimmer. Er nahm mich immer häufiger mit ins Bett und einige der Mädchen schikanierten mich aus Eifersucht, weil er mir mehr Aufmerksamkeit schenkte als ihnen. Ich war am Ende. Weil ich keinen Ausweg mehr sah, sprang ich von einem der Türme des Palasts. Dummerweise … oder besser gesagt glücklicherweise hat Meister Ivasako mich gefunden und gerettet.“
„Palastmeister Ivasako?“, entfuhr es Dannyl. „Marikas Sekretär?“
„Ja.“
Dannyl spürte einen alten Zorn aufflammen. „Er ist für den Tod meines Vorgängers verantwortlich.“
„Oh, Dannyl“, sagte sie sanft. „Ivasako ist ein auch nur ein Sklave, der seinem Meister ergeben ist.“
„Ivasako ist ein schwarzer Magier“, widersprach er heftig.
Soneas dunkle Augen funkelten gefährlich. „Denkst du, Marika hätte ihn ’befreit’, wenn Ivasako ihn verlassen hätte?“, gab sie zurück. „Er wäre nicht Marikas Leibwächter und engster Vertrauter geworden, wenn er ihm nicht so ergeben wäre. Man kann sich nicht aussuchen, wem man ergeben ist. Für Ivasako war das Marika und für ihn war das richtig so.“
„Also findest du, es ist richtig, einem Monster zu folgen?“
„Für die Sachakaner war Marika kein Monster. Ja, er war grausam, aber auch gerecht. Er hat den Bürgerkrieg beendet und dem Land Frieden gebracht. Aus unserer Sicht mögen seine Methoden falsch und unmenschlich sein. Aber aus ihrer Sicht gehört Kyralia rechtmäßig ihnen. So wie wir vom Gegenteil überzeugt sind.“
„Findest du es gerecht, dass er den Sklaven getötet hat, der deine Nachricht aus dem Palast schmuggeln wollte?“ Er schüttelte den Kopf. „Was nicht heißen soll, dass es besser wäre, wenn er dich getötet hätte.“
„Für die Sachakaner sind Sklaven Gebrauchsgegenstände und Nutzvieh. Du kannst das nicht mit Dienern vergleichen. Vielleicht eher damit, wie die Häuser auf die Hüttenleute herabsehen, aber nicht einmal das wird dem auch nur annähernd gerecht. Sklaven sind selten von persönlichem Wert. Nikko war ersetzbar, ich nicht. Indem Marika ihn töten ließ, hat er wenig verloren und dennoch sichergestellt, dass ich so etwas nicht noch einmal versuche.“ Sie stockte und sog überrascht die Luft ein. „Als ich von dem Turm gesprungen bin, ist Marika ausgerastet. Ivasako hat versucht mich vor dem Schlimmsten zu bewahren, aber das war kaum möglich. Es war einem dummen Zufall zu verdanken, dass Marika ausgerechnet in diesem Moment durch Ivasakos Blutjuwel gesehen hat.“ Sie zog die Beine dichter an die Brust. „Marika hat mich daraufhin so sehr bestraft, dass ich es nicht gewagt habe, erneut zu rebellieren.“
Und Dannyl begriff, warum sie mit niemandem über diese Dinge gesprochen hatte. Es war zu persönlich, zu beschämend. Und die Furcht vor der Reaktion der anderen angefangen von Mitleid bis zu Ablehnung war zu groß. Man tat besser daran, Dinge für sich zu behalten, die das Bild, das die Menschen, die einem am nächsten stehen, zerstören.
Er kam jedoch nicht umhin, sie zu bewundern. So viel Demütigung, so viel Schmerz und doch hatte diese Erfahrung sie nicht zerstört, sondern dazu beigetragen, dass sie sich zu einer beeindruckenden Persönlichkeit entwickelt hatte. Auch wenn ihr das anscheinend nicht bewusst ist ...
„Als ich anfing, gefügig zu sein, wurde es besser. Er hat mich besser behandelt und er hat …“, sie errötete, „nun, er etwas mit mir getan, dass mir gewisse Dinge anfingen zu gefallen. Seiner Lieblingssklavin hat das indes überhaupt nicht gefallen. Sie hat mich zu einem Duell herausgefordert, wie das in Sachaka üblich ist, wenn Sklaven um die Gunst ihres Meisters buhlen. Ich hätte es ihr gerne überlassen, Marikas Lieblingssklavin zu bleiben und habe versucht, es ihr auszureden. Aber sie war überzeugt, dass er sie dann wieder mehr begehrt.“
Dannyl erinnerte sich, Gerüchte gehört zu haben, Sonea habe während ihrer Gefangenschaft eine von Marikas Sklavinnen auf barbarische Weise getötet. Wie viel Wahrheit darin steckte, hatte er nie in Erfahrung gebracht. Bis jetzt.
„Du hast sie getötet, nicht wahr?“
Sie nickte. „Sonst hätte sie mich getötet. Aber während unseres Duells ist mir klargeworden, dass ich nicht sterben will und dass der einzige Weg zu überleben ist, sie zu töten. Gnade wäre ein Zeichen von Schwäche gewesen. Ich hatte keine Wahl.“
Dannyl war bestürzt. „Sachaka ist so ein barbarisches Land“, sagte er nur.
Sie nickte erneut.
„Womit habt ihr gekämpft?“
Die kleine schwarze Magierin grinste schief. „Mit Schwertern.“
Er pfiff leise durch die Zähne. „Dann wundert es mich nicht, dass sie verloren hat!“
Dannyl war erheitert gewesen zu erfahren, dass Sonea in ihrem vorletzten Studienjahr Schwertkampf als Wahlpflichtfach belegt hatte, um ihre Ausdauer zu verbessern. Diese altmodische Kampfkunst war einst von seinem einstigen Widersacher Fergun unterrichtet worden und war, nach seiner Strafversetzung zum Nordpass zu einem offiziellen Kurs geworden. Dannyl hatte gewusst, dass sie Marika mit einem Schwert getötet hatte, aber er hatte sie nicht träumen lassen, dass Sonea diese Kunst eines Tages einsetzen würde, um ihr Leben zu verteidigen. Was ihn an dieser Geschichte jedoch am meisten verstörte war, dass das Duell überhaupt notwendig gewesen war.
„Hat Marika den Verlust seiner Lieblingssklavin bedauert?“, fragte er.
„Nein. Ich glaube, sie hat aufgehört für ihn zu interessant zu sein, nachdem er mich genommen hatte.“ Sie schüttelte den Kopf. „Er war völlig besessen von mir. Mit der Zeit versuchte er mir sogar zu beweisen, dass er ein guter Mensch ist. Vor dem geplanten Schlag gegen die Gilde, zu dem es dank Akkarin und den Verrätern nie gekommen ist, konnte ich ihn sogar überzeugen, die Gildenmagier und meine Familie und Freunde in der Stadt zu verschonen, wenn sie freiwillig ins Exil in ein Land gehen, nachdem er nicht giert. Er hätte sonst alle getötet.“
Beeindruckt hob Dannyl die Augenbrauen. Das klang fast so, als wäre Marika verliebt gewesen. „Es ist gut, dass es nicht so weit gekommen ist“, sagte er.
„Das ist es.“
„Was weiß Akkarin über diese Zeit?“
Sie schloss die Augen. „Alles.“
Und warum zog sie dann ihren Ring aus, wenn sie darüber sprach?
„Das muss auch für ihn sehr schwer gewesen sein“, sagte er. Dass Sonea von Marika zu gewissen Dingen gezwungen worden war, war etwas, das man akzeptieren konnte. Dass es ihr irgendwann gefallen und sie es zu ihrem Vorteil genutzt hatte, war sicher nicht so leicht zu verzeihen.
„Ja, aber er hat es verstanden.“ Sie runzelte die Stirn. „Er hat einmal gesagt, es wäre nicht selten, dass man ein so intimes Verhältnis zu seinem Meister entwickelt. Das hat etwas mit Selbstschutz zu tun. Wenn man jemandem so völlig ausgeliefert ist, hat man keine Wahl.“
Dannyl nickte verständnisvoll. Er begriff, warum sie sich auf Marika eingelassen hatte. Der König von Sachaka hatte dafür gesorgt, dass er ihre einzige Bezugsperson war. Und er hatte sie manipuliert, damit sie sich ihm hingab, bis sie es freiwillig getan hatte.
„Trotzdem fühlt es sich falsch an“, fuhr sie leise fort. „Es war in Ordnung, solange ich dort war. Doch dann kam ich zurück nach Hause und alles hatte sich verändert. In den ersten Wochen nach meiner Rückkehr habe ich oft von ihm geträumt. Und seit einer Weile geschieht es wieder. Die ganzen Gefühle von damals sind wieder da. Gefühle, die ich nicht haben darf.“
„Und trotzdem hast du mich begleitet.“
„Wenn es hilft, mich meiner Vergangenheit zu stellen, dann ist es so vielleicht besser.“ Sie schenkte Dannyl ein schiefes Lächeln. „Und schließlich kann ich nicht zulassen, dass die Sachakaner unseren neuen Auslandsadministrator ebenfalls töten.“
Sonea beobachtete, wie sich die langen Bettvorhänge aus halbdurchsichtiger purpurfarbener Seide in einem sanften Lufthauch bewegten. Von unten aus dem Hof war das geschäftige Treiben der Palastsklaven zu hören, während diese die letzten Vorbereitungen für das große Fest am Abend trafen. Völlig unbekleidet hätte sie unter der dünnen Decke gefröstelt, wäre der Körper, der eng an ihren geschmiegt lag, nicht so angenehm warm. Träge und gedankenverloren streckte sie eine Hand danach aus und strich über die glatte Haut, unter der sich überraschend feste Muskeln befanden.
Früher hätte sie das abgestoßen, doch sie war nicht mehr die Sonea von früher. Sie hatte sich daran gewöhnt, mit diesem Mann ins Bett zu gehen, und auf eine zutiefst unanständige Weise gefiel ihr das.
„Wenn ich aus Kyralia zurück bin, mache ich dich zu meiner Frau“, sagte Marika.
„Ich werde nur einwilligen, wenn Ihr Euer Versprechen haltet“, erinnerte Sonea ihn mit leichter Strenge.
„Was für ein König wäre ich, würde ich mein Wort nicht halten?“, erwiderte er erheitert. Seine Finger gruben sich in ihr Gesäß und erinnerten Sonea daran, dass er sie heiraten und mit ihr einen Thronerben zeugen würde, egal ob er tat, was sie von ihm verlangte, oder nicht. Dennoch war sie sicher, er würde sein Wort halten, weil es ihm zu sehr nach ihrer Hingabe verlangte. Und die würde er niemals bekommen, wenn er den Gildenmagiern und ihrer Familie und Freunden aus der Stadt nicht erlaubte, ins Exil zu gehen. Nichtsdestotrotz plagten sie Schuldgefühle, weil sie Lord Sarrin und den neuen höheren Magier an Marikas Leute ausliefern würde, doch das erschien Sonea als akzeptabler Preis dafür, dass die anderen in Freiheit weiterleben durften.
„Einer, dem man keinen Respekt entgegenbringen würde“, antwortete sie.
„Und werde ich respektiert?“
Es war eine rhetorische Frage. Er war der König von Sachaka und über die Grenzen seines Landes hinaus erstarrten die Menschen vor ihm und seiner Macht in Ehrfurcht – und Respekt.
„Ja, Meister. Zumindest von mir.“
Er lachte leise und zog sie fester in seine Umarmung.
„Ich verlange jedoch, dass Ihr ein Blutjuwel mit Euch nehmt, das aus meinem Blut hergestellt wurde“, fuhr sie fort. „Damit ich mich davon überzeugen kann, dass Ihr Euer Versprechen haltet.“
„Abgelehnt. Auf Grund deines Standes wäre das reichlich unangemessen, findest du nicht?“
Sonea schwieg. Es kümmerte sie nicht, ob es angemessen war. Sie wollte verhindern, dass er sich ihrer Beobachtung entziehen konnte. Aber konnte er das nicht auch, wenn er ihr Blutjuwel mitnahm, ohne es zu tragen, so wie er sie nicht alles sehen lassen musste, wenn er ihr ein Blutjuwel von sich gab? In beiden Fällen wäre er der Erschaffer und hatte die Kontrolle.
„Du wirst ein Blutjuwel von mir erhalten, das du mit Stolz tragen wirst“, fuhr er fort. „Ich werde dich dadurch zusehen lassen, wenn ich in Kyralia bin. Ich bin nicht so dumm zu denken, ich könnte deine Zuneigung gewinnen, wenn ich versuche, dich zu hintergehen.“ Er machte eine Pause, während seine große prankenartige Hand über ihren Rücken und ihr Gesäß strich. „Ich denke, es ist an der Zeit, dir ein Blutjuwel zu machen, das sich nicht mehr entfernen lässt.“
Sie zuckte zusammen.
„Würdest du lieber das Halsband weiter tragen?“
„Ich …“, begann sie und brach ab. Lange Zeit hatte sie sich durch das Halsband mit dem Blutjuwel gebrandmarkt gefühlt, bis sie begonnen hatte, ihm einen gewissen Reiz abzugewinnen. Dennoch wusste sie nicht, ob ihr die Vorstellung gefallen sollte, ein solches Blutjuwel von Marika zu tragen. Es war so viel intimer – und so endgültig.
Marika fasste ihr Kinn und drehte ihren Kopf, Sonea musste sich aufrichten, damit sie ihn ansehen konnte.
„Antworte.“
Sie zögerte. „Beides hat seine Vor- und Nachteile“, sagte sie vorsichtig. „Doch als mein Meister liegt die Entscheidung bei Euch.“
Die Vallookaugen bohrten sich in ihre. „Ich werde darüber nachdenken. Die endgültige Entscheidung hat Zeit bis morgen früh. Doch ich denke, ich habe meine Wahl bereits getroffen.“
Wofür?, wollte Sonea fragen, wagte es jedoch nicht, weil sie die Antwort fürchtete. Stattdessen sagte sie: „Ich werde akzeptieren, was immer Ihr für mich vorseht, Meister.“
Der König von Sachaka runzelte kurz die Stirn, dann fuhr seine Hand in ihren Nacken und er zog sie zu sich, um sie zu küssen. Nach der vergangenen halben Stunde fragte Sonea sich, warum sie sich noch wenige Stunden zuvor so heftig gegen seine plötzliche Sanftheit gewehrt hatte. Das Gefühl, das er damit in ihr auslöste, war auf seine Weise ähnlich berauschend, wie das rohe Verlangen, mit dem er sie sich sonst nahm. Plötzlich begriff sie, dass es ihr danach verlangte, wieder von einem Mann geliebt zu werden. Und obwohl Marika der Letzte war, von dem sie geliebt werden wollte, wusste sie, dass es für sie niemals wieder einen anderen geben würde.
„Ich will, dass du diese Förmlichkeiten unterlässt, wenn wir alleine sind“, sagte er, als er von ihr abließ. „Sofern ich dir nicht einen direkten Befehl erteile. Ich habe auch einen Namen.“
Diese Eröffnung traf Sonea völlig unerwartet. „Marika?“, entfuhr es ihr.
„Das ist mein Name“, erwiderte er erheitert.
Sonea war verstört. „Aber …“, begann sie, während sie damit rang, ob sie so viel Vertrautheit zuzulassen bereit war, wohlwissend, dass er ihr keine Wahl lassen würde, „... habt Ihr … hast du das auch von Keya verlangt?“
„Nein.“
„Aber von Ienara.“
„Nur von dir.“ Er strich über ihre Wange und Sonea schmiegte sich in die Wölbung seiner Hand, dieses Mal jedoch nicht, weil er es von ihr erwartete. „Ich erwarte, dass du dich daran gewöhnst.“
„Ja, Meister“, erwiderte sie reflexartig. Sie runzelte die Stirn. „Aber warum?“
„Weil es mein Wille ist.“
Natürlich!, dachte sie ein frustriertes Seufzen unterdrückend. Sie wusste indes auch nicht, was sie von ihm hatte hören wollen oder ob ihr eine andere Antwort gefallen hätte. Solange er die Worte nicht aussprach, musste sie sich nicht damit auseinandersetzen, wie es wäre, wenn er mehr als ihr Meister wäre. Sie wollte ihn nicht als etwas anderes als das sehen.
Sie legte den Kopf auf seine Brust und schloss die Augen.
„Marika“, sagte sie leise.
Es fühlte sich ungewohnt an und kam ihr nur schwer über die Lippen, so wie die gesamte Sprache. Aber es wäre schlimmer gewesen, wäre sein Name in ihren Ohren ähnlich melodisch gewesen, wie jener, den sie nicht mehr denken wollte.
Marika strich über ihr Haar und zog sie dann fester in seine Umarmung.
„Nimm mich mit nach Kyralia“, sagte sie plötzlich.
„Nein.“
„Warum nicht?“, verlangte sie zu wissen. „Ich kann die Gildenmagier besser überzeugen, ins Exil zu gehen und nicht gegen deine Leute zu kämpfen, als du. Und du könntest mich jede Nacht haben.“
„Ein Kriegsschauplatz ist kein Ort für hilflose Sklavinnen“, sagte er schroff. „Schon gar nicht für solche wie dich. Willst du, dass deine Leute dich als Verräter in Erinnerung behalten?“
Nein, das wollte Sonea nicht. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Rothen sie dafür halten würde. Er würde verstehen. Zudem war sie überzeugt, die anderen Magier und ihre Familie noch einmal zu sehen, würde ihr helfen, endgültig mit ihrer Vergangenheit abzuschließen. Wenn Marika sie mitnahm, dann würde sie hinterher wirklich ihm gehören.
„Du könntest getötet werden“, fuhr er ein wenig sanfter fort, während er eine ihrer Haarsträhnen um einen Finger wickelte. „Und das will ich vermeiden.“
„Ich verstehe“, flüsterte sie. Insgeheim wollte sie nicht, dass er ging. Nicht, weil er am nächsten Tag ausziehen würde, um ihre alte Heimat zu erobern, sondern weil sie plötzlich nicht mehr wusste, wie sie es ertragen sollte, wenn er fort war. Und auch nicht wegen Danyara, sondern weil ihr mit erschreckender Klarheit bewusst geworden war, dass sie sich an ihn gewöhnt hatte und er mit seiner plötzlichen Veränderung dabei war, sie mehr an sich zu binden, als Gewalt und Drohungen und Furcht vermocht hätten. Doch sie weigerte sich, darüber nachzudenken, was das für sie bedeutete.
„Es ist spät“, sagte er schließlich. „Bring mir meine Kleider.“
„Ja, Meister.“ Sie stand auf, sammelte seine Kleider vom Boden auf und reichte sie ihm, indem sie sich vor das Bett kniete.
Marika zog sich an. Dann nahm er den Dolch aus seinem Gürtel und nahm ihre Kraft.
„Du kannst eine wirklich gute Sklavin sein, wenn du das willst“, bemerkte er und strich über ihre Wange. „Es wäre für uns beide leichter, wenn du es öfter wärst.“ Er stand auf und schritt zur Tür. „Und jetzt mach dich für das Fest zurecht. Ich will, dass meine Lieblingssklavin an diesem Abend ganz besonders schön ist.“
„Ja, Meister“, erwiderte sie und sah ihm nach.
Nachdem er fort war, blieb sie noch eine Weile auf dem Boden knien. Erst als sie sich gesammelt hatte, stand sie auf und trat zu ihrem Schrank, um ein angemessenes Kleid für die Lieblingssklavin des Königs auszuwählen.
Schaudernd schob Sonea die Erinnerung beiseite. Die Nacht war dunkel und eisig, doch sie war zu aufgewühlt, um die Kälte zu spüren. Neben ihr lag Dannyl in seine Decke eingewickelt und schnarchte leise.
„Marika“, flüsterte sie, während sie gegen einen inneren Widerstand ankämpfte, der verhinderte, dass sie vergaß.
Dannyl die wahre Geschichte über ihre Entführung zu erzählen, hatte weitere Erinnerungen an Arvice hervorgeholt. Erinnerungen, an die sie sich lange Zeit zu erinnern geweigert hatte. So wie die an jenen letzten Nachmittag, an dem sie etwas Einzigartiges miteinander geteilt hatten. An jenem Abend auf dem Fest und in der ganzen Zeit danach hatte sie Marikas Besuch in ihrem Zimmer in der Cachira verdrängt. Jetzt erinnerte sie sich wieder an alles, als wäre es gestern gewesen – an seinen Geruch, wie er sich angefühlt hatte und an das berauschende Gefühl, als sie sich ihm hingegeben hatte.
Er hat mich geliebt, dachte sie. Und ich habe ihn getötet. Sie zog ihre Beine an die Brust und schlang ihre Arme darum. Was habe ich getan?
Sie warf einen Blick auf ihren Blutring. Akkarin ist der einzige Mann, der noch für mich noch von Bedeutung zu sein hat, rief sie sich ins Gedächtnis. Seine dunkle Seite steht der Marikas in nichts nach. Dennoch war es mit Marika anders gewesen. Er war ihr nicht vertraut gewesen und sie hatte ihn oft als unberechenbar empfunden. Für ihn war sie in erster Linie eine Sklavin gewesen, es hatte keine moralischen Grenzen gegeben. Und das war etwas, das Akkarin ihr niemals geben konnte.
Aber ich habe ich ihn nicht geliebt. Er hat mein Leben zerstört. Zumindest hatte sie das damals geglaubt. Doch Akkarin hatte sie gefunden und befreit und die höheren Magier hatten die Blockade ihrer Kräfte aufgehoben. Dadurch hatte ihre Gefangenschaft den Beigeschmack eines unfreiwilligen Ausflugs in ungeahnte Unanständigkeiten bekommen. Sonea wusste, Akkarin hätte sich niemals zu all dem, was sie heute teilten, überreden lassen, hätte Marika den Horizont ihrer Unanständigkeit nicht erweitert. Und doch würde es immer eine Grenze geben, die er niemals überschreiten würde.
Hättest du ihn geliebt, hättest du ihn nicht ohne zu zögern getötet.
Aber sie hatte gezögert. Es war nur ein winziger Augenblick gewesen, und doch lange genug, um sie ihre Tat bereuen zu lassen, noch während sie sie ausgeübt hatte. Es mochte keine Liebe gewesen sein, denn dann hätte sie so um ihn getrauert, wie sie ein halbes Jahr lang um Akkarin getrauert hatte. Aber sie hatte etwas empfunden!
Abhängigkeitsverhältnis, hatte Akkarin ihre Beziehung zu Marika genannt. Und damit hatte er nicht unrecht gehabt. Mit blockierten Kräften und in einem Land voll von feindlich gesonnenen schwarzen Magiern hatte, war sie ihm vollkommen ausgeliefert gewesen. Aber war es wirklich er gewesen, der ihr etwas bedeutet hatte, oder war es das Gefühl gewesen, das er in ihr ausgelöst hatte?
Sonea seufzte. Sie hatte es aufgegeben, verstehen zu wollen, was nicht mit ihr stimmte. Sie hatte ihre unanständigen Vorlieben akzeptiert. Es war weder Marikas Schuld noch die Akkarins, sie hatten nur hervorgeholt, was schon immer in ihr geschlummert hatte. Sie fand, es wäre einfacher, könnte sie den ehemaligen König von Sachaka hassen, so wie sie es getan hatte, als er ihr alles genommen hatte. Was hatte sich geändert?
Vielleicht ist es, weil ich mich frage, was aus uns geworden wäre, hätten die Verräter und Akkarin nicht den Palast überfallen, überlegte sie. Und ich hätte Akkarin fast an ihn ausgeliefert! Aber woher hätte sie wissen sollen, dass er der mysteriöse höhere Magier an Lord Sarrins Seite war? Der Handel, zu dem sie Marika damals mit unanständigen Mitteln überredet hatte, war ihr aus ihrer damaligen Sicht als gut und richtig erschienen. Jetzt kam es ihr vor, als habe sie mit dem Feind kollaboriert. Und obwohl sie nicht aufhören konnte, daran zu denken, was geschehen wäre, wäre alles so gekommen, wie Marika geplant hatte, kam Sonea nicht umhin, Akkarin und den Verrätern für ihr Eingreifen zu danken.
Sie würde nie erfahren, wie sich ihr Verhältnis zu Marika weiterentwickelt hätte. Und vielleicht war das auch besser so. Sonea wünschte nur, sie könnte ändern, dass sie ihm weiterhin hinterher trauerte und sich fragte, wie es hätte sein können. Er war nicht Akkarin gewesen, sie hatte ihn nicht geliebt und es würde ihr nie in den Sinn kommen, die Liebe ihres Lebens zu töten. Allein die Vorstellung bereitete ihr beinahe körperliche Schmerzen. Mit einem Mal vermisste sie Akkarin mehr denn je. Hier in den Ödländern war sie mit ihren Erinnerungen auf sich gestellt. Wenn er doch nur hier wäre und sie in den Arm nehmen könnte! Vielleicht würde sie dann aufhören, andauernd an Marika zu denken.
Aber er kann nicht immer da sein und mich beschützen, dachte sie dann. Wenn er jedes Mal meine Hand hält, sobald ich ihn brauche, dann werde ich nie lernen, alleine mit meinen Erinnerungen fertigzuwerden.
Aber wie sollte sie das, wenn sie neben Dannyls Schutz noch die Nebenwirkungen ihrer Schwangerschaft zu bewältigen hatte? Wie sollte sie Dannyl beschützen?
So sehr Sonea sich ein zweites Kind gewünscht hatte, hätte die Schwangerschaft nicht zu einem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können. Sie und Dannyl konnten in Kämpfe verwickelt werden und die Reise war zweifelsohne anstrengend. Es war richtig gewesen, die Versuche, ein zweites Baby zu machen, einzustellen. Sie wollte sich Akkarins Reaktion, wenn er davon erfuhr, lieber nicht ausmalen. Doch darüber brauchte sie sich erst Gedanken zu machen, wenn sie wieder zuhause war. Bis dahin würde sie dieses Wissen in ihrem Geheimniswahrer wegschließen.
Doch der eigentliche Grund, warum Sonea sich nicht über diese Entwicklung freuen konnte, war, dass sie sich plötzlich ihrer Gefühle nicht mehr sicher war.
Er hatte die ganze Nacht wach in Ienaras Armen gelegen, während die Gedanken in seinem Kopf den Tanz der Schwerter neu interpretiert aufführten. Unfähig ein Auge zuzutun, hatte er der Stille der Dunkelheit gelauscht, in der Ienaras ruhige und regelmäßige Atemzüge alles waren, was ihn davon abhielt, den Verstand zu verlieren.
Nachdem er ein Bad genommen und seine Wunden versorgt hatte, hatte Ivasako den Imperator noch ein einziges Mal zu Gesicht bekommen, als dieser ihm befohlen hatte, einen Küchensklaven hinzurichten. Ivasako hatte das nicht gerne getan und er sah es als persönliche Strafe, weil seine offene Provokation bis jenseits der Palastmauern für Aufsehen gesorgt hatte.
Aber wie kann ich mich damit trösten, dass die Alternative darin bestanden hätte, Tarachi nicht zu reizen und alles zu riskieren, was Ishaka und ich in den letzten Monaten erreicht haben?, dachte er. Hätte Kachiro die Wahrheit herausgefunden, hätte er Ivasako ohne zu zögern hingerichtet. Und damit hätte niemand den Imperator von einer törichten Aktion abhalten können, während die Delegierten in Yukai über einen Frieden diskutierten.
Noch hatte Ivasako jedoch keine absolute Gewissheit, dass Kachiro keinen Verdacht geschöpft hatte. Die Anweisung, den Palast bis auf weiteres nicht zu verlassen, war eine deutliche Warnung. Sowohl Ivasako als auch der Imperator waren sich wohlbewusst, dass er dieses Verbot ignorieren konnte, doch es würde Kachiros Zorn nicht gerade mindern, wenn Ivasako dagegen verstieß.
Mit dem Verbot, den Palast zu verlassen, fiel auch das Training der Palastwachen aus, das an diesem Morgen stattgefunden hätte. Ivasako hätte sich jedoch nicht in der Lage gefühlt, seine Männer zu trainieren, weil die Furcht vor seiner nächsten Begegnung mit Kachiro sein ganzes Denken beherrschte. Davon, wie der Imperator die Gedanken seines Leibwächters interpretierte und wie Ivasako reagierte, hing mehr als sein eigenes Leben ab.
Ivasako hätte jedoch kaum anders handeln können. Er konnte von Glück sagen, dass Tarachi ihn in seiner dienstfreien Zeit mit seinem Verdacht konfrontiert hatte. Kachiro würde seinen ersten Leibwächter derweil kaum durch sein Blutjuwel beobachten, sofern er es überhaupt regelmäßig tat. Die größte Macht übte man mit einem Blutjuwel damit aus, dass der Träger nicht wusste, wann man zusah. Die meisten Magier hatten jedoch Besseres zu tun, als ihre Sklaven auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Wenn man viele Blutjuwelen kontrollierte, neigte man dazu, die Präsenzen auszublenden. Zudem war Tarachi kein ungehorsamer Sklave, der eine permanente Überwachung erforderte.
