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Die Bürde der schwarzen Magier III - Das Heiligtum von Yukai

Kurzbeschreibung
GeschichteAbenteuer, Fantasy / P18 / Mix
Hoher Lord Akkarin Lord Dannyl Lord Dorrien Lord Rothen Regin Sonea
02.08.2016
04.06.2019
56
813.938
87
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Dieses Kapitel
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07.02.2017 16.571
 
Hallo ihr Lieben,

herzlich willkommen zu dem Kapitel, das dieser Geschichte nicht nur ihren Namen gibt, sondern zentral ist, weil es einige große Weichung in Richtung dessen, was in den nächsten Wochen und Monaten kommt, stellt.

Ganz lieben Dank an Lady Kadala und Sabrina Snape für ihre Reviews zum letzten Kapitel, sowie für die neuen Empfehlungen <3




***



Kapitel 13 – Ihre schwerste Entscheidung



Als die Gildentore aufschwangen und die Wachen zurücktraten, um die Überreste der zwölf Reiter, die zwei Wochen zuvor zum Südpass aufgebrochen waren, durchzulassen, atmete Sonea innerlich auf. In der ganzen Zeit seit ihrer Abreise hatte sie genau eine einzige Nacht geschlafen, nur einmal hatte sie Gelegenheit gehabt, ein Bad zu nehmen und ihre Robe zu wechseln. Sie fühlte sich müde, ausgelaugt und schmutzig und seltsam leer. Fünf Krieger hatten ihr Leben gelassen, um die Ichani aufzuhalten, darunter einer ihrer ehemaligen Lehrer, den sie sehr geschätzt hatte.

Die Bedeutung dessen hatte sie erst zu begreifen begonnen, als sie die Berge hinter sich gelassen hatten.

Auf den Stufen vor der Universität hatte sich eine Gruppe von Magiern versammelt. Sonea entdeckte Administrator Osen, Lady Vinara, Lord Peakin und Rothen, der ein kleines Bündel auf dem Arm trug. Als sie erkannte, was es war, machte ihr Herz einen Sprung. Neben ihrem Ziehvater stand eine zierliche Frau mit goldblonden Locken in einem sommerlichen Kleid.

Zusammen mit Akkarin hielt sie auf die kleine Gruppe zu. Balkan folgte ihnen zusammen mit den zwei Kriegern, die nicht in den Bergen geblieben waren, um den Bewohnern von Wildwasser beim Aufbau eines neuen Dorfes zu helfen.

Vor den Stufen zügelte der Hohe Lord sein Pferd und schwang sich in einer eleganten Bewegung aus dem Sattel. Sonea beeilte sich, es ihm nachzutun. Gemeinsam schritten sie auf die höheren Magier zu.

Ein Aufschrei hallte über den Platz.

„Mein kleiner, brummiger Bovar!“

Luzille löste sich von Rothens Seite und stürmte auf ihren Mann zu, der sie auffing und emporhob. Sonea warf Akkarin einen vielsagenden Blick zu und richtete ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf ihr Empfangskomitee.

„Hoher Lord, Lady Sonea“, sagte Administrator Osen. „Willkommen zurück.“

„Ich danke Euch Administrator“, erwiderte Akkarin.

„Die Gilde bedauert die erlittenen Verluste und dass die Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen wurde.“

„Lord Vorel und seine Gruppe haben tapfer gekämpft. Wie die Zerstörung des Dorfes war es ein tragischer Unfall.“

„Es war ein unglücklicher Zufall, dass die Ichani von ihrer Route abgewichen sind“, sagte Osen. „Wir können von Glück sagen, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist.“ Er wandte sich zu Balkan und den beiden Kriegern, die inzwischen nähergekommen waren, und begrüßte auch sie.

Das Oberhaupt der Heiler und das der Alchemisten traten vor, um Sonea und Akkarin willkommen zu heißen. Dann fand Sonea sich ihrem Ziehvater gegenüber.

„Ich bin so froh, dass ihr beide lebend zurückgekommen seid“, sagte er heiser und umarmte sie.

Er muss sich entsetzliche Sorgen gemacht haben, dass die Sachakaner mich erneut entführen, erkannte Sonea in einem Anflug von Schuldgefühl. In seinen Berichten hatte Takan ihr und Akkarin das verschwiegen. Oder Akkarin hatte dieses Detail zurückgehalten, damit sie sich nicht zu sehr grämte.

Als sie Rothen näher betrachtete, sah sie, dass er müde wirkte. „Akkarin und ich haben schon gegen eine größere Anzahl von schwarzen Magiern gekämpft“, beruhigte sie ihn. „Dieses Mal waren es nur sieben. Ich habe nur einmal mein Messer gebraucht.“

Ihr ehemaliger Mentor schenkte ihr ein schiefes Lächeln. „Ich hätte mir auch Sorgen gemacht, wäre es nur einer gewesen.“ Er reichte Sonea ihren Sohn. „Und Lorlen hat dich auch sehr vermisst.“

Sonea nahm das Baby entgegen und drückte es an sich. „Hallo mein kleiner Schatz“, flüsterte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich habe dich auch ganz fürchterlich vermisst.“

Lorlen gluckste und streckte seine pummeligen Ärmchen nach den Flechten in ihrem Haar aus. Unter anderen Umständen hätte Sonea ihn davon abgehalten, aber sie hatte ihn so sehr vermisst, dass es ihr egal war, ob er ihr Haar von den höheren Magiern durcheinanderbrachte.

„War er denn auch brav?“, fragte sie.

„Lorlen ist ein absolut vorbildliches Baby“, erwiderte Rothen ernsthaft.

Sonea betrachtete ihn mit schmalen Augen. Sie glaubte ihm kein Wort. „Wenn du das so sagst, dann kann es nur so gewesen sein“, bemerkte sie. Dann sah sie sich um. „Wo sind meine Freunde?“

„Lady Trassia ist im Krankenhaus in der Stadt“, teilte Lady Vinara ihr mit. „Lord Regin unterrichtet gerade eine von Balkans Klassen in der Arena.“

Natürlich!, dachte Sonea. Durch ihren unfreiwilligen Ausflug in die Berge hatte sie jegliches Gefühl für Zeit und das Leben in der Gilde verloren.

Sie sah zu Akkarin. Als ihre Blicke einander begegneten, bedachte er sie mit einem Halblächeln.

„Gib mir Lorlen.“

Sie reichte ihm seinen Sohn. Der Hohe Lord hob ihn empor und setzte seine Unterhaltung mit dem Administrator und den Oberhäuptern der Disziplinen fort. Versonnen beobachtete Sonea, wie Lorlen seine pummeligen Ärmchen um den Hals seines Vaters legte und dann ganz ruhig wurde, und fragte sich, wie es Akkarin gelang, selbst mit einem Baby auf dem Arm ehrfurchtgebietend und würdevoll aufzutreten.

„Savedra und Kachiro sind dabei sich auf diplomatische Verhandlungen zu einigen“, teilte er den höheren Magiern mit. „Die Duna sind wahrscheinlich bereit, sich dem anzuschließen. Es ist jedoch unklar, ob die Ichani-Gruppen der ehemaligen Verräter und Ashaki dabei mitmachen.“

„Das ist nichtsdestotrotz ein großer Fortschritt“, erwiderte der Administrator. „Die Sachakaner können anschließend immer noch entscheiden, wie sie mit den Ichani verfahren. An dem eigentlichen Konflikt haben sie keine nennenswerte Beteiligung.“

„Ich bin ganz Eurer Meinung.“

„Und wie genau sollen diese Verhandlungen ablaufen?“, fragte Lady Vinara.

„Das steht noch nicht fest. Savedra hat mir bis morgen detailliertere Informationen zugesichert.“

„Dann schlage ich vor, wir beraten uns morgen“, sagte Osen.

Lady Vinara musterte Akkarin und Sonea mit ihren grauen Augen, dann fiel ihr Blick auf das Oberhaupt der Krieger und seine Frau. „Morgen früh genügt völlig, Hoher Lord. Für den Rest des Tages solltet Ihr Euch ausruhen. So wie ich Euch kenne, habt Ihr seit Eurem Aufbruch nicht geschlafen.“

„Ich fürchte, Ihr kennt mich zu gut“, sagte Akkarin trocken.

Das Oberhaupt der Heiler schien zufrieden. Sonea wusste jedoch, dass er nicht den Rest des Tages mit Schlafen verbringen würde. Ebensowenig wie sie. Bis auf die Nacht im Fort hatten sie in den letzten zwei Wochen nicht eine Stunde für sich gehabt. Dabei brauchte sie seine Nähe nach der Konfrontation mit den Ichani mehr denn je. Und sie wollten beide Zeit mit Lorlen verbringen.

„Hoher Lord, welche Magier soll ich über die Besprechung informieren?“, fragte Administrator Osen.

„Nur die Oberhäupter der Disziplinen und die Studienleiter.“

„Also wünscht Ihr keine Gildenversammlung?“

„Das würde die Entscheidungsfindung nur erschweren. Die Gilde wird informiert, sobald feststeht, welche Position wir in den Verhandlungen einnehmen.“

Der Administrator neigte den Kopf. „Wie Ihr wünscht, Hoher Lord“, sagte er unterwürfig und mit einer Professionalität, aus der seine Verachtung nur herauszulesen war, wenn man davon wusste. Sonea erinnerte sich, dass er seine Abneigung offener gezeigt hatte, als die Gilde sie und Akkarin wieder aufgenommen hatte und Akkarin nur Leiter der schwarzmagischen Studien gewesen war. Sie wusste, Osens Reaktion hing auch mit seiner Zuneigung zu ihrer Person zusammen. Wahrscheinlich glaubte er, sie habe den falschen Mann geheiratet und dass Akkarin sie verdorben hatte. Aber das war nicht richtig. Sonea hatte freiwillig schwarze Magie gelernt und er hatte ihr nur geholfen, Seiten an sich zu entdecken, deren Existenz sie vor ihm nicht einmal erahnt hatte.

Akkarin legte eine Hand zwischen Soneas Schulterblätter. „Meine Frau und ich ziehen uns nun zurück“, sagte er. „Wir sprechen uns morgen.“

Sie verabschiedeten sich von Rothen und den höheren Magiern und schlugen den Weg zur Residenz des Hohen Lords ein.

„Gib mir Lorlen“, sagte Sonea, als sie außer Hörweite der Universität waren. „Du hattest ihn die ganze Zeit.“

Akkarins Mundwinkel zuckten. „Das ist eine maßlose Übertreibung, Sonea“, sagte er. Dennoch reichte er ihr das Baby zurück.

Sonea nahm es entgegen und drückte es an sich. Vor Akkarin hätte sie das nie zugegeben, aber insgeheim fühlte sie sich schuldig, weil sie ihren kleinen Sohn zwei Wochen allein gelassen hatte.

„Was hältst du davon, wenn wir jetzt alle drei ein Bad nehmen?“

Akkarin runzelte die Stirn. „Du meinst, mit dem Baby?“

„Wieso nicht?“ Dachte er, sie würde etwas Unanständiges im Beisein ihres Sohnes machen wollen? „Wir können dabei ein wenig mit ihm spielen. Und wenn er dann endlich müde ist, holen wir beide das nach, was wir zwei Wochen lang aufschieben mussten.“

Er musterte sie mit einem vielsagenden Seitenblick. „Nun, wenn du das so formulierst, kann ich schwerlich nein sagen.“


***


Das hellrote Licht der aufgehenden Sonne berührte sachte die Spitzen der Berge, als Asara ihr Quartier verließ und durch die Tunnel des Heimatberges in die höheren Ebenen stieg. Es war weit nach Mitternacht gewesen, als sie und ihre Schwestern mit ihrer Beute die Zuflucht erreicht hatten. Savedra hatte sie in der großen Eingangsgrotte empfangen. Nach einer kurzen, aber herzlichen Begrüßung hatte sie Asara und ihre Schwestern zu Bett geschickt, während andere Schwestern Takedo abgeführt hatten, um seine Kräfte zu blockieren und ihn ins Loch zu werfen, wo er von zwei Magierinnen bewacht wurde.

Obwohl sie nur wenige Stunden geschlafen hatte, fühlte Asara sich ausgeruhter, als während der vergangenen Wochen, in denen sie allenfalls eine oder zwei Stunden auf einem unbequemen Untergrund gedöst hatte. Während ihres Gewaltritts zur Zuflucht, bei dem sie weder Pferde noch Reiter geschont hatten, hatte sie einige Angelegenheiten in Arvice per Blutjuwel geregelt. Vikacha war es auf der Party der politisch einflussreichen Ashaki gelungen, Kontakt zwischen Mivara und Ashaki Tarko herzustellen. Vor zwei Tagen hatte Asara von ihm erfahren, dass Tarko die Verräterin ihrem früheren Meister abgekauft hatte und dass Anjiaka daran arbeitete, ihr ein Blutjuwel zuzuspielen. Asara hoffte, Mivaras neue Position war das, was sich die junge Frau vorgestellt hatte, und dass die Verräter auf diese Weise an Ashaki Ishaka und seine Bettsklavin herankamen.

Ihre Kommunikation mit ihrem Gefährten hatte indes auch ein ungeahntes Heimweh ausgelöst. Seit sie und Vikacha ein Paar waren, betrachtete Asara die Stadt mehr als ihr Zuhause als die Zuflucht. Ah, aber das wäre anders, wäre Vikacha jetzt bei mir!

„Meisterin Asara!“

Asara fuhr herum. Aus einem Tunnel traten sechs junge Frauen. Zwei von ihnen sahen nahezu identisch aus und hielten einander an den Händen.

„Welch eine Überraschung!“, sagte Asara lächelnd und schritt auf die Mädchen zu. „Es ist schön, euch wiederzusehen. Ich bin überrascht, euch so früh am Morgen zu treffen.“

„Unser Unterricht beginnt immer sehr früh“, erklärte Shahiri. Sie war die kleinste der Gruppe und mit knapp achtzehn Jahren auch die jüngste.

Asara verkniff sich ein Lächeln. Als Marikas Bettsklavinnen hatten die sechs Mädchen das Leben von kleinen Prinzessinnen geführt. Jeden Abend hatten sie ihren Meister im Thronsaal unterhalten, bevor er eine oder zwei von ihnen für die Nacht ausgewählt hatte. Sie hatten bis in den Vormittag schlafen können und ihre Zeit mit Schmuck, Frisuren und teuren Kleidern verbracht. Für Marika zu tanzen und zu musizieren, waren mit Abstand ihre anstrengendsten Aufgaben gewesen und diesen waren sie mit großer Freude und Hingabe nachgekommen.

Es war Asara nicht leichtgefallen, sie davon zu überzeugen, diesen Luxus im Ausgleich für ein Leben in Freiheit hinter sich zu lassen. Nach dem Überfall auf den Palast hätte die verzogenen jungen Frauen andernfalls Tod oder Schlimmeres erwartet. Ohne entfesseltes magisches Potential und mit ihrem Mangel an Selbstständigkeit hätten sie im Gegensatz zu Arbeitssklaven außerhalb der Palastmauern nicht lange überlebt. Auf dem langen Weg von Arvice zur Zuflucht hatte Asara wiederholt den Zorn der Mädchen auf sich gezogen. Sie hatte dies jedoch nicht persönlich genommen, da sie wusste, dass sich der Zorn der Mädchen nicht gegen sie richtete. Als Asara schließlich zurück nach Arvice beordert worden war, hatten die Mädchen sie nur mit Tränen in den Augen wieder ziehen lassen. In der Zeit, die seitdem vergangen war, hatten sie ihr Prinzessinnen-Dasein weitgehend abgelegt.

„Wie ist es euch seit meinem letzten Besuch ergangen?“, fragte Asara.

„Wir arbeiten noch immer fleißig daran, Magierinnen zu werden“, antwortete Mavara. „Aber unsere Lehrerin sagt, dass noch mindestens ein Jahr vergehen wird, bevor wir höhere Magie lernen dürfen.“

„Aber das gilt nur für die schnellen von uns“, murmelte ihre Schwester.

