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War of Olympus

Kurzbeschreibung
CrossoverAbenteuer, Fantasy / P18 / Gen
Hekate Leo Valdez Nico di Angelo OC (Own Character) Thanatos
30.01.2016
05.06.2023
90
254.834
12
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07.12.2022 6.464
 
Kapitel LXXXII - Die Vergangenheit lebt für immer


Er wusste, dass sie es war. Ein erneuter Blick in ihr außerweltliches, in seiner Erscheinung überaus unregelmäßiges Ungesicht war überhaupt nicht notwendig, um all die ihr zu eigenen Zeichen und vor allem diese zerstörungssüchtige, über alle Maßen destruktive Aura wiederzuerkennen. Die ganze Zeit über hatte er sich nicht an dieses Antlitz erinnern können, hatte es nur als bloße Silhouette hinter undruchdringlichen Rauchschleiern in Erinnerung... aber er hatte es gesehen. Er musste es gesehen haben, wie ihm Delphynes markerschütternder Schrei am Othrys sofort wieder in Erinnerung gerufen hatte. Sie hatte ihm direkt in die Augen gestarrt, und mit jeder Minute kamen weitere Aspekte des Anblicks, den er damals irgendwie ertragen musste, zurück, setzten sich zu einem immer deutlicheren Bild zusammen.
     Wie bei einer in zwei sich bezüglich der Schärfe unterscheidenden Bildern existierenden Waage wurden die beiden Gesichter aus jener Zeit, an die er sich erinnern wollte, immer blasser und unscheinbarer. Ganz als würde Delphyne ihm seine Familie noch ein zweites Mal nehmen wollen. Nicht einmal sich selbst gegenüber wollte er es eingestehen, doch wusste er nicht, ob er wirklich dazu in der Lage sein würde, Seite an Seite mit dieser Kreatur in die Schlacht zu ziehen...
     „Ein ausgesprochen interessantes Versteck hast du dir hier ausgesucht...“
     Er schrak hoch, als ein Schatten auf die schmale Gasse fiel, in der er sich auf eine kleine, unscheinbare Bank gezwängt hatte.
     Nova verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen, als sich ihre Blicke trafen. „Aber ich finde dich überall!“
     „Scheint wohl so...“, murmelte er und erhob sich von der Bank, schwerfällig und müde wie ein frisch aus der Leichenstarre erwachter Ghul.
     Sie ergriff seine Hand, zog ihn auf die – glücklicherweise relativ leere – Straße und packte seine Schultern. Ihr Lächeln verschwand schneller wieder als es aufgetaucht war.
     „Leander, was ist los mit dir? Jedes denkende Wesen, das so etwas wie Augen im Kopf hat, sieht doch, dass etwas faul ist!“
     Er antwortete nicht sofort, dachte sogar einen Moment darüber nach, ob er es überhaupt sollte... oder konnte. Dabei versuchte er, ihr in die Augen zu schauen, ehe er bemerkte, dass sein Blick unbeabsichtigt immer wieder zur Seite abdriftete.
     „Ich... fühle mich nicht so wohl heute...“, begann er ohne eine präzise Vorstellung von dem, was er überhaupt sagen wollte. „Ich glaube, zu viele... Erdbeben bekommen mir einfach nicht, da wird mir ganz übel von.“
     Sie zog eine Braue nach oben und beäugte ihn argwöhnisch. Er wich ihrem Blick aus, wusste noch immer nicht, worauf dieses Gespräch hinauslaufen sollte. Alles in ihm sträubte sich dagegen, sie anzulügen, jedoch... sollte er ihr die Wahrheit sagen, könnte sie dann an ihm zweifeln? An seiner Treue gegenüber ihrem Ziel, ihrem Bund, ihrer... Freundschaft gegenüber? Er wollte es ihr sagen, fürchtete aber zu sehr, eine unangenehme Antwort auf diese Frage zu erhalten.
     „Übel... von Erdbeben?“ Nova sah in etwa so überzeugt aus, als hätte er ihr eine Flasche Sonnencreme als Cola verkaufen wollen. „Meinst du nicht, dass es nicht eher mit der Ursache der Erdbeben zu tun haben könnte? Du hast kaum ein Wort gesprochen, seit wir dieses... Ding geweckt haben! Oder... ist es vielleicht Atlas?“ Sie runzelte die Stirn und schien kurz nachzudenken. „Eigentlich finde ich ihn soweit ganz in Ordnung; denke aber, ich könnte verstehen, wenn man etwas... eingeschüchtert ist.“
     „Es ist so...“
     „Ja...“
     Es war ihm noch immer nicht möglich, sich wirklich auf die Wortfindung zu konzentrieren; er würde wohl improvisieren müssen. „...ich glaube, ich habe mich heute an etwas erinnert.“
     „An etwas erinnert also. Immerhin ein Anfang. Möchtest du den noch näher ausführen?“
     Wollte er nicht! Auf gar keinen Fall wollte er das. „Würde ich ja, aber... es ist noch nicht wirklich genug da, um es sinnvoll ausführen zu können. Ein paar Bildfetzen, ein einzelnes, gerufenes Wort vielleicht...“
     Ihr forschender Blick wurde wieder sanfter. „Hat es mit... du weißt schon, womit, zu tun?“
     Er sann kurz darüber nach, welcher Kompromiss in der folgenden Antwort wohl am ehesten zu ertragen sei, und zuckte dann mit den Schultern. „Kann ich nicht sagen. Zu verschwommen und undeutlich.“
     Nova seufzte. „Kann es wirklich so undeutlich sein, wenn es dich dermaßen mitnimmt? Das passt doch irgendwie nicht ganz zusammen, findest du nicht?“
     Er presste die Lippen aufeinander, malte mit den Zähnen. Wie Recht sie doch hatte. Und wie... befreiend es wäre, ihr die Wahrheit zu sagen. Doch das wagte er nicht. Noch nicht. Er musste seine Zweifel allein niederringen, wenn er sie nicht auf Nova oder einen seine anderen Verbündeten übertragen wollte; in diesem Kampf mussten sie an ihn glauben, mehr als er es selbst tat.
     „Ich sehe schon, du möchtest jetzt nicht darüber reden... sei dir aber darüber im Klaren, dass du damit jederzeit zu mir kommen kannst, wenn du möchtest!“
     Sie umarmte ihn kurz, bedachte ihn mit einem letzten, besorgten Blick und wandte sich dann ab.