Als Ienara aufstand, verließ auch Ivasako das Bett. Er kontrollierte die Verbände seiner Wunden, die er am Abend zuvor nur zum Teil geheilt hatte, dann legte er seine Uniform an. Sollte Kachiro ihn heute zu sich rufen, so würde er sich darin weniger verletzlich fühlen. Tatsächlich besaß Ivasako nur wenig andere Kleidung, die einem Mann seines Ranges angemessen war. Auch wenn er nicht im Dienst war, sah er sich als Repräsentant der Palastgarde und in seiner Uniform brachte man ihm überall in der Stadt den entsprechenden Respekt entgegen.
Während des Morgenmahls, das sie selten gemeinsam einnahmen, sprachen sie kaum ein Wort. Selbst Jorika war ungewöhnlich still. Yakari hatte sich um Ivasakos Beine zusammengerollt, als wolle er ihm Trost spenden.
„Wirst du heute nicht arbeiten?“, fragte Ienara, nachdem sie ihr Morgenmahl beendet hatten. Ivasako hatte Jorika mit Yakari in den Park geschickt und sich mit dem Tagebuch eines Königs kurz nach dem Sturz des letzten Imperiums auf einem Diwan niedergelassen.
„Ich denke, ein freier Tag kann nicht schaden“, antwortete er. „Sonst beklagst du dich immer, dass ich so viel arbeite.“
„Willst du dir vor Kachiro wirklich diese Blöße geben?“
Der Palastmeister schüttelte den Kopf. „Einen besseren Zeitpunkt, als den Imperator an meine Nützlichkeit zu erinnern, könnte es kaum geben“, erwiderte er mit aller Gelassenheit, die er aufbringen konnte.
Ienara griff in den Korb neben ihrem Diwan und holte ihr Nähzeug heraus. „Dann hoffe ich, dass du recht behältst“, sagte sie, während sie damit fortfuhr, ein Ornament in den Stoff zu sticken, den Ivasako mit ihr wenige Tage zuvor auf den Märkten besorgt hatte. „Ich kenne kaum einem Mann, der schwerer einzuschätzen ist, als Kachiro.“
Damit war Ienara nicht alleine. Und doch besaß sie eine bessere Menschenkenntnis als Ivasako. Nun, bei Tarachi hatte sie falsch gelegen. Aber da er eigentlich auch nur ein Sklave war, war es leicht, ihm weniger Aufmerksamkeit zu schenken, wenn man gelernt hatte, auf das Verhalten der Meister zu achten.
Irgendwann im Laufe des Vormittags kam einer von Kachiros Wachen zum Haus der Cachira und teilte ihm mit, dass der Imperator ihn im Thronsaal erwartete.
„Ich komme sofort“, sagte Ivasako. „Wartet solange draußen.“
„Sei vorsichtig“, flüsterte Ienara, als er sich von ihr verabschiedete. „Und tue nichts, was ihn verärgern könnte.“
„Ich werde der vorbildliche und unterwürfige Palastmeister sein, den er erwartet.“ Ivasako küsste sie innig, dann beeilte er sich, die Cachira zu verlassen, Ienaras besorgte Blicke in seinem Rücken.
In seinem ganzen Leben war Ivasako sich der Macht des Zugangs nie so bewusst gewesen, wie an diesem Tag. Begleitet von zwei von Kachiros Wachen, schritt er durch den langen Flur zum Thronsaal. Die goldenen Türen schwangen zurück und Ivasakos Puls beschleunigte sich und seine Handflächen begannen zu schwitzen. Der dunkelblaue Teppich mit dem Cravas, das am anderen Ende in den Stoff gestickt war, erweckte in Ivasako das Gefühl, sich auf einer Verlängerung des Zugangs zu befinden.
Kachiro saß auf dem Thron umringt von mehreren seiner persönlichen Wachen. Tarachi war nirgends zu sehen. Wo der Imperator sonst dabei stets fehl am Platz wirkte, war es Ivasako nun unmöglich, den Effekt dieser Machtdemonstration nicht zu spüren.
Obwohl Ivasako nichts getan hatte, um Kachiro zu schaden, glaubte er zu zerspringen. Sollte der Imperator auf die Idee kommen, seine Gedanken zu lesen, so würde er genug darin finden, um ihn zum Verräter zu erklären. Und Ishaka vermutlich gleich mit. In Kachiros Imperium wurde das kleinste Anzeichen mangelnder Loyalität hart bestraft und es würde Ivasako nicht retten, ihm wiederholt die politische Situation im Land zu verdeutlichen.
„Mein Imperator, wie kann ich Euch dienen?“, fragte er, als er sich vor dem Thron zu Boden warf. Hinter sich konnte er das leise Rascheln von Stoff hören, als die beiden Palastwachen ihrem Meister ihren Respekt erwiesen.
Kachiro machte eine Bewegung mit der Hand, woraufhin sich die Palastwachen wieder erhoben. Ivasako blieb indes auf dem Boden knien.
„Ich habe Euch hergerufen, um Eure Zukunft zu besprechen, Palastmeister“, teilte Kachiro ihm mit. „Euer Verhalten am gestrigen Tag hat mich enttäuscht.“
„Ich bitte vielmals um Verzeihung, mein Imperator“, sagte Ivasako unterwürfig. Obwohl Kachiro niemals für ihn sein konnte, was Marika für ihn gewesen war, verspürte er Reue. Jedoch nicht auf Grund seiner Aktion an sich, sondern weil er diesen Schritt überhaupt hatte gehen müssen und weil er wusste, dass die Alternative weit entsetzlicher wäre. „Ich kann nicht ungeschehen machen, was passiert ist, doch ich gebe Euch mein Wort, dass sich ein solcher Vorfall nicht wiederholt.“
Kachiro ging nicht darauf ein. „Und warum habt Ihr Eure Arbeit heute Morgen nicht aufgenommen? Ich kann mich nicht erinnern, Euch davon entbunden zu haben.“
Wozu du nicht die Macht hast, wenn du Marikas Andenken wahren willst. Ivasako hielt den Kopf weiterhin gesenkt. „Ich hielt die Gelegenheit für günstig, um über meine Fehler nachzudenken.“
„So?“ Kachiro hob eine Augenbraue. „Und zu welcher Einsicht seid Ihr gelangt?“
„Ich hätte mich nicht von Tarachi provozieren dürfen lassen. Ich sah ihn zu sehr als Bedrohung für das Vermächtnis meines einstigen Meisters. Es war jedoch nie meine Absicht, ihn zu töten. Ich wollte ihn nur auf seinen Platz verweisen.“
„Und dieses Vermächtnis, was meint Ihr damit?“
„Die Palastgarde.“
„Seltsam, ich hatte vielmehr den Eindruck, es ginge darum, mich zu stürzen.“
„Mein Imperator“, sagte Ivasako und berührte mit seinem Oberkörper das Cravas vor seinen Knien. Es fühlte sich falsch an. Mit einem Mal begriff er, warum Sonea sich so sehr dagegen gesträubt hatte, sich Marika zu unterwerfen. Eine widerwillige Unterwerfung fühlte sich nicht gut an. Und Kachiro war alles andere als Ivasakos Erfüllung.
„Ihr seid der Nachfolger meines Meisters und von den Männern, die heute Eure Berater sind, dazu bestimmt, diesen Krieg zu beenden und Sachaka wieder zu Ruhm und Ehre zu verhelfen.“ Ivasako hob den Kopf und sah dem anderen Mann in die Augen. „Nichts widerstrebt mir mehr, als Euch zu töten.“
„Und die Behauptungen meines Leibwächters?“
Ivasako hob die Schultern. „Sind absolut unbegründet. Doch sie sprechen für eine scharfe Beobachtungsgabe. Angewendet in den richtigen Situationen kann Tarachi Euch gute Dienste leisten.“
Mit überaus grimmiger Miene strich Kachiro über seinen Kinnbart. „Hättet Ihr meinem Vorgänger nicht so treue Dienste geleistet und würde ich ihn nicht über den Tod hinaus so sehr schätzen, so hätte ich Euch längst von Euren Pflichten entbunden oder hingerichtet“, sprach er. „Die gegen Euch gerichteten Vorwürfe mögen unbegründet sein, doch dieser Vorfall hat dem Palast ungeheurem Schaden zugefügt.“
Ivasako senkte den Kopf. „Ich kann nur wiederholen, wie sehr ich meine Impulsivität bereue, mein Imperator.“
„Ihr seid nicht mehr Marikas Palastmeister, sondern meiner. Und von meinem Palastmeister erwarte ich absoluten Gehorsam.“
„Ich diene dem Imperium und damit Euch, mein Imperator“, sprach Ivasako. „Ihr könnt Euch meines Gehorsams sicher sein.“
„Dann erwarte ich von Euch keine weiteren Fehltritte mehr, Palastmeister. Solltet Ihr noch einmal mein Missfallen erregen oder sollten mir neue Gerüchte, die in irgendeiner Weise darauf hindeuten, dass Ihr mir schaden wollt, zu Ohren kommen, so werde ich nicht zögern, Eure Gedanken zu lesen. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
„Ja, mein Imperator. Ich stehe in Eurer Schuld.“
Ohne Marikas noch immer währenden Einfluss hätte Kachiro dies schon längst getan, ahnte Ivasako. Er schätzte den Imperator so ein, dass er für eine unbegründete Vermutung das Gesetz ignorieren würde. Aber in Kachiros Augen war Ivasakos und Ishakas Versuch, einen gemäßigten Einfluss auf die Politik auszuüben, vermutlich Verrat genug.
„Entschuldigt Euch bei Tarachi und tut, was ich Euch sage, und ich bin bereit, diesen Vorfall zu vergessen“, sprach Kachiro. „Ihr seid mein einziger Berater in Arvice. Schon nächste Woche wird eine Party bei Ashaki Rovako stattfinden. Ich erwarte, dass Ihr dort hingeht und für mich spioniert.“
„Ja, mein Imperator“, wiederholte Ivasako. „Darf ich fragen, was mit Tarachi geschehen ist?“
„Ich habe ihn für eine Woche von seinem Dienst entbunden.“
Für einen Sklaven, der seinem Meister ergeben war, war das eine durchaus harte Strafe. Sie verlieh einem das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden und in der Gunst des Mannes, dem zu dienen Erfüllung bedeutete, gesunken zu sein.
„Ist es wahr, dass er es auf meinen Posten abgesehen hatte?“
„Er hat Euch Euren Posten geneidet, ich habe ihn daran erinnert, wo sein Platz ist. Aber“, Kachiro betrachtete ihn finster, „ich werde Euch im Auge behalten, Palastmeister.“
Also hatte Tarachi aus eigenem Impuls gehandelt. „Ja, mein Imperator“, sagte Ivasako. „Wenn es Euer Wunsch ist, so werde ich meinen Dienst ebenfalls für eine von Euch festgesetzte Zeit niederlegen.“
„Abgelehnt“, sprach Kachiro. „Es ist kaum ein halber Tag vergangen und Euer Faulenzen macht sich bereits bemerkbar. Nein, ich wünsche, dass Ihr Eure Arbeit unverzüglich wieder aufnehmt.“ Er machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. „Und jetzt geht mir aus den Augen.“
Erneut berührte Ivasako das Cravas, dann stand er auf und entfernte sich.
Noch einmal davongekommen, dachte er, nachdem er den Thronsaal verlassen hatte. Das hätte auch anders ausgehen können.
Die Erkenntnis löste ein ungeahntes Gefühl von Leichtigkeit in ihm aus. Zugleich wusste er jedoch, von nun an musste er noch mehr Vorsicht walten lassen. Kachiro würde ein gutes Auge auf ihn haben.
Es war Zeit, Ishaka zu kontaktieren.
Trotz ihrer ungesunden Blässe wirkte Sonea an diesem Tag ein wenig fröhlicher als an den Tagen zuvor. Jemand Unbeteiligtem von ihrer Entführung zu erzählen hatte ihr, wie Dannyl gehofft hatte, offenkundig geholfen. Sie war ein wenig gesprächiger, wenn auch sie noch immer angespannt war. Selbst jetzt war Dannyl entsetzt über das, was sie ihm berichtet hatte. Er scheiterte daran, sich vorzustellen, wie es war, an einen Mann gebunden zu sein, der für alles stand, was man verachtete, und zu sexuellen Gefälligkeiten gezwungen zu sein und diese mit der Zeit zu mögen. Aber sie war es gewohnt, dass das Leben ihr nichts schenkte.
Der Tag versprach, so heiß wie der vergangene zu werden. Als am späten Vormittag eine Hügel-Gruppe sich über das Flirren am Horizont am Horizont erhob, verließen sie ihre Route und stiegen höher ins Gebirge. Obwohl mitten in den nördlichen Ödländern, waren die Rachiro-Hügel und ihr Umland überraschend fruchtbar und weder Dannyl noch seine kleine Begleiterin wollten eine Begegnung mit ihren Bewohnern riskieren.
In den Bergen war es leicht, ihre Wasservorräte aufzufrischen, und an geschützten Stellen fanden sie hin und wieder essbare Pflanzen.
„Wir reiten, bis es zu dunkel ist, um noch etwas zu sehen“, teilte Sonea ihm am Nachmittag mit. „Beim ersten Licht des Tages reiten wir weiter. Dann können wir morgen Mittag wieder ins Flachland hinabsteigen.“
„Bist du sicher, dass das nicht zu anstrengend für dich wird?“, fragte Dannyl. Mit einem raschen Blick auf Soneas Ring fügte er hinzu: „Du hast letzte Nacht kaum geschlafen. Und ich will nicht riskieren, dass meine Beschützerin die Kontrolle über ihre Magie verliert, weil sie sich nicht erholen kann.“
„Wenn wir meinem Plan folgen, können wir schon morgen Abend auf die Verräter treffen“, entgegnete Sonea stur. „Von da an wird alles leichter.“
„Unsere Reise hat sich schon so sehr verzögert, dass ein halber Tag keinen Unterschied macht.“
„Aber wir wären in Sicherheit.“ Sie schnitt eine Grimasse und zog den Ring ab. „Ich hätte dir nicht erzählen dürfen, dass ich ein Baby bekomme“, sagte sie. „Ihr Männer seid immer so übervorsichtig, sobald es um Babies geht. Dannyl, ich war schon einmal schwanger. Lorlen kam nur wenige Monate vor meinen Abschlussprüfungen auf die Welt. Ich weiß, wie viel ich mir zumuten kann.“
Der sture Ausdruck in ihrer Miene überzeugte Dannyl, dass es ihm nicht gelingen würde, ihr das auszureden. Dennoch nahm er sich vor, sie im Auge zu behalten. Der bloße Gedanke, sie würde ihr Baby verlieren, weil sie sich während dieser Mission zu großen Strapazen aussetzte, bedrückte ihn. Und wie würde Akkarin sich erst fühlen, weil er seine Frau völlig ahnungslos von ihrer Schwangerschaft nach Sachaka geschickt hatte?
„Ganz wie du möchtest“, erwiderte er. „Aber ich bestehe darauf, heute Nacht wieder die erste Wache zu übernehmen.“
„Meinetwegen“, gab Sonea nach. „Aber du hast nicht mehr geschlafen, als ich auch.“
Eine Weile ritten sie schweigend. Die meiste Zeit war Dannyl so damit beschäftigt, darauf zu achten, wohin sein Pferd trat, dass er die Umgebung kaum wahrnahm. Doch wann immer sie ein ebenes Stück Weg erreichten, sah er sich staunend um. Unter sich erblickte er schroffe und steile Klippen, mit Schluchten so tief, dass kein Sonnenstrahl hineinreichte. Zu seiner Linken schraubten sich ähnliche Klippen hoch in den Himmel. Über den Ödländern flimmerte die Hitze, doch darüber erhoben sich die Hänge der Rachiro-Hügel, wie Inseln aus einem vertrockneten Meer. Jetzt konnte Dannyl sehen, dass die Erde der Erhebungen rötlicher war, als er es jemals irgendwo auf der Welt gesehen hatte.
„Warum bist du so um mich besorgt, Dannyl?“, fragte Sonea plötzlich. „Du sagst, du ziehst elynische Frauen vor und hast kein Interesse an mir, aber vorhin warst du so besorgt, als wärst du der Vater.“
Die Frage überraschte Dannyl. So wie Sonea sie gestellt hatte, würden die Sorge um seine Sicherheit und die Erinnerungen an seine Schwester nicht als Argumente funktionieren. Denn davon wusste sie bereits, seit sie ihn gelehrt hatte, seinen Geheimniswahrer zu benutzen. War es denn so offensichtlich?
„Oft wünschte ich, ich hätte auch Kinder“, sagte er.
„Was hält dich davon ab? Ein unverheirateter Mann in deiner Position wird sich doch sicher vor Heiratsanträgen nicht retten können.“
Ihr Interesse war von aufrichtiger Natur, erkannte Dannyl. Entgegen den meisten anderen Menschen, die sein Geheimnis nicht kannten, versuchte sie nicht, ihn zu verkuppeln. „Es spricht einfach zu viel dagegen“, antwortete er. „Bis jetzt habe ich noch keine Frau gefunden, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen wollen würde. Und ich wäre ständig auf Reisen. Ich würde weder sie noch unsere Kinder oft zu Gesicht bekommen. Das wäre weder mir noch ihnen gegenüber fair.“
Sie nickte langsam. „Das verstehe ich. Und es ist wirklich schade, dass deine Arbeit dich daran hindert, eine Familie zu gründen.“
Wenn es doch nur das wäre!, dachte Dannyl. Selbst wenn er eine Scheinehe einging, bezweifelte er, dass er in der Lage wäre, Kinder zu zeugen, weil er sich nicht vorstellen konnte, mit einer Frau zu schlafen. Der Gedanke beinhaltete für ihn nicht die geringste Erregung.
Er entschied, es war Zeit, das Thema in eine andere Richtung zu lenken. „Würdest du dich mehr über ein Mädchen oder einen zweiten Jungen freuen?“
„Über beides.“ Sie verzog das Gesicht. „Aber wenn der zweite Junge so wie Lorlen wird, dann hätte ich lieber ein Mädchen.“
Dannyl lachte. „Ist er so schlimm?“
„Er kommt zu sehr nach seinem Vater. Und er fängt gerade erst an.“
„Er ist sicher nur in der Trotzphase.“
Sie betrachtete ihn zweifelnd. „Bei den Eltern?“
Er verkniff sich ein Lächeln. „Und dann glaubst du, ein Mädchen wäre einfacher?“
„Du hast recht“, murmelte sie trocken.
„Hast du schon über einen Namen nachgedacht?“
„Nein. Lorlen hat seinen Namen auch erst bei seiner Geburt erhalten. Aber bei ihm war es irgendwie einfach, einen Namen zu finden.“ Lorlens Namensgeber war Akkarins Freund und ehemaliger Administrator der Gilde gewesen. Und er war gestorben, bevor er und Akkarin sich hatten aussprechen können. Dannyl fand, es war folgerichtig, dass Akkarins erstgeborener Sohn seinen Namen trug.
„Das glaube ich.“
„Wie wäre es mit einem elynischen Namen?“
„Wenn es ein Mädchen wird, werde ich das in Erwägung ziehen. Ohne Akkarin werde ich jedoch keine Entscheidung treffen.“
„Das solltest du auch nicht.“ Dannyl lächelte. „Denn das solltet ihr gemeinsam tun.“
„Das werden wir.“ Sonea seufzte. „Wenn das alles hier vorbei ist.“
Dannyl hätte ihr gerne die Zuversicht gegeben, dass sie diese Mission überleben würden, doch das wäre verlogen gewesen. Trotz aller Vereinbarungen mit den anderen Parteien befanden sie sich in Gefahr. Das hatte der Anschlag auf ihre Eskorte ihm nur allzu deutlich ins Gedächtnis gerufen.
„Was wäre mit Danyara?“, schlug er vor.
Sonea zuckte zusammen. „Woher kennst du diesen Namen?“
Dannyl lachte. „Du sprichst im Schlaf.“
„Oh, wirklich? Was sage ich denn?“
„Oft geht es um Marika, glaube ich. Oder hast du noch andere Sachakaner mit Meister angesprochen?“
„Marika war der Einzige, den ich nur mit ’Meister’ angesprochen habe. Die anderen Magier musste ich zusätzlich mit ihrem Namen ansprechen. So wird zwischen dem eigenen Meister und anderen Magiern unterschieden.“ Sie lächelte humorlos. „Allerdings haben diese nicht viel getan, was es wert wäre, davon zu träumen. Während Marika seine anderen Sklavinnen hin und wieder an seine Gäste im Palast ausgeliehen hat, wollte er mich nicht mit anderen teilen.“
Also war es kein anderer Mann. Obwohl sachakanische Männernamen oft weiblich klangen, war Dannyl sicher, dass Danyara eine Frau gewesen war. Aber warum versuchte Sonea dann, ihm auszuweichen?
„Und wer war Danyara?“, hakte er nach.
Soneas Wangen färbten sich rosa. „Danyara war ein Mädchen aus Marikas Cachira. Sie wurde mir zugeteilt, um mich die Sprache zu lehren. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht. Wir … standen uns sehr nahe.“
Zu Dannyls Überraschung vertiefte sich das Rosa auf ihren Wangen. „Also war nicht alles schlecht während deiner Gefangenschaft“, folgerte er.
„Danyara war alles, was noch schön und gut für mich war“, flüsterte sie beinahe zärtlich.
Und dann verstand er. Er verkniff sich ein Lächeln. Sieh an, dachte er. Sie kann einen immer wieder überraschen. Eine Frau schien so gar nicht zu ihr zu passen, aber sie war kein gewöhnliches kyralisches Mädchen. Sie war in den Hüttenvierteln aufgewachsen und hatte die gesellschaftlichen Konventionen der Häuser erst spät kennengelernt. Seine Besuche bei den Verrätern hatten gezeigt, dass die Sachakaner noch frivoler als die Elyner waren – ein seltsamer Widerspruch zu der Tatsache, dass Beziehungen zwischen Ashaki als Schwäche galten. Und Sonea hatte in Marikas Cachira gelebt. Wenn sie mitbekommen hatte, wie der König von Sachaka mehrere Sklavinnen mit ins Bett nahm, oder sie vielleicht auch eine von ihnen gewesen war, würde früher oder später eins zum anderen geführt haben. Vielleicht lag es sogar in ihrer Natur.
„Sich zu verlieben ist keine Schande“, sagte er behutsam. „Selbst wenn es jemand desselben Geschlechts ist.“
Sie starrte ihn an. „Wie hast du es erraten?“
„Beobachtungsgabe“, antwortete Dannyl lächelnd. Besser er erwähnte nicht den Grund, warum er dafür so sensitiv war.
Ihre Augen verengten sich. „Du darfst niemandem davon erzählen. Das würde Schande über mich und meinen Mann bringen. Akkarin könnte gezwungen sein, sich von mir zu trennen, wir beide würden den Respekt der Gilde und unser Ansehen verlieren. Das wäre nicht nur für uns schlecht, sondern auch für die Gilde.“
Von allen Menschen verstand Dannyl das besser als jeder andere. In der Vergangenheit hatten Sonea und Akkarin für genügend Skandale gesorgt. Aber jetzt war Akkarin wieder Hoher Lord. Dass seine Frau sich mit anderen Frauen vergnügt hatte und in eine sogar verliebt gewesen war, würde nicht nur innerhalb der Gilde für einen Skandal sorgen. Und das nur, weil die Gilde so unglaublich konservativ ist, dachte er einen plötzlichen Zorn verspürend. Man konnte sich nicht aussuchen, wen man liebte. Sonea hatte es sich nicht ausgesucht, Gefühle für dieses Sklavenmädchen zu entwickeln. Und doch war es geschehen.
Dannyl legte eine Hand auf seine Brust. „Du hast mein Wort als Freund“, versicherte er. Aber auch wenn sie keine Freunde geworden wären, hätte er es nicht über sich gebracht, sie zu verraten, weil es ihm nicht anders erging.
„Danke“, flüsterte sie.
„Gern geschehen“, erwiderte er. „Vielleicht möchtest du von meiner Erfahrung mit unangenehmen Situationen profitieren und ein paar Tipps hören, wie du ungewollte Reaktionen vermeiden kannst.“
Sonea hob leicht die Augenbrauen. „Danke, aber wenn ich mich gar nicht erst auf ein solches Gespräch einlasse, kommt das Problem auch nicht auf.“
„Du hast dich gerade darauf eingelassen.“
„Weil“, sie runzelte die Stirn, „weil ich dir vertraue und es bei dir anders ist, als bei meinem Freunden in der Gilde“
So erging es Dannyl mit Rothen. Obwohl er Dannyls bester Freund war, konnte er es einfach nicht über sich bringen, ihm von Tayend zu erzählen. Er war sicher, mit der Zeit würde sein ehemaliger Mentor es verstehen und sich für Dannyl freuen können, doch sie standen sich einfach zu nahe.
„Was sagt Akkarin zu Danyara? Ich nehme an, er hat es aus Marikas Gedanken erfahren?“
Die kleine schwarze Magierin nickte. „Am Anfang wusste er nicht, was er schlimmer finden sollte, glaube ich. Das mit Marika oder meine Beziehung mit Dany. Später war er jedoch froh, dass es jemanden gab, durch den meine Situation nicht ganz trostlos war und ich meinen Lebenswillen nicht verlor.“
„Für einen Kyralier ist er überraschend tolerant“, bemerkte Dannyl.
Sie lächelte seltsam schief. „Er war fünf Jahre lang der Sklave eines Ichani. Er weiß, was ich durchgemacht habe, manches davon hat er selbst erlebt. Und er weiß, wie es ist, jemandem so absolut ausgeliefert zu sein. Ich glaube, zu Beginn war er nur schockiert, weil das einfacher war, als auf Marika wütend zu sein.“
„Du kannst froh sein, einen solchen Mann zu haben. Andere wären nicht so gut damit zurechtgekommen, wenn ihrer Frau das zugestoßen wäre, was du erlebt hast.“
„Ich weiß“, flüsterte sie. „Ich vermisse sie und zugleich habe ich Angst, sie wiederzusehen. Was, wenn sie auf der Konferenz ist?“
„Wieso sollte sie dort sein?“ Soweit Dannyl wusste, schickte Kachiro seine Berater und blieb selbst in Arvice. Wozu sollte er ihnen eine seiner Sklavinnen mitgeben?
„Sie und die anderen Mädchen wurden nach Marikas Tod zu den Verrätern gebracht. Danyara hat magisches Potential. Was, wenn die Verräter sie als Quelle mitgenommen haben oder um etwas dabei zu lernen?“
Das bezweifelte Dannyl. Die Verräter beschützten ihre Schülerinnen und setzten sie keiner Gefahr aus, bis ihre Ausbildung abgeschlossen war. Ihre ersten Einsätze hatten sie mit ihren erfahreneren Schwestern. So weit würde Danyara jedoch noch nicht sein. Sie war noch keine zwei Jahre bei den schwarzen Magierinnen.
„Was würde ein Wiedersehen für dich bedeuten?“, fragte er.
Sie hob die Schultern. „Ich weiß nicht. An dem Tag, bevor der Palast überfallen wurde, haben wir uns gestritten. Wegen Akkarin.“ Sie verzog das Gesicht. „Das heißt, Dany hat die Beziehung beendet, weil sie nicht ertragen konnte, dass ich ihn noch immer liebe. Dabei wusste sie es die ganze Zeit.“ Sie seufzte und starrte auf einen Punkt am Horizont. „Ich würde mich gerne mit ihr aussprechen. Aber ich weiß nicht, was uns das noch bringen soll. Es ist vorbei.“
„Ein leichteres Gewissen?“, schlug er vor. „Weniger Schuldgefühle, die dich belasten und die du in deine Beziehung mit Akkarin mitnimmst?“
„Ja. Aber es würde uns nicht mehr zusammenbringen.“
Nein, das würde es nicht. Denn sie war die Frau des Hohen Lords. Und diesen liebte sie mit einer Hingabe, die nichts gleichkam, was Dannyl je gesehen hatte.
„Das solltest du deinem Mann auch nicht antun.“
Den Blick, mit dem sie ihm bedachte, wusste Dannyl nicht zu deuten.
Zum zweiten Mal innerhalb zu kurzer Zeit kamen die Rachiro-Hügel in Sicht. Dieses Mal jedoch von der anderen Seite. Noch waren sie nur eine undeutliche Erhebung über das Flimmern am Horizont. Von den Entfernungen in der Weite der Ödländer durfte man sich jedoch nicht täuschen lassen. Was nah aussah, war in Wirklichkeit weit entfernt. Bis zu den Hügeln würden sie noch mehr als einen Tag unterwegs sein.