Asara lächelte wissend. Die Zwillinge waren mehr daran interessiert, Männer zu verführen und einen zu finden, der ihrem früheren Meister ein würdiger Nachfolger war, als ihr magisches Potential auszuschöpfen. Ihre Freundin Navara teilte diese Einstellung, während die übrigen drei Mädchen vernünftiger schienen.

„Wir wussten gar nicht, dass du wieder hier bist“, sagte Shahiri.

„Ich bin erst heute Nacht angekommen“, antwortete Asara.

„Warst du an dem Kampf gegen die Ichani beteiligt?“, fragten die Zwillinge aufgeregt.

Asara nickte.

„Erzählst du uns davon?“

„Ja. Aber nicht jetzt. Die Große Mutter erwartet mich.“

„Du könntest mit uns frühstücken.“

„Das muss warten, fürchte ich. Aber ich verspreche, euch alles über die Ichani zu erzählen, sobald ich Zeit habe.“

„Und du musst uns beim Kämpfen zusehen“, fügte Shahiri bettelnd hinzu.

„Auch das werde ich tun, sobald meine Zeit es erlaubt.“

„Hoffentlich bevor du wieder abreist.“

„Oh, ich werde noch ein paar Tage hierbleiben“, erwiderte Asara lächelnd. „Die Große Mutter hat einiges mit ihren Beraterinnen und den Gildenmagiern zu besprechen. Wie ihr sicher gehört habt, herrscht in Sachaka momentan ein einziges Chaos.“

Die Mädchen nickten. „Einige Frauen sagen, dass die Große Mutter darüber nachdenkt, mit dem Imperator über einen Frieden zu verhandeln.“

„Das ist richtig. Mit etwas Glück haben wir damit sogar Erfolg, weil wir etwas haben, was Kachiro dringend haben will.“

„Ich habe gehört, es wären auch Gildenmagier bei dem Kampf dabei gewesen“, sagte Danyara, die bis jetzt geschwiegen hatte.

„Sie haben die Ichani am Eindringen nach Kyralia gehindert.“ Asara betrachtete die junge Frau. In ihren Augen lag eine unausgesprochene Frage. „Sie war auch dort“, sagte sie behutsam. „Es geht ihr gut.“

„Schön“, erwiderte Danyara ungewöhnlich schroff.

Alara legte einen Arm um die Schultern ihrer Freundin und sagte leise etwas zu ihr. Anscheinend habe ich ein sensibles Thema erwischt, fuhr es Asara durch den Kopf. Bei dem Überfall auf den Palast von Arvice war Danyara von ihrer Freundin getrennt worden, als diese zurück zu den Gildenmagiern gebracht worden war. Die junge Frau hatte sehr unter dem Verlust gelitten und Asara hatte nicht viel mehr tun können, als lange Gespräche mit ihr zu führen, um ihren Schmerz zu lindern. Sie hatte gehofft, Danyara wäre inzwischen darüber hinweg, aber ihre Reaktion zeigte Asara, dass sie noch immer an Sonea hing.

„Nun, ich muss jetzt leider gehen“, sagte sie bedauernd. „Die Große Mutter erwartet mich. Vielleicht sehen wir uns zum Abendessen. Ich wünsche euch viel Spaß bei eurem Unterricht. Passt gut auf und lernt fleißig.“

„Ja, Meisterin Asara“, sagten die Zwillinge kichernd.

Kopfschüttelnd machte Asara sich wieder auf den Weg in die höheren Ebenen.

Savedra erwartete sie im Hohen Zimmer. Illara und Talaria saßen zu ihren beiden Seiten, wie immer schweigsam und wachsam. Als Asara ihren Blick durch den Raum schweifen ließ, entdeckte sie Varala, Nirili, Lahiri und Zalava unter den anwesenden Schwestern.

„Guten Morgen, Große Mutter“, grüßte sie und neigte respektvoll den Kopf. „Und guten Morgen, liebe Schwestern.“

Die anderen erwiderten ihren Gruß.

Asara setzte sich auf den freien Platz zwischen Zalava und Varala und streckte ihren Willen nach der großen Karaffe in der Mitte des Tischs aus. Der würzige Duft von frisch zubereitetem Raka stieg in ihre Nase, als sie sich daraus eingoss.

„Wie weit ist Tari?“, fragte Savedra.

Asara trank einen Schluck Raka und lehnte sich zurück. „Sie hat den Treffpunkt soeben erreicht, Große Mutter. Kachiros Unterhändler ist jedoch noch nicht eingetroffen.“

Tari hatte noch nie direkt mit Savedra kommuniziert. Dementsprechend zögerte sie, das Blutjuwel zu nutzen, bevor Kachiro und seine Berater eintrafen.

Savedra nickte. „Wenn es soweit ist, lass uns an der Kommunikation teilhaben.“

„Wie du wünschst.“ Einen weiteren Schluck Raka trinkend richtete Asara ihren Fokus auf Taris Blutjuwel. Die Morgensonne fiel fast waagerecht durch die Bäume am Ufer des Haraki, der irgendwo im Hintergrund plätscherte. Die Luft war absolut still. Tari langweilte sich offenkundig. Sie saß auf einem umgestürzten Baumstamm und betrachtete ihre Fingernägel, die immer ein wenig schmutzig waren.

- Ivasako lässt heute ganz schön lange auf sich warten, sandte die junge Frau.

- Wozu die Eile?, fragte Asara. Ich bin nicht in der Stadt, also brauchst du auch nicht so zu tun, als würdest du dich um mein Wohlbefinden und die Sauberkeit meiner Gemächer kümmern.

- Ich kann Langeweile nicht ausstehen.

- Nur Geduld. Er wird schon kommen. Schließlich weiß er, dass wir Takedo haben.

Noch in der Nacht hatte Savedra den ehemaligen Ashaki verhört und jegliche Informationen, die für die Verräter oder den Imperator von Nutzen waren, aus ihm herausgeholt. Während sie warteten, berichtete Savedra, was sie über die Pläne der Ichani, das Zerwürfnis mit Miriko und die mit ihnen sympathisierenden Ashaki erfahren hatte. Anschließend berieten sie, wie sie sich langsam aus dem Geschäft, die Ashaki gegeneinander aufzuhetzen, zurückziehen konnten, ohne dass diese oder Kachiro Verdacht schöpften. Die Sache mit Kachiros Schwager war ausgeartet, und wenn der Imperator wirklich verhandeln wollte, taten sie besser daran, nicht noch mehr Unfrieden zu stiften.

Als sie fertig war, saß Tari noch immer alleine auf ihrem Baumstamm und wartete.

Eine halbe Stunde verging, in der Asaras Schwestern sich darüber austauschten, was ihnen seit ihrem letzten Wiedersehen widerfahren war. Entnervt konzentrierte Asara sich weiterhin auf Taris Blutjuwel und lauschte angestrengt darauf, dass sich jemand näherte.

Als sie kurz davor war, sich doch an der Unterhaltung ihrer Schwestern zu beteiligen, vernahm sie das Donnern von Pferdehufen und das Brechen von trockenen Ästen. Mehrere Reiter sprengten durch das Unterholz und umrundeten die Lichtung. Tari erhob sich und sah ihnen entgegen. Asara konnte die Entschlossenheit und Anspannung der jungen Frau überdeutlich spüren.

„Es geht los“, sagte sie und griff nach den Händen ihrer Sitznachbarinnen.

Sie erhielt einen flüchtigen Blick auf den Palastmeister, dann stockten ihr und Tari gleichzeitig der Atem, als der Blick ihrer Informantin auf den Mann in den blau-goldenen Gewändern fiel. Die junge Frau hatte sich jedoch sofort wieder unter Kontrolle.

„Imperator Kachiro“, grüßte sie höflich. „Ihr seid persönlich gekommen.“

„Die Gefangennahme eines meiner früheren politischen Gegner und meine Auslieferungsforderung erschienen mir Grund genug“, erwiderte Marikas Nachfolger. Flankiert von zwei Palastwachen schritt er mit Ivasako, seinen Kriegsmeister Divako und dem Duna-Krieger Arikhai auf sie zu. „Ihr wolltet reden, also reden wir.“

„Wir haben Takedo einem ausgiebigen Verhör unterzogen“, gab Tari Savedras Worte weiter. „Durch ihn besitzen wir Informationen über die Pläne seiner ehemaligen Verbündeten, die von Miriko geführt werden. Wir kennen ihre Ziele und die Namen einiger Ashaki, die ihnen Unterstützung geben.“

Kachiro runzelte misstrauisch die Stirn. „Ich nehme an, Ihr erwartet eine Gegenleistung?“

„Das wäre angemessen, denn wenn wir Takedo töten, werdet Ihr die Informationen niemals erhalten.“

Das Gesicht des Imperators verfinsterte sich. „Was wollt Ihr?“

„Einen Konsens. Zwischen unserem und Eurem Volk und den Duna. Und den Gildenmagiern. Da es auch ihr Krieg ist, haben sie ein Recht darauf.“

Asara beobachtete, wie Kachiro und seine Begleiter die Köpfe zusammenstecken, um sich zu beraten. Jetzt wird sich zeigen, wie viel ihnen Takedo wert ist, dachte sie.

„Warum sollten wir uns darauf einlassen?“, fragte Kachiro. „Indem Arikhai seine Duna erneut das Gebirge nach Eurem Versteck durchsuchen lässt, erzielen wir dasselbe Resultat.“

„Nicht, wenn wir Takedo vorher töten“, entgegnete Tari tapfer.

- Sag ihm, dass die Duna sich auf weitere Verluste einstellen müssen, wenn sie uns erneut angreifen, sandte Savedra. Die Gildenmagier haben uns neue, stärkere Waffen geliefert, mit denen wir unsere Feinde noch effektiver töten können.

Tari gab ihre Worte weiter.

- Aber die Verräter bieten Euch eine Alternative, formulierte Savedra, bevor Kachiro zu Wort kommen konnte. Dieser Krieg hat beide Seiten unzählige Verluste gekostet. Wenn wir so fortfahren, wird er weitergehen, bis eine Seite vernichtet ist. Die siegreiche Seite wird dann jedoch nicht mehr viel von ihrem Sieg haben, weil auch sie dezimiert ist. Wir sollten die Feindseligkeiten für eine Weile aussetzen und zumindest versuchen, eine Lösung zu finden, mit der wir alle zufrieden sind. Ungeachtet der Möglichkeit, erfolgreich zu sein, sind wir das jenen schuldig, die wir bereits verloren haben.

Der Imperator beriet sich erneut mit seinen Leuten. Dieses Mal dauerte es sehr viel länger.

„Können die sich nicht ein wenig beeilen?“, brummte Lahiri ungeduldig.

„Dass sie so lange brauchen, ist ein gutes Zeichen“, entgegnete Varala. „Das bedeutet, dass sie zumindest nicht kategorisch Nein sagen.“

Schließlich trat Kachiro vor. „Kriegsherr Arikhai und ich sind uns einig, dass Gespräche zwischen unseren Parteien angesichts der auf beiden Seiten erlittenen Verluste besser wären, als die Feindseligkeiten fortzusetzen“, sprach er. „Jedoch ist fraglich, wie sinnvoll dies wäre. Die momentane Lage ist sehr angespannt. Wir müssten unsere Diplomaten sorgfältig auswählen, wenn wir uns nicht schon während der Verhandlungen gegenseitig umbringen wollen. Mein Berater hat daher empfohlen, dass die Gespräche an einem neutralen Ort stattfinden sollen, Kriegsherr Arikhai hat auch bereits eine dafür geeignete Lokalität vorgeschlagen.“

„Was für ein Ort ist das?“

„Der Ort heißt Yukai. Er liegt im Herzen von Duna.“


***


Es war schon lange hell, als Sonea aus ihrem tiefen, erholsamen Schlaf erwachte. In ihrem Traum war sie mit Akkarin und ihrem Sohn auf der Insel gewesen, auf der sie den Tag nach ihrer ersten Hochzeit verbracht hatten. Wenn wir doch nur einmal für ein paar Tage die Gilde verlassen könnten, ohne uns um ihre Sicherheit sorgen zu müssen!, dachte sie sehnsüchtig. Die Tatsache, dass Akkarin wieder Hoher Lord war, schien sie beide mehr an die Gilde zu fesseln als das alberne Ausgehverbot, das die Magier nach ihrer Wiederaufnahme verhängt hatten. Denn solange die Magier auf sie beide angewiesen waren, mussten sie die Gilde über ihr Privatleben stellen.

Sonea öffnete die Augen. Durch die halboffenen Schlafzimmerfenster erklang das Gezwitscher der Vögel aus dem Wald hinter der Residenz. Mit einem wohligen Gähnen streckte sie sich.

Oh, ist das schön, wieder in einem richtigen Bett zu schlafen!, dachte sie ein Gefühl von Glückseligkeit verspürend. Ganz besonders, wenn es das Eigene ist.

Auf ihrem Rückweg vom Südpass hatte sie an kaum etwas anderes als an den sinnlosen Tod von Lord Vorel und den Kriegern denken können. Das hatte sogar ihre Begegnung mit den Ichani in den Schatten gestellt, die im Nachhinein weniger folgenschwer verlaufen war, als sie befürchtet hatte. Und sie hatte Sachaka nicht betreten müssen und der gefürchtete Wiedererkennungseffekt war ausgeblieben.

Allerdings hatten Marikas frühere politische Gegner den Palast nur zu großen Festen, zu denen Marika die halbe Stadt eingeladen hatte, oder bei den Verhandlungen über einen erneuten Schlag gegen Kyralia frequentiert. Wo Sonea den König von Sachaka während seiner Feste unterhalten hatte, war sie bei wichtigen Verhandlungen nur in seltenen Ausnahmen dabei gewesen.

Jetzt, wo sie wieder zuhause war, war der Schrecken über den Kampf am Südpass verblasst, was weniger der Distanz als ihrer kleinen Familie zu verdanken war. Am vergangenen Tag hatten sie und Akkarin sich ausgiebig mit ihrem kleinen Sohn beschäftigt, und nachdem sie ihn schließlich zu Bett gebracht hatten, hatten sie endlich Zeit für sich gehabt. Die Erinnerung daran ließ sie selbst jetzt noch erschaudern.

Sonea rollte sich auf die Seite. Akkarin schlief noch. Versonnen nahm Sonea sich die Zeit, ihn zu betrachten. Selbst im Schlaf hatte er diese nachdenkliche, steile Falte zwischen seinen Augenbrauen und seine markanten Züge schienen sich niemals ganz zu entspannen. In solchen Momenten spürte sie, dass sie ihn so sehr liebte, dass es weh tat. An jedem anderen Morgen hätte Sonea alles daran gesetzt, ihn liebevoll zu wecken. Sie entschied indes, ihn schlafen zu lassen. Vorsichtig rückte sie ein Stück näher zu ihm und kuschelte sich an ihn an. Akkarin murmelte etwas, schlang einen Arm um sie und hielt sie fest.

Allmählich döste Sonea wieder ein.

Sie erwachte erneut, als kühle Finger über ihr Gesicht strichen. Das Gefühl löste einen angenehmen Schauer aus, der ihr bis in die Haarwurzeln drang.

„Hm“, machte sie und blinzelte träge gegen das Licht.

„Guten Morgen“, sagte Akkarin und drückte seine Lippen auf ihre Stirn.

„Guten Morgen, Hoher Lord“, erwiderte sie und sah zu ihm auf. „Bist du schon lange wach?“

„Eine Weile.“

„Warum hast du mich dann nicht geweckt?“

Er lachte leise. „Weil ich deinem Körper nach gestern Abend die Gelegenheit geben wollte, sich zu heilen, bevor ich mir erneut daran vergehe.“

Sonea erschauderte. Akkarin hatte ihr verboten sich zu heilen, nachdem sie miteinander geschlafen hatten, und so hatte ihr Körper das in der Nacht selbst erledigen müssen. Normalerweise genügten einige Stunden Schlaf. Am vergangenen Abend war ihr Liebesspiel jedoch etwas heftiger ausgefallen.