Bis in die späten Abendstunden hinein schlich Leander allein durch das Camp, hielt sich dabei stets abseits der viel besuchten Orte und Straßen, vermied jeden Kontakt zu den anderen Bewohnern, sofern ihm dies möglich war. Seine Gedanken taten es ihm gleich, kehrten anfangs immer wieder zurück zu jener verhängnisvollen Nacht, die sein Leben für immer verändert hatte, blieben eine Weile an Delphyne haften und wanderten schlussendlich weiter zu Morton, Kratos, Atlas, Sif und all jenen, die hinter ihnen standen. Und ohne sich ihm wirklich aufzudrängen, pirschten sich die ersten Zweifel in seine innerhalb der letzten paar Wochen doch recht hastig aufgebaute Vorstellung dieser Welt, wie sie war und sein sollte.
     Und sie hatte auch durch die paar Jahrtausende an Zivilisation nicht viel von ihrer urtümlichen, simplen Grausamkeit eingebüßt; nach wie vor setzten mächtige, gefräßige Spitzenprädatoren gnadenlos ihren Willen gegen tatsächliche und vermeintliche Beute durch. Morton hatte mit seiner Behauptung bezüglich der Götter Recht gehabt; sie waren genau jene bösartigen Raubtiere, als die er sie bezeichnet hatte.
     Nur stellte sich Leander nun auch die Frage, inwieweit der junge Todesengel selbst in dieser Hinsicht besser war. Er ließ Menschen, Halbgötter und nahezu alle anderen Lebewesen, zu denen er keine persönliche Bindung hatte, sterben, ohne auch nur einen Gedanken an deren Todesangst oder Hinterbliebene zu verschwenden. Er hatte sich ohne geringste Bedenken mit Delphyne verbündet, wohlwissend, welche Zerstörung sie über ihr bloßes Ziel hinaus bringen würde.
     Würde die Welt ohne die Götter eine bessere sein? Ganz gewiss würde sie das. Aber würde sie eine bessere sein, wenn stattdessen Personen wie Morton oder Atlas an ihre Stelle traten? Dies bezweifelte er mehr und mehr, mit jedem Moment, den er darüber nachdachte. Hatte er selbst Morton doch nichteinmal begleitet, um den Olymp zu zerstören, sondern um seine Familie zurückzubekommen... es schien beinahe, als würden die Moiren ihm durch die Mögliche Zusammenarbeit mit Delphyne eine Prüfung auferlegen wollen; konnte er mit einem Wesen zusammenarbeiten, das eine schreckliche Tat begangen hatte, um ebenjene Tat ungeschehen zu machen? Abstrahiert klang es so schrecklich einfach, doch in wirkliche Begebenheiten übersetzt konnte Leander sich diese Frage nicht beantworten. Wäre einem Menschen wie Morton, der bedenkenlos eine ganze Stadt der Zerstörung überließ, nicht auch eine einfache Lüge zuzutrauen, um andere für seine Zwecke auszunutzen? Auch auf diese Frage fand er keine klare Antwort, so sehr er auch versuchte, alles, was er über den Sohn des Thanatos wusste, in ein zusammenhängendes Bild zu setzen.
     Ihm kam sein kurzes Gespräch mit Jane in der Berghütte in den Sinn; insbesondere ihre Versicherung, nicht für den Olymp und die Götter zu kämpfen, sondern für ihre Freunde und ihr Zuhause... und hatte Leander gefragt, wofür er denn einstehen würde. Für nichts anderes, müsste er ihr antworten, sollte sie ihm diese Frage noch einmal stellen. Hatte jemand wie sie es wirklich verdient, nur eines von vielen Opfern zu sein, die auf dem langen Weg zum Fall des Olymps ihr Leben lassen sollten? Eine junge Halbgöttin, die aus nahezu exakt denselben Gründen kämpfte wie er, nur eben auf der anderen Seite?