„Savedra hat mich vorhin informiert, dass die beiden Gildenmagier noch einen Tag südlich der Hügel sind“, meldete Zalava gegen Abend. „Sie nehmen den Weg durch die Berge. Spätestens übermorgen werden wir auf sie treffen.“
„Das wird auch Zeit“, murmelte Ivara. „Wir sind viel zu spät dran.“
„Die anderen werden auch noch eine Weile ohne Pachiwein, frisches Obst und unser wundervolles Brot auskommen“, entgegnete Asara.
„Der Pachiwein wird vielleicht nicht bis Duna halten, wenn wir noch länger trödeln“, bemerkte Ivara.
„Aber nur, weil du ihn ausgetrunken hast“, gab Lahiri zurück.
„Bis wir wieder bei unserem Karren in der Wüste sind, könnte ich dafür durstig genug sein.“
„Niemand wird hier irgendetwas austrinken, ohne dass ich es sage“, sagte Zalava.
Asara verkniff sich ein Lächeln ob der Strenge ihrer Schwester. Durch den Mord der Eskorte für den Gildenmagier war die Stimmung gereizt. Einige hatten den Frauen aus der Eskorte nahegestanden. Aggression war ihr Weg, mit dem Verlust umzugehen. Asaras anfänglicher Schock war einem dumpfen Zorn gewichen. Sie fühlte sich schuldig, weil sie nicht so trauerte, wie sie es von sich selbst erwartete. Aber zugleich wusste sie, dass sie zu selten in die Zuflucht kam, um sich den dort lebenden Schwestern verbunden zu fühlen.
„Jetzt, wo wir den beiden Gildenmagiern so nah sind, wollen wir nicht die Berge verlassen und die Nacht durchreiten?“, fragte sie mit einem durchtriebenen Lächeln. „Dann würden wir schneller auf sie treffen. Sie wären in Sicherheit und Ivara bräuchte unser Gastgeschenk nicht leer trinken.“
Ihre Schwestern begannen zu lachen.
Zalava hatte bei ihren Worten indes die Stirn gerunzelt. „Das muss die Große Mutter entscheiden.“ Sie ritt weiter, ihre Augen auf einen Punkt jenseits des Horizonts gerichtet, während das Pferd den Weg für sie fand.
„Savedra sagt, dass sie darin keine Gefahr sieht. Sarkaro und seine Leute haben die Roten Hügel längst verlassen und unsere Beobachterinnen melden keinerlei Aktivitäten.“
„Worauf warten wir dann noch?“, fragte Ivara ungeduldig. „Holen wir die beiden Gildenmagier ab, damit wir endlich nach Yukai und unseren Auftrag hinter uns bringen können.“
Als ob wir unterwegs sind, um einen Mord zu begehen, dachte Asara ein Schnauben unterdrückend. Nun, je nachdem, wie die Konferenz laufen würde, durfte sie nicht ausschließen, dass einige ihrer Feinde ihr Leben lassen würden.
Ah, aber wie sehr ich hoffe, dass diese Mission ohne Blutvergießen verläuft!
Als die Sonne die Ödländer ein letztes Mal in Brand versetzte, richtete Asara ihre Konzentration auf das Blutjuwel ihres Gefährten.
Bei dem Bild, das sich ihr bot, hätte sie um ein Haar laut aufgelacht.
Vikacha saß im Becken von Anjiakas Badehaus, umgeben von mehreren Sklavinnen, die ihn zu verführen suchten, während ihre Schwester sich mit ihrem Hochzeitsgeschenk vergnügte.
- Wie vielen hast du es schon besorgt?
Vikacha zuckte zusammen und Asara entfuhr ein Kichern.
- Asara, geliebte Meisterin!, sandte er in einem Anflug von Erheiterung und Schuldbewusstsein.
- Hast du getrunken?
- Deine Schwester hat ihre Sklaven und mich mit Wein abgefüllt, weil Saraki bei deinem Gemahl und Meister ist.
Das sah Anjiaka ähnlich. Erheitert schüttelte Asara den Kopf.
- War der Wein wenigstens gut?
- Nicht so gut wie der, den Varako vor ein paar Jahren von diesem elynischen Händler hatte.
- Natürlich. Die Wirkung auf die Sklavinnen ist ja nicht zu übersehen.
- Ich habe jede von ihnen abgewiesen, sandte er ernsthaft.
- Ich wäre enttäuscht von dir gewesen, hättest du dich in meiner Abwesenheit mit ihnen vergnügt.
Vikacha entfuhr ein Glucksen. Ein Bild blitzte in Asaras Geist auf, wie sie es in ihrer ersten wilden Phase mit zwei von Lenaras Informantinnen in deren privaten Gemächern getrieben hatten. Sie erinnerte sich, wie ihre Schwester verkündet hatte, dass sie mitgemacht hätte, wäre sie nicht gerade unpässlich gewesen. Seitdem wusste sie, dass Vikacha durchaus in der Lage war, es mehreren Frauen gleichzeitig zu besorgen.
- Gibt es etwas Neues aus der Stadt?
- Nicht viel. Anjiaka hat mehrmals bei Mivara nachgefragt, doch anscheinend hat sie die letzten Tage ausschließlich damit verbracht, Tarko zu verführen. Angeblich hatten sie und einige andere aus der Cachira dabei ziemlich großen Spaß.
Vielleicht sollte ich das insofern begrüßen, dass Mivara damit ihre Position als Informantin festigt und es ihr zugleich gutgeht, dachte Asara trocken. Sie war nie wirklich mit Anjiakas Vorschlag, Mivara bei Tarko einzuschleusen glücklich gewesen. Zumindest nicht, was die Motive betraf. Doch Mivara gefiel es bei dem Ashaki-Politiker, und solange sie darüber nicht ihren eigentlichen Auftrag vergaß, hätte sie keinen besseren Posten erhalten können.
- Und was ist mit den Gerüchten um Ishaka?
- Ich bedaure, geliebte Meisterin, sandte ihr Gefährte.
- Soll das heißen, es gibt keine weiteren Neuigkeiten?
- Nur das, was man sich seit Tagen erzählt, in immer haarsträubenderen Versionen.
Asara seufzte. Nicht, dass sie etwas anderes erwartet hatte, jetzt wo Kachiros Berater aus der Stadt waren. Wenn Tarko und Ishaka sich nicht gegen den Imperator verschworen hatten, war es vergebliche Liebesmüh, über Mivara etwas dazu herauszufinden. Aber wenn die beiden Ashaki unschuldig waren – wer hatte dieses Gerücht gestreut? Vielleicht jemand, der selbst plante, den Imperator zu stürzen und den Verdacht von sich ablenken wollte?
Ja!, dachte sie. Das muss es sein!
- Soll ich dich mit ein wenig Klatsch aus dem Palast aufheitern?, riss Vikacha sie aus ihren Gedanken.
- Nur zu, forderte Asara ihn auf. Mir ist sowieso langweilig.
- Habt ihr die Gildenmagier noch nicht aufgelesen?
- Nein, aber wir sind kurz davor. Und jetzt erzähle mir von dem Klatsch. Ich brauche ein wenig triviale Ablenkung von meinen anstrengenden Schwestern.
Erheitert berichtete Vikacha ihr, was er erfahren hatte.
- Ich habe es gehört, als ich meine Freunde besucht habe, begann er.
- Deine Sklavenfreunde?, entfuhr es Asara.
- Ja. Eigentlich war ich auf der Suche nach weiteren Gerüchten zu der Verschwörung gegen Kachiro. Ich wäre nicht dorthin gegangen, wäre ich nicht überzeugt, dass es dir und deinen Schwestern in Yukai nützen könnte.
- Schon gut, sandte Asara. Und jetzt hör auf, mich noch länger auf die Folter zu spannen!
- Ja, geliebte Meisterin, erwiderte er erheitert, woraufhin sie die Augen verdrehte. Einer der Palastsklaven, die täglich zum Markt gehen, hat erzählt, dass der Palastmeister und Kachiros Leibwächter sich gestern gestritten haben. Der Streit war so heftig, dass Ivasako seinen Gegner zum Duell herausgefordert hat. Doch anstatt mit ihrer Magie das Übungsgelände vor der Stadt zu verwüsten, sind sie mit Schwertern aufeinander losgegangen. Kachiro konnte gerade noch das Schlimmste verhindern.
Überrascht sog Asara die Luft ein.
- Dabei hätten sie ganz Arvice dem Erdboden gleichmachen können!
Sie fragte sich, was die beiden Männer gegeneinander aufgebracht haben mochte. Der Palastmeister war Marikas Leibwächter und, wenn die Gerüchte stimmten, auch sein engster Vertrauter gewesen. Nach dem Tod des Königs war er Palastmeister geblieben. Kachiro hatte jedoch seinen eigenen persönlichen Leibwächter mitgebracht, sowie einige andere in Magie unterwiesene Sklaven, die ihn bewachten, während die Überreste der Palastgarde weiterhin für das Palastgelände zuständig waren. Asara hatte immer geglaubt, es wäre Ivasako nur recht, nicht der persönliche Leibwächter eines Mannes zu sein, der nicht sein Meister war. Oder war die Provokation von dem Leibwächter ausgegangen? Und warum?
- Das hätten sie, doch ich nehme an, dass der Sieger dem anderen rechtzeitig seine Kraft genommen hätte, antwortete Vikacha.
- Wie ging es aus?, wollte Asara wissen. Wie hat Kachiro reagiert?
- Als Kachiro einschritt, hatte Ivasako seinen Gegner entwaffnet und zu Boden geworfen. Es heißt, er war kurz davor, seine Kraft zu nehmen. Kachiro war ziemlich wütend. Er hat Ivasako bis auf weiteres verboten, den Palast zu verlassen.
Asara entfuhr ein kleiner Laut der Überraschung. Der Imperator war kein Mann, dessen Zorn leicht zu erregen war. Ivasako musste ihn sehr verärgert haben.
- Hat einer von den beiden eine Erklärung für diesen Kampf geliefert?, fragte sie.
- Kachiro hat seinen Leibwächter einer Wahrheitslesung unterzogen. Die offizielle Version lautet, dass der Leibwächter Ivasako seinen Posten streitig machen wollte. Doch es wird gemunkelt, dass es in Wirklichkeit um etwas anderes ging.
Interessant, dachte Asara. Ihre langjährige Erfahrung mit dem Palast und den Stadt-Ashaki ließ sie eine Intrige wittern. Was kann so wichtig sein, dass Ivasako und Kachiros Leibwächter versuchen, sich gegenseitig umzubringen, und was dennoch nicht einmal Palastgeschwätz wird?
- Nur wenige Stunden, nachdem ich bei meinen Freunden war, wusste es bereits die ganze Stadt, fuhr Vikacho fort. Er machte eine Pause und Asara konnte sein Entsetzen spüren. Der Sklave, der es herumerzählt hat, wurde noch am selben Tag hingerichtet.
Asara schloss die Augen. Es war immer wieder dasselbe. Was innerhalb der Palastmauern geschah, hatte dort zu bleiben. Das war seit Jahrhunderten so und durch die Existenz der Verräter war dieses Gesetz noch verschärft worden. Für gewöhnlich wagten nicht einmal die Ashaki, die dort zu Besuch waren, Informationen weiterzugeben. Sklaven wurden jedoch umgehend hingerichtet, um andere davon abzuschrecken, es ihnen gleichzutun.
Mit einem leisen Seufzen blickte sie zu der Bergkette im Westen. Die Sonne berührte die Spitzen der Berge, die Ebene glomm nur noch in einem sanften Dunkelrot. Der Anblick erfüllte sie mit einer seltsamen Melancholie.
Eine erheiternde Geschichte, dachte sie. Mit einem tragischen und absolut unnötigen Ende.
Sie konnte indes nicht aufhören, über den Grund zu grübeln, aus dem Ivasako den Leibwächter fast getötet hatte. Sie war sicher, es hatte etwas zu bedeuten.
Der kurzgeschnittene Rasen auf dem Gelände der Universität war noch mit Tau bedeckt, als Rothen das Badehaus verließ. Aus dem Wald, der sein zartgrünes Frühlingskleid in das dunklere Gewand des Sommers getauscht hatte, schallte ein vielstimmiges Vogelkonzert. Jenseits der Tore tauchte die Morgensonne die Kuppeln und Türme der Stadt in flüssiges Gold.
Mit einem wehmütigen Ziehen in der Brust genoss er den Anblick für einige Augenblicke. Die Pachibäume waren längst verblüht und seine Ziehtochter wieder einmal dort, wo er sie nicht haben wollte.
Inzwischen hatten Sonea und Dannyl fast den Ort erreicht, an dem sie sich mit der zweiten Gruppe Verräter, die Savedra nach Duna geschickt hatte, treffen würden. Obwohl sie damit fast in relativer Sicherheit waren, musste Rothen sich zwingen, nicht andauernd daran zu denken, dass der oder die Mörder der ersten Eskorte am Treffpunkt lauern könnte.
Sie ist erwachsen, schalt er sich. Sie hat ihren Weg gewählt und du alter Narr solltest aufhören, dich jedes Mal so um sie zu grämen, wenn sie sich wieder einmal in Gefahr begibt!
Denn damit tat er niemandem einen Gefallen. Weder seinen Schülern noch seinen Novizen – doch am wenigsten sich selbst.
Auf dem Rückweg zum Magierquartier begegnete er niemandem. So früh am Morgen waren meist nur Diener unterwegs, um Frühstück zu organisieren oder um Besorgungen in der Stadt und auf den Märkten zu machen. Die Novizen schliefen so lange es ihnen möglich war, ohne zu spät zum Unterricht zu kommen. Entweder sie schlangen vorher ein hastiges Frühstück in der Speisehalle hinunter oder sie verzichteten ganz darauf.
Dies galt besonders für die Novizen der unteren Jahrgänge. Mit der Zeit legten sie dies jedoch ab, wenn sie merkten, wie anspruchsvoll das Studium war. Die Novizen aus einfachen Verhältnissen waren weniger verwöhnt, aber sie auch sie verließen frühestens eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn das Novizenquartier.
Doch auch die wenigsten Magier quälten sich ungern so früh aus dem Bett.
Rothen dagegen genoss die frühen Stunden des noch unberührten Tages. Die Welt war still und bot die Gelegenheit für ein wenig Muße, bevor er sich den Problemen des Alltags stellen musste. Im Badehaus war er für gewöhnlich allein, was ihm die Diskussionen über Forschungsanträge, die manche Magier ihm dort mit Vorliebe aufnötigten, ersparte. Mit zunehmendem Alter, so hieß es zudem, brauchte man weniger Schlaf – das hatte zumindest Yaldin immer behauptet. Wenn Rothen an seine Studienjahre oder die Zeit mit Yilara und Dorrien zurückdachte, kam er nicht umhin, in den Worten seines verstorbenen Freundes eine gewisse Wahrheit zu finden. Auch wenn er zugeben musste, während seiner Studienzeit das Schlafbedürfnis seines Körpers oft ignoriert zu haben.
Anstatt zu seinem Apartment zurückzukehren, bog Rothen an diesem Morgen in einen Flur ein, der ihn zur Waldseite brachte.
Lord Larkin erwartete ihn in seinem Wohnzimmer, auf dem Tisch zwischen den Sesseln ein üppiges Frühstück mit Brötchen, Kuchen und Sumi. „Mein Diener war so erfreut, dass ich nicht alleine speise, dass er genug gebracht hat, um die halbe Gilde zu versorgen“, erklärte er ein wenig verlegen, als Rothen Platz nahm.
„Nun, man sollte nie ohne ein gutes Frühstück in den Tag starten“, erwiderte Rothen und setzte sich.
Obwohl der junge und engagierte Architekturlehrer sich besonders unter den weiblichen Gildenmitgliedern großer Beliebtheit erfreute, lebte er allein. Er schien sein Junggesellendasein jedoch zu genießen.
„Da stimme ich Euch zu, Lord Rothen“, erwiderte Larkin. „Und anscheinend sah mein Diener das ebenso.“
„Ich danke Euch, dass Ihr eingewilligt habt, unser Treffen hier stattfinden zu lassen“, sagte Rothen. „Mein Apartment ist derzeit ein wenig überbevölkert.“ Viana wohnte bei ihm und Farand kam jeden Morgen, um sein Frühstück dort einzunehmen. Für eine Besprechung war dies denkbar ungünstig, doch es war die einzige Zeit des Tages, die Rothen zur Verfügung hatte und es lag ihm fern, Viana und Farand in die Speisehalle zu schicken.
„Das ist doch selbstverständlich“, erwiderte Lord Larkin. „Ich bin dankbar, dass wir noch einmal die Details besprechen, bevor der Vorbereitungskurs startet. Novizen Sozialverhalten zu vermitteln unterscheidet sich sehr von den Wissensgrundlagen, die wir sie sonst lehren.“ Er machte eine auffordernde Geste zu dem Tisch zwischen ihnen. „Bitte, Rothen. Bedient Euch.“
„Ich bin auch schon sehr gespannt darauf, wie der Kurs wird.“ Rothen nahm sich ein Brötchen und schenkte sich Sumi ein. „Zumal wir beide zusammen vermutlich nicht halb so einschüchternd sind wie Sonea würde sie diesen Kurs alleine leiten.“
Lord Larkin lachte. „Das will ich nicht abstreiten. Doch ich denke, allein die Tatsache, dass wir Magier sind, wird den Novizen Respekt einflößen.“
„Wäre auch schlimm, wenn nicht.“ Die Sumitasse und das Brötchen mit beiden Händen balancierend lehnte Rothen sich in seinem Sessel zurück. „Sonea hatte einige Ideen, wie wir die Novizen behutsam an das Thema Sozialverhalten heranführen können, darunter einige Spiele.“
„Spiele?“, wiederholte Larkin. „Das klingt ungewöhnlich.“
„Sonea und ich waren der Ansicht, dass das eher zum gewünschten Ziel führt, als nur die trockene Theorie zu lernen.“
„Was sich beim Erlernen von Magie als richtig erweist, kann hier nicht falsch sein“, erwiderte Larkin. „Wie genau funktionieren diese Spiele?“
„Nun, da wären einfache Übungen wie, dass die Novizen ihre Kleidung tauschen und dann angewiesen werden, so miteinander zu agieren, wie sie glauben, dass man sich verhält, wenn man jenem Stand tatsächlich angehört“, antwortete Rothen. „Das soll sie für ihr Gegenüber sensibilisieren und ihnen ein Gefühl dafür geben, wie es ist, in der Haut des anderen zu stecken.“
„Ein sehr gewagter Ansatz.“ Der junge Architekturlehrer nahm sich einen Kuchen und biss hinein. „Das wird gewiss für Spannungen sorgen, jedoch auch dazu führen, dass sie sich mit den Vorurteilen gegen ihre gesellschaftliche Klasse auseinandersetzen und diese im Gespräch ausräumen.“
„So war es gedacht“, sagte Rothen. „Bei diesen Übungen ist es wichtig, dass wir beide im Klassenzimmer sind, um Hilfestellungen zu geben und auftretende Konflikte zu lösen. Anschließend sprechen wir mit ihnen über die dabei gemachten Erfahrungen.“ Er trank einen Schluck Sumi. „In anderen Spielen sollen klassische Situationen nachgestellt werden, wie sie sich in der Vergangenheit zwischen Novizen aus unterschiedlichen Klassen ereignet haben. Natürlich unter entsprechend getroffenen Sicherheitsvorkehrungen.“
„Mit oder ohne vertauschte Rollen?“
Rothen lächelte. „Beides.“
Larkin pfiff leise durch die Zähne. „Böse, aber sehr raffiniert. Wenn das die potentiellen Unruhestifter nicht zur Vernunft bringt, dann weiß ich es auch nicht.“
„Die Idee stammt von Sonea“, sagte Rothen. „Ich vertraue ihrem Urteil in dieser Hinsicht.“ Ihre Ideen und Ansichten brachten frischen Wind in die Gilde. Wo andere Magier sich darüber beklagten, empfand Rothen genau das als überfällig. Die Gilde hatte zu lange in ihren konservativen Mustern festgesteckt.
„Ich bin überrascht, dass die höheren Magier das genehmigt haben“, bemerkte Larkin. „Die Idee ist großartig, doch sie beinhaltet auch viel Diskussionspotential.“
„Soneas und meine Argumente waren überzeugender“, erwiderte Rothen lächelnd. Aber wie konnte man auch nicht überzeugend sein, wenn man mit dem einflussreichsten Magier in den Verbündeten Ländern verheiratet war?
Zu schade, dass sie nicht da ist!, dachte er. Gewiss hätte sie gerne miterlebt, wie ihre Ideen bei den Novizen ankamen.
„Und was machen wir, wenn die Novizen durch diesen Kurs erst recht Feindseligkeiten entwickeln?“, fragte Larkin weiter.
Rothen nahm sich die Zeit, über diese Frage nachzudenken. „Ich denke nicht, dass das passieren wird“, sagte er schließlich. „Schließlich sind wir immer zur Stelle, um einzugreifen und klärende Gespräche zu führen.“ Er betrachtete den jungen Lehrer augenzwinkernd. „Außerdem sollten sie uns als Magier respektieren.“
„Das bezweifle ich nicht. Ich frage mich nur: was, wenn sie ihre Feindseligkeiten austragen, wenn wir nicht da sind? Also zum Beispiel nach ihrer Aufnahme außerhalb des Unterrichts?“
Das hatte Rothen nicht bedacht. Er und Sonea waren davon ausgegangen, ihr Plan würde aufgehen. Nicht einmal die höheren Magier hatten Einwände gehabt. Doch sie hatten sich entweder nicht für die Details interessiert oder hatten sich auf den pädagogischen Erfolg konzentriert.
Wenn es dazu kommt, würde das ein schlechtes Licht auf unsere Planung werfen?, fragte Rothen sich jetzt. Würden die Magier die Probleme mit den Novizen darauf zurückführen, dass er und Larkin in dem Kurs nicht hart genug durchgegriffen hatten? Oder würden sie darin die Bestätigung lesen, dass es nicht möglich war, angehende Novizen zu verantwortungsbewussteren Menschen zu erziehen?
„Dieser Kurs ist zugleich auch ein Test“, antwortete er. „Sollte es dazu kommen, werden wir mit den höheren Magiern nach geeigneten Maßnahmen suchen.“
„Man könnte aus der Sozialfähigkeit ein Aufnahmekriterium machen“, überlegte Larkin. „Oder eine Bedingung, damit sie ihren Abschluss machen dürfen.“
„Das werden wir nicht durchbekommen.“ Rothen verstand, dass dies wie Lesen und Schreiben eine Grundvoraussetzung sein sollte, doch die Häuser würden damit niemals einverstanden sein. „Die höheren Magier würden sich nur dafür aussprechen, würden sich solche Fälle häufen.“
„Dann hoffen wir, dass es nicht dazu kommt“, sagte Larkin. „Es ist ein sehr theoretischer Fall. Ich finde jedoch, es kann nicht schaden, sich über diese Möglichkeit Gedanken zu machen.“
„Nein“, stimmte Rothen an die Neuzugänge vom Winter denkend zu. „Das kann es nicht.“
Eine halbe Stunde später war er zurück in seinem Apartment. Farand war inzwischen zu seinem Unterricht verschwunden. Viana saß in einem Sessel und las ein Buch, das Rothen ihr für seinen Alchemieunterricht gegeben hatte, das Frühstück vergessen vor ihr. Der Anblick brachte ihn zum Lächeln. Sie war Sonea ähnlich und doch wieder nicht. Er konnte verstehen, warum sein Sohn in sie verliebt war, und zwar zugleich froh, dass die Ähnlichkeit zu seiner letzten Liebe zu gering war, dass es ihm Sorgen bereitet hätte.
Als er eintrat, legte Viana rasch das Buch beiseite und stand auf. „Lord Rothen“, sagte sie und verneigte sich.
Rothen bedeutete ihr, sich wieder zu setzen. „Du brauchst das nicht machen, wenn wir unter uns sind, Viana“, sagte er.
„Oh“, begann sie errötend. „Aber …“
„Du bist mit meinem Sohn liiert. Auch wenn ich seine Aktionen oft nicht gutheiße, gehörst du damit zur Familie.“
Das Rot auf ihren Wangen vertiefte sich. „Danke, Mylord“, sagte sie. „Das ist sehr freundlich von Euch.“
Rothen winkte ab. „Wie kommst du mit dem Buch vorwärts?“
„Gut“, antwortete sie erfreut.
Er kam nicht umhin zu lächeln. „Hast du dazu Fragen?“
„Jede Menge.“
„Dann komm mit“, sagte er. „Wir gehen in die Universität und suchen uns ein leeres Klassenzimmer. Dann können wir deine Fragen gleich anschaulich besprechen.“
Die langen Strecken, die sie Tag für Tag zurücklegten und die Tatsache, dass sie dabei nur zu zweit waren, machten es Sonea schwer, nicht in ihren Grübeleien zu versinken. Es gab viel, über das sie sprechen konnten, doch ebenso vieles, das sie jeder für sich behalten wollten. Oft war der Weg so beschwerlich, dass sie hintereinander reiten mussten und das Sprechen ohnehin unmöglich war.
Wenn Sonea nicht ihre Übelkeit heilte und darüber nachdachte, wie sich ihre Mission auf das Baby auswirken würde, und was Akkarin sagen würde, wenn er nach ihrer Rückkehr davon erfuhr, kreisten ihre Gedanken um Marika und Danyara. Mit ihr ist sogar Marika für mich erträglicher geworden, dachte Sonea. Hatte das den Weg geebnet, dass sie sich dem König von Sachaka am Ende freiwillig hingegeben hatte, oder wäre das mit der Zeit von selbst geschehen?
Obwohl es Sonea danach verlangte, sich jemandem anzuvertrauen, wollte sie weder mit Dannyl darüber sprechen, noch mit Akkarin, wenn sie abends per Blutjuwel kommunizierten. Sie wusste nicht, ob Dannyl es begriffen hätte und ihren Mann wollte sie damit nicht mehr belasten als nötig. Nein, dachte Sonea bitter. Das muss ich mit mir allein ausmachen.
Am letzten Tag, bevor sie auf die Verräter trafen, reisten sie so lange weiter, bis es ohne Licht zu gefährlich wurde. Am Nachmittag hatten sie die letzten Ausläufer der Rachiro-Hügel hinter sich gelassen und den Abstieg in die Ebene begonnen. In einer geschützten Mulde, in der noch ein Rest der Wärme des Tages verweilte, schlugen sie ihr Nachtlager auf.
„Akkarin sagt, die Verräter sind nur noch einen halben Tag von uns entfernt“, sagte sie zu Dannyl. „Morgen früh sollten wir auf sie treffen.“
Mit einem erschöpften Seufzen ließ Dannyl sich auf seine Decke fallen. „Das wird für uns beide eine Erleichterung sein!“
Sonea nickte und erkannte dann, dass er das in der Dunkelheit nicht sehen konnte. „Ja“, sagte sie. „Mit ihnen sollten wir sicher sein.“ Sofern sie nicht auch überfallen werden, fügte sie für sich hinzu.
„Dennoch werde ich dir weiterhin meine Magie geben.“ Seine Hände fanden in der Dunkelheit die ihren und er sandte ihr seine Kraft.
„Das zu tun, ist jedenfalls kein Fehler“, erwiderte Sonea. Sie speicherte die Magie in sich und überprüfte ihre Reserven. Während ihrer Reise waren sie trotz kleiner Einsätze von Magie stetig gewachsen. Was sie hinzugewonnen hatte, würde indes kaum ausreichen, um einen einzigen schwarzen Magier zu töten. Dazu brauchte sie ihre Speichersteine. Dennoch war es ein gutes Gefühl.
In der Dunkelheit konnte sie Dannyls Nähe mehr spüren als sehen. Irgendwie fühlte sich das vertraut und beruhigend an.
„Dannyl“, sagte sie leise in die Schwärze.
„Ja?“
„Danke, dass du mich nicht verurteilst.“
„Wieso sollte ich dich verurteilen?“, fragte er. „Du warst in einer Situation, aus der es keinen Ausweg gab. Es ist nur natürlich, dass du dich angepasst hast. Du hast versucht, dich zu schützen. Jemand, der dich dafür verurteilt, begeht einen schweren Fehler.“
„Ich meinte wegen Danyara.“
„Ah“, machte er.
„Meine Beziehung mit Danyara wäre in Kyralia höchst skandalös gewesen.“ Sie schüttelte den Kopf. Selbst jetzt, zwei Jahre später, verstand sie es nicht. „Aber für mich hat es sich natürlich angefühlt. Und richtig.“
„Weil es natürlich ist, Sonea“, erwiderte er überraschend sanft.