„Mein Körper hat sich regeneriert“, sagte sie. „Es steht Euch frei, diesen Zustand zu ändern, sofern Euch danach ist, Hoher Lord.“

Akkarin nahm ihre Hand und zog hinab zu seinen Lenden. „Ich würde sagen, mir ist danach.“

Er löste sich von ihr und drehte sie auf den Bauch. Sonea wehrte sich nicht, als er ihre Schenkel auseinander schob und ihre Arme auf den Rücken drehte, wo er sie mit seiner Magie fixierte. Seine Hand strich über ihren Schoß und spielte mit ihrem Schmuck. Sonea entfuhr ein Stöhnen, das sie mit ihrem Kopfkissen erstickte.

Akkarin zog das Kopfkissen fort. „Ich will, dass du leise bleibst“, raunte er und stieß in sie hinein.

Sonea presste die Lippen zusammen, als der vertraute Schmerz durch ihren Schoß schoss, bevor es erregend wurde. Sie konnte indes nicht verhindern, dass ihre Atmung schneller und lauter wurde, als Akkarin sich in ihr bewegte. Und ehe Sonea wusste, wie ihr geschah, war seine Präsenz in ihr und zeigte ihr, wie sehr es seiner dunklen Seite gefiel, dass sie ihm völlig ausgeliefert war.

Fünf intensive Minuten später lag sie zusammengerollt, den Kopf an seine Schulter gebettet. Obwohl Sonea dieses Mal keine Blessuren davongetragen hatte, verspürte sie das befriedigende Gefühl, benutzt und unterworfen worden zu sein.

„Ich hoffe, das hält bis heute Abend vor“, sagte sie.

Akkarin lachte leise. „Wir werden sehen. Wenn die Besprechung lange dauert, werde ich dich danach möglicherweise in die Inneren Passagen entführen müssen.“

Sonea lachte. „Das wirst du nicht wagen!“, rief sie und schlug nach ihm.

Er bekam ihre Handgelenke zu fassen und hielt sie fest. „Willst du mich herausfordern?“

„Du bist Hoher Lord, du wirst es nicht wagen, es mit mir in den Geheimgängen zu tun.“

„Niemand außer uns bewegt sich dort drin. Wovor hast du Angst?“

Sonea lachte erneut. Seine Unberechenbarkeit machte ihn attraktiv und furchteinflößend zugleich. Sie fürchtete den Tag, an dem sie aufhörte, so für ihn zu empfinden.

„Nur vor Euch, Hoher Lord“, antwortete sie.

Akkarin ließ sie los und küsste sie. „Wir sollten bald aufstehen“, sagte er dann.

Sonea verspürte eine jähe Enttäuschung. „Schon? Die Besprechung ist erst in zwei Stunden.“

„Bis dahin müssen wir noch frühstücken und ich muss mich mit Savedra besprechen. Und so wie ich dich kenne, willst du vorher noch nach Lorlen sehen.“ Seine Mundwinkel zuckten kaum merklich. „Zudem sollten wir vor der Besprechung noch ein Bad nehmen.“

„Denkst du, die höheren Magier riechen, was wir getan haben?“

„Vinara und Balkan würde ich das zutrauen.“

Sonea fuhr erneut über seine Narbe. „Aber wir könnten Zeit sparen, indem wir Lorlen mit ins Bad nehmen“, sagte sie. „Dann können wir jetzt noch ein wenig liegenbleiben.“ Sie löste sich von seiner Seite und schlüpfte unter die Decke. „Und vielleicht mindert das sogar das Risiko, dass du mich in die Inneren Passagen verschleppst.“

Akkarins Hand schloss sich um ihren Nacken. „Das hängt davon ab, wie gut du deine Sache jetzt machst.“


***


Als höherer Magier war Rothen es inzwischen gewohnt, in Krisenzeiten zu Besprechungen am Wochenende gerufen zu werden. Dennoch wünschte er nach zwei Wochen mit zwei Novizen und einem schreienden Baby, er hätte länger schlafen können. Am vergangenen Abend war es spät geworden, weil er den Abendsaal besucht hatte, um an den Diskussionen teilzunehmen, die Akkarins und Soneas Rückkehr vom Südpass ausgelöst hatte. Dabei war es jedoch weniger um den Tod des Leiters der strategischen Studien und den der anderen Kriegern gegangen, als um mögliche Verhandlungen der an dem Krieg beteiligten Parteien.

Ein Gähnen unterdrückend streckte er seinen Willen nach dem Krug auf Osens Schreibtisch aus und schenkte sich Raka nach. Ohne Balkans nichtsnutzigen Novizen, Lord Vorel und den mürrischen Rektor, der zu strategischen Besprechungen nie gerufen wurde, wirkte das Büro weniger überfüllt, als Rothen es in seinen fast drei Jahren als höherer Magier gewohnt war. Es war ein seltsam bedrückender Anblick, der ihm den Verlust eines geschätzten Kollegen umso deutlicher ins Gedächtnis rief.

„Wo bleibt Akkarin?“, murmelte Osen. „Ich hatte nicht vor, das ganze Wochenende in dieser Besprechung zu verbringen.“ Er deutete auf einen Stapel Briefe. „Diese müssen bis morgen beantwortet sein.“

„Sicher spricht er noch mit der Anführerin der Verräter“, sagte Balkan.

„Er könnte uns wenigstens eine Nachricht schicken, dass es später wird.“

„Und was würde uns das jetzt noch nützen?“, fragte Lord Peakin. „Wir sitzen doch bereits hier.“

Der Administrator warf einen sehnsüchtigen Blick zu den Briefen.

Das Oberhaupt der Heiler seufzte unterdrückt. „Ihr tätet gut daran, Euch öfter zu entspannen, Administrator“, sagte sie streng. „Ihr seid auf dem besten Wege, wie Euer Vorgänger zu werden. Eure Arbeit bedeutet Verantwortung. Dennoch sollte sie weniger wichtig als Eure Gesundheit sein.“

„Vielleicht solltet Ihr Euch einen Assistenten zulegen“, riet Lady Kinla.

Osen stöhnte. „Es ist mehr Arbeit, ihn einzuarbeiten, als alle Aufgaben selbst zu erledigen.“

„Aber wenn er eingearbeitet ist, habt Ihr selbst weniger Arbeit“, wandte Rothen ein.

„Schon“, sagte Osen widerwillig. „Aber …“

Die Tür ging auf und Akkarin und Sonea betraten den Raum. „Guten Morgen“, grüßte der schwarze Magier und ließ sich in einem der beiden nebeneinanderstehenden Sessel, die noch frei waren, nieder. Als Sonea sich neben ihn setzte, schenkte sie Rothen ein kurzes Lächeln.

„Guten Morgen, Hoher Lord und Lady Sonea“, erwiderten die höheren Magier.

Der Administrator wirkte erfreut. Jedoch weniger, weil Akkarin da war, sondern weil die Besprechung endlich beginnen konnte, wusste Rothen. Wäre es nach Osen gegangen, so hätte die Gilde verhindert, dass der schwarze Magier jemals wieder zu Macht gelang. Aber die Gilde hatte ihn gewollt.

„Diese Besprechung dient dem Zweck, die gegenwärtige Position der Gilde im Krieg mit Sachaka und Duna zu definieren und mögliche Maßnahmen zu diskutieren“, begann Osen. „Für diejenigen, die nicht mehr auf dem aktuellen Stand sind, gebe ich eine kurze Zusammenfassung der jüngsten Ereignisse:

„Kaum, dass der Schnee auf der sachakanischen Seite der Berge geschmolzen war, rückte eine Gruppe von Duna-Kriegern aus, um das Versteck der Verräter zu finden. Dabei entgingen die Verräter nur knapp der Entdeckung. Dieser Vorfall war der Beginn einer Reihe von weiteren Ereignissen, in denen sich die Situation mehr und mehr zuspitzte. Die Rebellen nutzten die Gelegenheit, sich an einigen Ashaki zu rächen, die mit der Aktion der Duna jedoch nichts zu tun hatten. Daraufhin wurden sie gleichsam von Ashaki und Duna gejagt und die Große Mutter distanzierte sich von ihnen.

„Einige Ashaki, die Kachiro bei seiner Thronbesteigung in die Ödländer verbannt hat, nutzten den durch dieses Chaos entstanden Vorteil und versuchten, Kyralia heimlich und auf eigene Faust zu erobern. Es gelang den Verrätern und unseren Leuten jedoch, diese aufzuhalten. Damit haben sie auch dem Imperium einen Gefallen getan, weil Kachiro nicht wünscht, dass Kyralia in die Hände seiner früheren politischen Gegner gerät. Zugleich hatte er auf Grund zahlreicher innenpolitischer Spannungen und den Duna auf der Jagd nach Verrätern und Rebellen im nördlichen Teil des Landes keine Möglichkeit, die Ichani aufzuhalten.“

Er sah zu Akkarin. „Hoher Lord, habe ich ein wichtiges Detail ausgelassen?“

„Nein. Der Vollständigkeit halber sollte noch hinzugefügt werden, dass jene Ichani, nur etwa die Hälfte von Kachiros früheren politischen Gegnern ausmachen. Die beiden Anführer jener Gruppe haben sich zerstritten, nachdem ihr Versuch, von Kachiro wieder in die Gesellschaft aufgenommen zu werden, gescheitert ist. Die zweite Hälfte versucht noch immer, Kachiros Gunst wiederzuerlangen. Da sie jedoch die Unterstützung einiger Ashaki genießt, ist fraglich, ob Kachiro sich darauf einlässt oder ob er stattdessen weitere seiner Gefolgsleute zu Ichani erklärt.“

„Hoffen wir, dass er dies tut“, sagte Balkan. „Diese Ichani sorgen für einen Unfrieden, der uns willkommen ist.“

„Aber dadurch sind sie auch den Verrätern gefährlich“, wandte Lord Peakin ein.

„Das wären sie auch, würde Kachiro sie rehabilitieren“, entgegnete das Oberhaupt der Krieger. „Sie sind noch nicht lange Ausgestoßene und an das Leben in der Stadt gewöhnt. Dass sie in den Bergen solch großen Schaden angerichtet haben, haben wir mehr einem unglücklichen Zufall denn ihrem Kampfgeschick zu verdanken.“

„Es ist unwahrscheinlich, dass Kachiro die Ichani wieder in die Gesellschaft aufnimmt“, sprach Akkarin. „Die Verräter haben ihm zu verstehen gegeben, dass sie Informationen darüber besitzen, welche Ashaki mit ihnen verbündet sind. Eher wird Kachiro diese ebenfalls verbannen, wenn er ihre Namen erfährt.“

„Hat Savedra Euch das berichtet?“, fragte der Administrator.

„Ja.“

Sonea sah zu Akkarin, mit einem Gesichtsausdruck, den Rothen nicht zu deuten wusste.

„Hoher Lord, bitte teilt uns mit, was Ihr noch von den Verrätern erfahren habt“, erklang Osens Stimme.

„Kachiro und Arikhai sind zu Verhandlungen bereit. Sie verlangen jedoch, dass die Verräter ihnen Takedo und die Informationen über die andere Ichani-Gruppe und ihre Verbündeten geben.“

„Sieht ganz so aus, als wäre Kachiro tatsächlich zugänglicher als sein Vorgänger“, brummte Balkan.

„Das ist ein großer Fortschritt“, sagte Lady Vinara. „Können wir davon ausgehen, dass sie sich an ihr Wort halten und es bei den Verhandlungen nicht zu einem Massaker kommt?“

„Arikhai hat als Verhandlungsort den Alten Tempel von Yukai vorgeschlagen“, antwortete Akkarin. „Das ist ein altes Heiligtum, in dem die Duna ihre frühere Gottheit verehrt haben. Der Tempel ist seit Jahrhunderten verlassen, aber noch vollständig intakt. Jegliche Art von Gewalt ist dort verboten.“

„Aber dieser Ort liegt mitten im Land unserer Feinde“, wandte Peakin ein.

„Arikhai hat sich bereit erklärt, die anderen Kriegsherren seines Volkes über den Transfer der teilnehmenden Parteien zu informieren, so dass es zu keinen Zwischenfällen mit anderen Duna-Stämmen kommen sollte. Reisende mit dem Tempel als Ziel genießen eine Art heiligen Schutz, den zu verletzen die Duna aus Respekt vor ihrer alten Gottheit nicht wagen.“

„Und wann sollen die Verhandlungen stattfinden?“, fragte der Administrator.

„Sobald die Gilde den von den Verrätern gewünschten Vermittler entsenden kann.“

„Das klingt, als stünde schon fest, wer das sein wird“, sagte Rothen von unguten Vorahnungen erfüllt.

Akkarins dunkle Augen begegneten seinen. „Das ist richtig. Die Verräter wünschen, dass Auslandsadministrator Dannyl diese Aufgabe übernimmt. Zudem soll er stellvertretend für die Gilde sprechen.“

Rothen sah seine schlimmsten Vermutungen bestätigt. Er konnte nicht von der Hand weisen, dass Dannyl der beste Mann für eine solche Aufgabe war. Sein Freund hatte das Amt des Auslandsadministrators so wie das des Botschafters einige Jahre zuvor mit Freuden übernommen, und Rothen gönnte ihm seinen Erfolg. Er wollte jedoch nicht, dass ausgerechnet Dannyl mit den Feinden der Gilde verhandelte.

„Wir sollten dies gut durchdenken“, sagte er. „Die Gilde hat weitere Diplomaten, die sie entsenden könnte und die uns ebenso gut vertreten würden.“

„Dannyl verfügt über die größte diplomatische Erfahrung im Lösen von Konfliktsituationen“, entgegnete Lady Vinara sanft. „Die Verräter vertrauen ihm. Wenn sie ihn als Vermittler wollen, sollten wir ihnen diesen Wunsch gewähren.“

„Unser letzter Auslandsadministrator ist in Sachaka gestorben.“

„In Sachaka“, sagte Balkan. „Aber Yukai liegt in Duna.“

„Die Duna sind die Verbündeten der Sachakaner und der einzige Weg nach Duna führt durch Sachaka, weil die Berge nördlich von Elyne unüberwindbar sind“, wandte Rothen aufgebracht ein. „Ich verstehe, dass Yukai als Heiligtum gilt und Gewalt dort verboten ist, aber der Weg dorthin ist lang und gefährlich. Die Duna mögen für die Sicherheit auf ihrem Territorium garantieren können. Aber was ist mit dem Weg durch die Ödländer und den Norden Sachakas?“

„Nun“, sagte Lady Kinla. „Was, wenn die Verhandlung zu unserem Fort am Nordpass verlegt wird? Oder zur Grenze zu Elyne? Damit müsste kein Gildenmagier durch feindliches Gebiet reisen.“

„Bitte keine feindlich gesonnenen schwarzen Magier in den Verbündeten Ländern oder in ihrer Nähe!“, rief Peakin.

„Die Alternative wäre, dass wir stattdessen Dannyl in ein feindliches Land schicken“, sagte Rothen.

„Es ist der einzige Weg“, sprach eine tiefe Stimme.

Rothen und die anderen fuhren herum. Der Hohe Lord saß entspannt in seinem Sessel, die Fingerspitzen aneinandergelegt. Wie kann er so gelassen bleiben, als würde ihn das alles nichts angehen?, fragte Rothen sich verärgert.

„Die Duna haben ein starkes Verständnis von Ehre und zollen ihren Göttern großen Respekt“, fuhr Akkarin fort. „Jeder Stamm, der Pilger angreift, würde damit einen Krieg mit den anderen Stämmen auslösen. Auf dem Weg durch die Ödländer und die Aschenwüste wäre ein Abgesandter der Gilde zudem durch die Regeln der Diplomatie geschützt. Die Sachakaner würden sich, was auch immer sie sich von den Verhandlungen versprechen, einen großen Nachteil verschaffen, wenn sie den Mann töten, der zwischen ihnen und den Verrätern vermitteln soll.“

„Die Sachakaner könnten ihn töten, weil sie einem Vermittler aus den Reihen der Gilde nicht trauen“, wandte Rothen ein. „Sie könnten ihren eigenen fordern.“

„Kachiro und seine Berater haben ihn akzeptiert, weil er in ihren Augen keine Bedrohung darstellt und sein Geschick für schwierige Verhandlungen sogar bis Arvice vorgedrungen ist. Dannyl wird nicht alleine reisen. Er wird eine Eskorte der Verräter erhalten.“

„Kachiro ist ein guter Stratege“, fügte Sonea hinzu. „Sollte ein Gildenmagier im Zusammenhang mit einer Friedenskonferenz sterben, so muss er damit rechnen, dass wir und die Verräter diese Tat nicht ungestraft lassen. Sachaka ist an einem Punkt angelangt, an dem es sich dies nicht leisten kann.“

Keiner der höheren Magier stellte ihre Worte in Frage. Und Rothen wusste warum. Während ihrer Entführung hatte Sonea sich in Sachakas Zentrum der Macht befunden. Sie wusste Details über Marikas Nachfolger und seine Berater, die darauf hindeuteten, dass sie ihnen persönlich begegnet war und nicht nur das Geschwätz der Palastsklaven aufgeschnappt hatte.