„Andere würden das nicht verstehen.“ Sie brauchte nur an Rothen denken, ihre Freunde – abgesehen von Luzille vielleicht – oder den kompletten Rest der Gilde.
Dannyl entfuhr ein kaum hörbares Seufzen. „Sonea, niemand versteht besser als ich, was du empfindest.“
„Ich weiß, da war diese Sache mit dem anderen Novizen“, sagte sie. „Aber das war doch nur ein Gerücht.“ Sie kannte Dannyl als lieben und einfühlsamen Menschen. Aber sie fand nicht, dass er sich auf Grund von Anschuldigungen, die einst gegen ihn erhoben worden waren, ein Urteil darüber machen konnte, was sie für Danyara empfunden hatte.
„Sonea, ich bin ein Knabe.“
Sonea brauchte einen Augenblick, um seine Worte zu begreifen. Auch ohne den Begriff Knabe in diesem Zusammenhang je gehört zu haben, wusste sie sofort, was es bedeutete.
„Aber …“, begann sie. „Das kann nicht … wie kann das sein?“
Sie wollte glauben, dass er sie nur auf den Arm nahm, doch der Ernst in seiner Stimme sagte ihr, dass es die Wahrheit war. Und irgendwie wusste sie, dass es stimmte. Sein Desinteresse an Frauen und die Tatsache, dass er mit Mitte dreißig trotz seiner Attraktivität noch immer unverheiratet war – mit einem Mal ergab alles einen Sinn.
„Ich war es schon immer.“
Sonea konnte noch immer nicht begreifen, was er ihr da offenbarte. „Also ist diese Geschichte mit dem anderen Novizen wahr?“
„Ja“, sagte er leise. „Hinterher habe ich alles abgestritten. Die Gilde hätte mir sonst nicht erlaubt, meinen Abschluss zu machen. Ich war gezwungen, mich von diesem Novizen zu trennen und habe sehr darunter gelitten. Noch mehr habe ich jedoch darunter gelitten, wie mich meine Lehrer und die anderen Novizen behandelt haben.“ Er machte eine kleine Pause. „Deswegen kann ich gut verstehen, was du in deinem ersten Jahr durchlitten hast.“
Sonea lächelte unwillkürlich. „Aber warum erzählst du das ausgerechnet mir?“
„Weil ich denke, es könnte dir bei deinem eigenen Konflikt helfen, zu wissen, dass du nicht allein mit deiner Situation bist. Und weil mir deine Geschichte mit dieser Danyara zeigt, dass du verstehst.“
„Ich könnte dich niemals verurteilen, Dannyl“, sagte Sonea sanft. Sie runzelte die Stirn. „Selbst, wenn ich Danyara nie gekannt hätte, könnte ich das nicht.“ Aus irgendeinem Grund war es leichter, andere nicht zu verurteilen, als sich selbst. Es war ihr gleich, ob Dannyl Männer oder Frauen liebte – wer wusste schon, was natürlich war und was nicht?
Seine Stimme klang seltsam ironisch, als er antwortete. „Das ist mir jetzt auch bewusst.“
„Aber das muss doch entsetzlich für dich sein, nicht wahr?“, fragte sie. „Du darfst keine Beziehung führen, weil die Gilde dich sonst deiner Ämter berauben würde.“ Wie entsetzlich musste es sein, nicht mit dem Menschen den man liebte zusammen zu sein, nur weil man etwas war, das in den Augen der Gilde pervertiert war!
„Das ist richtig“, sagte er. „Doch das hält mich nicht davon ab, trotzdem eine zu führen.“
Sie starrte den dunklen Schemen, der Dannyl war, an. „Du hast einen … Gefährten?“
„Ja“, antwortete er nur. „Seit vier Jahren.“
„Und das hat noch niemand bemerkt?“, entfuhr es ihr.
Ein leises, fast schon durchtriebenes Lachen erklang. „Nun, die Magier erfreuen sich hin und wieder an neuen Gerüchten über uns, doch bis jetzt haben wir ihnen keine Gelegenheit geboten, sie zu verifizieren.“
Und dann begriff Sonea. Mit einem Mal wurden ihr viele kleine Seltsamkeiten klar, die sie all die Jahre über als enge Männerfreundschaft abgetan hatte. All die Blicke, die übertriebene Besorgnis um den anderen, Scherze, die in Wirklichkeit Flirtereien gewesen waren. Sie verstand sogar das Verhalten der beiden an jenem Abend im Palastgarten. Nach Danyara hätte sie das erkennen müssen, doch sie war zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt gewesen, um Augen dafür zu haben.
„Es ist Tayend“, sagte sie.
„Wie hast du es erraten?“, fragte er überrascht.
„Es war nicht schwer, wenn man die Anzeichen kennt. Aber ich glaube, die anderen Magier sind dafür blind, sofern sie nicht aktiv danach suchen, weil sie ein Thema zum Tratschen brauchen.“
Dannyl pfiff leise durch die Zähne. „Unglaublich“, hörte Sonea ihn murmeln.
„Dannyl?“
„Ja?“
„Ich finde, ihr zwei seid ein tolles Paar.“
„Ist das so?“, fragte er. „Wieso findest du das?“
Sie hob die Schultern, obwohl er das nicht sehen konnte. „Ich sehe es daran, wie ihr miteinander umgeht. All die Jahre habe ich es nur für eine sehr tiefe Freundschaft gehalten, aber wenn man es weiß, dann ist es ganz offenkundig. Ich finde, ihr zwei geht wirklich wundervoll miteinander um.“
Dannyl schwieg. Zuerst dachte Sonea, er brauchte nur Zeit, um ihre Worte zu begreifen, doch als sich das Schweigen zwischen ihnen ausdehnte, begann sie sich zu fragen, ob sie vielleicht etwas Falsches gesagt hatte. Was, wenn es ihm unangenehm war, dass sie so über seine Beziehung sprach?
Sie wollte schon den Mund öffnen, und sich entschuldigen, als Dannyl zu sprechen begann.
„So etwas hat noch nie jemand zu mir gesagt“, sagte er kaum hörbar. Die Überwältigung in seiner Stimme war indes umso lauter in der Nacht.
„Weiß denn niemand über euch bescheid?“
„Insgesamt wissen nur fünf Menschen davon. Nun, mit dir sind es nun sechs. Drei sind sehr enge Freunde von uns in Elyne, bei denen wir uns nicht verstecken müssen. Dann ist da Tayends Cousin, bei dem er immer absteigt, wenn ich nach Imardin reise – und dein Mann.“
Sonea starrte auf seine Silhouette. „Akkarin?“, entfuhr es ihr.
„Er wusste es von Anfang an.“
„Aber …“
„Frag mich nicht wie, Sonea. Er wusste es einfach.“
Natürlich!, dachte sie. Entweder Dannyls Oberflächengedanken hatten es ihm entgegengeschrien oder Akkarin hatte er mit seiner schon fast unheimlichen Beobachtungsgabe erraten. Und es war so typisch für ihn, dass er sie nicht eingeweiht hatte!
„Was ist mit Rothen?“, fragte sie. „Er ist dein engster und ältester Freund.“
„Rothen wäre sehr enttäuscht von mir“, sagte Dannyl leise. „Er hat sich damals sehr für mich eingesetzt. Rothen ist ein feiner Mensch, aber er würde es nicht verstehen. Es würde ihn zerbrechen.“
Sonea erschauderte und wusste, dass er recht hatte. Aus diesem Grund hatte sie ihm auch nie von Danyara erzählt, wie ihr plötzlich bewusst wurde – und nicht, weil diese Offenbarung unweigerlich zu Marika führen würde. Zudem würde jeder, dem sie das erzählte, denken, dass sie schnell über Akkarin hinweggekommen war. Und das, obwohl sie noch heute unter den Folgen litt, ihn ein halbes Jahr lang für tot gehalten zu haben.
„Das ist wirklich traurig, Dannyl“, sagte sie.
„Es liegt weder an uns noch an ihm“, erwiderte er sanft. „Kyralia ist noch nicht bereit für eine solche Wahrheit.“
„Aber in Elyne ist es doch erlaubt“, wandte sie ein.
„Und in Lonmar wird gleichgeschlechtliche Liebe mit Hinrichtung bestraft.“
Soneas Eingeweide zogen sich zusammen. Sie sog leise die Luft ein und schwieg.
„Sonea, es ist egal, wie es in anderen Ländern ist. Die Gilde verbietet es. Jahrelang konnte ich nur existieren, indem ich es weggeheilt habe.“
„Man kann nicht wegheilen, was man ist, Dannyl.“
„Aber man kann es unterdrücken.“
Sie hob den Kopf. „Hat es dir geholfen?“
„Es hat immerhin bewirkt, nichts zu fühlen“, antwortete Dannyl. „Aber ich hätte nicht ewig so weitermachen können.“
„Und dann hättest du niemals Tayend gefunden.“
„Ja“, sagte er nur. In der Dunkelheit war seine Stimme voll mit Wärme.
„In Sachaka ist es auch verboten“, sagte Sonea. „Aber ich glaube, es kommt auf den gesellschaftlichen Stand an und auf die Macht, über die jemand gebietet. Ein sehr mächtiger schwarzer Magier wird sich nicht hinrichten lassen.“
Dannyl nickte. Etwas Ähnliches hatte Asara ihm einst erzählt. „Und Marika hat dich nicht bestraft, weil du als seine Lieblingssklavin jemanden neben ihm begehrt hast?“
„Nein.“ Sonea schüttelte den Kopf, als sie daran zurückdachte. Marika war wütend gewesen, weil sie und Dany hinter seinem Rücken zusammengekommen waren, doch er war nicht wütend über ihr Verhältnis gewesen. Er war lediglich der Meinung gewesen, dass Sonea es nicht verdient hatte, sich ohne seine Erlaubnis auf Dany einzulassen, während es ihm zwischen Dany und jeder anderen Sklavin nicht gestört hätte. „Es hat ihm gefallen. Für Danyara hatte er sogar schon seit Jahren nach einer Gefährtin gesucht. Aber er war König. Er konnte tun und lassen, was ihm gefiel.“
Dannyl unterdrückte ein Kichern. „So, wie der Hohe Lord.“
Sonea lachte. „Anscheinend haben alle mächtigen Männer das gemein!“ Ah, wenn sie sich doch nur darin ähnlich gewesen wären!
Vor ihr begann Dannyl zu gähnen.
„Es ist spät“, sagte sie. „Du solltest schlafen.“
„Du hast recht“, erwiderte er. Sie hörte das Rascheln von Stoff und sie nahm an, dass er sich in seine Decke wickelte. „Gute Nacht, Sonea. Weck mich, wenn meine Schicht beginnt.“
„Das mache ich. Gute Nacht.“
„Dannyl?“
„Ja?“
„Kannst du mir zeigen, wie du dich damals geheilt hast?“
„Sonea“, begann er mahnend. „Verdrängung ist keine Lösung.“
„Ich weiß“, sagte sie. „Es soll auch nur sein, bis wir wieder zuhause sind. Ich kann das nicht brauchen. Nicht, wenn ich dich beschützen soll.“
Dannyl schwieg eine Weile. „Also gut“, sagte er, als Sonea zu befürchten begann, er würde sich weigern. „Aber nicht mehr heute.“
„Bis morgen werde ich überleben“, erwiderte sie trocken. „Und danke.“
Nachdem er sich zur Ruhe gelegt hatte, erhob Sonea sich und schritt leise im Lager auf und ab. Hätte sie schlafen wollen, so wäre ihr das schwergefallen, weil ihr Kopf voll Gedanken war. Dieses Mal kreisten sie jedoch weder um Marika, Danyara, Akkarin oder ihre unerwartete Schwangerschaft, sondern um den Mann, der mit einem Mal zu ihrem Freund geworden war.
Diese Reise hatte sie und Dannyl einander auf eine ungeahnte Weise nähergebracht. Sonea hätte sich nie träumen lassen, bei einem anderen Menschen als Akkarin auf so viel Verständnis zu stoßen. Dannyl war ihr mit seiner unkonventionellen und unkomplizierten Art gar nicht so unähnlich. Allerdings gab es Dinge, die sie selbst ihm nicht erzählte, und von denen nur sie und Akkarin wussten. Obwohl sie überzeugt war, Dannyl würde es verstehen, war das nichts, was sie von sich preisgeben wollte. Und bei ihm war es gewiss nicht anders.
Trotzdem tat es gut, auf dieser Reise einen Freund gefunden zu haben.
Sonea richtete ihren Willen auf ihren Blutring.
- So, du hast mir verschwiegen, dass Dannyl und Tayend ein Paar sind?
Die Antwort kam sofort.
- Ich habe es dir nicht erzählt, weil diese Angelegenheit vertraulich war.
- Ich hätte es für mich behalten. Akkarin, du kennst mich. Du weißt, dass ich es getan hätte. Aber dann hätte ich mich den beiden gegenüber entsprechend verhalten können.
- Was ihnen unnötiges Unbehagen bereitet hätte.
Er hatte recht, wie Sonea sich widerwillig eingestehen musste. Dennoch fand sie, er hätte es ihr sagen sollen. Es war schließlich kein Geheimnis, von dem Kyralias Sicherheit abhing.
- Gibt es etwas Neues aus der Gilde?
- Lord Sarrin und ich hatten heute unsere erste Runde in der Arena.
Sonea runzelte verwirrt die Stirn. Das wöchentliche Training mit den Kriegern war nach ihrer Abreise eingestellt worden. Dafür widmete sich Akkarin umso intensiver dem Schilddieb-Projekt. Obwohl es sie schmerzte, dies zu verpassen, hatte sie dem zugestimmt, weil es besser war, auf ein Scheitern der Verhandlungen vorbereitet zu sein. Dass er und Sarrin nun in die Arena gingen, war neu. Waren sie mit ihrer Forschung in eine Sackgasse geraten?
- Du und Sarrin?, fragte sie. Warum?
- Dein Freund Regin hielt es für eine gute Idee, die wöchentlichen Übungskämpfe mit uns beiden fortzuführen, sollte Kyralia in deiner Abwesenheit angegriffen werden. Angesichts der beunruhigenden Nachrichten, die ich von Savedra erhalten habe und des Anschlags halte ich dies für das Beste.
Das macht Sinn, dachte Sonea. Auch wenn sie nicht austauschbar sein wollte, so musste sie zugeben, dass dies eine gute Entscheidung war. Sie konnte jedoch spüren, dass das nicht der einzige Grund war, aus dem er diesen Schritt unternommen hatte. Und das erfüllte sie mit einer wachsenden Unruhe.
- Was verschweigst du mir?, verlangte sie zu wissen. Sag es mir.
Akkarin wurde so still, dass sie zu glauben begann, er habe sich wieder zurückgezogen.
- Regin hat mich auf eine Tatsache aufmerksam gemacht, die ich offenkundig zu ignorieren vorgezogen habe.
- Welche?, fragte Sonea mit angehaltenem Atem.
- Dass du dieses Mal nicht zurückkehren könntest.
In seiner mentalen Stimme lag eine solche Qual, dass Sonea unwillkürlich zusammenzuckte. Sie ahnte, dass er das vor ihr zurückgehalten hätte, hätte Regin es ihm nicht mit seinen Ideen vor Augen geführt. Sie erhielt das Gefühl, dass er dies sogar vor sich selbst verdrängt hatte, weil die Vorstellung, sie erneut zu verlieren, zu entsetzlich war.
Zum ersten Mal begriff sie nicht nur, wie er das halbe Jahr ihrer Gefangenschaft empfunden hatte, sondern auch, dass er diese Zeit ähnlich wie sie gerade zum zweiten Mal durchlebte.
- Du weißt, dass ich dir nur versprechen kann, alles zu tun, damit ich zurückkehre.
- Ja, war alles, was er darauf sagte. Die plötzliche Flut von Gedanken und Gefühlen raubte Sonea jedoch fast den Atem.
Sie räumten ihr Lager in völliger Dunkelheit. Dannyl glaubte, nur einen Augenblick geschlafen zu haben, als Sonea ihn weckte. Sich den Schlaf aus den Augen reibend, rollte er seine Decke zusammen. Im Dunkeln musste er eher nach seinem Gepäck tasten, als dass er es sehen konnte, als er von seiner Kaufmannskluft in Magierroben wechselte. Auch Sonea war nicht allzu gesprächig und er konnte sie über die Schärpe ihrer Robe fluchen hören. Dannyl wusste jedoch, dass ihr Körper am Morgen vermehrt auf die Schwangerschaft reagierte und sie mit Übelkeit zu kämpfen hatte.
Sie verstauten ihre Decken wieder im Gepäck und befestigten es an ihren Pferden. Als sie aufsaßen und die kleine Mulde verließen, war am Horizont über der fernen Ebene ein erster Streifen Silber zu sehen.
Während sie ritten, wurde dieser Streifen allmählich breiter und breiter, und alsbald lösten sich daraus ein Streifen dunkles Blau und einer in einem kräftigen, feurigen Rot. Noch viel später erstrahlte zwischen ihnen ein Streifen aus Gold. Nur wenig später leuchtete an der Stelle, wo die luftige Weite des Himmels auf die karge Weite der Ödländer traf, ein kräftiges Orange auf, als sich die Scheibe der Sonne über den Rand der Welt schob.
Unter ihnen lagen die flacheren Täler noch in tiefen Schatten, die jedoch allmählich kürzer wurden, als die Sonnenstrahlen in ihre kühlen Tiefen krochen.
Das ist wunderschön, dachte Dannyl. Er wandte seinen Kopf zu Sonea. Ihr Gesicht war ungewöhnlich ernst und er glaubte, darin zugleich Zeichen von Faszination und Anspannung zu lesen. Im ersten Licht des Tages wirkten ihre blassen Wangen indes ein wenig lebendiger.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er.
„Ja, Dannyl.“ Sie wandte den Kopf. Ihre Augen schimmerten seltsam.
Er atmete innerlich auf. Wäre etwas mit ihrer Eskorte gewesen, so hätte sie es ihm gesagt. Zugleich ahnte er jedoch, dass sie ihm etwas verschwieg.
„Möchtest du darüber reden?“
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht.“
Während der nächsten Minuten ritten sie schweigend den Hang hinab. „Wir werden die Eskorte in ungefähr einer Stunde am Rande der Ebene treffen“, teilte sie ihm plötzlich mit.
Dannyl horchte auf. „Hat Akkarin das gesagt?“
Sie nickte.
„Hat er auch etwas darüber gesagt, ob die Gegend sicher ist?“
„Sie war es gestern Abend, also wird sie es heute auch noch sein. Hier lebt nicht viel, Dannyl.“ Sie runzelte die Stirn und fuhr dann fort: „Mach dir keine Sorgen. Für den Moment sind wir in Sicherheit.“
Also bis Yukai, übersetzte er für sich. Doch auch er dachte seit dem Anschlag anders über die Verhandlungen. Waren sie erst einmal dort, so würden sie trotz aller diplomatischen Grundregeln in Gefahr sein. Das hatte eine Versammlung verfeindeter Gruppen so an sich, insbesondere wenn es sich bei ihnen um schwarze Magier handelte, von denen die meisten barbarischen Kulturen entstammten. Im Tempel mochten sie sich an das Verbot von Gewalt halten, doch das würde sie nicht davon abhalten, in der Wüste aufeinander loszugehen.
„Ich mache mir eher Sorgen um dich“, entgegnete er vorsichtig.
Ihre Augen verengten sich. „Es geht mir gut, Dannyl. Ich habe nicht viel geschlafen, aber verglichen mit den letzten zwei Wochen geht es mir sehr viel besser.“ Sie lächelte unwillkürlich. „Wir werden gleich auf die Verräter treffen.“
Entweder das ist wieder so etwas, worüber sie nicht sprechen will oder sie ist wegen ihrer Schwangerschaft gereizt, fuhr es Dannyl durch den Kopf. Er entschied, es dabei zu belassen. Sie würde sich ihm anvertrauen, wenn sie das Bedürfnis dazu verspürte. Seit der Nacht, in der sie ihm von ihrer Zeit als Marikas Sklavin erzählt hatte, tat sie das, wenn auch indirekt. Aber da waren auch Dinge, die sie offenkundig nicht zu erzählen gewillt war.
„Dannyl, kannst du mir vielleicht ein paar Tipps geben, wie ich mich den Verrätern gegenüber am Besten verhalte?“, fragte sie plötzlich. „Ich bin zwar vor einem Monat einer kleinen Gruppe in den Bergen begegnet, aber es war in einem Kampf.“
Dannyl dachte über ihre Worte nach. „Eigentlich ist es ganz einfach“, sagte er dann. „Sie legen keinen Wert auf Förmlichkeiten. Es genügt ihnen, wenn man ihnen mit dem üblichen Respekt gegenüber einer anderen Person begegnet. Sprich sie niemals mit ’Lady’ an und wundere dich nicht, wenn sie dich nicht so nennen. Sie finden das albern. Nur ihre Anführerin wird mit ihrem Titel angesprochen, ihr werden wir jedoch nicht begegnen. Und sie haben es gerne, wenn man beim Sprechen den Blickkontakt hält.“
„Weil ihr Volk aus ehemaligen Sklaven entstanden ist und sie sich von dem distanzieren wollen, was sie bekämpfen“, folgerte Sonea.
„So ist es.“
„Nun, das ist einfacher, als die Förmlichkeiten innerhalb der Gilde oder bei den Sachakanern“, bemerkte sie. „Was ist mit ihren Novizen oder Schülern? Wird zwischen ihnen und den fertig ausgebildeten Magierinnen unterschieden?“
Dannyl schüttelte den Kopf. „Sie begegnen den Magierinnen insofern mit größerem Respekt, dass sie ihre Vorbilder sind, doch sie werden in keiner Form herablassend behandelt.“ Er schenkte Sonea ein aufmunterndes Lächeln. „Sei einfach du selbst und du wirst bei ihnen nicht viel falsch machen können.“
Sie begegnete seinem Blick. „Dann kann es ja nur schiefgehen.“
„Nicht, wenn du dein Messer in deinem Gürtel behältst!“
Eine Stunde später hatten sie den Abstieg geschafft und den letzten Hügel hinter sich gelassen. Ihre Augen mit einer Hand gegen die noch immer schrägstehende Sonne abgeschirmt, suchte Sonea die Ebene ab.
„Da sind sie“, sagte sie und deutete auf einen Punkt nordöstlich von ihnen.
Dannyl folgte ihrem Blick und entdeckte eine Staubwolke, innerhalb der sich sechs Reiter bewegten, die rasch näherkamen.
„Bist du sicher, dass es unsere Verbündeten sind?“
Ihr Blick glitt ins Leere, dann lächelte sie. „Ja.“
Während sie auf die Reiter zuhielten, wurde Sonea zusehends angespannter, während sie zugleich von Vorfreude erfüllt schien. Als die Details der Gestalten zu erkennen waren und Sonea jede von ihnen mit dem seltsamsten Gesichtsausdruck musterte, der sich von Freude immer mehr in Enttäuschung verwandelte, glaubte er zu wissen, was in ihr vorging.
„Sie ist nicht dabei, nicht wahr?“, fragte er behutsam.
Sie schüttelte den Kopf. „Weißt du, das Verrückte ist, dass ich enttäuscht bin, obwohl ich tief in mir wusste, sie würde der Delegation nicht angehören.“
Dannyl nickte verständnisvoll. „Mir wäre es nicht anders ergangen“, sagte er. „Aber vielleicht ist es besser so.“
Ihre dunklen Augen begegneten seinen. Obwohl sie traurig wirkte, war sie seltsam gefasst. „Du hast recht“, sagte sie entschlossen und ihre Miene verhärtete sich. „Das ist es.“
Fragen zum Kapitel:
Habt ihr generell mit dieser Reaktion von Dannyl auf Soneas Geschichte gerechnet?
Wie spricht Sonea über Marika bzw. wie steht sie zu ihm? Wie wirken sich die hochkommenden Erinnerungen auf ihre Einstellung zu Akkarin aus? Und wird dies von ihrer ’dunklen Seite’ beeinflusst?
Was erfahrt ihr in der Rückblende über Marika?
Ist es richtig, dass Sonea Akkarin ihre Schwangerschaft vorerst verschweigt? Was glaubt ihr, wie würde er wirklich reagieren?
Ist Kachiros Reaktion angemessen oder hätte er Ivasako bestrafen sollen? Wie schlägt Ivasako sich bei dem Gespräch?
Was haltet ihr von Rothens und Soneas Idee für den Benimmkurs?
Wie gehen Sonea und Dannyl mit dem jeweiligen Outing des anderen um?
Im nächsten Kapitel kämpft Sonea weiter mit den Dämonen ihrer Vergangenheit, Dorrien macht Unsinn, Rothen darf sich von seiner großväterlichen Seite zeigen und Ivasako geht auf eine Cachika^^
Wow, das letzte Kapitel hat ja für noch mehr Diskussion gesorgt, als das mit dem Anschlag! Ich bin hingerissen :) Und gespannt, welchen Eindruck das heutige hinterlässt. Wie auf Twitter und FB schon angekündigt, gibt es heute unter anderem eine Wahrheit über den bösen heißen König, die Sonea bis jetzt erfolgreich verdrängt hat.
Herzlichen Dank an Caparzo, Debbibebbi, Destiny Dark, Lady Kadala, Sabrina Snape, Lady Alanna für die Reviews zum letzten Kapitel und Black Glitter für die email-Diskussion :)
Und jetzt viel Spaß beim Lesen!
PS: Marika-Fans dürfen heute ein wenig Fangirlen ;)
***
Kapitel 22 – Was wirklich in Sachaka geschah
Dannyl war entsetzt. So wie sie die Worte ausgesprochen hatte, klang es nicht, als hätte Marika nur jeden Tag ihre Kraft genommen oder sie hart arbeiten lassen. Etwas Derartiges hatte er von Anfang an befürchtet. Doch nach Soneas Rückkehr hatte sie es so aussehen lassen, als wäre sie eine politische Gefangene gewesen. Und er verstand, warum sie das getan hatte. Das war etwas, das man niemandem freiwillig erzählte.
Die Sachakaner machen keine politischen Gefangenen, erinnerte er sich an Akkarins Worte kurz nach der Schlacht in der Ettkriti-Ebene. Entweder sie töten ihre Opfer – oder sie versklaven sie.
Dannyl hatte das zweifelhafte Vergnügen gehabt, den König von Sachaka persönlich zu treffen. Marika war ein grausamer und unberechenbarer Mensch gewesen. Zweifelsohne hatte er Sonea mit Freuden für den Tod seiner Ashaki leiden lassen und ihr gezeigt, wo ihr Platz seiner Meinung nach war. Für die Sachakaner waren die Kyralier ein Volk von Sklaven. Marika hatte dabei keine Ausnahme dargestellt.
„Das ist entsetzlich“, sagte er tonlos. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
Sonea lächelte gequält. „Es ist in Ordnung, Dannyl. Du brauchst nichts sagen.“
„Möchtest du darüber reden?“, fragte er behutsam.
Sie hob die Schultern. „Das macht es nicht rückgängig.“
„Aber es hilft.“
Sie bedachte ihn mit einem sehr seltsamen Blick.
„Ich werde alles für mich behalten“, versprach er feierlich, eine Hand auf seine Brust legend.
„Oh, deswegen mache ich mir keine Sorgen.“ Sonea lächelte schief und blickte dann in die Ferne. „Es ist nur so, dass ich noch nie mit jemandem darüber gesprochen habe“, fuhr sie nach einer Weile fort. „Nicht einmal mit Rothen. Nur Akkarin weiß es, aber er wusste es bereits aus Marikas Gedanken.“
„Das hat es für dich sicher leichter gemacht, weil du es ihm nicht mehr erzählen musstest“, erwiderte Dannyl.
„Wenn es doch bloß so einfach gewesen wäre.“ Die kleine schwarze Magierin seufzte. „In der Nacht, in der er mit den Verrätern in den Palast eingedrungen ist, war ich bei Marika. Als ich wach wurde, war Akkarin gerade dabei, seine Gedanken zu lesen. Er hat alles gesehen, was passiert ist. Er weiß sogar, was ich in gewissen Situationen gedacht oder gefühlt habe, sofern Marika es aus meinen Gedanken wusste.“ Sie schüttelte den Kopf. „Es wäre besser gewesen, hätte er das nicht getan. Aber er konnte es nicht lassen, weil er wissen wollte, was Marika mir angetan hat. Ich kann es ihm nicht verübeln.“ Sie verzog das Gesicht. „Selbst er wünscht sich manchmal, Marikas Gedanken niemals gelesen zu haben.“
Dannyl nickte mitfühlend. Jetzt begriff er, warum die beiden schwarzen Magier ihre Beziehung nicht hatten wiederaufnehmen können. Wie entsetzlich musste es für Akkarin gewesen sein, zu erfahren, was dieses Ungeheuer seiner Frau angetan hatte, und dabei dessen Gedanken und Empfindungen zu lauschen, als wären es seine eigenen? Die bloße Vorstellung erfüllte Dannyl mit Grauen.
Aber irgendwie hatten die beiden es geschafft. Weil das, was sie verband, weit über Liebe hinausging.
„Wenn du es wirklich wissen willst, werde ich dir davon erzählen.“ Soneas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ich vertraue dir, dass du mich nicht verurteilst und das Gehörte für dich behältst. Aber ich muss dich warnen: Einiges von dem, was mir widerfahren ist, ist nur schwer zu ertragen, anderes ist schwer zu begreifen, wenn man nicht dabei war.“
„Ich will es trotzdem versuchen.“
Sonea nickte. „Also schön. Sag hinterher nicht, du hättest es nicht so gewollt.“
Dannyl legte eine Hand auf seine Brust. „Das wird nicht passieren“, versprach er.
Ihre dunklen Augen begegneten seinen, dann lächelte sie. „Die ersten Wochen waren die schlimmsten“, erzählte sie die Beine mit ihren Armen umschlungen. „Die Sachakaner glaubten, Akkarin wäre tot, also glaubte ich es auch. Meine Kräfte waren blockiert, ich hatte alles verloren, was mir je etwas bedeutet hat. Ich war überzeugt, ich würde den Palast nie wieder verlassen. Marika wollte mich. Aber nicht nur für meine Magie und meine Informationen über die Gilde. Er hat mich in seine Cachira aufgenommen, zu der noch einige andere junge Frauen gehörten.“
Davon hatte Dannyl gehört. Doch in ihrem Bericht bei ihrer Rückkehr hatte sie es so hingestellt, als wäre dieser Ort für eine Kriegsgefangene ihres Standes angemessener als eine Kerkerzelle. Und die höheren Magier hatten ihr diese Geschichte abgekauft. Oder aus Gründen von Diskretion so getan.
„Jeden Abend hat er eine – oder manchmal auch mehrere – von uns ausgewählt und mit in seine Gemächer genommen“, fuhr Sonea fort. „Davon abgesehen haben wir in der Thronhalle getanzt und musiziert. Bei besonderen Anlässen haben wir ihn auch bedient. Wir hatten kostbare Kleider, Schmuck und gutes Essen und Wein. Eigentlich ein ganz angenehmes Leben bis auf diese eine Sache.“
Dannyl nickte. „Wobei ich es mir auch schon demütigend vorstelle, jemand anderen zu bedienen oder sich vor ihm zu Boden zu werfen.“
„Das war es auch. Aber es war weitaus schlimmer, mit ihm schlafen zu müssen. Er …“, sie zögerte, als müsse sie überlegen, ob sie ihn das wissen lassen durfte, „... hatte seine Methoden, seine Sklaven gefügig zu machen – allen voran die Mädchen aus seiner Cachira. Sex ist eine sehr mächtige Waffe, Dannyl.“
Dannyl nickte erneut. Insbesondere jene, die über Magie geboten, hatten es leicht, jemand anderen auf diese Weise zu manipulieren. Und schwarze Magier erst recht, dachte er, sich an eine Textpassage aus einem Buch erinnernd, das er und Tayend einst gefunden hatten.
„Wurde es irgendwann besser?“
Sonea nickte. „In den ersten Wochen habe ich mich ihm wieder und wieder widersetzt. Einmal habe ich versucht, eine Nachricht an die Gilde zu schmuggeln, um sie vor dem Mann zu warnen, den Marika nach Imardin schicken wollte. Marika ließ den Sklaven, der die Nachricht auf dem Markt einem kyralischen Händler übergeben sollte, vor meinen Augen zerstückeln.“ Sie schloss die Augen und schüttelte sich. „Er hat mich bestraft und anschließend für eine Woche in seinen Kerker geworfen. Als er mich wieder daraus entließ, wurde es noch schlimmer. Er nahm mich immer häufiger mit ins Bett und einige der Mädchen schikanierten mich aus Eifersucht, weil er mir mehr Aufmerksamkeit schenkte als ihnen. Ich war am Ende. Weil ich keinen Ausweg mehr sah, sprang ich von einem der Türme des Palasts. Dummerweise … oder besser gesagt glücklicherweise hat Meister Ivasako mich gefunden und gerettet.“
„Palastmeister Ivasako?“, entfuhr es Dannyl. „Marikas Sekretär?“
„Ja.“
Dannyl spürte einen alten Zorn aufflammen. „Er ist für den Tod meines Vorgängers verantwortlich.“
„Oh, Dannyl“, sagte sie sanft. „Ivasako ist ein auch nur ein Sklave, der seinem Meister ergeben ist.“
„Ivasako ist ein schwarzer Magier“, widersprach er heftig.
Soneas dunkle Augen funkelten gefährlich. „Denkst du, Marika hätte ihn ’befreit’, wenn Ivasako ihn verlassen hätte?“, gab sie zurück. „Er wäre nicht Marikas Leibwächter und engster Vertrauter geworden, wenn er ihm nicht so ergeben wäre. Man kann sich nicht aussuchen, wem man ergeben ist. Für Ivasako war das Marika und für ihn war das richtig so.“
„Also findest du, es ist richtig, einem Monster zu folgen?“
„Für die Sachakaner war Marika kein Monster. Ja, er war grausam, aber auch gerecht. Er hat den Bürgerkrieg beendet und dem Land Frieden gebracht. Aus unserer Sicht mögen seine Methoden falsch und unmenschlich sein. Aber aus ihrer Sicht gehört Kyralia rechtmäßig ihnen. So wie wir vom Gegenteil überzeugt sind.“
„Findest du es gerecht, dass er den Sklaven getötet hat, der deine Nachricht aus dem Palast schmuggeln wollte?“ Er schüttelte den Kopf. „Was nicht heißen soll, dass es besser wäre, wenn er dich getötet hätte.“
„Für die Sachakaner sind Sklaven Gebrauchsgegenstände und Nutzvieh. Du kannst das nicht mit Dienern vergleichen. Vielleicht eher damit, wie die Häuser auf die Hüttenleute herabsehen, aber nicht einmal das wird dem auch nur annähernd gerecht. Sklaven sind selten von persönlichem Wert. Nikko war ersetzbar, ich nicht. Indem Marika ihn töten ließ, hat er wenig verloren und dennoch sichergestellt, dass ich so etwas nicht noch einmal versuche.“ Sie stockte und sog überrascht die Luft ein. „Als ich von dem Turm gesprungen bin, ist Marika ausgerastet. Ivasako hat versucht mich vor dem Schlimmsten zu bewahren, aber das war kaum möglich. Es war einem dummen Zufall zu verdanken, dass Marika ausgerechnet in diesem Moment durch Ivasakos Blutjuwel gesehen hat.“ Sie zog die Beine dichter an die Brust. „Marika hat mich daraufhin so sehr bestraft, dass ich es nicht gewagt habe, erneut zu rebellieren.“
Und Dannyl begriff, warum sie mit niemandem über diese Dinge gesprochen hatte. Es war zu persönlich, zu beschämend. Und die Furcht vor der Reaktion der anderen angefangen von Mitleid bis zu Ablehnung war zu groß. Man tat besser daran, Dinge für sich zu behalten, die das Bild, das die Menschen, die einem am nächsten stehen, zerstören.
Er kam jedoch nicht umhin, sie zu bewundern. So viel Demütigung, so viel Schmerz und doch hatte diese Erfahrung sie nicht zerstört, sondern dazu beigetragen, dass sie sich zu einer beeindruckenden Persönlichkeit entwickelt hatte. Auch wenn ihr das anscheinend nicht bewusst ist ...
„Als ich anfing, gefügig zu sein, wurde es besser. Er hat mich besser behandelt und er hat …“, sie errötete, „nun, er etwas mit mir getan, dass mir gewisse Dinge anfingen zu gefallen. Seiner Lieblingssklavin hat das indes überhaupt nicht gefallen. Sie hat mich zu einem Duell herausgefordert, wie das in Sachaka üblich ist, wenn Sklaven um die Gunst ihres Meisters buhlen. Ich hätte es ihr gerne überlassen, Marikas Lieblingssklavin zu bleiben und habe versucht, es ihr auszureden. Aber sie war überzeugt, dass er sie dann wieder mehr begehrt.“
Dannyl erinnerte sich, Gerüchte gehört zu haben, Sonea habe während ihrer Gefangenschaft eine von Marikas Sklavinnen auf barbarische Weise getötet. Wie viel Wahrheit darin steckte, hatte er nie in Erfahrung gebracht. Bis jetzt.
„Du hast sie getötet, nicht wahr?“
Sie nickte. „Sonst hätte sie mich getötet. Aber während unseres Duells ist mir klargeworden, dass ich nicht sterben will und dass der einzige Weg zu überleben ist, sie zu töten. Gnade wäre ein Zeichen von Schwäche gewesen. Ich hatte keine Wahl.“
Dannyl war bestürzt. „Sachaka ist so ein barbarisches Land“, sagte er nur.
Sie nickte erneut.
„Womit habt ihr gekämpft?“
Die kleine schwarze Magierin grinste schief. „Mit Schwertern.“
Er pfiff leise durch die Zähne. „Dann wundert es mich nicht, dass sie verloren hat!“
Dannyl war erheitert gewesen zu erfahren, dass Sonea in ihrem vorletzten Studienjahr Schwertkampf als Wahlpflichtfach belegt hatte, um ihre Ausdauer zu verbessern. Diese altmodische Kampfkunst war einst von seinem einstigen Widersacher Fergun unterrichtet worden und war, nach seiner Strafversetzung zum Nordpass zu einem offiziellen Kurs geworden. Dannyl hatte gewusst, dass sie Marika mit einem Schwert getötet hatte, aber er hatte sie nicht träumen lassen, dass Sonea diese Kunst eines Tages einsetzen würde, um ihr Leben zu verteidigen. Was ihn an dieser Geschichte jedoch am meisten verstörte war, dass das Duell überhaupt notwendig gewesen war.
„Hat Marika den Verlust seiner Lieblingssklavin bedauert?“, fragte er.
„Nein. Ich glaube, sie hat aufgehört für ihn zu interessant zu sein, nachdem er mich genommen hatte.“ Sie schüttelte den Kopf. „Er war völlig besessen von mir. Mit der Zeit versuchte er mir sogar zu beweisen, dass er ein guter Mensch ist. Vor dem geplanten Schlag gegen die Gilde, zu dem es dank Akkarin und den Verrätern nie gekommen ist, konnte ich ihn sogar überzeugen, die Gildenmagier und meine Familie und Freunde in der Stadt zu verschonen, wenn sie freiwillig ins Exil in ein Land gehen, nachdem er nicht giert. Er hätte sonst alle getötet.“
Beeindruckt hob Dannyl die Augenbrauen. Das klang fast so, als wäre Marika verliebt gewesen. „Es ist gut, dass es nicht so weit gekommen ist“, sagte er.
„Das ist es.“
„Was weiß Akkarin über diese Zeit?“
Sie schloss die Augen. „Alles.“
Und warum zog sie dann ihren Ring aus, wenn sie darüber sprach?
„Das muss auch für ihn sehr schwer gewesen sein“, sagte er. Dass Sonea von Marika zu gewissen Dingen gezwungen worden war, war etwas, das man akzeptieren konnte. Dass es ihr irgendwann gefallen und sie es zu ihrem Vorteil genutzt hatte, war sicher nicht so leicht zu verzeihen.
„Ja, aber er hat es verstanden.“ Sie runzelte die Stirn. „Er hat einmal gesagt, es wäre nicht selten, dass man ein so intimes Verhältnis zu seinem Meister entwickelt. Das hat etwas mit Selbstschutz zu tun. Wenn man jemandem so völlig ausgeliefert ist, hat man keine Wahl.“
Dannyl nickte verständnisvoll. Er begriff, warum sie sich auf Marika eingelassen hatte. Der König von Sachaka hatte dafür gesorgt, dass er ihre einzige Bezugsperson war. Und er hatte sie manipuliert, damit sie sich ihm hingab, bis sie es freiwillig getan hatte.
„Trotzdem fühlt es sich falsch an“, fuhr sie leise fort. „Es war in Ordnung, solange ich dort war. Doch dann kam ich zurück nach Hause und alles hatte sich verändert. In den ersten Wochen nach meiner Rückkehr habe ich oft von ihm geträumt. Und seit einer Weile geschieht es wieder. Die ganzen Gefühle von damals sind wieder da. Gefühle, die ich nicht haben darf.“
„Und trotzdem hast du mich begleitet.“
„Wenn es hilft, mich meiner Vergangenheit zu stellen, dann ist es so vielleicht besser.“ Sie schenkte Dannyl ein schiefes Lächeln. „Und schließlich kann ich nicht zulassen, dass die Sachakaner unseren neuen Auslandsadministrator ebenfalls töten.“
***
Sonea beobachtete, wie sich die langen Bettvorhänge aus halbdurchsichtiger purpurfarbener Seide in einem sanften Lufthauch bewegten. Von unten aus dem Hof war das geschäftige Treiben der Palastsklaven zu hören, während diese die letzten Vorbereitungen für das große Fest am Abend trafen. Völlig unbekleidet hätte sie unter der dünnen Decke gefröstelt, wäre der Körper, der eng an ihren geschmiegt lag, nicht so angenehm warm. Träge und gedankenverloren streckte sie eine Hand danach aus und strich über die glatte Haut, unter der sich überraschend feste Muskeln befanden.
Früher hätte sie das abgestoßen, doch sie war nicht mehr die Sonea von früher. Sie hatte sich daran gewöhnt, mit diesem Mann ins Bett zu gehen, und auf eine zutiefst unanständige Weise gefiel ihr das.
„Wenn ich aus Kyralia zurück bin, mache ich dich zu meiner Frau“, sagte Marika.
„Ich werde nur einwilligen, wenn Ihr Euer Versprechen haltet“, erinnerte Sonea ihn mit leichter Strenge.
„Was für ein König wäre ich, würde ich mein Wort nicht halten?“, erwiderte er erheitert. Seine Finger gruben sich in ihr Gesäß und erinnerten Sonea daran, dass er sie heiraten und mit ihr einen Thronerben zeugen würde, egal ob er tat, was sie von ihm verlangte, oder nicht. Dennoch war sie sicher, er würde sein Wort halten, weil es ihm zu sehr nach ihrer Hingabe verlangte. Und die würde er niemals bekommen, wenn er den Gildenmagiern und ihrer Familie und Freunden aus der Stadt nicht erlaubte, ins Exil zu gehen. Nichtsdestotrotz plagten sie Schuldgefühle, weil sie Lord Sarrin und den neuen höheren Magier an Marikas Leute ausliefern würde, doch das erschien Sonea als akzeptabler Preis dafür, dass die anderen in Freiheit weiterleben durften.
„Einer, dem man keinen Respekt entgegenbringen würde“, antwortete sie.
„Und werde ich respektiert?“
Es war eine rhetorische Frage. Er war der König von Sachaka und über die Grenzen seines Landes hinaus erstarrten die Menschen vor ihm und seiner Macht in Ehrfurcht – und Respekt.
„Ja, Meister. Zumindest von mir.“
Er lachte leise und zog sie fester in seine Umarmung.
„Ich verlange jedoch, dass Ihr ein Blutjuwel mit Euch nehmt, das aus meinem Blut hergestellt wurde“, fuhr sie fort. „Damit ich mich davon überzeugen kann, dass Ihr Euer Versprechen haltet.“
„Abgelehnt. Auf Grund deines Standes wäre das reichlich unangemessen, findest du nicht?“
Sonea schwieg. Es kümmerte sie nicht, ob es angemessen war. Sie wollte verhindern, dass er sich ihrer Beobachtung entziehen konnte. Aber konnte er das nicht auch, wenn er ihr Blutjuwel mitnahm, ohne es zu tragen, so wie er sie nicht alles sehen lassen musste, wenn er ihr ein Blutjuwel von sich gab? In beiden Fällen wäre er der Erschaffer und hatte die Kontrolle.
„Du wirst ein Blutjuwel von mir erhalten, das du mit Stolz tragen wirst“, fuhr er fort. „Ich werde dich dadurch zusehen lassen, wenn ich in Kyralia bin. Ich bin nicht so dumm zu denken, ich könnte deine Zuneigung gewinnen, wenn ich versuche, dich zu hintergehen.“ Er machte eine Pause, während seine große prankenartige Hand über ihren Rücken und ihr Gesäß strich. „Ich denke, es ist an der Zeit, dir ein Blutjuwel zu machen, das sich nicht mehr entfernen lässt.“
Sie zuckte zusammen.
„Würdest du lieber das Halsband weiter tragen?“
„Ich …“, begann sie und brach ab. Lange Zeit hatte sie sich durch das Halsband mit dem Blutjuwel gebrandmarkt gefühlt, bis sie begonnen hatte, ihm einen gewissen Reiz abzugewinnen. Dennoch wusste sie nicht, ob ihr die Vorstellung gefallen sollte, ein solches Blutjuwel von Marika zu tragen. Es war so viel intimer – und so endgültig.
Marika fasste ihr Kinn und drehte ihren Kopf, Sonea musste sich aufrichten, damit sie ihn ansehen konnte.
„Antworte.“
Sie zögerte. „Beides hat seine Vor- und Nachteile“, sagte sie vorsichtig. „Doch als mein Meister liegt die Entscheidung bei Euch.“
Die Vallookaugen bohrten sich in ihre. „Ich werde darüber nachdenken. Die endgültige Entscheidung hat Zeit bis morgen früh. Doch ich denke, ich habe meine Wahl bereits getroffen.“
Wofür?, wollte Sonea fragen, wagte es jedoch nicht, weil sie die Antwort fürchtete. Stattdessen sagte sie: „Ich werde akzeptieren, was immer Ihr für mich vorseht, Meister.“
Der König von Sachaka runzelte kurz die Stirn, dann fuhr seine Hand in ihren Nacken und er zog sie zu sich, um sie zu küssen. Nach der vergangenen halben Stunde fragte Sonea sich, warum sie sich noch wenige Stunden zuvor so heftig gegen seine plötzliche Sanftheit gewehrt hatte. Das Gefühl, das er damit in ihr auslöste, war auf seine Weise ähnlich berauschend, wie das rohe Verlangen, mit dem er sie sich sonst nahm. Plötzlich begriff sie, dass es ihr danach verlangte, wieder von einem Mann geliebt zu werden. Und obwohl Marika der Letzte war, von dem sie geliebt werden wollte, wusste sie, dass es für sie niemals wieder einen anderen geben würde.
„Ich will, dass du diese Förmlichkeiten unterlässt, wenn wir alleine sind“, sagte er, als er von ihr abließ. „Sofern ich dir nicht einen direkten Befehl erteile. Ich habe auch einen Namen.“
Diese Eröffnung traf Sonea völlig unerwartet. „Marika?“, entfuhr es ihr.
„Das ist mein Name“, erwiderte er erheitert.
Sonea war verstört. „Aber …“, begann sie, während sie damit rang, ob sie so viel Vertrautheit zuzulassen bereit war, wohlwissend, dass er ihr keine Wahl lassen würde, „... habt Ihr … hast du das auch von Keya verlangt?“
„Nein.“
„Aber von Ienara.“
„Nur von dir.“ Er strich über ihre Wange und Sonea schmiegte sich in die Wölbung seiner Hand, dieses Mal jedoch nicht, weil er es von ihr erwartete. „Ich erwarte, dass du dich daran gewöhnst.“
„Ja, Meister“, erwiderte sie reflexartig. Sie runzelte die Stirn. „Aber warum?“
„Weil es mein Wille ist.“
Natürlich!, dachte sie ein frustriertes Seufzen unterdrückend. Sie wusste indes auch nicht, was sie von ihm hatte hören wollen oder ob ihr eine andere Antwort gefallen hätte. Solange er die Worte nicht aussprach, musste sie sich nicht damit auseinandersetzen, wie es wäre, wenn er mehr als ihr Meister wäre. Sie wollte ihn nicht als etwas anderes als das sehen.
Sie legte den Kopf auf seine Brust und schloss die Augen.
„Marika“, sagte sie leise.
Es fühlte sich ungewohnt an und kam ihr nur schwer über die Lippen, so wie die gesamte Sprache. Aber es wäre schlimmer gewesen, wäre sein Name in ihren Ohren ähnlich melodisch gewesen, wie jener, den sie nicht mehr denken wollte.
Marika strich über ihr Haar und zog sie dann fester in seine Umarmung.
„Nimm mich mit nach Kyralia“, sagte sie plötzlich.
„Nein.“
„Warum nicht?“, verlangte sie zu wissen. „Ich kann die Gildenmagier besser überzeugen, ins Exil zu gehen und nicht gegen deine Leute zu kämpfen, als du. Und du könntest mich jede Nacht haben.“
„Ein Kriegsschauplatz ist kein Ort für hilflose Sklavinnen“, sagte er schroff. „Schon gar nicht für solche wie dich. Willst du, dass deine Leute dich als Verräter in Erinnerung behalten?“
Nein, das wollte Sonea nicht. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Rothen sie dafür halten würde. Er würde verstehen. Zudem war sie überzeugt, die anderen Magier und ihre Familie noch einmal zu sehen, würde ihr helfen, endgültig mit ihrer Vergangenheit abzuschließen. Wenn Marika sie mitnahm, dann würde sie hinterher wirklich ihm gehören.
„Du könntest getötet werden“, fuhr er ein wenig sanfter fort, während er eine ihrer Haarsträhnen um einen Finger wickelte. „Und das will ich vermeiden.“
„Ich verstehe“, flüsterte sie. Insgeheim wollte sie nicht, dass er ging. Nicht, weil er am nächsten Tag ausziehen würde, um ihre alte Heimat zu erobern, sondern weil sie plötzlich nicht mehr wusste, wie sie es ertragen sollte, wenn er fort war. Und auch nicht wegen Danyara, sondern weil ihr mit erschreckender Klarheit bewusst geworden war, dass sie sich an ihn gewöhnt hatte und er mit seiner plötzlichen Veränderung dabei war, sie mehr an sich zu binden, als Gewalt und Drohungen und Furcht vermocht hätten. Doch sie weigerte sich, darüber nachzudenken, was das für sie bedeutete.
„Es ist spät“, sagte er schließlich. „Bring mir meine Kleider.“
„Ja, Meister.“ Sie stand auf, sammelte seine Kleider vom Boden auf und reichte sie ihm, indem sie sich vor das Bett kniete.
Marika zog sich an. Dann nahm er den Dolch aus seinem Gürtel und nahm ihre Kraft.
„Du kannst eine wirklich gute Sklavin sein, wenn du das willst“, bemerkte er und strich über ihre Wange. „Es wäre für uns beide leichter, wenn du es öfter wärst.“ Er stand auf und schritt zur Tür. „Und jetzt mach dich für das Fest zurecht. Ich will, dass meine Lieblingssklavin an diesem Abend ganz besonders schön ist.“
„Ja, Meister“, erwiderte sie und sah ihm nach.
Nachdem er fort war, blieb sie noch eine Weile auf dem Boden knien. Erst als sie sich gesammelt hatte, stand sie auf und trat zu ihrem Schrank, um ein angemessenes Kleid für die Lieblingssklavin des Königs auszuwählen.
Schaudernd schob Sonea die Erinnerung beiseite. Die Nacht war dunkel und eisig, doch sie war zu aufgewühlt, um die Kälte zu spüren. Neben ihr lag Dannyl in seine Decke eingewickelt und schnarchte leise.
„Marika“, flüsterte sie, während sie gegen einen inneren Widerstand ankämpfte, der verhinderte, dass sie vergaß.
Dannyl die wahre Geschichte über ihre Entführung zu erzählen, hatte weitere Erinnerungen an Arvice hervorgeholt. Erinnerungen, an die sie sich lange Zeit zu erinnern geweigert hatte. So wie die an jenen letzten Nachmittag, an dem sie etwas Einzigartiges miteinander geteilt hatten. An jenem Abend auf dem Fest und in der ganzen Zeit danach hatte sie Marikas Besuch in ihrem Zimmer in der Cachira verdrängt. Jetzt erinnerte sie sich wieder an alles, als wäre es gestern gewesen – an seinen Geruch, wie er sich angefühlt hatte und an das berauschende Gefühl, als sie sich ihm hingegeben hatte.
Er hat mich geliebt, dachte sie. Und ich habe ihn getötet. Sie zog ihre Beine an die Brust und schlang ihre Arme darum. Was habe ich getan?
Sie warf einen Blick auf ihren Blutring. Akkarin ist der einzige Mann, der noch für mich noch von Bedeutung zu sein hat, rief sie sich ins Gedächtnis. Seine dunkle Seite steht der Marikas in nichts nach. Dennoch war es mit Marika anders gewesen. Er war ihr nicht vertraut gewesen und sie hatte ihn oft als unberechenbar empfunden. Für ihn war sie in erster Linie eine Sklavin gewesen, es hatte keine moralischen Grenzen gegeben. Und das war etwas, das Akkarin ihr niemals geben konnte.
Aber ich habe ich ihn nicht geliebt. Er hat mein Leben zerstört. Zumindest hatte sie das damals geglaubt. Doch Akkarin hatte sie gefunden und befreit und die höheren Magier hatten die Blockade ihrer Kräfte aufgehoben. Dadurch hatte ihre Gefangenschaft den Beigeschmack eines unfreiwilligen Ausflugs in ungeahnte Unanständigkeiten bekommen. Sonea wusste, Akkarin hätte sich niemals zu all dem, was sie heute teilten, überreden lassen, hätte Marika den Horizont ihrer Unanständigkeit nicht erweitert. Und doch würde es immer eine Grenze geben, die er niemals überschreiten würde.
Hättest du ihn geliebt, hättest du ihn nicht ohne zu zögern getötet.
Aber sie hatte gezögert. Es war nur ein winziger Augenblick gewesen, und doch lange genug, um sie ihre Tat bereuen zu lassen, noch während sie sie ausgeübt hatte. Es mochte keine Liebe gewesen sein, denn dann hätte sie so um ihn getrauert, wie sie ein halbes Jahr lang um Akkarin getrauert hatte. Aber sie hatte etwas empfunden!
Abhängigkeitsverhältnis, hatte Akkarin ihre Beziehung zu Marika genannt. Und damit hatte er nicht unrecht gehabt. Mit blockierten Kräften und in einem Land voll von feindlich gesonnenen schwarzen Magiern hatte, war sie ihm vollkommen ausgeliefert gewesen. Aber war es wirklich er gewesen, der ihr etwas bedeutet hatte, oder war es das Gefühl gewesen, das er in ihr ausgelöst hatte?
Sonea seufzte. Sie hatte es aufgegeben, verstehen zu wollen, was nicht mit ihr stimmte. Sie hatte ihre unanständigen Vorlieben akzeptiert. Es war weder Marikas Schuld noch die Akkarins, sie hatten nur hervorgeholt, was schon immer in ihr geschlummert hatte. Sie fand, es wäre einfacher, könnte sie den ehemaligen König von Sachaka hassen, so wie sie es getan hatte, als er ihr alles genommen hatte. Was hatte sich geändert?
Vielleicht ist es, weil ich mich frage, was aus uns geworden wäre, hätten die Verräter und Akkarin nicht den Palast überfallen, überlegte sie. Und ich hätte Akkarin fast an ihn ausgeliefert! Aber woher hätte sie wissen sollen, dass er der mysteriöse höhere Magier an Lord Sarrins Seite war? Der Handel, zu dem sie Marika damals mit unanständigen Mitteln überredet hatte, war ihr aus ihrer damaligen Sicht als gut und richtig erschienen. Jetzt kam es ihr vor, als habe sie mit dem Feind kollaboriert. Und obwohl sie nicht aufhören konnte, daran zu denken, was geschehen wäre, wäre alles so gekommen, wie Marika geplant hatte, kam Sonea nicht umhin, Akkarin und den Verrätern für ihr Eingreifen zu danken.
Sie würde nie erfahren, wie sich ihr Verhältnis zu Marika weiterentwickelt hätte. Und vielleicht war das auch besser so. Sonea wünschte nur, sie könnte ändern, dass sie ihm weiterhin hinterher trauerte und sich fragte, wie es hätte sein können. Er war nicht Akkarin gewesen, sie hatte ihn nicht geliebt und es würde ihr nie in den Sinn kommen, die Liebe ihres Lebens zu töten. Allein die Vorstellung bereitete ihr beinahe körperliche Schmerzen. Mit einem Mal vermisste sie Akkarin mehr denn je. Hier in den Ödländern war sie mit ihren Erinnerungen auf sich gestellt. Wenn er doch nur hier wäre und sie in den Arm nehmen könnte! Vielleicht würde sie dann aufhören, andauernd an Marika zu denken.