Aber wieso besaß sie diese Informationen, wenn sie eine Gefangene gewesen war? Hatte Marika sie gezwungen, bei den Treffen mit seinen Beratern dabei zu sein, um sie zu quälen oder hatte er sie dazu gebracht, mit ihm zu kollaborieren? Oder hatte sie es freiwillig getan? Das alles ergab keinen Sinn und Rothen ahnte, er würde die Wahrheit nie erfahren.

„Auch wenn ich es nur ungern sage“, sagte Lady Vinara. „Aber Auslandsadministrator Dannyl ist unser bester Diplomat. Wir alle wollen, dass dieser Krieg endlich ein Ende hat. Er wird uns diesem Ziel ein Stück näher bringen.“

„Da gebe ich Euch recht, Vinara“, sprach Lord Balkan. „Dennoch sollten wir ihm zu seiner Sicherheit eine Eskorte mit unseren eigenen Leuten mitgeben.“ Er sah zu Rothen. „Ich nehme an, das wird Euch beruhigen.“

Rothen lächelte schief. „Ein wenig.“

„Ich halte das für eine gute Idee“, sagte Lady Vinara. „Nur wie soll die Eskorte aussehen?“

„Ich empfehle, einen Trupp von zehn Kriegern zusammenzustellen. Sie erhalten einen der Speichersteine des Hohen Lords und eine adäquate Menge der neuen verbesserten Schildsenker.“ Das Oberhaupt der Krieger runzelte die Stirn. „Und ein Blutjuwel.“

„Wenn wir unsere Feinde damit nicht provozieren“, murmelte Administrator Osen.

„Sonst stimmt Ihr Lord Balkan doch immer zu“, sagte Rothen überrascht.

„Das tue ich. Doch eine Eskorte von Kriegern wird Aufsehen erregen. Ich halte es für sicherer, wenn Dannyl in Begleitung eines einzelnen Magiers oder zweien nach Yukai geht.“

„Ein guter Punkt.“ Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck verschränkte das Oberhaupt der Krieger die Arme vor der Brust. „Mit Hilfe von Speichersteinen würde ein einzelner Begleiter, etwa ein Krieger, genügen.“

Sonea sog scharf die Luft ein. „Es wäre sogar noch effektiver, Auslandsadministrator Dannyl von einem schwarzen Magier begleiten zu lassen“, sagte sie. „Dieser könnte sich jeden Tag zusätzlich an Dannyl stärken, so dass er mehr Magie zur Verfügung hat, wenn es zu einem Kampf kommt. Das heißt, sofern der Auslandsadministrator einverstanden ist.“

„Und wer soll das übernehmen?“

Sonea und Akkarin tauschten einen Blick. Die Gesichtszüge des Hohen Lords verhärteten sich zu einer Maske aus Missbilligung an und Rothen wurde kalt.

„Ich.“

Rothen gefror das Blut in den Adern. Nein!, dachte er entsetzt. Tu mir das nicht auch noch an!

Der Administrator erbleichte. Lady Vinaras Mund war eine dünne Linie, Balkan bedachte Sonea mit einem berechnenden Blick und Lord Peakin und Lady Kinla wirkten verstört.

Vinara fasste sich zuerst. „Lady Sonea, Euer Mut und Eure Selbstlosigkeit sprechen für sich, doch Ihr solltet Eure Entscheidung gut überdenken. Sachaka ist ein gefährliches Land, insbesondere für Euch.“

„Das weiß ich und ich bin bereit, das Risiko einzugehen.“ Soneas Miene hatte diesen störrischen Ausdruck angenommen, der immer dann hervorkam, wenn sie versuchte, ihren Willen durchzusetzen. „Der Auslandsadministrator und ich werden in einer Tarnung reisen. Am Fort könnten wir uns mit den Verrätern treffen und von da an gemeinsam mit ihnen reisen.“

„In diesem Fall würde sich jeder andere Magier ebenso gut eignen“, widersprach Rothen heftig.

„Und was, wenn wir überfallen werden?“, gab Sonea zurück. „Rothen, da draußen herrscht Krieg! Wenn Ihr nicht wollt, dass Dannyl etwas zustößt, muss ich ihn begleiten.“

„Sonea, die Gilde braucht dich.“

„Soweit ich weiß, hat die Gilde insgesamt drei schwarze Magier.“

„Lord Sarrin ist kein Krieger. Zudem befindet er sich offiziell im Ruhestand. Und …“

Ich werde den Auslandsadministrator begleiten.“ Alle fuhren herum, als den unterdrückten Zorn vernahmen, mit dem ihr Anführer sprach. „Denn anscheinend kann ich meine Frau nur so davon abhalten, denselben Fehler ein zweites Mal zu begehen.“

„Bei allem Respekt!“, entfuhr es Lady Vinara. „Aber das ist Wahnsinn!“

Sonea wandte sich zu ihrem Mann. „Hoher Lord, Ihr seid für die Gilde unentbehrlich. Ihr könnt nicht gehen.“

„Und du bist für mich nicht entbehrlich“, sagte er kaum hörbar.

„Aber für die Gilde“, beharrte Sonea. „Wenn Ihr geht, dann werde ich Euch begleiten – und sei es, um dafür zu sorgen, dass auch Ihr lebend zurückkommt.“

„Das befürchte ich auch“, bemerkte Akkarin trocken.

Der Administrator sah hilfesuchend zu Lord Balkan. „Was sagt Ihr dazu?“

„Lady Soneas Vorschlag erscheint mir als die sinnvollste Lösung“, antwortete dieser grimmig. „Von unseren drei schwarzen Magiern besitzt sie nicht nur die Fähigkeit, ihn sicher nach Yukai und zurück zu geleiten, sondern auch die nötige Flexibilität. Und sie spricht Sachakanisch. Zu zweit würden sie unauffälliger reisen, als wenn Auslandsadministrator Dannyl von einem Trupp Krieger begleitet wird.“

„Es ist ein Risiko, sie zu schicken“, sagte Osen. „Und Ihr wisst das.“

„Ja.“ Balkan wandte sich zu dem Mann zu seiner anderen Seite. „Hoher Lord, Ihr habt das letzte Wort.“

„Soneas Argumente sind stark, jedoch empfehle ich, dass sie ihre Entscheidung noch einmal in Ruhe überdenkt. Lässt sie sich nicht umstimmen oder findet sich keine andere Lösung, so wird sie den Auslandsadministrator begleiten.“

Sonea öffnete protestierend den Mund, doch als sie Akkarins Blick einfing, sah sie auf ihre Hände. Wie verärgert muss er sein!, fuhr es Rothen durch den Kopf. Nein, wahrscheinlich ist er vor allem besorgt.

Ihm ging es indes nicht anders. Nachdem seine Ziehtochter kurz nach ihrer Hochzeit für ein halbes Jahr verschollen gewesen war, hätte er sich nichts lieber gewünscht, dass die Gilde oder Akkarin ihr befohlen hätten, das Universitätsgelände niemals wieder zu verlassen. Aber Sonea war eine der drei einzigen schwarzen Magier der Gilde. Und das bedeutete, dass sie dahin gehen musste, wo ihre Feinde lauerten.

Osen seufzte unterdrückt. „Dann vertagen wir die Diskussion über Dannyls Eskorte, bis Sonea ihre Entscheidung getroffen hat, und widmen uns einem Thema, das in Bezug zu den jüngsten Ereignissen steht: die Verwüstung eines Bergdorfes und seiner Wirtschaftsflächen.“ Er sah zu dem einzigen Magier in roten Roben. „Lord Balkan, bitte schildert den höheren Magiern die Entstehung der Verwüstung und ihr Ausmaß.“

„Natürlich, Administrator.“ Das Oberhaupt der Krieger richtete sich in seinem Sessel auf. „Wir versuchten, die Ichani abzufangen, bevor sie das Dorf Wildwasser erreichen konnten. Wildwasser liegt zwischen zwei Bergen, deren Hänge eine steile, enge Falte bilden. Hoch oben in dieser Falte entspringt ein Wildbach, der wenig später durch ein felsiges Gelände fließt, welches wir für einen Hinterhalt nutzten. Die bei dem Kampf freigesetzte Magie löste einige Felsen. Wie Lord Dorrien uns später berichtete, rissen diese auf ihrem Weg ins Tal Erdreich, Bäume und weitere Felsen mit sich, bis schließlich eine Gerölllawine das Dorf unter sich begrub. Menschen kamen nicht zu schaden, weil Lord Dorrien sie rechtzeitig evakuieren konnte. Das komplette Dorf wurde jedoch mitsamt seinen Weiden und Feldern und dem Bachbett, aus dem die Bewohner ihr Wasser beziehen, vernichtet.“

„Wäre es nicht klüger gewesen, den Kampf unterhalb dieser Felsregion stattfinden zu lassen?“, fragte Lord Peakin.

„Unterhalb der Felsen wächst auf der Seite, auf der der Weg entlang führt, ein dichter Wald, der leicht in Brand hätte geraten können und zu unübersichtlich für einen Kampf ist. Wir erreichten die Felsen fast gleichzeitig mit den Ichani, die Verräter waren dicht hinter ihnen. Das Gelände war optimal, um sie nicht entkommen zu lassen.“

„In jedem Fall müssen wir die Bewohner entschädigen“, sagte Rothen.

„Der Hohe Lord hat ihnen bereits Unterstützung zugesagt“, antwortete Sonea.

„Lord Kerrin und Lord Iskren sind mit einigen anderen Kriegern vor Ort geblieben und unterstützen die Dorfbewohner bei den Aufräumarbeiten“, fügte Balkan hinzu.

„Sie werden Baumaterialien und Geld für die Gegenstände brauchen, die sie ersetzen müssen, aber nicht selbst herstellen können“, sagte Rothen. „Und für Nahrungsmittel.“

Osen machte sich eine Notiz. „Die Gilde wird die nötigen Mittel bereitstellen. Eine genaue Untersuchung des Falls ist von meiner Seite aus nicht nötig, da es sich um die Folgen des Kampfes handelt.“ Er sah auf. „Wer wird Lord Vorels Amt übernehmen? Soll ich eine Gildenversammlung einberufen, um mögliche Kandidaten zu finden?“

„Ich werde Lord Vorels Amt übernehmen“, sprach Balkan.

„Also so wie früher, bevor dieser ganze Irrsinn begonnen hat“, sagte Lady Vinara.

Das Oberhaupt der Krieger nickte. „Momentan haben wir nur wenige Krieger, die für diese Aufgabe qualifiziert sind. Die meisten von ihnen sind an der Grenze stationiert. Ich kann Lord Vorels Aufgaben unter mir und meinem Assistenten aufteilen bis sich die Situation mit Sachaka und Duna entspannt oder sich eine Alternative findet.“ Er sah zu Akkarin. „Hoher Lord, ist das in Eurem Sinne?“

„Das ist es.“

Administrator Osen legte seine Schreibfeder beiseite und ordnete seine Notizen. „Sofern es keine weiteren Anliegen gibt, ist die Sitzung beendet.“

Roben raschelten, als sich die höheren Magier erhoben und das Büro verließen. Rothen beobachtete, wie der Administrator auf Akkarin zuhielt und leise auf ihn einredete. „Sonea!“

Sie warf einen zögernden Blick zu ihrem Mann, doch als sie sich Rothen zuwandte, war ihre Miene erneut von dieser sturen Entschlossenheit erfüllt, mit der sie sich durchzusetzen pflegte.

„Versuch gar nicht erst, es mir auszureden.“

„Ich werde nicht aufgeben“, erwiderte er mit einem schiefen Lächeln. „Was du da planst, ist eine Selbstmordaktion.“

„Nicht weniger als die anderen Selbstmordaktionen, in die ich mich in der Vergangenheit gestürzt habe.“

„Und wir alle wissen, wie die Letzte geendet hat.“

„Sonea.“

Sie fuhr herum. Akkarin hatte sein Gespräch mit Osen beendet und winkte sie zu sich. „Komm.“

„Ja, Hoher Lord“, sagte sie offenkundig von der Strenge in seiner Stimme eingeschüchtert. Und mit einem Mal war sie wieder die furchtsame Novizin, die sie einst gewesen war. Akkarin legte eine Hand zwischen ihre Schulterblätter und führte sie hinaus.

Auf der Türschwelle wandte Sonea sich noch einmal um. Ihr Blick war seltsam schmerzerfüllt.

„Rothen, ich muss es tun.“


***


In den vier Jahren, die Sonea nun schon bei Akkarin lebte, hatte es nur wenige Gelegenheiten gegeben, zu denen sie ihn zornig erlebt hatte. Und wenn, dann war sein Zorn dadurch hervorgerufen worden, dass sie sich ihm in irgendeiner Weise, die ihm ungelegen kam, widersetzt hatte. Nur einmal war sein Zorn noch größer gewesen: als Marika sie ihm weggenommen hatte.

Den Weg zur Residenz legten sie schweigend zurück. Es war diese Form des Schweigens, die Sonea hasste und sie dazu brachte, zu rebellieren. Aber sie war die Frau des Hohen Lords. Ihre Rebellion musste warten, bis sie zuhause waren.

Nachdem sie die Residenz betreten hatten, brachte Akkarin sie direkt in die Bibliothek.

„Setz dich“, befahl er mit einer knappen Geste auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

Sonea gehorchte, während sie sich innerlich darauf vorbereitete, ihm mit allen Mitten die Stirn zu bieten. Sie war sich bewusst, dass sie mit ihrem Vorhaben den Eid, den sie ihm geschworen hatte, brach und er sich entsetzliche Sorgen machen würde, wenn er sie gehenließ, aber sie hatte keine Wahl.

Ihr Entschluss war ihr alles andere als leicht gefallen. Er erfüllte sie mit einer Furcht, die sie kaum in Worte fassen konnte. Sie konnte bei dieser Mission sterben oder erneut in Gefangenschaft geraten. Sehr wahrscheinlich würde sie einige der Ashaki, denen sie in Arvice begegnet war, wiedersehen. Marikas Berater berieten nun Kachiro, gewiss würde er sie nach Yukai entsenden, möglicherweise würde er sogar persönlich anwesend sein.

Doch trotz dieser möglichen Gefahren hatte Sonea keinen Augenblick gezögert, als sie entschieden hatte, Dannyls Eskorte zu sein. Als schwarze Magierin konnte sie Auslandsadministrator besser beschützen als ein gewöhnlicher Magier. Besser sie ging, als dass Balkan eine weitere Gruppe Krieger verlor.

Trotz ihrer Furcht, nicht zurückzukehren und Schlimmeres zu erleben, als in dem halben Jahr unter Marika – sie musste gehen. Und sie würde all ihre Willensstärke brauchen, um sich nicht von Akkarin umstimmen zu lassen.

Der Hohe Lord umrundete den Schreibtisch und öffnete eine Schublade. Er zog eine Mappe daraus hervor und warf sie vor ihr auf den Tisch.

„Lies den Inhalt“, wies er sie an. „Und dann wirst du mir sagen, dass du deine Entscheidung zurücknimmst und dich vor den höheren Magiern dafür aussprechen, Auslandsadministrator Dannyl eine kleine Eskorte von Kriegern mit Speichersteinen und Schildsenkern mitzugeben.“

Das werden wir ja sehen, dachte Sonea grimmig. Sie konnte sich nicht vorstellen, was in dieser Mappe sie davon abhalten sollte, nach Yukai zu gehen. Sie wusste, sie tat das einzig Richtige und Akkarin würde das einsehen, sobald sein Ärger verraucht war.

Stirnrunzelnd öffnete sie die Mappe. Darin lagen mehrere Briefe. Sonea zog den ersten heraus und begann zu lesen.

An die Magiergilde von Kyralia,

Hiermit fordert das Sachakanische Imperium die Auslieferung Eurer höheren Magier. Der Hohe Lord Akkarin wird der Hinrichtung mehrerer Dutzend Ashaki sowie der Beihilfe zum Königsmord beschuldigt. Seine Schülerin Sonea wird des Königsmords und des Hochverrats beschuldigt.
Geht auf unsere Forderung ein und das Sachakanische Imperium wird die Leben der übrigen Gildenmagier verschonen.

Imperator Kachiro, Sohn des Tokaro.


Auch die anderen Briefe forderten entweder ihre oder ihre und Akkarins Auslieferung, einige auch gegen ein Ende des Kriegs und die Aufgabe der Eroberungspläne der Sachakaner. Alle waren an die Gilde adressiert. Bis auf einen, der an den König gegangen war. Sonea las jeden Einzelnen mit wachsendem Entsetzen.

Sie wissen, dass ich es war. Sie wissen, was ich getan habe. Aber sie musste zugeben, nicht überrascht zu sein. Die Umstände, unter denen der König von Sachaka gestorben war, sprachen vermutlich für sich. Das Gefühl, als die Klinge seines Paradeschwerts durch die Haut und Muskeln seins Halses geschnitten hatte, bis es in seinen Halswirbeln steckengeblieben war, verfolgte sie noch immer in ihren Träumen. Ebenso wie der Sturm von Gefühlen, der in ihr von dem Augenblick an getobt hatte, als sie erkannt hatte, was sie tun musste, um von ihm frei zu sein.

Schaudernd schob sie ihre Erinnerungen beiseite. Sie hatte es getan, weil sie es hatte tun müssen. Was in den folgenden Wochen in ihr vorgegangen war, war schlimmer als jede Strafe gewesen. Sie hatte immer gewusst, sie würde eines Tages dafür bezahlen.

Und dann kam der Zorn.

„Wie lange geht das schon so?“, verlangte sie zu wissen.

„Ungefähr ein Jahr.“ Akkarin hatte sich neben ihr gegen den Schreibtisch gelehnt und betrachtete sie mit ausdrucksloser Miene. Wenn ihm der unverhohlene Vorwurf in ihrer Stimme missfiel, dann zeigte er das nicht.

„Wer weiß alles davon?“

„Nur ich, der Administrator, die Oberhäupter der Disziplinen – und seit einigen Wochen der König.“

Dann wusste Rothen also auch nichts von diesen Briefen. Wahrscheinlich hat er nur versucht, mich aufzuhalten, weil er sich Sorgen macht. Aber die Sachakaner werden wohl kaum die Regeln der Diplomatie verletzen, wenn ich Dannyl nach Yukai begleite. Denn dann wird dieser Krieg so bald kein Ende finden.

Dennoch fühlte sie sich übergangen. Sie konnte nicht glauben, dass Akkarin die ganze Zeit davon gewusst und ihr nichts gesagt hatte.

„Und wann hattet Ihr vor, mich einzuweihen?“

„Nie. Das heißt, hättest du dir nicht in deinen Dickkopf gesetzt, zu dieser Konferenz zu gehen.“

„Ich finde durchaus, dass mich das etwas angeht“, gab sie zurück.

„Es bestand kein Grund, dich einzuweihen, weil ich dich nicht unnötig beunruhigen wollte. Als die ersten Briefe kamen, warst du hochschwanger, danach hast du dich auf deinen Abschluss vorbereitet.“

Unnötig?“, entfuhr es Sonea. „Ich bin beunruhigt!“

„Das solltest du auch.“

Ihr entfuhr ein übler sachakanischer Fluch. „Ich finde, ich habe vor allen anderen Magiern ein Recht darauf, über solche Dinge informiert zu werden!“

„Nun, jetzt weißt du es.“

„Ihr hättet mich informieren sollen, als der erste Brief kam.“

„Vielleicht hätte ich das“, stimmte Akkarin. „Vielleicht hätte dich das davon abgehalten, auf diese törichte Selbstmordmission zu gehen.“

„Das hätte es nicht. Und ich bezweifle, dass Marikas Berater mich töten werden.“ Auch er hatte sie nicht getötet, als er die Gelegenheit dazu gehabt hatte und das nicht nur, weil sie nützliche Informationen besaß. Die Sachakaner hatten genug andere Verwendungszwecke für jemanden wie sie.

„Was sie stattdessen tun werden, ist sehr viel schlimmer. Willst du das noch einmal erleben?“

Sonea erschauderte. Sie hatte fast das komplette halbe Jahr gebraucht, um sich an Marika zu gewöhnen. Und auch da war es ihr noch schwergefallen, ihn als das zu akzeptieren, was er für sie zu sein hatte. Er war nicht Akkarin. Er hatte kein Recht auf sie gehabt.

„Natürlich nicht, aber dazu wird es nicht kommen, weil sie damit die Regeln der Diplomatie verletzen werden und die Gilde Vergeltung üben wird.“

„Ich wünsche trotzdem, dass du nicht gehst.“

In einer rebellischen Geste schob sie ihr Kinn vor. „Ich werde gehen. Dannyl ist unser bester Diplomat. Wenn Ihr mir verbietet, ihn zu begleiten, unterschreibt Ihr damit sein Todesurteil.“

„Sonea, das ist ein Befehl.“

„Dem ich mich widersetze.“

„Du hast einen Eid gesprochen.“

„Den ich breche, wenn Ihr eine Dummheit plant. Und das hier ist eine. So wie damals, als die Gilde Euch verbannt hat!“ Es war jedes Mal dasselbe. Sie gehorchte ihm bereitwillig und fügte sich ihm, weil sie ihn respektierte und ihm bedingungslos ergeben war. Doch das hatte ganz schnell ein Ende, wenn er im Unrecht war. Sonea fand, sie waren lange genug zusammen, dass er das begriffen haben musste.

„Damals wolltest du nicht, dass ich alleine nach Sachaka gehe, damit ich nicht sterbe“, erinnerte er sie. „Jetzt lasse ich dich nicht gehen, damit du nicht erneut in die Hände der Sachakaner gerätst.“

In jeder anderen Situation hätte Sonea sich über seine Besorgnis gefreut. Jetzt war sie hingegen viel zu wütend, um ihrem Mann so etwas wie Menschlichkeit zuzugestehen. Warum musste er immerzu alles und jeden kontrollieren?

„Wie könnt Ihr es wagen, so über mich zu verfügen!“, fuhr sie ihn an. „Ich bin nicht mehr Eure Novizin!“

„Aber du bist meine Frau. Du hast mir Gehorsam geschworen“, entgegnete Akkarin ungerührt.

„Und Ihr seid gerade dabei, dieses Privileg zu verwirken“, grollte sie. „Mehr als ein Jahr habt Ihr mir vorgegaukelt, die Sachakaner seien keine Gefahr mehr für uns. Und entgegen diesem Wissen habt Ihr versucht, mit mir ein zweites Kind zu zeugen.“

Akkarin betrachtete sie ausdruckslos. „Nun, das wird jetzt ein Ende haben.“

Sonea zuckte zusammen. Seine Worte hatten etwas schmerzhaft Endgültiges.

„Sonea, begreifst du überhaupt, warum sie diese Briefe schicken?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

„Weil die Verräter und die Männer, die Kachiro zu Ichani erklärt hat, seinen Leuten seit seiner Thronbesteigung so zugesetzt haben, dass eine Eroberung Kyralias in weite Ferne gerückt ist. Zudem lehnen immer mehr Ashaki einen weiteren Krieg gegen die Gilde ab, was zu innenpolitischen Spannungen in ihrem Land führt. Kachiro ist gezwungen, seine Ziele mit etwas … diplomatischeren Mitteln zu erreichen. In diesem Fall bedeutet das uns zu zermürben. Sonea, den meisten Sachakanern dürstet es inzwischen mehr nach Rache für das Massaker von Arvice, an dem wir beide beteiligt waren, als nach der Vernichtung der Gilde und die Eroberung Kyralias.“

„Und deswegen haben die Duna den Kampf gegen die Verräter übernommen“, folgerte sie.

„Ja.“

„Aber das beweist doch, dass die Sachakaner schwach sind und dass mir und Dannyl nichts passieren wird.“

„Das ist möglich, aber wir dürfen nicht ausschließen, dass sie die Gelegenheit nutzen, um dich gefangen zu nehmen. Doch es kann auch passieren, dass Kachiros Gegner euch überfallen und an den Imperator ausliefern, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen.“

Das war ein Argument, das Sonea nicht bedacht hatte. Plötzlich kam sie sich unendlich naiv vor. Aber das änderte nichts. Sie schob ihr Kinn vor und sah zu Akkarin auf. „Dann muss ich eben dafür sorgen, dass ich stark genug bin, um es mit ihnen aufzunehmen“, sagte sie entschlossen. „Ich nehme die beiden Speichersteine mit Marikas Magie mit und einen Sack mit den neuen Schildsenkern, die Lord Sarrin und ich hergestellt haben.“

Ihr Mann öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie schnitt ihm das Wort ab. „Und jetzt hör auf, es mir auszureden, denn sonst bin ich versucht, meine Meinung zu ändern und das werde ich nicht ertragen. Wir beide wissen, dass es der einzige Weg ist. Sarrin ist zu alt, Balkans Krieger sind zu auffällig und die Gilde braucht dich mehr als mich. Akkarin, ich muss das tun, denn nur so kann ich mich meiner Vergangenheit stellen. Ich weiß, dass ich sonst …“ Sie brach ab, als sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Diese Entscheidung hatte sie all ihre Entschlossenheit gekostet und sie wusste, wenn er weiterhin versuchen würde, sie aufzuhalten, dann würde sie nicht gehen.

Statt einer Erwiderung zog Akkarin sie in seine Arme und hielt sie fest. „Mir ist bewusst, dass ich dich gehenlassen muss“, flüsterte er in ihr Haar. „Dennoch wünschte ich, du würdest es nicht tun.“

„Ich weiß. Aber Dannyl hat den bestmöglichen Schutz verdient, den die Gilde ihm geben kann und ich werde nie über meine Erlebnisse in Arvice hinwegkommen, wenn ich nicht mit ihm gehe. Ich habe aus meinen Fehlern bei der Schlacht in der Ettkriti-Ebene gelernt. Ich werde auf mich aufpassen.“

„Das bezweifle ich nicht“, erwiderte Akkarin. „Ich fürchte, ich muss mich bei dir entschuldigen. Es ist richtig, ich war wütend. Jedoch nicht auf Grund deines Ungehorsams, sondern weil ich nicht vergessen kann, was vor zwei Jahren geschehen ist.“

Etwas in Sonea löste sich endgültig und ihr Zorn verrauchte. „Dann wird es dir vielleicht helfen, wenn ich nach Sachaka gehe und sicher wieder zurückkomme.“

„Das ist möglich. Doch ich werde keinen ruhigen Augenblick haben, bevor du wieder hier bist.“

„Also wirst du nicht länger versuchen, mich aufzuhalten?“

„Nein.“

Sonea seufzte und lehnte den Kopf gegen seine Brust. „Fast hätten wir uns vor den höheren Magiern gestritten“, sagte sie.

Akkarin lachte leise. „Spätestens jetzt wird ihnen klar sein, dass wir durchaus unterschiedlicher Meinung sein können. Das sollte sie davon abhalten zu denken, wir würden uns gegen sie verbünden.“ Dann wurde er wieder ernst. „Aber ich musste zumindest versuchen, dich umzustimmen. Ich könnte es nicht ertragen, dich noch einmal zu verlieren.“

„Das wirst du nicht. Für genau eine solche Situation haben wir die Ringe gemacht. Du wirst mich finden und ich werde wissen, dass du noch am Leben bist, selbst wenn mein Ring verlorengeht. Wenn dir das nicht ausreicht, mach mir ein Blutjuwel, das sich nicht mehr entfernen lässt.“ Ihre Worte klangen zuversichtlicher als sie sich fühlte. Sie wusste, sie würde alles ertragen, was die Sachakaner mit ihr anstellen mochten, wenn sie wusste, dass er noch am Leben war und alles daran setzte, sie zu finden. Damals in Arvice war das anders gewesen. Und das hatte sie fast zerstört.

„Ich werde diese Möglichkeit in Betracht ziehen“, versprach Akkarin. „Und von heute an werde ich dich auf deine Mission vorbereiten. Wir werden zusätzliche Stunden im Dome und mit Balkans Kriegern nehmen und ich werde dir zeigen, wie man einen schwächeren Magier beschützt. Ich werde die Magier anweisen, dir bis zu deinem und Dannyls Aufbruch ihre Kraft zu geben.“

Sonea lächelte. „Danke.“

„Sonea, ich tue das, weil es notwendig ist. Wenn Dannyls Mission ohne diese Maßnahme möglich wäre, würde ich dir befehlen, hierzubleiben. Du hast mir dein Wort gegeben, niemals wieder einen Fuß nach Sachaka zu setzen und ich bin nur bereit, dir dies zu gestatten, weil es die beste Lösung für die Gilde und ihre Verbündeten ist.“

Sie nickte ernst. Sie musste Sachaka nur durchqueren. Sie würde nicht einmal in die Nähe von Arvice kommen. Das Problem lag eher in der wahrscheinlichen Begegnung mit alten Bekannten.

„Hoher Lord, ich verspreche, während dieser Reise kein törichtes Risiko einzugehen und Auslandsadministrator Dannyl sicher zurück nach Hause zu bringen“, gelobte sie.

„Das erwarte ich auch.“

Es klopfte. Akkarins Augen verengten sich für einen Moment, dann schwang die Tür auf.

Caria trat ein und verneigte sich. „Ich bitte um Verzeihung für die Störung, Hoher Lord, Lady Sonea“, sagte sie. „Ich wollte nur melden, dass Lorlen gewaschen und gewickelt ist. Soll ich ihn füttern oder wollt Ihr das selbst machen, Mylady?“

Lorlen! Über ihren Streit und ihre Entschlossenheit, nach Yukai zu gehen, hatte Sonea ihren kleinen Sohn vollkommen vergessen. Sie verspürte ein jähes Schuldgefühl.

„Danke Caria“, sagte sie. „Ich werde ihn selbst füttern.“

„Wie Ihr wünscht, Mylady.“ Die Dienerin zog sich zurück.

„Was wird aus Lorlen, wenn ich fort bin?“, fragte sie, als sie den Flur zu Lorlens Zimmer überquerten.

„Ich dachte schon, du würdest niemals fragen“, bemerkte ihr Mann trocken.

Sonea unterdrückte ein Schnauben. Sie fühlte sich wie die schlechteste Mutter der Welt. „Ich kann ihn nicht mitnehmen, aber bis ich zurück bin, werde ich keine Milch mehr produzieren. Und ich werde ihn nicht aufwachsen sehen.“ In den zwei Wochen, die sie gerade fort gewesen war, war ihre Milchquelle fast versiegt. Es war schwer gewesen, ihr Baby zurückzulassen und sie wusste, sie würde ihn noch viel mehr vermissen, wenn sie ohne Akkarin in ein fremdes Land reiste, um sich ihrer Vergangenheit zu stellen und den Mann am Leben zu erhalten, der den Frieden bringen sollte.