Aber er kann nicht immer da sein und mich beschützen, dachte sie dann. Wenn er jedes Mal meine Hand hält, sobald ich ihn brauche, dann werde ich nie lernen, alleine mit meinen Erinnerungen fertigzuwerden.
Aber wie sollte sie das, wenn sie neben Dannyls Schutz noch die Nebenwirkungen ihrer Schwangerschaft zu bewältigen hatte? Wie sollte sie Dannyl beschützen?
So sehr Sonea sich ein zweites Kind gewünscht hatte, hätte die Schwangerschaft nicht zu einem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können. Sie und Dannyl konnten in Kämpfe verwickelt werden und die Reise war zweifelsohne anstrengend. Es war richtig gewesen, die Versuche, ein zweites Baby zu machen, einzustellen. Sie wollte sich Akkarins Reaktion, wenn er davon erfuhr, lieber nicht ausmalen. Doch darüber brauchte sie sich erst Gedanken zu machen, wenn sie wieder zuhause war. Bis dahin würde sie dieses Wissen in ihrem Geheimniswahrer wegschließen.
Doch der eigentliche Grund, warum Sonea sich nicht über diese Entwicklung freuen konnte, war, dass sie sich plötzlich ihrer Gefühle nicht mehr sicher war.
***
Er hatte die ganze Nacht wach in Ienaras Armen gelegen, während die Gedanken in seinem Kopf den Tanz der Schwerter neu interpretiert aufführten. Unfähig ein Auge zuzutun, hatte er der Stille der Dunkelheit gelauscht, in der Ienaras ruhige und regelmäßige Atemzüge alles waren, was ihn davon abhielt, den Verstand zu verlieren.
Nachdem er ein Bad genommen und seine Wunden versorgt hatte, hatte Ivasako den Imperator noch ein einziges Mal zu Gesicht bekommen, als dieser ihm befohlen hatte, einen Küchensklaven hinzurichten. Ivasako hatte das nicht gerne getan und er sah es als persönliche Strafe, weil seine offene Provokation bis jenseits der Palastmauern für Aufsehen gesorgt hatte.
Aber wie kann ich mich damit trösten, dass die Alternative darin bestanden hätte, Tarachi nicht zu reizen und alles zu riskieren, was Ishaka und ich in den letzten Monaten erreicht haben?, dachte er. Hätte Kachiro die Wahrheit herausgefunden, hätte er Ivasako ohne zu zögern hingerichtet. Und damit hätte niemand den Imperator von einer törichten Aktion abhalten können, während die Delegierten in Yukai über einen Frieden diskutierten.
Noch hatte Ivasako jedoch keine absolute Gewissheit, dass Kachiro keinen Verdacht geschöpft hatte. Die Anweisung, den Palast bis auf weiteres nicht zu verlassen, war eine deutliche Warnung. Sowohl Ivasako als auch der Imperator waren sich wohlbewusst, dass er dieses Verbot ignorieren konnte, doch es würde Kachiros Zorn nicht gerade mindern, wenn Ivasako dagegen verstieß.
Mit dem Verbot, den Palast zu verlassen, fiel auch das Training der Palastwachen aus, das an diesem Morgen stattgefunden hätte. Ivasako hätte sich jedoch nicht in der Lage gefühlt, seine Männer zu trainieren, weil die Furcht vor seiner nächsten Begegnung mit Kachiro sein ganzes Denken beherrschte. Davon, wie der Imperator die Gedanken seines Leibwächters interpretierte und wie Ivasako reagierte, hing mehr als sein eigenes Leben ab.
Ivasako hätte jedoch kaum anders handeln können. Er konnte von Glück sagen, dass Tarachi ihn in seiner dienstfreien Zeit mit seinem Verdacht konfrontiert hatte. Kachiro würde seinen ersten Leibwächter derweil kaum durch sein Blutjuwel beobachten, sofern er es überhaupt regelmäßig tat. Die größte Macht übte man mit einem Blutjuwel damit aus, dass der Träger nicht wusste, wann man zusah. Die meisten Magier hatten jedoch Besseres zu tun, als ihre Sklaven auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Wenn man viele Blutjuwelen kontrollierte, neigte man dazu, die Präsenzen auszublenden. Zudem war Tarachi kein ungehorsamer Sklave, der eine permanente Überwachung erforderte.
Als Ienara aufstand, verließ auch Ivasako das Bett. Er kontrollierte die Verbände seiner Wunden, die er am Abend zuvor nur zum Teil geheilt hatte, dann legte er seine Uniform an. Sollte Kachiro ihn heute zu sich rufen, so würde er sich darin weniger verletzlich fühlen. Tatsächlich besaß Ivasako nur wenig andere Kleidung, die einem Mann seines Ranges angemessen war. Auch wenn er nicht im Dienst war, sah er sich als Repräsentant der Palastgarde und in seiner Uniform brachte man ihm überall in der Stadt den entsprechenden Respekt entgegen.
Während des Morgenmahls, das sie selten gemeinsam einnahmen, sprachen sie kaum ein Wort. Selbst Jorika war ungewöhnlich still. Yakari hatte sich um Ivasakos Beine zusammengerollt, als wolle er ihm Trost spenden.
„Wirst du heute nicht arbeiten?“, fragte Ienara, nachdem sie ihr Morgenmahl beendet hatten. Ivasako hatte Jorika mit Yakari in den Park geschickt und sich mit dem Tagebuch eines Königs kurz nach dem Sturz des letzten Imperiums auf einem Diwan niedergelassen.
„Ich denke, ein freier Tag kann nicht schaden“, antwortete er. „Sonst beklagst du dich immer, dass ich so viel arbeite.“
„Willst du dir vor Kachiro wirklich diese Blöße geben?“
Der Palastmeister schüttelte den Kopf. „Einen besseren Zeitpunkt, als den Imperator an meine Nützlichkeit zu erinnern, könnte es kaum geben“, erwiderte er mit aller Gelassenheit, die er aufbringen konnte.
Ienara griff in den Korb neben ihrem Diwan und holte ihr Nähzeug heraus. „Dann hoffe ich, dass du recht behältst“, sagte sie, während sie damit fortfuhr, ein Ornament in den Stoff zu sticken, den Ivasako mit ihr wenige Tage zuvor auf den Märkten besorgt hatte. „Ich kenne kaum einem Mann, der schwerer einzuschätzen ist, als Kachiro.“
Damit war Ienara nicht alleine. Und doch besaß sie eine bessere Menschenkenntnis als Ivasako. Nun, bei Tarachi hatte sie falsch gelegen. Aber da er eigentlich auch nur ein Sklave war, war es leicht, ihm weniger Aufmerksamkeit zu schenken, wenn man gelernt hatte, auf das Verhalten der Meister zu achten.
Irgendwann im Laufe des Vormittags kam einer von Kachiros Wachen zum Haus der Cachira und teilte ihm mit, dass der Imperator ihn im Thronsaal erwartete.
„Ich komme sofort“, sagte Ivasako. „Wartet solange draußen.“
„Sei vorsichtig“, flüsterte Ienara, als er sich von ihr verabschiedete. „Und tue nichts, was ihn verärgern könnte.“
„Ich werde der vorbildliche und unterwürfige Palastmeister sein, den er erwartet.“ Ivasako küsste sie innig, dann beeilte er sich, die Cachira zu verlassen, Ienaras besorgte Blicke in seinem Rücken.
In seinem ganzen Leben war Ivasako sich der Macht des Zugangs nie so bewusst gewesen, wie an diesem Tag. Begleitet von zwei von Kachiros Wachen, schritt er durch den langen Flur zum Thronsaal. Die goldenen Türen schwangen zurück und Ivasakos Puls beschleunigte sich und seine Handflächen begannen zu schwitzen. Der dunkelblaue Teppich mit dem Cravas, das am anderen Ende in den Stoff gestickt war, erweckte in Ivasako das Gefühl, sich auf einer Verlängerung des Zugangs zu befinden.
Kachiro saß auf dem Thron umringt von mehreren seiner persönlichen Wachen. Tarachi war nirgends zu sehen. Wo der Imperator sonst dabei stets fehl am Platz wirkte, war es Ivasako nun unmöglich, den Effekt dieser Machtdemonstration nicht zu spüren.
Obwohl Ivasako nichts getan hatte, um Kachiro zu schaden, glaubte er zu zerspringen. Sollte der Imperator auf die Idee kommen, seine Gedanken zu lesen, so würde er genug darin finden, um ihn zum Verräter zu erklären. Und Ishaka vermutlich gleich mit. In Kachiros Imperium wurde das kleinste Anzeichen mangelnder Loyalität hart bestraft und es würde Ivasako nicht retten, ihm wiederholt die politische Situation im Land zu verdeutlichen.
„Mein Imperator, wie kann ich Euch dienen?“, fragte er, als er sich vor dem Thron zu Boden warf. Hinter sich konnte er das leise Rascheln von Stoff hören, als die beiden Palastwachen ihrem Meister ihren Respekt erwiesen.
Kachiro machte eine Bewegung mit der Hand, woraufhin sich die Palastwachen wieder erhoben. Ivasako blieb indes auf dem Boden knien.
„Ich habe Euch hergerufen, um Eure Zukunft zu besprechen, Palastmeister“, teilte Kachiro ihm mit. „Euer Verhalten am gestrigen Tag hat mich enttäuscht.“
„Ich bitte vielmals um Verzeihung, mein Imperator“, sagte Ivasako unterwürfig. Obwohl Kachiro niemals für ihn sein konnte, was Marika für ihn gewesen war, verspürte er Reue. Jedoch nicht auf Grund seiner Aktion an sich, sondern weil er diesen Schritt überhaupt hatte gehen müssen und weil er wusste, dass die Alternative weit entsetzlicher wäre. „Ich kann nicht ungeschehen machen, was passiert ist, doch ich gebe Euch mein Wort, dass sich ein solcher Vorfall nicht wiederholt.“
Kachiro ging nicht darauf ein. „Und warum habt Ihr Eure Arbeit heute Morgen nicht aufgenommen? Ich kann mich nicht erinnern, Euch davon entbunden zu haben.“
Wozu du nicht die Macht hast, wenn du Marikas Andenken wahren willst. Ivasako hielt den Kopf weiterhin gesenkt. „Ich hielt die Gelegenheit für günstig, um über meine Fehler nachzudenken.“
„So?“ Kachiro hob eine Augenbraue. „Und zu welcher Einsicht seid Ihr gelangt?“
„Ich hätte mich nicht von Tarachi provozieren dürfen lassen. Ich sah ihn zu sehr als Bedrohung für das Vermächtnis meines einstigen Meisters. Es war jedoch nie meine Absicht, ihn zu töten. Ich wollte ihn nur auf seinen Platz verweisen.“
„Und dieses Vermächtnis, was meint Ihr damit?“
„Die Palastgarde.“
„Seltsam, ich hatte vielmehr den Eindruck, es ginge darum, mich zu stürzen.“
„Mein Imperator“, sagte Ivasako und berührte mit seinem Oberkörper das Cravas vor seinen Knien. Es fühlte sich falsch an. Mit einem Mal begriff er, warum Sonea sich so sehr dagegen gesträubt hatte, sich Marika zu unterwerfen. Eine widerwillige Unterwerfung fühlte sich nicht gut an. Und Kachiro war alles andere als Ivasakos Erfüllung.
„Ihr seid der Nachfolger meines Meisters und von den Männern, die heute Eure Berater sind, dazu bestimmt, diesen Krieg zu beenden und Sachaka wieder zu Ruhm und Ehre zu verhelfen.“ Ivasako hob den Kopf und sah dem anderen Mann in die Augen. „Nichts widerstrebt mir mehr, als Euch zu töten.“
„Und die Behauptungen meines Leibwächters?“
Ivasako hob die Schultern. „Sind absolut unbegründet. Doch sie sprechen für eine scharfe Beobachtungsgabe. Angewendet in den richtigen Situationen kann Tarachi Euch gute Dienste leisten.“
Mit überaus grimmiger Miene strich Kachiro über seinen Kinnbart. „Hättet Ihr meinem Vorgänger nicht so treue Dienste geleistet und würde ich ihn nicht über den Tod hinaus so sehr schätzen, so hätte ich Euch längst von Euren Pflichten entbunden oder hingerichtet“, sprach er. „Die gegen Euch gerichteten Vorwürfe mögen unbegründet sein, doch dieser Vorfall hat dem Palast ungeheurem Schaden zugefügt.“
Ivasako senkte den Kopf. „Ich kann nur wiederholen, wie sehr ich meine Impulsivität bereue, mein Imperator.“
„Ihr seid nicht mehr Marikas Palastmeister, sondern meiner. Und von meinem Palastmeister erwarte ich absoluten Gehorsam.“
„Ich diene dem Imperium und damit Euch, mein Imperator“, sprach Ivasako. „Ihr könnt Euch meines Gehorsams sicher sein.“
„Dann erwarte ich von Euch keine weiteren Fehltritte mehr, Palastmeister. Solltet Ihr noch einmal mein Missfallen erregen oder sollten mir neue Gerüchte, die in irgendeiner Weise darauf hindeuten, dass Ihr mir schaden wollt, zu Ohren kommen, so werde ich nicht zögern, Eure Gedanken zu lesen. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
„Ja, mein Imperator. Ich stehe in Eurer Schuld.“
Ohne Marikas noch immer währenden Einfluss hätte Kachiro dies schon längst getan, ahnte Ivasako. Er schätzte den Imperator so ein, dass er für eine unbegründete Vermutung das Gesetz ignorieren würde. Aber in Kachiros Augen war Ivasakos und Ishakas Versuch, einen gemäßigten Einfluss auf die Politik auszuüben, vermutlich Verrat genug.
„Entschuldigt Euch bei Tarachi und tut, was ich Euch sage, und ich bin bereit, diesen Vorfall zu vergessen“, sprach Kachiro. „Ihr seid mein einziger Berater in Arvice. Schon nächste Woche wird eine Party bei Ashaki Rovako stattfinden. Ich erwarte, dass Ihr dort hingeht und für mich spioniert.“
„Ja, mein Imperator“, wiederholte Ivasako. „Darf ich fragen, was mit Tarachi geschehen ist?“
„Ich habe ihn für eine Woche von seinem Dienst entbunden.“
Für einen Sklaven, der seinem Meister ergeben war, war das eine durchaus harte Strafe. Sie verlieh einem das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden und in der Gunst des Mannes, dem zu dienen Erfüllung bedeutete, gesunken zu sein.
„Ist es wahr, dass er es auf meinen Posten abgesehen hatte?“
„Er hat Euch Euren Posten geneidet, ich habe ihn daran erinnert, wo sein Platz ist. Aber“, Kachiro betrachtete ihn finster, „ich werde Euch im Auge behalten, Palastmeister.“
Also hatte Tarachi aus eigenem Impuls gehandelt. „Ja, mein Imperator“, sagte Ivasako. „Wenn es Euer Wunsch ist, so werde ich meinen Dienst ebenfalls für eine von Euch festgesetzte Zeit niederlegen.“
„Abgelehnt“, sprach Kachiro. „Es ist kaum ein halber Tag vergangen und Euer Faulenzen macht sich bereits bemerkbar. Nein, ich wünsche, dass Ihr Eure Arbeit unverzüglich wieder aufnehmt.“ Er machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. „Und jetzt geht mir aus den Augen.“
Erneut berührte Ivasako das Cravas, dann stand er auf und entfernte sich.
Noch einmal davongekommen, dachte er, nachdem er den Thronsaal verlassen hatte. Das hätte auch anders ausgehen können.
Die Erkenntnis löste ein ungeahntes Gefühl von Leichtigkeit in ihm aus. Zugleich wusste er jedoch, von nun an musste er noch mehr Vorsicht walten lassen. Kachiro würde ein gutes Auge auf ihn haben.
Es war Zeit, Ishaka zu kontaktieren.
***
Trotz ihrer ungesunden Blässe wirkte Sonea an diesem Tag ein wenig fröhlicher als an den Tagen zuvor. Jemand Unbeteiligtem von ihrer Entführung zu erzählen hatte ihr, wie Dannyl gehofft hatte, offenkundig geholfen. Sie war ein wenig gesprächiger, wenn auch sie noch immer angespannt war. Selbst jetzt war Dannyl entsetzt über das, was sie ihm berichtet hatte. Er scheiterte daran, sich vorzustellen, wie es war, an einen Mann gebunden zu sein, der für alles stand, was man verachtete, und zu sexuellen Gefälligkeiten gezwungen zu sein und diese mit der Zeit zu mögen. Aber sie war es gewohnt, dass das Leben ihr nichts schenkte.
Der Tag versprach, so heiß wie der vergangene zu werden. Als am späten Vormittag eine Hügel-Gruppe sich über das Flirren am Horizont am Horizont erhob, verließen sie ihre Route und stiegen höher ins Gebirge. Obwohl mitten in den nördlichen Ödländern, waren die Rachiro-Hügel und ihr Umland überraschend fruchtbar und weder Dannyl noch seine kleine Begleiterin wollten eine Begegnung mit ihren Bewohnern riskieren.
In den Bergen war es leicht, ihre Wasservorräte aufzufrischen, und an geschützten Stellen fanden sie hin und wieder essbare Pflanzen.
„Wir reiten, bis es zu dunkel ist, um noch etwas zu sehen“, teilte Sonea ihm am Nachmittag mit. „Beim ersten Licht des Tages reiten wir weiter. Dann können wir morgen Mittag wieder ins Flachland hinabsteigen.“
„Bist du sicher, dass das nicht zu anstrengend für dich wird?“, fragte Dannyl. Mit einem raschen Blick auf Soneas Ring fügte er hinzu: „Du hast letzte Nacht kaum geschlafen. Und ich will nicht riskieren, dass meine Beschützerin die Kontrolle über ihre Magie verliert, weil sie sich nicht erholen kann.“
„Wenn wir meinem Plan folgen, können wir schon morgen Abend auf die Verräter treffen“, entgegnete Sonea stur. „Von da an wird alles leichter.“
„Unsere Reise hat sich schon so sehr verzögert, dass ein halber Tag keinen Unterschied macht.“
„Aber wir wären in Sicherheit.“ Sie schnitt eine Grimasse und zog den Ring ab. „Ich hätte dir nicht erzählen dürfen, dass ich ein Baby bekomme“, sagte sie. „Ihr Männer seid immer so übervorsichtig, sobald es um Babies geht. Dannyl, ich war schon einmal schwanger. Lorlen kam nur wenige Monate vor meinen Abschlussprüfungen auf die Welt. Ich weiß, wie viel ich mir zumuten kann.“
Der sture Ausdruck in ihrer Miene überzeugte Dannyl, dass es ihm nicht gelingen würde, ihr das auszureden. Dennoch nahm er sich vor, sie im Auge zu behalten. Der bloße Gedanke, sie würde ihr Baby verlieren, weil sie sich während dieser Mission zu großen Strapazen aussetzte, bedrückte ihn. Und wie würde Akkarin sich erst fühlen, weil er seine Frau völlig ahnungslos von ihrer Schwangerschaft nach Sachaka geschickt hatte?
„Ganz wie du möchtest“, erwiderte er. „Aber ich bestehe darauf, heute Nacht wieder die erste Wache zu übernehmen.“
„Meinetwegen“, gab Sonea nach. „Aber du hast nicht mehr geschlafen, als ich auch.“
Eine Weile ritten sie schweigend. Die meiste Zeit war Dannyl so damit beschäftigt, darauf zu achten, wohin sein Pferd trat, dass er die Umgebung kaum wahrnahm. Doch wann immer sie ein ebenes Stück Weg erreichten, sah er sich staunend um. Unter sich erblickte er schroffe und steile Klippen, mit Schluchten so tief, dass kein Sonnenstrahl hineinreichte. Zu seiner Linken schraubten sich ähnliche Klippen hoch in den Himmel. Über den Ödländern flimmerte die Hitze, doch darüber erhoben sich die Hänge der Rachiro-Hügel, wie Inseln aus einem vertrockneten Meer. Jetzt konnte Dannyl sehen, dass die Erde der Erhebungen rötlicher war, als er es jemals irgendwo auf der Welt gesehen hatte.
„Warum bist du so um mich besorgt, Dannyl?“, fragte Sonea plötzlich. „Du sagst, du ziehst elynische Frauen vor und hast kein Interesse an mir, aber vorhin warst du so besorgt, als wärst du der Vater.“
Die Frage überraschte Dannyl. So wie Sonea sie gestellt hatte, würden die Sorge um seine Sicherheit und die Erinnerungen an seine Schwester nicht als Argumente funktionieren. Denn davon wusste sie bereits, seit sie ihn gelehrt hatte, seinen Geheimniswahrer zu benutzen. War es denn so offensichtlich?
„Oft wünschte ich, ich hätte auch Kinder“, sagte er.
„Was hält dich davon ab? Ein unverheirateter Mann in deiner Position wird sich doch sicher vor Heiratsanträgen nicht retten können.“
Ihr Interesse war von aufrichtiger Natur, erkannte Dannyl. Entgegen den meisten anderen Menschen, die sein Geheimnis nicht kannten, versuchte sie nicht, ihn zu verkuppeln. „Es spricht einfach zu viel dagegen“, antwortete er. „Bis jetzt habe ich noch keine Frau gefunden, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen wollen würde. Und ich wäre ständig auf Reisen. Ich würde weder sie noch unsere Kinder oft zu Gesicht bekommen. Das wäre weder mir noch ihnen gegenüber fair.“
Sie nickte langsam. „Das verstehe ich. Und es ist wirklich schade, dass deine Arbeit dich daran hindert, eine Familie zu gründen.“
Wenn es doch nur das wäre!, dachte Dannyl. Selbst wenn er eine Scheinehe einging, bezweifelte er, dass er in der Lage wäre, Kinder zu zeugen, weil er sich nicht vorstellen konnte, mit einer Frau zu schlafen. Der Gedanke beinhaltete für ihn nicht die geringste Erregung.
Er entschied, es war Zeit, das Thema in eine andere Richtung zu lenken. „Würdest du dich mehr über ein Mädchen oder einen zweiten Jungen freuen?“
„Über beides.“ Sie verzog das Gesicht. „Aber wenn der zweite Junge so wie Lorlen wird, dann hätte ich lieber ein Mädchen.“
Dannyl lachte. „Ist er so schlimm?“
„Er kommt zu sehr nach seinem Vater. Und er fängt gerade erst an.“
„Er ist sicher nur in der Trotzphase.“
Sie betrachtete ihn zweifelnd. „Bei den Eltern?“
Er verkniff sich ein Lächeln. „Und dann glaubst du, ein Mädchen wäre einfacher?“
„Du hast recht“, murmelte sie trocken.
„Hast du schon über einen Namen nachgedacht?“
„Nein. Lorlen hat seinen Namen auch erst bei seiner Geburt erhalten. Aber bei ihm war es irgendwie einfach, einen Namen zu finden.“ Lorlens Namensgeber war Akkarins Freund und ehemaliger Administrator der Gilde gewesen. Und er war gestorben, bevor er und Akkarin sich hatten aussprechen können. Dannyl fand, es war folgerichtig, dass Akkarins erstgeborener Sohn seinen Namen trug.
„Das glaube ich.“
„Wie wäre es mit einem elynischen Namen?“
„Wenn es ein Mädchen wird, werde ich das in Erwägung ziehen. Ohne Akkarin werde ich jedoch keine Entscheidung treffen.“
„Das solltest du auch nicht.“ Dannyl lächelte. „Denn das solltet ihr gemeinsam tun.“
„Das werden wir.“ Sonea seufzte. „Wenn das alles hier vorbei ist.“
Dannyl hätte ihr gerne die Zuversicht gegeben, dass sie diese Mission überleben würden, doch das wäre verlogen gewesen. Trotz aller Vereinbarungen mit den anderen Parteien befanden sie sich in Gefahr. Das hatte der Anschlag auf ihre Eskorte ihm nur allzu deutlich ins Gedächtnis gerufen.
„Was wäre mit Danyara?“, schlug er vor.
Sonea zuckte zusammen. „Woher kennst du diesen Namen?“
Dannyl lachte. „Du sprichst im Schlaf.“
„Oh, wirklich? Was sage ich denn?“
„Oft geht es um Marika, glaube ich. Oder hast du noch andere Sachakaner mit Meister angesprochen?“
„Marika war der Einzige, den ich nur mit ’Meister’ angesprochen habe. Die anderen Magier musste ich zusätzlich mit ihrem Namen ansprechen. So wird zwischen dem eigenen Meister und anderen Magiern unterschieden.“ Sie lächelte humorlos. „Allerdings haben diese nicht viel getan, was es wert wäre, davon zu träumen. Während Marika seine anderen Sklavinnen hin und wieder an seine Gäste im Palast ausgeliehen hat, wollte er mich nicht mit anderen teilen.“
Also war es kein anderer Mann. Obwohl sachakanische Männernamen oft weiblich klangen, war Dannyl sicher, dass Danyara eine Frau gewesen war. Aber warum versuchte Sonea dann, ihm auszuweichen?
„Und wer war Danyara?“, hakte er nach.
Soneas Wangen färbten sich rosa. „Danyara war ein Mädchen aus Marikas Cachira. Sie wurde mir zugeteilt, um mich die Sprache zu lehren. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht. Wir … standen uns sehr nahe.“
Zu Dannyls Überraschung vertiefte sich das Rosa auf ihren Wangen. „Also war nicht alles schlecht während deiner Gefangenschaft“, folgerte er.
„Danyara war alles, was noch schön und gut für mich war“, flüsterte sie beinahe zärtlich.
Und dann verstand er. Er verkniff sich ein Lächeln. Sieh an, dachte er. Sie kann einen immer wieder überraschen. Eine Frau schien so gar nicht zu ihr zu passen, aber sie war kein gewöhnliches kyralisches Mädchen. Sie war in den Hüttenvierteln aufgewachsen und hatte die gesellschaftlichen Konventionen der Häuser erst spät kennengelernt. Seine Besuche bei den Verrätern hatten gezeigt, dass die Sachakaner noch frivoler als die Elyner waren – ein seltsamer Widerspruch zu der Tatsache, dass Beziehungen zwischen Ashaki als Schwäche galten. Und Sonea hatte in Marikas Cachira gelebt. Wenn sie mitbekommen hatte, wie der König von Sachaka mehrere Sklavinnen mit ins Bett nahm, oder sie vielleicht auch eine von ihnen gewesen war, würde früher oder später eins zum anderen geführt haben. Vielleicht lag es sogar in ihrer Natur.
„Sich zu verlieben ist keine Schande“, sagte er behutsam. „Selbst wenn es jemand desselben Geschlechts ist.“
Sie starrte ihn an. „Wie hast du es erraten?“
„Beobachtungsgabe“, antwortete Dannyl lächelnd. Besser er erwähnte nicht den Grund, warum er dafür so sensitiv war.
Ihre Augen verengten sich. „Du darfst niemandem davon erzählen. Das würde Schande über mich und meinen Mann bringen. Akkarin könnte gezwungen sein, sich von mir zu trennen, wir beide würden den Respekt der Gilde und unser Ansehen verlieren. Das wäre nicht nur für uns schlecht, sondern auch für die Gilde.“
Von allen Menschen verstand Dannyl das besser als jeder andere. In der Vergangenheit hatten Sonea und Akkarin für genügend Skandale gesorgt. Aber jetzt war Akkarin wieder Hoher Lord. Dass seine Frau sich mit anderen Frauen vergnügt hatte und in eine sogar verliebt gewesen war, würde nicht nur innerhalb der Gilde für einen Skandal sorgen. Und das nur, weil die Gilde so unglaublich konservativ ist, dachte er einen plötzlichen Zorn verspürend. Man konnte sich nicht aussuchen, wen man liebte. Sonea hatte es sich nicht ausgesucht, Gefühle für dieses Sklavenmädchen zu entwickeln. Und doch war es geschehen.
Dannyl legte eine Hand auf seine Brust. „Du hast mein Wort als Freund“, versicherte er. Aber auch wenn sie keine Freunde geworden wären, hätte er es nicht über sich gebracht, sie zu verraten, weil es ihm nicht anders erging.
„Danke“, flüsterte sie.
„Gern geschehen“, erwiderte er. „Vielleicht möchtest du von meiner Erfahrung mit unangenehmen Situationen profitieren und ein paar Tipps hören, wie du ungewollte Reaktionen vermeiden kannst.“
Sonea hob leicht die Augenbrauen. „Danke, aber wenn ich mich gar nicht erst auf ein solches Gespräch einlasse, kommt das Problem auch nicht auf.“
„Du hast dich gerade darauf eingelassen.“
„Weil“, sie runzelte die Stirn, „weil ich dir vertraue und es bei dir anders ist, als bei meinem Freunden in der Gilde“
So erging es Dannyl mit Rothen. Obwohl er Dannyls bester Freund war, konnte er es einfach nicht über sich bringen, ihm von Tayend zu erzählen. Er war sicher, mit der Zeit würde sein ehemaliger Mentor es verstehen und sich für Dannyl freuen können, doch sie standen sich einfach zu nahe.