„Es werden nur ein paar Wochen, allenfalls zwei Monate sein.“

Sonea stieß die Tür zu Lorlens Zimmer auf. „Babys entwickeln sich schnell.“ Sie trat vor die Wiege und hob ihren Sohn empor. Das Baby gluckste und griff nach den Flechten in ihrem Haar. „Was, wenn ich nicht dabei sein kann, wenn er Laufen und Sprechen lernt?“

„Ich bezweifle, dass Lorlen das kümmert.“

„Aber mich kümmert es.“ Sonea setzte sich in einen Sessel und öffnete ihre Robe. „Ich bin eine schlechte Mutter.“

„Du gehst nach Sachaka, obwohl du weißt, dass du dort sterben könntest und das Einzige, worum du dich sorgst, ist, ob du eine gute Mutter bist?“

„Nun, ja.“

„Lorlen hat genug Menschen um sich, die sich um ihn kümmern werden. Sieh lieber zu, dass er nach dieser Konferenz noch eine Mutter hat.“

Sonea verzog das Gesicht, als Lorlen an ihrer Brust zu saugen begann. Sie konnte spüren, wo seine Zähne kamen und es rief ihr schmerzlich ins Gedächtnis, welches Opfer sie für die Gilde bringen würde. „Natürlich werde ich das.“ Sie seufzte. „Wahrscheinlich ist es wirklich besser, wenn wir das mit dem Kindermachen vorerst einstellen.“


***


Nach dem Entsetzen über die mangelnde Fairness und die Ungerechtigkeit, mit der die Lan ihre Novizen für die Gilde auswählten, war es Dannyl schwergefallen, sich auf die Verhandlungen mit den zerstrittenen Stammesführern einzulassen. Er begriff, dass die Lan ihre Novizen nach einem System auswählten, das ihnen den bestmöglich gesellschaftlichen Status versprach und das umso mehr Sinn ergab, je mehr er sich damit beschäftigte. Doch er begriff nicht, warum sie diese Entscheidung in einem Wettbewerb herbeiführen mussten, der nicht nur barbarisch, sondern auch in keinem Bezug zu einer späteren Karriere als Magier stand. Obwohl er mit der Tradition der Lan vertraut war, fand er Selbige im Bezug auf Magie absolut unangebracht. Magie mochte eine untergeordnete Rolle spielen, wenn die magischen Blutlinien schwach waren, aber es war Magie. Und es stand Dannyl nicht zu, den König und die Stammesführer zu einem fairen Auswahlverfahren zu überreden.

Der Kampf mit nichtmagischen Waffen hatte für einen Magier keinerlei Nutzen. Manche Krieger behaupteten, auf diese Weise würden die Ausdauer und die Reflexe bei magischen Kämpfen trainiert, doch die Effektivität dieses Trainings war umstritten und brachte höchstens denjenigen Magiern einen Vorteil, die die Kriegskunst wählten. Aber nicht alle Lan, die an der Universität studierten, wurden Krieger. Dannyl war unter den Angehörigen der verschiedenen Stämme nicht wenigen Heilern und Alchemisten begegnet.

Wehmütig dachte er an Dan-San. Das junge Mädchen hätte eine hervorragende Heilerin werden können, wäre sie nicht in der dritten Runde ausgeschieden. An ihrer Stelle war das Mädchen, gegen das sie ausgeschieden war, zur zweiten Siegerin erklärt worden, während ein Junge mit einem so geringen magischen Potential, dass er in Kyralia niemals zur Gilde geschickt worden wäre, den Wettkampf gewonnen hatte. Das hatte Dannyl wütend gemacht. Als Repräsentant der Gilde im Ausland war er in Krisenzeiten darauf bedacht, möglichst starke Novizen zu gewinnen. Zudem würden Novizen mit sehr schwachem magischen Potential im Laufe ihres Studiums erhebliche Schwierigkeiten bekommen, weil sie den Anforderungen nicht gerecht wurden. Jetzt sah er sich in einem inneren Konflikt mit dem Respekt, den er den Sitten und Gesetzen anderer Kulturen als Diplomat entgegenbringen musste und seinem Gewissen. Dem Sieger der Auswahlspiele war mit dem Beitritt zur Gilde kein Gefallen getan. Dannyl hätte dem Anführer seines Stammes davon abgeraten, den Jungen zur Gilde zu schicken, doch der Stamm hatte besonders schwache magische Blutlinien und sah in seinem Kandidaten seine einzige Chance zu einem gesellschaftlichen Aufstieg.

Ein Seufzen unterdrückend schob Dannyl seine frustrierenden Gedanken beiseite. Der Stamm der Felsensinger war in den Konflikt zwischen dem Stamm vom Rauschenden Fluss und den Kriegern vom Gan-Gan Berg involviert. Eine noch so wohlüberlegte Bemerkung gegenüber dem Stammesführer bezüglich seines Kandidaten für die Gilde konnte die Verhandlungen verkomplizieren und eine Lösung des Konflikts in weitere Ferne rücken.

„Vor drei Jahren haben sich die Krieger vom Rauschenden Fluss mit den Felsensingern verbündet, um uns unser Land streitig zu machen“, warf Vahral-Gan, der Anführer der Krieger vom Gan-Gan Berg, gerade Stammesführer Hol-Tan vor. „Seit Generationen versucht Ihr bereits, uns unser Land wegzunehmen und jedes Mal unterliegt ihr. Ein weiser Krieger erkennt, wann er verloren hat.“

„Die Rasenden Kor-Las haben uns unser Land weggenommen, als wir einem verwandten Stamm zur Hilfe geeilt sind“, gab Hol-Tan zurück. „Sie hatten kein Recht dazu.“

„Das Land vom Gan-Gan Berg war unbesiedelt, als meine Vorgänger sich darauf niederließen“, erwiderte Vahral-Gan. „Wir haben niemandem etwas weggenommen. Doch Ihr habt uns einen unserer befreundeten Stämme nach dem anderen weggenommen. Und das, obwohl wir Euch auf unserem Territorium jagen ließen, nachdem dieser Berg im Norden explodiert ist.“

„Die Krieger vom Rauschenden Fluss und die Felsensinger haben sich uns aus freien Stücken angeschlossen.“

„Ihr habt sie mit Versprechungen gelockt“, unterstellte der Anführer der Krieger vom Gan-Gan Berg. „Damit erhofft Ihr bessere magische Blutlinien, nachdem die Euren nahezu versiegt sind.“

Dannyl hob beschwichtigend eine Hand. „Ich denke, das waren genug der gegenseitigen Anschuldigungen“, sagte er. „Mich würde interessieren, was die Felsensinger zu dieser Geschichte zu sagen haben, nachdem ich Bahrol-Ton bereits in dieser Angelegenheit angehört habe.“

König Val-Ton machte eine gebieterische Geste zu dem Anführer der Felsensinger. „Sprecht.“

„Mein Stamm hat sich mit den Kriegern vom Rauschenden Fluss verbündet, weil wir ihren Anspruch auf den Gan-Gan Berg anerkennen“, sprach der Stammesführer. „Wir waren niemals mit den Rasenden Kor-Las verbündet, wir haben sie jedoch einmal bei einem Kampf gegen Krieger der Ewigen Schneefelder unterstützt, weil wir mit diesem Clan seit jeher einen Konflikt haben.“ Die grauen Augen des Mannes bohrten sich in die Vahral-Gans. „Doch was die Krieger vom Rauschenden Fluss betrifft, so sind die Rasenden Kor-Las und die Felsensinger keine Freunde.“

„Krieger vom Gan-Gan Berg“, knurrte Vahral-Gan.

„Einen Namen, den Ihr Euch erkauft habt“, warf Hol-Tan ein.

„Wenn die Herren Stammesführer bitte ihre Aggressionen gegeneinander unterlassen könnten!“, sagte Botschafter Salyk mit einer Autorität, die Dannyl beeindruckte. „Der Auslandsadministrator ist weit gereist, um Euren Konflikt für alle zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen. Also tut ihm den Gefallen und lasst ihn seine Arbeit machen.“

Zu Dannyls anderer Seite brach Tayend in einen Hustenanfall aus. Hastig griff der Gelehrte nach seinem Wasserglas und trank einen Schluck.

„Alles in Ordnung?“, fragte Dannyl leise, während er seinem Freund auf den Rücken klopfte.

„Ja“, krächzte Tayend. „Danke.“

„Ich bitte um Entschuldigung“, sagte Dannyl zu Val-Ton und den Stammesführern gewandt. Diese nickten nur, während Salyks Augen für einen Moment zu ihm blitzten. „Botschafter Salyk hat es bereits gesagt: Der Zweck dieses Treffen ist das Finden einer Lösung, die alle Beteiligten zufriedenstellt.“

Tayend murmelte etwas Unverständliches. Dannyl warf ihm einem fragenden Seitenblick zu und wandte sich dann wieder zu den Stammesführern. Er ahnte, wenn er tiefer graben würde, würde vor den Kriegern vom Rauschenden Fluss ein anderer Stamm auf den Hängen des Gan-Gan Bergs gesiedelt haben und vor diesem noch ein anderer. Und für den ehemaligen Lebensraum der Rasenden Kor-Las würde Ähnliches gelten. So wie für die der anderen Stämme.

„Stammesführer Vahral-Gan“, begann er. „Wo hat Euer Volk gesiedelt, bevor es den Gan-Gan Berg wählte?“

„Im Tal des gelben Sees“, antwortete der Stammesführer.

„Habt Ihr diesen Ort nur verlassen, weil der Gan-Gan Berg unbewohnt war?“

„Ja.“

„Das ist eine Lüge!“, mischte sich der Stammesführer der Ewigen Schneefelder ein. „Es ist allgemein bekannt, dass die Fische im gelben See starben, als dieser Berg im Norden explodiert ist. Deswegen haben sie ihre Heimat verlassen!“

„Eine Verschlechterung der Lebensumstände ist ein berechtigter Grund, sich nach einer neuen Heimat umzusehen“, entgegnete Dannyl. „Doch man sollte dabei nicht anderen ihre Heimat wegnehmen. Stammesführer Vahral-Gan, könnt Ihr uns sagen, welcher Stamm vor Euch am gelben See gesiedelt hat?“

„Mein Stamm hat dort schon immer gewohnt, bevor wir zum Gan-Gan Berg zogen.“

„Soweit ich mich erinnere, wurde das Land bis vor dreihundert Jahren von den Bovar-Kriegern bevölkert“, warf König Val-Ton ein. Er sah zu einem hageren Mann, dessen Kopf bis auf einen dichten dunklen Bart unbehaart war. „So ist es doch, Hal-Hal, nicht wahr?“

Der Mann nickte. „Eines Tages kamen die Rasenden Kor-Las, plünderten unser Tal und vertrieben uns. Wir siedelten uns in einem der Urwälder an, wo wir seitdem leben.“

„Habt Ihr jemals versucht, Rache zu nehmen?“

„Anfangs haben wir das“, gab Hal-Hal zu. „Doch nach nur kurzer Zeit haben wir unsere Feindseligkeiten eingestellt, weil wir mit unserem neuen Land sehr viel zufriedener waren.“

„Eure Aussage beweist, dass die Rasenden Kor-Las sich einfach nehmen, was sie wollen“, warf Hol-Tan ein.

„Mein Stamm nennt sich die Krieger vom Gan-Gan Berg.“

„Stammesführer Hol-Tan, welche Vor- und Nachteile bietet Euch das Land, welches Ihr seit dem Verlust des Gan-Gan Berges, besiedelt?“, fragte Dannyl.

„Die Nachteile sind eindeutig …“

- Dannyl!

Dannyl zuckte zusammen, als er die harsche Stimme erkannte.

- Akkarin! Was kann ich für Euch tun?

- Eure Anwesenheit wird in Imardin erfordert. Bucht die schnellstmögliche Passage zurück nach Kyralia. Ihr werdet alles Weitere bei Eurer Ankunft erfahren.

- Verstanden, Hoher Lord, sandte Dannyl, unsicher, ob der andere Mann ihn noch gehört hatte.

In seinen anfänglichen Schrecken mischte sich Verwirrung – und dann Besorgnis. Erst ein einziges Mal hatte Akkarin ihn per Gedankenrede zurück nach Imardin beordert. Dass er es erneut tat, musste einen guten Grund haben. Hatte er Vaulens Bericht über diese Abtreibungsgeschichte in Lonmar erhalten und wollte mit ihm persönlich darüber sprechen?

Akkarin hatte ihm keinen Hinweis auf die Gründe seiner Anweisung gegeben. Das war indes nicht zu verwundern, weil diplomatische Themen vertraulich behandelt wurden. Potentiell konnte Gedankenrede von jedem Magier und jedem Menschen mit starkem latenten magischen Potential überhört werden. Die Inhalte von Dannyls Arbeit gingen weder die Herrscher der Verbündeten Ländern noch die Sachakaner etwas an.

Dannyl brannte darauf zu erfahren, was Akkarin von ihm wollte und zum ersten Mal ärgerte er sich, weil dieser sein Blutjuwel nach Ende der Verhandlungen mit den Verrätern zurückverlangt hatte.

„Es besteht kein Grund, ein schwarzmagisches Artefakt mit Euch herumzutragen, wenn Ihr Euch nicht auf feindlichem Gebiet befindet“, hatte der Hohe Lord erklärt. „Für dringende Angelegenheiten, die nicht Eure Rückkehr nach Imardin erfordern, werden die Codewörter genügen, die ich Euch ausgehändigt habe. In allen anderen Fällen genügt es, wenn Ihr die Details in der Gilde erfahrt.“

Sich an Akkarins Worte erinnernd, konnte Dannyl den Abtreibungsfall in Jebem mit großer Wahrscheinlichkeit ausschließen. Es sei denn, es bedurfte eines persönlichen Gesprächs. Doch Dannyl glaubte, eine gewisse Dringlichkeit in der Botschaft gespürt zu haben. Seit die Verräter den Krieg fortführten, war Kyralia kein einziges Mal von den Sachakanern bedroht worden. Allerdings konnte sich die Situation jederzeit ändern und Dannyl war über die Ereignisse in Kyralia und Sachaka nicht auf dem Laufenden.

Aber sollte die Gilde wirklich in Gefahr sein, so werde ich zu spät dort ankommen.

Insofern beschränkte sich der Nutzen eines Blutjuwels darauf, seine Neugier vorzeitig zu befriedigen.

„Auslandsadministrator Dannyl?“

Dannyl sah auf. Die Stammesführer und König Val-Ton musterten ihn fragend. Es war indes Salyk gewesen, der gesprochen hatte.

„Geht es Euch gut?“

Dannyl nickte. „Ich habe gerade eine wichtige Nachricht erhalten“, sagte er. Er nickte Tayend zu. „Bitte entschuldigt meinen Assistenten und mich für einen Moment.“

„Geht nur, Auslandsadministrator“, sprach der König.

Mit einem dankenden Lächeln erhob Dannyl sich und schritt, ohne sich nach Tayend umzudrehen, nach draußen. Er mochte es nicht, seinen Gefährten so zu behandeln, doch für die anderen war er nur sein Assistent und damit ein Untergebener. Dieses Mal erkannte Dannyl jedoch auch einen Vorteil in Tayends Position. Während er die Verhandlungen fortführte, konnte er seinen Gefährten zum Hafen schicken und eine Passage nach Imardin in seinem Auftrag buchen lassen.

Nun, je nachdem, wie bald wir ein Schiff finden, das uns nach Kyralia bringt, werde ich den Konflikt nicht lösen können.

„Was ist passiert?“, fragte Tayend kaum, dass sie den Flur betreten hatten und die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war.

Dannyl schenkte seinem Gefährten ein schiefes Lächeln. „Scheint, als bekämest du endlich die Chance, deinen Babybesuch zu machen, bevor aus dem süßen Lorlen ein Kleinkind geworden ist.“


***


Über dem Felsvorsprung glitzerten die ersten Sterne. Die Berge unter ihnen in Schwärze getaucht, ihre schroffen Umrisse in der Dunkelheit aufgeweicht. Über den Ödländern hing ein feiner Dunst, der im Restlicht am Himmel weißlich-milchig schimmerte. Die Nacht war still und eisig kalt, außerhalb von Akkarins Wärmeschild hatten sich erste Eiskristalle auf dem harten Boden gebildet.

Meine letzte Nacht in Sachaka, dachte Sonea. Morgen werden wir wieder in Kyralia sein und alles zurücklassen, was hier geschehen ist. Sie wusste, das würde auch die letzten drei Tage beinhalten, aber das war besser, als zu glauben, sie würde ihn niemals wieder sehen. Wenn sie wieder zuhause war, würde sie nur noch Akkarins Novizin sein. Angesichts dem, was geschehen war, war das vermutlich das Beste für sie beide.

„Sonea, wenn wir morgen das Fort erreichen, erwarte ich von dir, dass du niemals wieder einen Fuß nach Sachaka setzt.“ Akkarins kühle Hand strich über ihre Schläfen. „Ich könnte es nicht ertragen, dich ein zweites Mal zu verlieren.“

„Ich verspreche es“, flüsterte sie.

Akkarin zog sie dichter in seine Arme. „Und ich werde dafür sorgen, dass du dein Wort hältst.“

Und sie hatte ihr Wort gehalten. Nichts widerstrebte ihr mehr, als in das Land zurückzukehren, in dem sie unfreiwillig ein halbes Jahr verbracht und Dinge getan hatte, wegen derer sie sich zutiefst schämte. Aber dann hatten die Duna während der Schneeschmelze fast das Versteck der Verräter entdeckt und damit eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, durch die der Krieg schlimmer denn je tobte. Sollten die Verräter unterliegen, war die Gilde auf sich gestellt. Gegen Ashaki und Duna würde sie nicht bestehen.

Und deswegen war Sonea jetzt mit Dannyl auf dem Weg nach Yukai, damit er zwischen den verschiedenen Parteien verhandelte und das Töten ein Ende fand.

Tagelang waren sie durch schwarzes, totes Land gereist. An manchen Stellen war die Erde aufgebrochen und ihr heißes rotes Blut ergoss sich über die Landschaft. Der Anblick hatte Sonea entsetzt. Sie hatte sich die Aschenwüste anders vorgestellt – irgendwie romantischer. So wie in Danyaras Lieblingsmärchen. Das Bild, das sich ihr jedoch bot, schien einem Alptraum entsprungen.

Gegen Abend wurde die Landschaft plötzlich grün. In der Ferne konnte Sonea eine Stadt erkennen.

„Das muss Yukai sein“, sagte sie.

Als sie näher kam, erkannte sie, dass es keine Stadt war. Vertraute Kuppeln und Türme schraubten sich in den Himmel, das Gold darauf leuchtete rötlich in der Abendsonne.

Der Palast von Arvice.

Ihr Herz gefror das Blut in den Adern. „Nein!“, rief sie. „Wir müssen hier weg!“

Doch es war zu spät. Die goldenen Tore hatten sich hinter ihnen geschlossen und Palastwachen kamen auf sie zu. Sonea sah zu Dannyl. „Es tut mir leid. Ich habe geschworen, Euch zu beschützen. Aber ich habe versagt“

Dannyl lächelte schief. „Du kannst nicht ändern, was du bist“, erwiderte er. „Eines Tages musste dein Weg dich wieder zu ihm führen.“

Bevor Sonea etwas darauf erwidern konnte, brachten die Palastwachen ihn fort. Ivasako und Rikaro fassten je einen ihrer Arme und führten sie in den Palast, wie an jenem Tag, an dem sie versucht hatte, sich vor Marika zu verstecken. Obwohl Sonea spürte, wie ihre Beine versagten, gelang es den beiden Palastwachen irgendwie, sie durch die Eingangshalle und den Zugang entlang zum Thronsaal zu zerren.

Der König von Sachaka saß auf seinem Thron, seinen P’anaal zu seinen Füßen. Seine raubvogelartigen Augen waren auf sie gerichtet, als Ivasako und Rikaro sie zu ihm führten. Und plötzlich wurde Sonea bewusst, dass sie statt ihrer Robe ein freizügiges sachakanisches Kleid trug, das gerade das Nötigste bedeckte und nur wenig der Phantasie überließ.

„Ah, Sonea. Mein kleiner Yeel ist wieder da.“

„Ihr solltet tot sein“, brachte Sonea hervor.

Marika lachte leise. „Du hast mich nicht getötet, weil du es nicht gewollt hast.“

Sie erschauderte. Nein, das hatte sie nicht. Ein Teil von ihr hatte die Tat noch während der Ausführung bereut, noch während das Schwert seinen Hals durchtrennt hatte. Wie konnte es sein, dass er am Leben war? Sie hatte ihn sterben sehen! Sie hatte gesehen, wie die verbleibende Magie seinen Körper verbrannt hatte!

„Ich überlege schon die ganze Zeit, wie ich dich dafür am nachhaltigsten bestrafe“, fuhr Marika fort. „Was meinst du, welche Strafe wäre am effektivsten?“

Sie starrte ihn trotzig an, wohlwissend, dass sich das nicht gehörte und sie die Konsequenzen zu spüren bekommen würde. „Bestraft mich, wie es Euch beliebt, aber lasst Dannyl gehen.“

Die Vallookaugen bohrten sich ihn ihre.

„Du weißt, was du dafür tun musst.“

Sie schluckte und nickte. Ja, das wusste sie. Es gab nur eines, was er von ihr wollte. Es war die ganze Zeit darauf hinausgelaufen. So wie damals in der Ettkriti-Ebene, als er sie zum ersten Mal erblickt hatte. Sie hatte fast das gesamte halbe Jahr gebraucht, es wirklich zu akzeptieren und das hatte dafür gesorgt, dass sie es nicht mehr abschütteln konnte.

Ein Schaudern unterdrückend ging sie vor ihm auf die Knie und streckte ihm mit gesenktem Kopf die Handgelenke entgegen.

„Ich unterwerfe mich Euch“, brachte sie mit bebender Stimme hervor. Ihr Körper erzitterte unten den Gefühlen, die über sie hereinbrachen. „Meine Gedanken, meine Magie und mein Körper gehören Euch. Ich werde Eure …“

„Sonea!“

Sonea schlug die Augen auf. Akkarin war über sie gebeugt und musterte sie mit gerunzelter Stirn. Die Welt um sie herum war dunkel. Nur allmählich begriff ihr, dass sie in ihrem Schlafzimmer und nicht in Marikas Thronsaal war. Sie trug kein sachakanisches Kleid, doch in dem durchschimmernden Nachthemd mit der feinen Spitze fühlte sie sich nicht weniger nackt.

„Was ist?“, fragte sie, die Decke vor ihrer Brust festhaltend. „Warum hast du mich geweckt?“

„Ich hielt es für besser einzugreifen, bevor du dich ihm vollständig unterwirfst“, antwortete er auf Kyralisch.

Erst da wurde ihr bewusst, dass sie Sachakanisch gesprochen hatte. Sie wollte fragen, woher er davon wusste, doch dann fiel ihr wieder ein, dass ihre Blutringe bewirkten, dass sie zuweilen in den Traum des anderen drifteten.

Obwohl sie wusste, er hatte das nicht mit Absicht getan, wünschte Sonea einen absurden Augenblick lang, er hätte es nicht mitbekommen und sie hätte den Traum weiter geträumt. Und mit dieser Erkenntnis kam ein Schuldgefühl, das ihr den Atem nahm.

„Es tut mir leid, dass du das gesehen hast.“

Akkarin streckte seine entstellte Hand nach ihr aus und strich ein paar Haare aus ihrer Stirn. „Das muss es nicht. Es war zu erwarten, dass er wieder an Macht über dich gewinnt.“

„Dann lass das nicht zu. Hilf mir, ihn zu vergessen und zeig mir, dass ich dir gehöre.“

„Nein.“ Akkarin ließ von ihr ab und rollte sich auf den Rücken. „Ich kann nicht.“

„Warum? In den letzten Wochen hat das doch wunderbar funktioniert.“

„Ich kann nicht, weil ich mich wieder an das erinnere, was ich in seinen Gedanken gesehen habe“, sagte er hart, den Blick zur Decke gerichtet.

„Dann bestraf mich. Bestraf mich für das, was ich damals getan habe und dafür, dass ich wieder von ihm geträumt habe.“

Seine Augen blitzten, als er sich ihr zuwandte. „Sonea, warum denkst du, tun wir das hier?“

„Weil …“, sie brach ab. Mit einem Mal begriff sie, dass sie es selbst nicht wusste. „Weil es das ist, was Sachaka aus uns gemacht hat? Weil ich das brauche?“

„Das sollte aber nicht der Grund sein“, sagte Akkarin hart.

„Aber ich will mir dir unterwerfen“, gab sie zurück. Was war daran so schwer zu verstehen? Es hatte ihr schon danach verlangt, bevor sie von Akkarins dunkler Seite gewusst hatte. Bevor Marika sie entführt und ihre eigene dunkle Seite unwiderruflich entfesselt hatte. Sie begriff nicht, warum das so war und sie fühlte sich verdorben, aber es war das, was sie wollte.

Sie beide wollten es.

„Und warum willst du das? Was willst du wirklich, Sonea?“

Sonea schwieg. Sie begriff, dass es nicht um seine dunkle Seite ging. Es ging um ihre. Aus irgendeinem Grund glaubte er, sie habe sich aus den falschen Gründen auf dieses Spiel eingelassen. Aber was waren dann die richtigen Gründe?

In der Stille der Dunkelheit erklang ein leises Seufzen. „Sonea, ich kann nicht. So verlockend die Vorstellung unter anderen Umständen wäre, es geht nicht. Denn das, was ich in Marikas Gedanken gesehen habe, vollbringt, was keine Magie vermag. Es bringt meine dunkle Seite zum Verstummen.“

Sie drehte sich auf die Seite, fort von ihm. Sie hatte geglaubt, sie hätten diese Phase hinter sich gelassen. Doch auf ihrer Flucht aus Arvice war alles so schnell gegangen. Sie hatten sich gestritten, sie hatten sich getrennt und dann war an diesem Fluss irgendetwas mit ihnen durchgegangen, das sie dazu gebracht hatte, es noch einmal miteinander zu versuchen. Die darauffolgenden Tage und Wochen waren erfüllender als alles andere in Soneas Leben gewesen. Sie hatten gewusst, es würde Rückschläge gegeben, doch dann war sie schwanger geworden und sie hatten nicht mehr zurückgeblickt.

Vielleicht war es zu früh, dachte sie, während sie vergeblich versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. Vielleicht hätten wir warten sollen. Dann müssten wir jetzt nicht dafür bezahlen.

Hinter ihr spürte sie, wie Akkarin sich bewegte. Dann war er hinter ihr, schlang einen Arm um sie und hielt sie fest.


***


An diesem Tag aß Sonea nur wenig. Rothen betrachtete sie besorgt. Bis zum Mittagessen war sie für gewöhnlich so hungrig, dass sie sich über das Essen hermachte, das Tania ihnen brachte. Daran hatte sich auch nach ihrem Abschluss nichts geändert. Wenn auch sie nicht mehr das magere Mädchen war, das er einst als Novizin zu sich genommen hatte, sah man ihr nicht an, dass sie so viel aß. Hätte Rothen es nicht besser gewusst, hätte er angesichts ihres Appetits befürchtet, Akkarin ließe sie hungern.

„Es tut mir leid, dass du den Vorbereitungskurs nun ohne mich machen musst, Rothen“, sagte sie.

Rothen schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Das ist nicht schlimm, Sonea. Deine Mission ist wichtiger.“ Einige Lehrer hatten ihm ihre Unterstützung zugesagt. Nichtsdestotrotz bedauerte er, diesen Kurs nicht mit Sonea leiten zu können.

„Ich weiß“, sagte sie. „Aber wir hatten einen so großartigen Plan. Ich verspreche, wenn ich zurück bin, helfe ich dir. Bis zum nächsten Halbjahr wird die Konferenz wohl kaum dauern.“

Rothen nickte. Wenn sie zurückkam …

Eine Weile aßen sie schweigend. Irgendetwas bedrückte sie noch immer. Und Rothen war sicher, der Vorbereitungskurs war nicht der Grund.

„Ist mit dem Essen alles in Ordnung?“, fragte er. Von seinen gelegentlichen formalen Dinnern mit Sonea und ihrem Mann wusste er, dass sie einen anderen Standard gewohnt war. Allerdings wusste er auch, dass sie sich nichts aus feinen Speisen machte. Hin und wieder entfloh sie dem Luxus der Gilde, um bei ihren Verwandten die rustikale Küche der Hüttenviertel zu genießen.

Sie sah von ihrem Teller auf. „Ja.“ Sie lächelte. Doch das Lächeln erreichte nicht ihre Augen. „Ich bin heute nur nicht besonders hungrig.“

„Sonea, was bedrückt dich?“

„Nichts.“

Doch er konnte sehen, dass sie nicht die Wahrheit sagte. „Du warst noch nie gut im Lügen.“ Er warf einen bedeutungsvollen Blick auf den Ring an ihrer rechten Hand. „Was sagt dein Mann dazu, dass du es tust?“

„Akkarin ist nicht mehr mein Mentor“, entgegnete sie hart. „Und überhaupt: Es gibt Situationen, da ist eine Lüge für alle Beteiligten besser als die Wahrheit.“

Rothen unterdrückte ein Seufzen. Sein Versuch, sie durch Provokation zum Reden zu bringen, hatte nur ihre Sturheit hervorgeholt.

„Sonea, was ist in Sachaka passiert?“, fragte er sanft.

„Das weißt du doch.“

„Ich meine, was wirklich passiert ist.“

Sonea legte ihr Besteck zur Seite und lehnte sich zurück, die Arme vor der Brust verschränkt. In solchen Situationen war es ihm ein Rätsel, wie sie diesen störrischen Charakterzug nach vier Jahren als Akkarins Novizin noch immer nicht abgelegt hatte. Rothen versuchte, sich davon nicht entmutigen zu lassen.

„Was auch immer es ist, du solltest darüber reden“, sagte er behutsam. „Es wird dir nicht guttun, wenn du zu dieser Mission aufbrichst und noch nicht verarbeitet hast, was dir in Sachaka widerfahren ist.“

„Ich muss nicht darüber reden.“

„Wenn du schon nicht mit mir darüber reden willst, dann sprich wenigstens mit Akkarin.“

„Es ist zwei Jahre her, Rothen“, sagte sie hitzig. „Ich bin darüber hinweg.“

Das bezweifelte Rothen. Sonea war zu deutlich das Gegenteil anzusehen. Es quälte ihn, sie leiden zu sehen, so wie es ihn quälte, dass sie sich ihm nicht anvertrauen wollte. Er kannte nur die offizielle Version, die alle Magier kannten: Während der Schlacht zwischen der Gilde und den Sachakanern in der Ettkriti-Ebene war Sonea von deren König entführt worden. Fast ein halbes Jahr lang hatte Marika sich ihr magisches Wissen angeeignet und jeden Tag ihre Kraft genommen. Mit blockierten Kräften hatte sie keine Möglichkeit gehabt, zu fliehen oder der Gilde ihren Aufenthaltsort mitzuteilen. Sonea behauptete, die Sachakaner hätten sie gut behandelt. Sie hatte mit ein paar jungen Frauen zusammengelebt, die den König mit Tanzen und Musizieren unterhielten. Rothen hatte sie einmal von den feinen Kleidern und dem Schmuck erzählt, den sie dort getragen hatte und dass sie mit einem der Mädchen befreundet gewesen war.

„Das ist alles“, hatte sie auf seine Frage, ob da noch mehr geschehen war, geantwortet. „Trotzdem denke ich nicht gerne an die Zeit zurück, weil Marika mich hat glauben lassen, dass Akkarin tot wäre. Das war bei Weitem das Schlimmste.“

Sich an Yilaras Tod erinnernd hatte Rothen sie in Ruhe gelassen. Aber Akkarin war nicht gestorben und Rothen war davon ausgegangen, dass sie inzwischen darüber hinweg war. In Momenten, in denen sie sich unbeobachtet fühlte, konnte er jedoch in ihren Augen sehen, dass dies nicht der Fall war.

Vielleicht ist es besser, wenn ich die Wahrheit nie erfahre. Vielleicht bin ich mit einer Lüge besser dran.