„Was sagt Akkarin zu Danyara? Ich nehme an, er hat es aus Marikas Gedanken erfahren?“
Die kleine schwarze Magierin nickte. „Am Anfang wusste er nicht, was er schlimmer finden sollte, glaube ich. Das mit Marika oder meine Beziehung mit Dany. Später war er jedoch froh, dass es jemanden gab, durch den meine Situation nicht ganz trostlos war und ich meinen Lebenswillen nicht verlor.“
„Für einen Kyralier ist er überraschend tolerant“, bemerkte Dannyl.
Sie lächelte seltsam schief. „Er war fünf Jahre lang der Sklave eines Ichani. Er weiß, was ich durchgemacht habe, manches davon hat er selbst erlebt. Und er weiß, wie es ist, jemandem so absolut ausgeliefert zu sein. Ich glaube, zu Beginn war er nur schockiert, weil das einfacher war, als auf Marika wütend zu sein.“
„Du kannst froh sein, einen solchen Mann zu haben. Andere wären nicht so gut damit zurechtgekommen, wenn ihrer Frau das zugestoßen wäre, was du erlebt hast.“
„Ich weiß“, flüsterte sie. „Ich vermisse sie und zugleich habe ich Angst, sie wiederzusehen. Was, wenn sie auf der Konferenz ist?“
„Wieso sollte sie dort sein?“ Soweit Dannyl wusste, schickte Kachiro seine Berater und blieb selbst in Arvice. Wozu sollte er ihnen eine seiner Sklavinnen mitgeben?
„Sie und die anderen Mädchen wurden nach Marikas Tod zu den Verrätern gebracht. Danyara hat magisches Potential. Was, wenn die Verräter sie als Quelle mitgenommen haben oder um etwas dabei zu lernen?“
Das bezweifelte Dannyl. Die Verräter beschützten ihre Schülerinnen und setzten sie keiner Gefahr aus, bis ihre Ausbildung abgeschlossen war. Ihre ersten Einsätze hatten sie mit ihren erfahreneren Schwestern. So weit würde Danyara jedoch noch nicht sein. Sie war noch keine zwei Jahre bei den schwarzen Magierinnen.
„Was würde ein Wiedersehen für dich bedeuten?“, fragte er.
Sie hob die Schultern. „Ich weiß nicht. An dem Tag, bevor der Palast überfallen wurde, haben wir uns gestritten. Wegen Akkarin.“ Sie verzog das Gesicht. „Das heißt, Dany hat die Beziehung beendet, weil sie nicht ertragen konnte, dass ich ihn noch immer liebe. Dabei wusste sie es die ganze Zeit.“ Sie seufzte und starrte auf einen Punkt am Horizont. „Ich würde mich gerne mit ihr aussprechen. Aber ich weiß nicht, was uns das noch bringen soll. Es ist vorbei.“
„Ein leichteres Gewissen?“, schlug er vor. „Weniger Schuldgefühle, die dich belasten und die du in deine Beziehung mit Akkarin mitnimmst?“
„Ja. Aber es würde uns nicht mehr zusammenbringen.“
Nein, das würde es nicht. Denn sie war die Frau des Hohen Lords. Und diesen liebte sie mit einer Hingabe, die nichts gleichkam, was Dannyl je gesehen hatte.
„Das solltest du deinem Mann auch nicht antun.“
Den Blick, mit dem sie ihm bedachte, wusste Dannyl nicht zu deuten.
***
Zum zweiten Mal innerhalb zu kurzer Zeit kamen die Rachiro-Hügel in Sicht. Dieses Mal jedoch von der anderen Seite. Noch waren sie nur eine undeutliche Erhebung über das Flimmern am Horizont. Von den Entfernungen in der Weite der Ödländer durfte man sich jedoch nicht täuschen lassen. Was nah aussah, war in Wirklichkeit weit entfernt. Bis zu den Hügeln würden sie noch mehr als einen Tag unterwegs sein.
„Savedra hat mich vorhin informiert, dass die beiden Gildenmagier noch einen Tag südlich der Hügel sind“, meldete Zalava gegen Abend. „Sie nehmen den Weg durch die Berge. Spätestens übermorgen werden wir auf sie treffen.“
„Das wird auch Zeit“, murmelte Ivara. „Wir sind viel zu spät dran.“
„Die anderen werden auch noch eine Weile ohne Pachiwein, frisches Obst und unser wundervolles Brot auskommen“, entgegnete Asara.
„Der Pachiwein wird vielleicht nicht bis Duna halten, wenn wir noch länger trödeln“, bemerkte Ivara.
„Aber nur, weil du ihn ausgetrunken hast“, gab Lahiri zurück.
„Bis wir wieder bei unserem Karren in der Wüste sind, könnte ich dafür durstig genug sein.“
„Niemand wird hier irgendetwas austrinken, ohne dass ich es sage“, sagte Zalava.
Asara verkniff sich ein Lächeln ob der Strenge ihrer Schwester. Durch den Mord der Eskorte für den Gildenmagier war die Stimmung gereizt. Einige hatten den Frauen aus der Eskorte nahegestanden. Aggression war ihr Weg, mit dem Verlust umzugehen. Asaras anfänglicher Schock war einem dumpfen Zorn gewichen. Sie fühlte sich schuldig, weil sie nicht so trauerte, wie sie es von sich selbst erwartete. Aber zugleich wusste sie, dass sie zu selten in die Zuflucht kam, um sich den dort lebenden Schwestern verbunden zu fühlen.
„Jetzt, wo wir den beiden Gildenmagiern so nah sind, wollen wir nicht die Berge verlassen und die Nacht durchreiten?“, fragte sie mit einem durchtriebenen Lächeln. „Dann würden wir schneller auf sie treffen. Sie wären in Sicherheit und Ivara bräuchte unser Gastgeschenk nicht leer trinken.“
Ihre Schwestern begannen zu lachen.
Zalava hatte bei ihren Worten indes die Stirn gerunzelt. „Das muss die Große Mutter entscheiden.“ Sie ritt weiter, ihre Augen auf einen Punkt jenseits des Horizonts gerichtet, während das Pferd den Weg für sie fand.
„Savedra sagt, dass sie darin keine Gefahr sieht. Sarkaro und seine Leute haben die Roten Hügel längst verlassen und unsere Beobachterinnen melden keinerlei Aktivitäten.“
„Worauf warten wir dann noch?“, fragte Ivara ungeduldig. „Holen wir die beiden Gildenmagier ab, damit wir endlich nach Yukai und unseren Auftrag hinter uns bringen können.“
Als ob wir unterwegs sind, um einen Mord zu begehen, dachte Asara ein Schnauben unterdrückend. Nun, je nachdem, wie die Konferenz laufen würde, durfte sie nicht ausschließen, dass einige ihrer Feinde ihr Leben lassen würden.
Ah, aber wie sehr ich hoffe, dass diese Mission ohne Blutvergießen verläuft!
Als die Sonne die Ödländer ein letztes Mal in Brand versetzte, richtete Asara ihre Konzentration auf das Blutjuwel ihres Gefährten.
Bei dem Bild, das sich ihr bot, hätte sie um ein Haar laut aufgelacht.
Vikacha saß im Becken von Anjiakas Badehaus, umgeben von mehreren Sklavinnen, die ihn zu verführen suchten, während ihre Schwester sich mit ihrem Hochzeitsgeschenk vergnügte.
- Wie vielen hast du es schon besorgt?
Vikacha zuckte zusammen und Asara entfuhr ein Kichern.
- Asara, geliebte Meisterin!, sandte er in einem Anflug von Erheiterung und Schuldbewusstsein.
- Hast du getrunken?
- Deine Schwester hat ihre Sklaven und mich mit Wein abgefüllt, weil Saraki bei deinem Gemahl und Meister ist.
Das sah Anjiaka ähnlich. Erheitert schüttelte Asara den Kopf.
- War der Wein wenigstens gut?
- Nicht so gut wie der, den Varako vor ein paar Jahren von diesem elynischen Händler hatte.
- Natürlich. Die Wirkung auf die Sklavinnen ist ja nicht zu übersehen.
- Ich habe jede von ihnen abgewiesen, sandte er ernsthaft.
- Ich wäre enttäuscht von dir gewesen, hättest du dich in meiner Abwesenheit mit ihnen vergnügt.
Vikacha entfuhr ein Glucksen. Ein Bild blitzte in Asaras Geist auf, wie sie es in ihrer ersten wilden Phase mit zwei von Lenaras Informantinnen in deren privaten Gemächern getrieben hatten. Sie erinnerte sich, wie ihre Schwester verkündet hatte, dass sie mitgemacht hätte, wäre sie nicht gerade unpässlich gewesen. Seitdem wusste sie, dass Vikacha durchaus in der Lage war, es mehreren Frauen gleichzeitig zu besorgen.
- Gibt es etwas Neues aus der Stadt?
- Nicht viel. Anjiaka hat mehrmals bei Mivara nachgefragt, doch anscheinend hat sie die letzten Tage ausschließlich damit verbracht, Tarko zu verführen. Angeblich hatten sie und einige andere aus der Cachira dabei ziemlich großen Spaß.
Vielleicht sollte ich das insofern begrüßen, dass Mivara damit ihre Position als Informantin festigt und es ihr zugleich gutgeht, dachte Asara trocken. Sie war nie wirklich mit Anjiakas Vorschlag, Mivara bei Tarko einzuschleusen glücklich gewesen. Zumindest nicht, was die Motive betraf. Doch Mivara gefiel es bei dem Ashaki-Politiker, und solange sie darüber nicht ihren eigentlichen Auftrag vergaß, hätte sie keinen besseren Posten erhalten können.
- Und was ist mit den Gerüchten um Ishaka?
- Ich bedaure, geliebte Meisterin, sandte ihr Gefährte.
- Soll das heißen, es gibt keine weiteren Neuigkeiten?
- Nur das, was man sich seit Tagen erzählt, in immer haarsträubenderen Versionen.
Asara seufzte. Nicht, dass sie etwas anderes erwartet hatte, jetzt wo Kachiros Berater aus der Stadt waren. Wenn Tarko und Ishaka sich nicht gegen den Imperator verschworen hatten, war es vergebliche Liebesmüh, über Mivara etwas dazu herauszufinden. Aber wenn die beiden Ashaki unschuldig waren – wer hatte dieses Gerücht gestreut? Vielleicht jemand, der selbst plante, den Imperator zu stürzen und den Verdacht von sich ablenken wollte?
Ja!, dachte sie. Das muss es sein!
- Soll ich dich mit ein wenig Klatsch aus dem Palast aufheitern?, riss Vikacha sie aus ihren Gedanken.
- Nur zu, forderte Asara ihn auf. Mir ist sowieso langweilig.
- Habt ihr die Gildenmagier noch nicht aufgelesen?
- Nein, aber wir sind kurz davor. Und jetzt erzähle mir von dem Klatsch. Ich brauche ein wenig triviale Ablenkung von meinen anstrengenden Schwestern.
Erheitert berichtete Vikacha ihr, was er erfahren hatte.
- Ich habe es gehört, als ich meine Freunde besucht habe, begann er.
- Deine Sklavenfreunde?, entfuhr es Asara.
- Ja. Eigentlich war ich auf der Suche nach weiteren Gerüchten zu der Verschwörung gegen Kachiro. Ich wäre nicht dorthin gegangen, wäre ich nicht überzeugt, dass es dir und deinen Schwestern in Yukai nützen könnte.
- Schon gut, sandte Asara. Und jetzt hör auf, mich noch länger auf die Folter zu spannen!
- Ja, geliebte Meisterin, erwiderte er erheitert, woraufhin sie die Augen verdrehte. Einer der Palastsklaven, die täglich zum Markt gehen, hat erzählt, dass der Palastmeister und Kachiros Leibwächter sich gestern gestritten haben. Der Streit war so heftig, dass Ivasako seinen Gegner zum Duell herausgefordert hat. Doch anstatt mit ihrer Magie das Übungsgelände vor der Stadt zu verwüsten, sind sie mit Schwertern aufeinander losgegangen. Kachiro konnte gerade noch das Schlimmste verhindern.
Überrascht sog Asara die Luft ein.
- Dabei hätten sie ganz Arvice dem Erdboden gleichmachen können!
Sie fragte sich, was die beiden Männer gegeneinander aufgebracht haben mochte. Der Palastmeister war Marikas Leibwächter und, wenn die Gerüchte stimmten, auch sein engster Vertrauter gewesen. Nach dem Tod des Königs war er Palastmeister geblieben. Kachiro hatte jedoch seinen eigenen persönlichen Leibwächter mitgebracht, sowie einige andere in Magie unterwiesene Sklaven, die ihn bewachten, während die Überreste der Palastgarde weiterhin für das Palastgelände zuständig waren. Asara hatte immer geglaubt, es wäre Ivasako nur recht, nicht der persönliche Leibwächter eines Mannes zu sein, der nicht sein Meister war. Oder war die Provokation von dem Leibwächter ausgegangen? Und warum?
- Das hätten sie, doch ich nehme an, dass der Sieger dem anderen rechtzeitig seine Kraft genommen hätte, antwortete Vikacha.
- Wie ging es aus?, wollte Asara wissen. Wie hat Kachiro reagiert?
- Als Kachiro einschritt, hatte Ivasako seinen Gegner entwaffnet und zu Boden geworfen. Es heißt, er war kurz davor, seine Kraft zu nehmen. Kachiro war ziemlich wütend. Er hat Ivasako bis auf weiteres verboten, den Palast zu verlassen.
Asara entfuhr ein kleiner Laut der Überraschung. Der Imperator war kein Mann, dessen Zorn leicht zu erregen war. Ivasako musste ihn sehr verärgert haben.
- Hat einer von den beiden eine Erklärung für diesen Kampf geliefert?, fragte sie.
- Kachiro hat seinen Leibwächter einer Wahrheitslesung unterzogen. Die offizielle Version lautet, dass der Leibwächter Ivasako seinen Posten streitig machen wollte. Doch es wird gemunkelt, dass es in Wirklichkeit um etwas anderes ging.
Interessant, dachte Asara. Ihre langjährige Erfahrung mit dem Palast und den Stadt-Ashaki ließ sie eine Intrige wittern. Was kann so wichtig sein, dass Ivasako und Kachiros Leibwächter versuchen, sich gegenseitig umzubringen, und was dennoch nicht einmal Palastgeschwätz wird?
- Nur wenige Stunden, nachdem ich bei meinen Freunden war, wusste es bereits die ganze Stadt, fuhr Vikacho fort. Er machte eine Pause und Asara konnte sein Entsetzen spüren. Der Sklave, der es herumerzählt hat, wurde noch am selben Tag hingerichtet.
Asara schloss die Augen. Es war immer wieder dasselbe. Was innerhalb der Palastmauern geschah, hatte dort zu bleiben. Das war seit Jahrhunderten so und durch die Existenz der Verräter war dieses Gesetz noch verschärft worden. Für gewöhnlich wagten nicht einmal die Ashaki, die dort zu Besuch waren, Informationen weiterzugeben. Sklaven wurden jedoch umgehend hingerichtet, um andere davon abzuschrecken, es ihnen gleichzutun.
Mit einem leisen Seufzen blickte sie zu der Bergkette im Westen. Die Sonne berührte die Spitzen der Berge, die Ebene glomm nur noch in einem sanften Dunkelrot. Der Anblick erfüllte sie mit einer seltsamen Melancholie.
Eine erheiternde Geschichte, dachte sie. Mit einem tragischen und absolut unnötigen Ende.
Sie konnte indes nicht aufhören, über den Grund zu grübeln, aus dem Ivasako den Leibwächter fast getötet hatte. Sie war sicher, es hatte etwas zu bedeuten.
***
Der kurzgeschnittene Rasen auf dem Gelände der Universität war noch mit Tau bedeckt, als Rothen das Badehaus verließ. Aus dem Wald, der sein zartgrünes Frühlingskleid in das dunklere Gewand des Sommers getauscht hatte, schallte ein vielstimmiges Vogelkonzert. Jenseits der Tore tauchte die Morgensonne die Kuppeln und Türme der Stadt in flüssiges Gold.
Mit einem wehmütigen Ziehen in der Brust genoss er den Anblick für einige Augenblicke. Die Pachibäume waren längst verblüht und seine Ziehtochter wieder einmal dort, wo er sie nicht haben wollte.
Inzwischen hatten Sonea und Dannyl fast den Ort erreicht, an dem sie sich mit der zweiten Gruppe Verräter, die Savedra nach Duna geschickt hatte, treffen würden. Obwohl sie damit fast in relativer Sicherheit waren, musste Rothen sich zwingen, nicht andauernd daran zu denken, dass der oder die Mörder der ersten Eskorte am Treffpunkt lauern könnte.
Sie ist erwachsen, schalt er sich. Sie hat ihren Weg gewählt und du alter Narr solltest aufhören, dich jedes Mal so um sie zu grämen, wenn sie sich wieder einmal in Gefahr begibt!
Denn damit tat er niemandem einen Gefallen. Weder seinen Schülern noch seinen Novizen – doch am wenigsten sich selbst.
Auf dem Rückweg zum Magierquartier begegnete er niemandem. So früh am Morgen waren meist nur Diener unterwegs, um Frühstück zu organisieren oder um Besorgungen in der Stadt und auf den Märkten zu machen. Die Novizen schliefen so lange es ihnen möglich war, ohne zu spät zum Unterricht zu kommen. Entweder sie schlangen vorher ein hastiges Frühstück in der Speisehalle hinunter oder sie verzichteten ganz darauf.
Dies galt besonders für die Novizen der unteren Jahrgänge. Mit der Zeit legten sie dies jedoch ab, wenn sie merkten, wie anspruchsvoll das Studium war. Die Novizen aus einfachen Verhältnissen waren weniger verwöhnt, aber sie auch sie verließen frühestens eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn das Novizenquartier.
Doch auch die wenigsten Magier quälten sich ungern so früh aus dem Bett.
Rothen dagegen genoss die frühen Stunden des noch unberührten Tages. Die Welt war still und bot die Gelegenheit für ein wenig Muße, bevor er sich den Problemen des Alltags stellen musste. Im Badehaus war er für gewöhnlich allein, was ihm die Diskussionen über Forschungsanträge, die manche Magier ihm dort mit Vorliebe aufnötigten, ersparte. Mit zunehmendem Alter, so hieß es zudem, brauchte man weniger Schlaf – das hatte zumindest Yaldin immer behauptet. Wenn Rothen an seine Studienjahre oder die Zeit mit Yilara und Dorrien zurückdachte, kam er nicht umhin, in den Worten seines verstorbenen Freundes eine gewisse Wahrheit zu finden. Auch wenn er zugeben musste, während seiner Studienzeit das Schlafbedürfnis seines Körpers oft ignoriert zu haben.
Anstatt zu seinem Apartment zurückzukehren, bog Rothen an diesem Morgen in einen Flur ein, der ihn zur Waldseite brachte.
Lord Larkin erwartete ihn in seinem Wohnzimmer, auf dem Tisch zwischen den Sesseln ein üppiges Frühstück mit Brötchen, Kuchen und Sumi. „Mein Diener war so erfreut, dass ich nicht alleine speise, dass er genug gebracht hat, um die halbe Gilde zu versorgen“, erklärte er ein wenig verlegen, als Rothen Platz nahm.
„Nun, man sollte nie ohne ein gutes Frühstück in den Tag starten“, erwiderte Rothen und setzte sich.
Obwohl der junge und engagierte Architekturlehrer sich besonders unter den weiblichen Gildenmitgliedern großer Beliebtheit erfreute, lebte er allein. Er schien sein Junggesellendasein jedoch zu genießen.
„Da stimme ich Euch zu, Lord Rothen“, erwiderte Larkin. „Und anscheinend sah mein Diener das ebenso.“
„Ich danke Euch, dass Ihr eingewilligt habt, unser Treffen hier stattfinden zu lassen“, sagte Rothen. „Mein Apartment ist derzeit ein wenig überbevölkert.“ Viana wohnte bei ihm und Farand kam jeden Morgen, um sein Frühstück dort einzunehmen. Für eine Besprechung war dies denkbar ungünstig, doch es war die einzige Zeit des Tages, die Rothen zur Verfügung hatte und es lag ihm fern, Viana und Farand in die Speisehalle zu schicken.
„Das ist doch selbstverständlich“, erwiderte Lord Larkin. „Ich bin dankbar, dass wir noch einmal die Details besprechen, bevor der Vorbereitungskurs startet. Novizen Sozialverhalten zu vermitteln unterscheidet sich sehr von den Wissensgrundlagen, die wir sie sonst lehren.“ Er machte eine auffordernde Geste zu dem Tisch zwischen ihnen. „Bitte, Rothen. Bedient Euch.“
„Ich bin auch schon sehr gespannt darauf, wie der Kurs wird.“ Rothen nahm sich ein Brötchen und schenkte sich Sumi ein. „Zumal wir beide zusammen vermutlich nicht halb so einschüchternd sind wie Sonea würde sie diesen Kurs alleine leiten.“
Lord Larkin lachte. „Das will ich nicht abstreiten. Doch ich denke, allein die Tatsache, dass wir Magier sind, wird den Novizen Respekt einflößen.“
„Wäre auch schlimm, wenn nicht.“ Die Sumitasse und das Brötchen mit beiden Händen balancierend lehnte Rothen sich in seinem Sessel zurück. „Sonea hatte einige Ideen, wie wir die Novizen behutsam an das Thema Sozialverhalten heranführen können, darunter einige Spiele.“
„Spiele?“, wiederholte Larkin. „Das klingt ungewöhnlich.“
„Sonea und ich waren der Ansicht, dass das eher zum gewünschten Ziel führt, als nur die trockene Theorie zu lernen.“
„Was sich beim Erlernen von Magie als richtig erweist, kann hier nicht falsch sein“, erwiderte Larkin. „Wie genau funktionieren diese Spiele?“
„Nun, da wären einfache Übungen wie, dass die Novizen ihre Kleidung tauschen und dann angewiesen werden, so miteinander zu agieren, wie sie glauben, dass man sich verhält, wenn man jenem Stand tatsächlich angehört“, antwortete Rothen. „Das soll sie für ihr Gegenüber sensibilisieren und ihnen ein Gefühl dafür geben, wie es ist, in der Haut des anderen zu stecken.“
„Ein sehr gewagter Ansatz.“ Der junge Architekturlehrer nahm sich einen Kuchen und biss hinein. „Das wird gewiss für Spannungen sorgen, jedoch auch dazu führen, dass sie sich mit den Vorurteilen gegen ihre gesellschaftliche Klasse auseinandersetzen und diese im Gespräch ausräumen.“
„So war es gedacht“, sagte Rothen. „Bei diesen Übungen ist es wichtig, dass wir beide im Klassenzimmer sind, um Hilfestellungen zu geben und auftretende Konflikte zu lösen. Anschließend sprechen wir mit ihnen über die dabei gemachten Erfahrungen.“ Er trank einen Schluck Sumi. „In anderen Spielen sollen klassische Situationen nachgestellt werden, wie sie sich in der Vergangenheit zwischen Novizen aus unterschiedlichen Klassen ereignet haben. Natürlich unter entsprechend getroffenen Sicherheitsvorkehrungen.“
„Mit oder ohne vertauschte Rollen?“
Rothen lächelte. „Beides.“
Larkin pfiff leise durch die Zähne. „Böse, aber sehr raffiniert. Wenn das die potentiellen Unruhestifter nicht zur Vernunft bringt, dann weiß ich es auch nicht.“
„Die Idee stammt von Sonea“, sagte Rothen. „Ich vertraue ihrem Urteil in dieser Hinsicht.“ Ihre Ideen und Ansichten brachten frischen Wind in die Gilde. Wo andere Magier sich darüber beklagten, empfand Rothen genau das als überfällig. Die Gilde hatte zu lange in ihren konservativen Mustern festgesteckt.
„Ich bin überrascht, dass die höheren Magier das genehmigt haben“, bemerkte Larkin. „Die Idee ist großartig, doch sie beinhaltet auch viel Diskussionspotential.“
„Soneas und meine Argumente waren überzeugender“, erwiderte Rothen lächelnd. Aber wie konnte man auch nicht überzeugend sein, wenn man mit dem einflussreichsten Magier in den Verbündeten Ländern verheiratet war?
Zu schade, dass sie nicht da ist!, dachte er. Gewiss hätte sie gerne miterlebt, wie ihre Ideen bei den Novizen ankamen.
„Und was machen wir, wenn die Novizen durch diesen Kurs erst recht Feindseligkeiten entwickeln?“, fragte Larkin weiter.
Rothen nahm sich die Zeit, über diese Frage nachzudenken. „Ich denke nicht, dass das passieren wird“, sagte er schließlich. „Schließlich sind wir immer zur Stelle, um einzugreifen und klärende Gespräche zu führen.“ Er betrachtete den jungen Lehrer augenzwinkernd. „Außerdem sollten sie uns als Magier respektieren.“
„Das bezweifle ich nicht. Ich frage mich nur: was, wenn sie ihre Feindseligkeiten austragen, wenn wir nicht da sind? Also zum Beispiel nach ihrer Aufnahme außerhalb des Unterrichts?“
Das hatte Rothen nicht bedacht. Er und Sonea waren davon ausgegangen, ihr Plan würde aufgehen. Nicht einmal die höheren Magier hatten Einwände gehabt. Doch sie hatten sich entweder nicht für die Details interessiert oder hatten sich auf den pädagogischen Erfolg konzentriert.
Wenn es dazu kommt, würde das ein schlechtes Licht auf unsere Planung werfen?, fragte Rothen sich jetzt. Würden die Magier die Probleme mit den Novizen darauf zurückführen, dass er und Larkin in dem Kurs nicht hart genug durchgegriffen hatten? Oder würden sie darin die Bestätigung lesen, dass es nicht möglich war, angehende Novizen zu verantwortungsbewussteren Menschen zu erziehen?
„Dieser Kurs ist zugleich auch ein Test“, antwortete er. „Sollte es dazu kommen, werden wir mit den höheren Magiern nach geeigneten Maßnahmen suchen.“
„Man könnte aus der Sozialfähigkeit ein Aufnahmekriterium machen“, überlegte Larkin. „Oder eine Bedingung, damit sie ihren Abschluss machen dürfen.“
„Das werden wir nicht durchbekommen.“ Rothen verstand, dass dies wie Lesen und Schreiben eine Grundvoraussetzung sein sollte, doch die Häuser würden damit niemals einverstanden sein. „Die höheren Magier würden sich nur dafür aussprechen, würden sich solche Fälle häufen.“
„Dann hoffen wir, dass es nicht dazu kommt“, sagte Larkin. „Es ist ein sehr theoretischer Fall. Ich finde jedoch, es kann nicht schaden, sich über diese Möglichkeit Gedanken zu machen.“
„Nein“, stimmte Rothen an die Neuzugänge vom Winter denkend zu. „Das kann es nicht.“
Eine halbe Stunde später war er zurück in seinem Apartment. Farand war inzwischen zu seinem Unterricht verschwunden. Viana saß in einem Sessel und las ein Buch, das Rothen ihr für seinen Alchemieunterricht gegeben hatte, das Frühstück vergessen vor ihr. Der Anblick brachte ihn zum Lächeln. Sie war Sonea ähnlich und doch wieder nicht. Er konnte verstehen, warum sein Sohn in sie verliebt war, und zwar zugleich froh, dass die Ähnlichkeit zu seiner letzten Liebe zu gering war, dass es ihm Sorgen bereitet hätte.
Als er eintrat, legte Viana rasch das Buch beiseite und stand auf. „Lord Rothen“, sagte sie und verneigte sich.
Rothen bedeutete ihr, sich wieder zu setzen. „Du brauchst das nicht machen, wenn wir unter uns sind, Viana“, sagte er.
„Oh“, begann sie errötend. „Aber …“
„Du bist mit meinem Sohn liiert. Auch wenn ich seine Aktionen oft nicht gutheiße, gehörst du damit zur Familie.“
Das Rot auf ihren Wangen vertiefte sich. „Danke, Mylord“, sagte sie. „Das ist sehr freundlich von Euch.“
Rothen winkte ab. „Wie kommst du mit dem Buch vorwärts?“
„Gut“, antwortete sie erfreut.
Er kam nicht umhin zu lächeln. „Hast du dazu Fragen?“
„Jede Menge.“
„Dann komm mit“, sagte er. „Wir gehen in die Universität und suchen uns ein leeres Klassenzimmer. Dann können wir deine Fragen gleich anschaulich besprechen.“
***
Die langen Strecken, die sie Tag für Tag zurücklegten und die Tatsache, dass sie dabei nur zu zweit waren, machten es Sonea schwer, nicht in ihren Grübeleien zu versinken. Es gab viel, über das sie sprechen konnten, doch ebenso vieles, das sie jeder für sich behalten wollten. Oft war der Weg so beschwerlich, dass sie hintereinander reiten mussten und das Sprechen ohnehin unmöglich war.
Wenn Sonea nicht ihre Übelkeit heilte und darüber nachdachte, wie sich ihre Mission auf das Baby auswirken würde, und was Akkarin sagen würde, wenn er nach ihrer Rückkehr davon erfuhr, kreisten ihre Gedanken um Marika und Danyara. Mit ihr ist sogar Marika für mich erträglicher geworden, dachte Sonea. Hatte das den Weg geebnet, dass sie sich dem König von Sachaka am Ende freiwillig hingegeben hatte, oder wäre das mit der Zeit von selbst geschehen?
Obwohl es Sonea danach verlangte, sich jemandem anzuvertrauen, wollte sie weder mit Dannyl darüber sprechen, noch mit Akkarin, wenn sie abends per Blutjuwel kommunizierten. Sie wusste nicht, ob Dannyl es begriffen hätte und ihren Mann wollte sie damit nicht mehr belasten als nötig. Nein, dachte Sonea bitter. Das muss ich mit mir allein ausmachen.
Am letzten Tag, bevor sie auf die Verräter trafen, reisten sie so lange weiter, bis es ohne Licht zu gefährlich wurde. Am Nachmittag hatten sie die letzten Ausläufer der Rachiro-Hügel hinter sich gelassen und den Abstieg in die Ebene begonnen. In einer geschützten Mulde, in der noch ein Rest der Wärme des Tages verweilte, schlugen sie ihr Nachtlager auf.
„Akkarin sagt, die Verräter sind nur noch einen halben Tag von uns entfernt“, sagte sie zu Dannyl. „Morgen früh sollten wir auf sie treffen.“
Mit einem erschöpften Seufzen ließ Dannyl sich auf seine Decke fallen. „Das wird für uns beide eine Erleichterung sein!“
Sonea nickte und erkannte dann, dass er das in der Dunkelheit nicht sehen konnte. „Ja“, sagte sie. „Mit ihnen sollten wir sicher sein.“ Sofern sie nicht auch überfallen werden, fügte sie für sich hinzu.
„Dennoch werde ich dir weiterhin meine Magie geben.“ Seine Hände fanden in der Dunkelheit die ihren und er sandte ihr seine Kraft.
„Das zu tun, ist jedenfalls kein Fehler“, erwiderte Sonea. Sie speicherte die Magie in sich und überprüfte ihre Reserven. Während ihrer Reise waren sie trotz kleiner Einsätze von Magie stetig gewachsen. Was sie hinzugewonnen hatte, würde indes kaum ausreichen, um einen einzigen schwarzen Magier zu töten. Dazu brauchte sie ihre Speichersteine. Dennoch war es ein gutes Gefühl.
In der Dunkelheit konnte sie Dannyls Nähe mehr spüren als sehen. Irgendwie fühlte sich das vertraut und beruhigend an.
„Dannyl“, sagte sie leise in die Schwärze.
„Ja?“
„Danke, dass du mich nicht verurteilst.“
„Wieso sollte ich dich verurteilen?“, fragte er. „Du warst in einer Situation, aus der es keinen Ausweg gab. Es ist nur natürlich, dass du dich angepasst hast. Du hast versucht, dich zu schützen. Jemand, der dich dafür verurteilt, begeht einen schweren Fehler.“
„Ich meinte wegen Danyara.“
„Ah“, machte er.
„Meine Beziehung mit Danyara wäre in Kyralia höchst skandalös gewesen.“ Sie schüttelte den Kopf. Selbst jetzt, zwei Jahre später, verstand sie es nicht. „Aber für mich hat es sich natürlich angefühlt. Und richtig.“
„Weil es natürlich ist, Sonea“, erwiderte er überraschend sanft.
„Andere würden das nicht verstehen.“ Sie brauchte nur an Rothen denken, ihre Freunde – abgesehen von Luzille vielleicht – oder den kompletten Rest der Gilde.
Dannyl entfuhr ein kaum hörbares Seufzen. „Sonea, niemand versteht besser als ich, was du empfindest.“
„Ich weiß, da war diese Sache mit dem anderen Novizen“, sagte sie. „Aber das war doch nur ein Gerücht.“ Sie kannte Dannyl als lieben und einfühlsamen Menschen. Aber sie fand nicht, dass er sich auf Grund von Anschuldigungen, die einst gegen ihn erhoben worden waren, ein Urteil darüber machen konnte, was sie für Danyara empfunden hatte.
„Sonea, ich bin ein Knabe.“
Sonea brauchte einen Augenblick, um seine Worte zu begreifen. Auch ohne den Begriff Knabe in diesem Zusammenhang je gehört zu haben, wusste sie sofort, was es bedeutete.
„Aber …“, begann sie. „Das kann nicht … wie kann das sein?“
Sie wollte glauben, dass er sie nur auf den Arm nahm, doch der Ernst in seiner Stimme sagte ihr, dass es die Wahrheit war. Und irgendwie wusste sie, dass es stimmte. Sein Desinteresse an Frauen und die Tatsache, dass er mit Mitte dreißig trotz seiner Attraktivität noch immer unverheiratet war – mit einem Mal ergab alles einen Sinn.
„Ich war es schon immer.“
Sonea konnte noch immer nicht begreifen, was er ihr da offenbarte. „Also ist diese Geschichte mit dem anderen Novizen wahr?“
„Ja“, sagte er leise. „Hinterher habe ich alles abgestritten. Die Gilde hätte mir sonst nicht erlaubt, meinen Abschluss zu machen. Ich war gezwungen, mich von diesem Novizen zu trennen und habe sehr darunter gelitten. Noch mehr habe ich jedoch darunter gelitten, wie mich meine Lehrer und die anderen Novizen behandelt haben.“ Er machte eine kleine Pause. „Deswegen kann ich gut verstehen, was du in deinem ersten Jahr durchlitten hast.“
Sonea lächelte unwillkürlich. „Aber warum erzählst du das ausgerechnet mir?“
„Weil ich denke, es könnte dir bei deinem eigenen Konflikt helfen, zu wissen, dass du nicht allein mit deiner Situation bist. Und weil mir deine Geschichte mit dieser Danyara zeigt, dass du verstehst.“
„Ich könnte dich niemals verurteilen, Dannyl“, sagte Sonea sanft. Sie runzelte die Stirn. „Selbst, wenn ich Danyara nie gekannt hätte, könnte ich das nicht.“ Aus irgendeinem Grund war es leichter, andere nicht zu verurteilen, als sich selbst. Es war ihr gleich, ob Dannyl Männer oder Frauen liebte – wer wusste schon, was natürlich war und was nicht?
Seine Stimme klang seltsam ironisch, als er antwortete. „Das ist mir jetzt auch bewusst.“
„Aber das muss doch entsetzlich für dich sein, nicht wahr?“, fragte sie. „Du darfst keine Beziehung führen, weil die Gilde dich sonst deiner Ämter berauben würde.“ Wie entsetzlich musste es sein, nicht mit dem Menschen den man liebte zusammen zu sein, nur weil man etwas war, das in den Augen der Gilde pervertiert war!
„Das ist richtig“, sagte er. „Doch das hält mich nicht davon ab, trotzdem eine zu führen.“
Sie starrte den dunklen Schemen, der Dannyl war, an. „Du hast einen … Gefährten?“
„Ja“, antwortete er nur. „Seit vier Jahren.“
„Und das hat noch niemand bemerkt?“, entfuhr es ihr.
Ein leises, fast schon durchtriebenes Lachen erklang. „Nun, die Magier erfreuen sich hin und wieder an neuen Gerüchten über uns, doch bis jetzt haben wir ihnen keine Gelegenheit geboten, sie zu verifizieren.“
Und dann begriff Sonea. Mit einem Mal wurden ihr viele kleine Seltsamkeiten klar, die sie all die Jahre über als enge Männerfreundschaft abgetan hatte. All die Blicke, die übertriebene Besorgnis um den anderen, Scherze, die in Wirklichkeit Flirtereien gewesen waren. Sie verstand sogar das Verhalten der beiden an jenem Abend im Palastgarten. Nach Danyara hätte sie das erkennen müssen, doch sie war zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt gewesen, um Augen dafür zu haben.
„Es ist Tayend“, sagte sie.
„Wie hast du es erraten?“, fragte er überrascht.
„Es war nicht schwer, wenn man die Anzeichen kennt. Aber ich glaube, die anderen Magier sind dafür blind, sofern sie nicht aktiv danach suchen, weil sie ein Thema zum Tratschen brauchen.“
Dannyl pfiff leise durch die Zähne. „Unglaublich“, hörte Sonea ihn murmeln.
„Dannyl?“
„Ja?“
„Ich finde, ihr zwei seid ein tolles Paar.“
„Ist das so?“, fragte er. „Wieso findest du das?“
Sie hob die Schultern, obwohl er das nicht sehen konnte. „Ich sehe es daran, wie ihr miteinander umgeht. All die Jahre habe ich es nur für eine sehr tiefe Freundschaft gehalten, aber wenn man es weiß, dann ist es ganz offenkundig. Ich finde, ihr zwei geht wirklich wundervoll miteinander um.“
Dannyl schwieg. Zuerst dachte Sonea, er brauchte nur Zeit, um ihre Worte zu begreifen, doch als sich das Schweigen zwischen ihnen ausdehnte, begann sie sich zu fragen, ob sie vielleicht etwas Falsches gesagt hatte. Was, wenn es ihm unangenehm war, dass sie so über seine Beziehung sprach?
Sie wollte schon den Mund öffnen, und sich entschuldigen, als Dannyl zu sprechen begann.
„So etwas hat noch nie jemand zu mir gesagt“, sagte er kaum hörbar. Die Überwältigung in seiner Stimme war indes umso lauter in der Nacht.
„Weiß denn niemand über euch bescheid?“
„Insgesamt wissen nur fünf Menschen davon. Nun, mit dir sind es nun sechs. Drei sind sehr enge Freunde von uns in Elyne, bei denen wir uns nicht verstecken müssen. Dann ist da Tayends Cousin, bei dem er immer absteigt, wenn ich nach Imardin reise – und dein Mann.“
Sonea starrte auf seine Silhouette. „Akkarin?“, entfuhr es ihr.
„Er wusste es von Anfang an.“
„Aber …“
„Frag mich nicht wie, Sonea. Er wusste es einfach.“
Natürlich!, dachte sie. Entweder Dannyls Oberflächengedanken hatten es ihm entgegengeschrien oder Akkarin hatte er mit seiner schon fast unheimlichen Beobachtungsgabe erraten. Und es war so typisch für ihn, dass er sie nicht eingeweiht hatte!
„Was ist mit Rothen?“, fragte sie. „Er ist dein engster und ältester Freund.“
„Rothen wäre sehr enttäuscht von mir“, sagte Dannyl leise. „Er hat sich damals sehr für mich eingesetzt. Rothen ist ein feiner Mensch, aber er würde es nicht verstehen. Es würde ihn zerbrechen.“
Sonea erschauderte und wusste, dass er recht hatte. Aus diesem Grund hatte sie ihm auch nie von Danyara erzählt, wie ihr plötzlich bewusst wurde – und nicht, weil diese Offenbarung unweigerlich zu Marika führen würde. Zudem würde jeder, dem sie das erzählte, denken, dass sie schnell über Akkarin hinweggekommen war. Und das, obwohl sie noch heute unter den Folgen litt, ihn ein halbes Jahr lang für tot gehalten zu haben.
„Das ist wirklich traurig, Dannyl“, sagte sie.
„Es liegt weder an uns noch an ihm“, erwiderte er sanft. „Kyralia ist noch nicht bereit für eine solche Wahrheit.“
„Aber in Elyne ist es doch erlaubt“, wandte sie ein.
„Und in Lonmar wird gleichgeschlechtliche Liebe mit Hinrichtung bestraft.“
Soneas Eingeweide zogen sich zusammen. Sie sog leise die Luft ein und schwieg.
„Sonea, es ist egal, wie es in anderen Ländern ist. Die Gilde verbietet es. Jahrelang konnte ich nur existieren, indem ich es weggeheilt habe.“
„Man kann nicht wegheilen, was man ist, Dannyl.“
„Aber man kann es unterdrücken.“
Sie hob den Kopf. „Hat es dir geholfen?“
„Es hat immerhin bewirkt, nichts zu fühlen“, antwortete Dannyl. „Aber ich hätte nicht ewig so weitermachen können.“
„Und dann hättest du niemals Tayend gefunden.“
„Ja“, sagte er nur. In der Dunkelheit war seine Stimme voll mit Wärme.
„In Sachaka ist es auch verboten“, sagte Sonea. „Aber ich glaube, es kommt auf den gesellschaftlichen Stand an und auf die Macht, über die jemand gebietet. Ein sehr mächtiger schwarzer Magier wird sich nicht hinrichten lassen.“
Dannyl nickte. Etwas Ähnliches hatte Asara ihm einst erzählt. „Und Marika hat dich nicht bestraft, weil du als seine Lieblingssklavin jemanden neben ihm begehrt hast?“
„Nein.“ Sonea schüttelte den Kopf, als sie daran zurückdachte. Marika war wütend gewesen, weil sie und Dany hinter seinem Rücken zusammengekommen waren, doch er war nicht wütend über ihr Verhältnis gewesen. Er war lediglich der Meinung gewesen, dass Sonea es nicht verdient hatte, sich ohne seine Erlaubnis auf Dany einzulassen, während es ihm zwischen Dany und jeder anderen Sklavin nicht gestört hätte. „Es hat ihm gefallen. Für Danyara hatte er sogar schon seit Jahren nach einer Gefährtin gesucht. Aber er war König. Er konnte tun und lassen, was ihm gefiel.“
Dannyl unterdrückte ein Kichern. „So, wie der Hohe Lord.“
Sonea lachte. „Anscheinend haben alle mächtigen Männer das gemein!“ Ah, wenn sie sich doch nur darin ähnlich gewesen wären!
Vor ihr begann Dannyl zu gähnen.
„Es ist spät“, sagte sie. „Du solltest schlafen.“
„Du hast recht“, erwiderte er. Sie hörte das Rascheln von Stoff und sie nahm an, dass er sich in seine Decke wickelte. „Gute Nacht, Sonea. Weck mich, wenn meine Schicht beginnt.“
„Das mache ich. Gute Nacht.“
„Dannyl?“
„Ja?“
„Kannst du mir zeigen, wie du dich damals geheilt hast?“
„Sonea“, begann er mahnend. „Verdrängung ist keine Lösung.“
„Ich weiß“, sagte sie. „Es soll auch nur sein, bis wir wieder zuhause sind. Ich kann das nicht brauchen. Nicht, wenn ich dich beschützen soll.“
Dannyl schwieg eine Weile. „Also gut“, sagte er, als Sonea zu befürchten begann, er würde sich weigern. „Aber nicht mehr heute.“
„Bis morgen werde ich überleben“, erwiderte sie trocken. „Und danke.“
Nachdem er sich zur Ruhe gelegt hatte, erhob Sonea sich und schritt leise im Lager auf und ab. Hätte sie schlafen wollen, so wäre ihr das schwergefallen, weil ihr Kopf voll Gedanken war. Dieses Mal kreisten sie jedoch weder um Marika, Danyara, Akkarin oder ihre unerwartete Schwangerschaft, sondern um den Mann, der mit einem Mal zu ihrem Freund geworden war.
Diese Reise hatte sie und Dannyl einander auf eine ungeahnte Weise nähergebracht. Sonea hätte sich nie träumen lassen, bei einem anderen Menschen als Akkarin auf so viel Verständnis zu stoßen. Dannyl war ihr mit seiner unkonventionellen und unkomplizierten Art gar nicht so unähnlich. Allerdings gab es Dinge, die sie selbst ihm nicht erzählte, und von denen nur sie und Akkarin wussten. Obwohl sie überzeugt war, Dannyl würde es verstehen, war das nichts, was sie von sich preisgeben wollte. Und bei ihm war es gewiss nicht anders.
Trotzdem tat es gut, auf dieser Reise einen Freund gefunden zu haben.
Sonea richtete ihren Willen auf ihren Blutring.
- So, du hast mir verschwiegen, dass Dannyl und Tayend ein Paar sind?
Die Antwort kam sofort.
- Ich habe es dir nicht erzählt, weil diese Angelegenheit vertraulich war.
- Ich hätte es für mich behalten. Akkarin, du kennst mich. Du weißt, dass ich es getan hätte. Aber dann hätte ich mich den beiden gegenüber entsprechend verhalten können.
- Was ihnen unnötiges Unbehagen bereitet hätte.
Er hatte recht, wie Sonea sich widerwillig eingestehen musste. Dennoch fand sie, er hätte es ihr sagen sollen. Es war schließlich kein Geheimnis, von dem Kyralias Sicherheit abhing.
- Gibt es etwas Neues aus der Gilde?
- Lord Sarrin und ich hatten heute unsere erste Runde in der Arena.
Sonea runzelte verwirrt die Stirn. Das wöchentliche Training mit den Kriegern war nach ihrer Abreise eingestellt worden. Dafür widmete sich Akkarin umso intensiver dem Schilddieb-Projekt. Obwohl es sie schmerzte, dies zu verpassen, hatte sie dem zugestimmt, weil es besser war, auf ein Scheitern der Verhandlungen vorbereitet zu sein. Dass er und Sarrin nun in die Arena gingen, war neu. Waren sie mit ihrer Forschung in eine Sackgasse geraten?
- Du und Sarrin?, fragte sie. Warum?
- Dein Freund Regin hielt es für eine gute Idee, die wöchentlichen Übungskämpfe mit uns beiden fortzuführen, sollte Kyralia in deiner Abwesenheit angegriffen werden. Angesichts der beunruhigenden Nachrichten, die ich von Savedra erhalten habe und des Anschlags halte ich dies für das Beste.
Das macht Sinn, dachte Sonea. Auch wenn sie nicht austauschbar sein wollte, so musste sie zugeben, dass dies eine gute Entscheidung war. Sie konnte jedoch spüren, dass das nicht der einzige Grund war, aus dem er diesen Schritt unternommen hatte. Und das erfüllte sie mit einer wachsenden Unruhe.
- Was verschweigst du mir?, verlangte sie zu wissen. Sag es mir.
Akkarin wurde so still, dass sie zu glauben begann, er habe sich wieder zurückgezogen.
- Regin hat mich auf eine Tatsache aufmerksam gemacht, die ich offenkundig zu ignorieren vorgezogen habe.
- Welche?, fragte Sonea mit angehaltenem Atem.
- Dass du dieses Mal nicht zurückkehren könntest.
In seiner mentalen Stimme lag eine solche Qual, dass Sonea unwillkürlich zusammenzuckte. Sie ahnte, dass er das vor ihr zurückgehalten hätte, hätte Regin es ihm nicht mit seinen Ideen vor Augen geführt. Sie erhielt das Gefühl, dass er dies sogar vor sich selbst verdrängt hatte, weil die Vorstellung, sie erneut zu verlieren, zu entsetzlich war.
Zum ersten Mal begriff sie nicht nur, wie er das halbe Jahr ihrer Gefangenschaft empfunden hatte, sondern auch, dass er diese Zeit ähnlich wie sie gerade zum zweiten Mal durchlebte.
- Du weißt, dass ich dir nur versprechen kann, alles zu tun, damit ich zurückkehre.
- Ja, war alles, was er darauf sagte. Die plötzliche Flut von Gedanken und Gefühlen raubte Sonea jedoch fast den Atem.
***
Sie räumten ihr Lager in völliger Dunkelheit. Dannyl glaubte, nur einen Augenblick geschlafen zu haben, als Sonea ihn weckte. Sich den Schlaf aus den Augen reibend, rollte er seine Decke zusammen. Im Dunkeln musste er eher nach seinem Gepäck tasten, als dass er es sehen konnte, als er von seiner Kaufmannskluft in Magierroben wechselte. Auch Sonea war nicht allzu gesprächig und er konnte sie über die Schärpe ihrer Robe fluchen hören. Dannyl wusste jedoch, dass ihr Körper am Morgen vermehrt auf die Schwangerschaft reagierte und sie mit Übelkeit zu kämpfen hatte.
Sie verstauten ihre Decken wieder im Gepäck und befestigten es an ihren Pferden. Als sie aufsaßen und die kleine Mulde verließen, war am Horizont über der fernen Ebene ein erster Streifen Silber zu sehen.
Während sie ritten, wurde dieser Streifen allmählich breiter und breiter, und alsbald lösten sich daraus ein Streifen dunkles Blau und einer in einem kräftigen, feurigen Rot. Noch viel später erstrahlte zwischen ihnen ein Streifen aus Gold. Nur wenig später leuchtete an der Stelle, wo die luftige Weite des Himmels auf die karge Weite der Ödländer traf, ein kräftiges Orange auf, als sich die Scheibe der Sonne über den Rand der Welt schob.
Unter ihnen lagen die flacheren Täler noch in tiefen Schatten, die jedoch allmählich kürzer wurden, als die Sonnenstrahlen in ihre kühlen Tiefen krochen.
Das ist wunderschön, dachte Dannyl. Er wandte seinen Kopf zu Sonea. Ihr Gesicht war ungewöhnlich ernst und er glaubte, darin zugleich Zeichen von Faszination und Anspannung zu lesen. Im ersten Licht des Tages wirkten ihre blassen Wangen indes ein wenig lebendiger.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er.
„Ja, Dannyl.“ Sie wandte den Kopf. Ihre Augen schimmerten seltsam.
Er atmete innerlich auf. Wäre etwas mit ihrer Eskorte gewesen, so hätte sie es ihm gesagt. Zugleich ahnte er jedoch, dass sie ihm etwas verschwieg.
„Möchtest du darüber reden?“
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht.“
Während der nächsten Minuten ritten sie schweigend den Hang hinab. „Wir werden die Eskorte in ungefähr einer Stunde am Rande der Ebene treffen“, teilte sie ihm plötzlich mit.
Dannyl horchte auf. „Hat Akkarin das gesagt?“
Sie nickte.
„Hat er auch etwas darüber gesagt, ob die Gegend sicher ist?“
„Sie war es gestern Abend, also wird sie es heute auch noch sein. Hier lebt nicht viel, Dannyl.“ Sie runzelte die Stirn und fuhr dann fort: „Mach dir keine Sorgen. Für den Moment sind wir in Sicherheit.“
Also bis Yukai, übersetzte er für sich. Doch auch er dachte seit dem Anschlag anders über die Verhandlungen. Waren sie erst einmal dort, so würden sie trotz aller diplomatischen Grundregeln in Gefahr sein. Das hatte eine Versammlung verfeindeter Gruppen so an sich, insbesondere wenn es sich bei ihnen um schwarze Magier handelte, von denen die meisten barbarischen Kulturen entstammten. Im Tempel mochten sie sich an das Verbot von Gewalt halten, doch das würde sie nicht davon abhalten, in der Wüste aufeinander loszugehen.
„Ich mache mir eher Sorgen um dich“, entgegnete er vorsichtig.
Ihre Augen verengten sich. „Es geht mir gut, Dannyl. Ich habe nicht viel geschlafen, aber verglichen mit den letzten zwei Wochen geht es mir sehr viel besser.“ Sie lächelte unwillkürlich. „Wir werden gleich auf die Verräter treffen.“
Entweder das ist wieder so etwas, worüber sie nicht sprechen will oder sie ist wegen ihrer Schwangerschaft gereizt, fuhr es Dannyl durch den Kopf. Er entschied, es dabei zu belassen. Sie würde sich ihm anvertrauen, wenn sie das Bedürfnis dazu verspürte. Seit der Nacht, in der sie ihm von ihrer Zeit als Marikas Sklavin erzählt hatte, tat sie das, wenn auch indirekt. Aber da waren auch Dinge, die sie offenkundig nicht zu erzählen gewillt war.
„Dannyl, kannst du mir vielleicht ein paar Tipps geben, wie ich mich den Verrätern gegenüber am Besten verhalte?“, fragte sie plötzlich. „Ich bin zwar vor einem Monat einer kleinen Gruppe in den Bergen begegnet, aber es war in einem Kampf.“
Dannyl dachte über ihre Worte nach. „Eigentlich ist es ganz einfach“, sagte er dann. „Sie legen keinen Wert auf Förmlichkeiten. Es genügt ihnen, wenn man ihnen mit dem üblichen Respekt gegenüber einer anderen Person begegnet. Sprich sie niemals mit ’Lady’ an und wundere dich nicht, wenn sie dich nicht so nennen. Sie finden das albern. Nur ihre Anführerin wird mit ihrem Titel angesprochen, ihr werden wir jedoch nicht begegnen. Und sie haben es gerne, wenn man beim Sprechen den Blickkontakt hält.“
„Weil ihr Volk aus ehemaligen Sklaven entstanden ist und sie sich von dem distanzieren wollen, was sie bekämpfen“, folgerte Sonea.
„So ist es.“
„Nun, das ist einfacher, als die Förmlichkeiten innerhalb der Gilde oder bei den Sachakanern“, bemerkte sie. „Was ist mit ihren Novizen oder Schülern? Wird zwischen ihnen und den fertig ausgebildeten Magierinnen unterschieden?“
Dannyl schüttelte den Kopf. „Sie begegnen den Magierinnen insofern mit größerem Respekt, dass sie ihre Vorbilder sind, doch sie werden in keiner Form herablassend behandelt.“ Er schenkte Sonea ein aufmunterndes Lächeln. „Sei einfach du selbst und du wirst bei ihnen nicht viel falsch machen können.“
Sie begegnete seinem Blick. „Dann kann es ja nur schiefgehen.“
„Nicht, wenn du dein Messer in deinem Gürtel behältst!“
Eine Stunde später hatten sie den Abstieg geschafft und den letzten Hügel hinter sich gelassen. Ihre Augen mit einer Hand gegen die noch immer schrägstehende Sonne abgeschirmt, suchte Sonea die Ebene ab.
„Da sind sie“, sagte sie und deutete auf einen Punkt nordöstlich von ihnen.
Dannyl folgte ihrem Blick und entdeckte eine Staubwolke, innerhalb der sich sechs Reiter bewegten, die rasch näherkamen.
„Bist du sicher, dass es unsere Verbündeten sind?“
Ihr Blick glitt ins Leere, dann lächelte sie. „Ja.“
Während sie auf die Reiter zuhielten, wurde Sonea zusehends angespannter, während sie zugleich von Vorfreude erfüllt schien. Als die Details der Gestalten zu erkennen waren und Sonea jede von ihnen mit dem seltsamsten Gesichtsausdruck musterte, der sich von Freude immer mehr in Enttäuschung verwandelte, glaubte er zu wissen, was in ihr vorging.
„Sie ist nicht dabei, nicht wahr?“, fragte er behutsam.
Sie schüttelte den Kopf. „Weißt du, das Verrückte ist, dass ich enttäuscht bin, obwohl ich tief in mir wusste, sie würde der Delegation nicht angehören.“
Dannyl nickte verständnisvoll. „Mir wäre es nicht anders ergangen“, sagte er. „Aber vielleicht ist es besser so.“
Ihre dunklen Augen begegneten seinen. Obwohl sie traurig wirkte, war sie seltsam gefasst. „Du hast recht“, sagte sie entschlossen und ihre Miene verhärtete sich. „Das ist es.“
***
Fragen zum Kapitel:
Habt ihr generell mit dieser Reaktion von Dannyl auf Soneas Geschichte gerechnet?
Wie spricht Sonea über Marika bzw. wie steht sie zu ihm? Wie wirken sich die hochkommenden Erinnerungen auf ihre Einstellung zu Akkarin aus? Und wird dies von ihrer ’dunklen Seite’ beeinflusst?
Was erfahrt ihr in der Rückblende über Marika?
Ist es richtig, dass Sonea Akkarin ihre Schwangerschaft vorerst verschweigt? Was glaubt ihr, wie würde er wirklich reagieren?
Ist Kachiros Reaktion angemessen oder hätte er Ivasako bestrafen sollen? Wie schlägt Ivasako sich bei dem Gespräch?
Was haltet ihr von Rothens und Soneas Idee für den Benimmkurs?
Wie gehen Sonea und Dannyl mit dem jeweiligen Outing des anderen um?
Im nächsten Kapitel kämpft Sonea weiter mit den Dämonen ihrer Vergangenheit, Dorrien macht Unsinn, Rothen darf sich von seiner großväterlichen Seite zeigen und Ivasako geht auf eine Cachika^^