„Trotzdem finde ich, du solltest nicht gehen“, sagte er. „Ich dachte, du und Akkarin wärt dabei, ein zweites Kind zu machen.“

„Wir haben das Projekt vorläufig eingestellt.“

Das war wirklich etwas, was Rothen nicht näher wissen wollte. „Die Sachakaner werden nicht vergessen haben, dass du ihren König getötet hast. Sie werden deinen Tod wollen.“

Sonea lachte trocken. „Mein Tod ist nicht das, was die Sachakaner von mir wollen, Rothen.“ Sie leerte ihr Weinglas. „Zumindest war es nicht das, was Marika wollte. Die anderen werden nicht anders sein.“

„Willst du riskieren, das noch einmal zu erleben?“

„Ich habe keine Angst vor ihnen.“ Ihre Finger strichen über den Ring an ihrer linken Hand. „Wenn es soweit kommen sollte, wird Akkarin wissen, wo ich bin. Und ich werde wissen, dass er noch lebt und kommt, um mich zu retten.“ Sie lächelte schief. „Dafür würde ich alles ertragen, Rothen.“

Etwas daran, wie sie es sagte, brach ihm das Herz. „Sei trotzdem vorsichtig“, mahnte er. „Lass nicht zu, dass sie dir weh tun.“

„Das werde ich nicht. Aber vor allem werde ich nicht zulassen, dass sie Dannyl etwas tun. Unser letzter Auslandsadministrator hat Sachaka nicht lebend verlassen. Wenn nötig, werde ich Dannyl mit meinem Leben beschützen.“

Rothen unterdrückte ein Seufzen. Das war ein weiterer Grund, warum er nicht wollte, dass Sonea nach Sachaka ging. Es war bereits schlimm genug, sich um einen Freund zu sorgen.

Sonea schob ihren Stuhl zurück und stand auf. „Es tut mir leid, Rothen. Ich muss in die Arena. Danke für das Essen.“

Er erhob sich ebenfalls, um sie zu verabschieden. „Ich würde mir das Spektakel ja gerne ansehen, aber ich muss zu meiner Klasse. Versucht, euch nicht umzubringen, ja?“

„Wir werden es versuchen.“

Er drückte sie kurz an sich. „Richte dem Hohen Lord meine Grüße aus.“

Sonea hob die Augenbrauen. „Da wird ihn gewiss freuen.“


***


Als Nastia ihm einen sehnsüchtigen Blick zuwerfend die Arena verließ, musste Regin sich zwingen, nicht die Augen zu verdrehen. Nach jeder Unterrichtsstunde in den vergangenen Wochen hatte sie einen Grund gefunden, um mit ihm über ihre Angriffs- und Abwehrtechniken zu diskutieren oder Fragen zu den Schlachten zu stellen, an denen er teilgenommen hatte. Zu höflich um sie abzuweisen, hatte Regin sich genötigt gefühlt, Konversation zu betreiben.

Jetzt, wo Balkan zurück war, wagte Nastia es nicht mehr, nach dem Unterricht auf ihn zuzukommen, was ihm jedoch nicht ihre schmachtenden Blicke ersparte. Dennoch atmete Regin innerlich auf. Ohne Nastias andauernde Versuche, mit ihm ins Gespräch zu kommen, hatte er weniger Ärger mit Trassia. Obwohl sie sich seit einer Weile wieder vertrugen, konnte Regin ihre Eifersucht spüren, wenn er ihr beim Abendessen von seinem Unterricht erzählte. Er konnte nicht begreifen, warum sie so war. Dachte sie vielleicht, er würde Gefallen an einer Novizin finden, weil diese noch nicht für die Art von Bindung bereit war, die Trassia so dringend wollte?

„Lord Regin, kommt Ihr alleine zurecht?“

Regin sah auf. „Danke, Lord Balkan“, sagte er. „Ich denke schon.“

„Falls Ihr jemanden braucht, der Euren Inneren Schild hält, stelle ich mich gerne zur Verfügung.“

„Das ist sehr freundlich von Euch, doch so, wie ich Sonea verstanden habe, wird entweder sie oder ihr Mann sich darum kümmern.“

Sein ehemaliger Mentor nickte. „Dann wünsche ich Euch noch einen schönen Tag.“

„Das wünsche ich Euch auch, Lord Balkan.“

Regins Blick glitt zu dem Portal, aus dem soeben zwei schwarzgewandete Gestalten schritten. Im hellen Sonnenschein wirkte Sonea zu blass. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, so als habe sie in der letzten Nacht zu wenig geschlafen. Doch als ihr Blick auf Regin fiel, verzog ihre Miene sich zu einem vertrauten Ausdruck von Missbilligung.

An diesem Morgen beim Frühstück in seinem Apartment hatte Balkan ihn über die Mission des Auslandsadministrators informiert. Regin war nicht überrascht zu erfahren gewesen, dass Sonea den Auslandsadministrator begleiten würde. Es passte zu ihr, in dieser Hinsicht nicht lockerzulassen. Er fragte sich, ob sie und Akkarin deswegen gestritten hatten, doch in diesem Fall hätte ihre Miene eine gewisse Defensivität ausgedrückt. Stattdessen wirkte sie einfach nur müde.

Nun, wenn ich an ihrer Stelle wäre, hätte ich in der letzten Nacht auch nicht gut geschlafen.

Lord Balkan grüßte die beiden schwarzen Magier, als er an ihnen vorbei aus der Arena ging. Akkarin und Sonea nickten ihm als Erwiderung zu.

„Hoher Lord“, sagte Regin und neigte respektvoll den Kopf. „Lady Sonea. Ich bin soweit.“

Der schwarze Magier nahm das mit einem Nicken zur Kenntnis. „Wir werden heute eine Technik üben, die nicht im Lehrbuch steht“, teilte er Regin mit. „Sonea wird an Euch den Personenschutz lernen. Auch wenn Eure Aufgabe darin besteht, einen Nichtmagier oder einen Magier, der sich erschöpft hat, zu mimen, wäre es ratsam, wenn Ihr in der Lage seid, den Kampf zu übernehmen.“

Regin erstarrte. „Bekomme ich einen Inneren Schild?“, fragte er.

„Sonea wird Euren Inneren Schild erzeugen und halten, während ich den ihren halte.“

„Was, wenn sie sich erschöpft? Wird mein Innerer Schild sich dann nicht auflösen?“

„Das wird er. Das wird wie ein direkter Treffer bei einem Übungskampf zählen. In diesem Fall wäre die Runde zu Ende.“

Regin erschauderte. Das bedeutete so viel wie, wenn Sonea tot war, dann war er es auch.

„Der Schild soll dazu dienen, dass du von keiner gestreuten Magie getroffen wirst“, fügte Sonea hinzu. „Ich werde aufpassen, dass dir nichts passiert.“

Regin unterdrückte ein Schnauben. In solchen Situationen konnte er kaum glauben, dass sie einst Todfeinde gewesen waren. Ob Sonea eine solche Gelegenheit früher genutzt hätte, um sich seiner zu entledigen? Nein, dachte er dann sich daran erinnernd, wie sie ihm nach ihrem Duell ein wenig heilende Magie gesandt hatte. Dazu ist sie dann doch zu weich.

Er beobachtete, wie Akkarin eine Hand auf ihrer Schulter legte. Sonea wandte sich zu ihrem Mann zu und sie diskutierten eine Weile leise. Schließlich nickte sie und machte einen Schritt auf Regin zu.

„Ich mache dir jetzt einen Inneren Schild.“ Sie berührte seine Schulter. Regin spürte kaum, wie ihre Magie ihn durchfloss. Er wäre beunruhigt gewesen, hätte er nicht gewusst, dass der Innere Schild, den die beiden schwarzen Magier verwendeten, leicht aber effektiv war.

Auf Akkarins Kommando begannen sie zu kämpfen.

Es war seltsam, an einem magischen Kampf teilzunehmen, ohne sich selbst daran zu beteiligen. Jedes Mal, wenn der Hohe Lord mit seinen Angriffen den Schild seiner Frau erbeben ließ, verspürte Regin eine wachsende Furcht. Er hatte schon oft gegen Akkarin gekämpft oder zugesehen, wie er und Sonea sich duellierten, und das war nichts, wobei Regin sich gerne in nächster Nähe aufhalten wollte.

Vielleicht sollte ich mir einfach einreden, dass mich das für den Ernstfall abhärtet, sagte er sich, als Soneas Schildmanipulation fast fehlschlug, und die Wärme von Akkarins Hitzeschlag selbst unter dem Schild zu spüren war. Wenn Akkarin mich als Gegner nicht mehr aus der Ruhe bringen kann, werden die Sachakaner das auch nicht schaffen.

„Konzentriere dich auf die Techniken, die du gut beherrschst“, wies Akkarin seine ehemalige Novizin an. „Dein primäres Ziel sollte der Personenschutz sein, Raffinesse spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.“

„Ja, Hoher Lord“, erwiderte Sonea mit zusammengebissenen Zähnen, während sie mit doppelten Kraftschlägen konterte.

Vor Erheiterung hätte Regin fast laut aufgelacht, doch dann zuckte er zusammen, als ein Kraftschlag gegen Soneas Schild prallte, den er nicht hatte kommen sehen. Instinktiv rückte er näher zu ihr.

„Bekommst du schon Angst?“, fragte Sonea trocken.

„Ich dachte, so ist es kuscheliger.“

Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Seitenblick. „Lass das bloß nicht Trassia hören!“

„Und dein Mann?“, fragte er mit einem Blick zu Akkarin.

Sonea schürzte missbilligend die Lippen. „Er kennt meine Gedanken“, sagte sie knapp. Sie lenkte Akkarins nächsten Angriff ab und antwortete mit einem aufgesplitteten Feuerschlag.

„Soll das heißen, er liest deine Gedanken?“ Neugierig geworden, rückte Regin noch dichter an sie heran.

„Ja. Und er kann dich gerade sehr gut hören.“

Regin war nicht sicher, ob er das glauben sollte. Soweit er das sagen konnte, benutzten die beiden schwarzen Magier ihre Blutringe nur selten zur Kommunikation.

„Ist das nicht ziemlich erniedrigend?“

„Hat er dir gesagt, dass du es mir besonders schwermachen sollst, dich zu beschützen?“, fragte sie ungehalten.

Regin kicherte. „Nein, aber es macht Spaß.“

Sonea fluchte, als ihr Schild fast zusammenbrach.

„Kannst du nicht aufpassen?“, knurrte Regin.

„Kannst du aufhören, mir so auf den Leib zu rücken?“

„Ich verkleinere nur die Schildfläche.“ Als er die Verärgerung in ihrer Miene sah, fügte er hinzu: „Ich weiß nicht, was du hast. Wenn ihr zwei zusammen kämpft, kuschelt ihr die ganze Zeit.“

„Lord Regin, hört auf Sonea abzulenken.“

Regin zuckte zusammen. „Natürlich, Hoher Lord“, sagte er betont unterwürfig. „Ich bitte vielmals um Verzeihung.“

Akkarin runzelte die Stirn und fuhr dann fort, sich mit Sonea zu duellieren. Eine Weile tauschten sie magische Schläge aus, bis Sonea plötzlich eine Technik anwandte, die Regin gänzlich unbekannt war. Sie hatte die Transparenz eines Kraftschlags, doch dieser war nicht auf einen Punkt konzentriert – es war eine ganze Wand aus transparenter Magie, die Sonea ihrem Mann entgegenschleuderte. Kurz vor dessen Schild verbog sie die Wand, hüllte Akkarins Schild darin ein und drückte ihn zusammen.

In einer farblosen Explosion, deren magische Wucht Regins bis ins Mark fuhr, ließ Akkarin die Wand aus Magie nach allen Seiten fortschnellen. Regin hielt den Atem an. Was auch immer das gewesen war, es hatte sein Verständnis von Kriegskunst in seinen Grundfesten erschüttert und er begann sich zu fragen, ob er überhaupt alles über diese Disziplin wusste.

Ein Teil der magischen Wand raste über Soneas Schild hinweg, brachte ihn zum Vibrieren und ließ Regin erschaudern. Gestreute Magie traf den Arenaschild und raste in farblosen Wellen darüber. Akkarin zögerte nicht und sandte einen Feuerschlag hinterher. Sonea gelang es gerade noch, den Angriff abzuwehren, und konterte mit doppeltem Kraftschlag. Akkarins Schildmanipulation kam einen Augenblick zu spät und ließ beide Angriffe dicht vor seinem Schild aufeinanderprallen. Sein Schild wankte für einen kurzen Moment und Regin konnte die Wucht des Zusammenpralls sogar auf die Entfernung spüren.

Motiviert durch diesen Effekt, schickte Sonea einen Hitzeschlag hinterher, doch bevor dieser auf Akkarins Schild konnte, wurde Regin von einem grellen Blitz geblendet und eine Wand aus Magie erschütterte Soneas Verteidigung und prickelte in jeder Pore von Regins Haut.

Als er seine Augen heilte und wieder klar sehen konnte, sah er, dass auch Sonea sich gerade erst wieder fasste. Sie griff ihren Mann an, doch es war zu spät.

Akkarins Kraftschlag brach durch Soneas Schild. Im gleichen Moment löste sein Innerer Schild sich auf.

Der Hohe Lord stellte seinen Angriff ein.

„Genug“, sagte er.

Es dauerte einen Augenblick, bis Regin sich von seinem Schock erholt hatte. „Was sollte das?“, fuhr er Sonea an.

„Was?“, fragte sie unwirsch.

„Das weißt du genau.“

„Nein.“ Sie schüttelte verständnislos den Kopf. „Regin, ich …“

„Streitest du also ab, dass du das getan hast, um es mir heimzuzahlen?“

„Heimzuzahlen?“, wiederholte sie ungläubig. „Wofür?“

Für meinen Streit mit Trassia, wollte er sagen. Sich der Gegenwart ihres Mannes wohlbewusst, konnte er sich jedoch gerade noch zurückhalten. Er verstummte vollends, als er sah, dass Akkarin zu ihnen schritt.

„Für den Anfang war das sehr gut, Sonea“, sagte er. „Doch beim nächsten Mal solltest du mehr darauf achten, deinen Schutzbefohlenen dicht bei dir zu halten. Es interessiert mich nicht, ob dir das unangenehm ist. Das verringert die Schildfläche und du kannst schneller reagieren, wenn der Angreifer sich auf ihn konzentriert.“

„Ja, Hoher Lord“, erwiderte sie mit unterdrücktem Widerwillen.

Regin unterdrückte ein Kichern. War das der Grund, warum er bei diesen Übungen assistieren musste? Er und Sonea waren Freunde, doch die körperliche Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Gelang es ihr, ihn erfolgreich zu beschützen, würde ihr das auch bei allen anderen gelingen.

„Wir werden das morgen wiederholen.“ Akkarin legte eine Hand zwischen Soneas Schulterblätter. Sie sah zu ihm auf mit diesem Blick, von dem Regin sich oft wünschte, dass Trassia ihn damit ansah. „Bis zum Abendessen werden wir an deiner Strategie feilen. Lord Regin, Ihr könnt gehen.“

„Einen schönen Abend, Hoher Lord“, wünschte Regin eine Verneigung andeutend. „Und dir auch, Sonea.“

Sie schenkte ihm ein schiefes Lächeln, das ihn fragen ließ, ob sie nicht doch mit ihrem Mann gestritten hatte. „Dir auch. Grüß Trassia von mir.“

„Selbstverständlich.“

Er wartete, bis die beiden schwarzen Magier die Arena verlassen hatten. Dann machte er sich auf den Weg zu den Magierquartieren.


***


Fragen zum Kapitel

Haltet ihr Soneas Entscheidung sinnvoll? Habt ihr damit gerechnet, dass die Aussicht, Dannyl zu begleiten, sie ihre Erinnerungen an Marika triggern wird?

Ist es richtig, dass Akkarin vorerst davon absieht, mit Sonea zu schlafen? Spekulantenfrage: Welche Gründe könnte sein Zorn bezüglich ihrer Entscheidung haben? (Es gibt mehrere, darunter einige, die weder mit Sonea noch den Sachakanern zu tun haben^^)

Wie könnte eine Lösung des Konflikts in Lan aussehen? Was könnte Dannyl dabei helfen?

Wie denkt ihr darüber, dass Sonea an Regin den Personenschutz üben soll?

Bonus-&Spekulantenfrage: Was fällt euch spontan zu dem Brief ein?



Im nächsten Kapitel werden Dinge verheimlicht und Ivasako macht einen ersten Schritt dahin, ein „echter“ Sachakaner zu werden …
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