Er wusste nicht genau, wann sie seinen Verstand erstmals erreichte und sich unter jene seiner eigenen Gedanken mischte, die Stimme, die erst in leisen, einzelnen Worten auf ihn einzureden begann, dann umso drängender versuchte, ihn mit ganzen, deutlicher werdenden Sätzen zu überzeugen. Leander sollte wieder in den Kerker hinabsteigen; der Nebel würde ihn vor den Wachen verbergen und zum Ort seiner Bestimmung führen...
     Hätten in diesem Moment nicht zwei völlig gegensätzliche Intentionen einen derart engen Kampf in seinem Inneren geführt; Leander hätte diese Stimme schlicht ignoriert oder sogar Morton darauf hingewiesen, den Kerker nocheinmal zu überprüfen. Doch die beiden Seiten jenes Kampfes waren einander derart ebenbürtig, dass er in diesem Zustand und nur diesem Zustand eine Chance in der Stimme sah, einen Sieger auszuwählen. Und somit änderte er seine Richtung, steuerte ebenso ungerade wie unaufhaltsam den Kerker an, nahm dabei einen schwachen, flimmernden Schleier am Rande seines Blickfeldes wahr.
     Auf seinem Weg passierte er mehrere, zu später Stunde noch umherwandernde Stadtbewohner, wurde ignoriert. Er betrat den Kerker, der erwartungsgemäß schwer bewacht war, wurde ignoriert. Er schritt die alten, modrigen Stufen nach unten in die Dunkelheit, erreichte das Gängelabyrinth und begegnete weiteren, hier postierten Wachen, wurde ignoriert. Im Vorbeigehen nahm er, ohne groß darüber nachzudenken einen Schlüssel von der Dracaena an sich; seine Anwesenheit wurde nicht einmal bemerkt.
     Sein unsichtbarer, sich aber irgendwie erahnen lassender Pfad führte ihn um diverse Biegungen an zahllosen Türen vorbei, hinter denen er von Zeit zu Zeit ein Wimmern oder Stöhnen vernahm. Etwas hier unten führte ihn geradewegs zu sich; doch erst als er den grob vertrauten Gang mit dem aus der Wand gebrochenen Felsbrocken betrat, kam ihm ein Verdacht, was für ein Wesen sein heimlicher Fremdenführer sein mochte...
     Ganz langsam – irgendwo zwischen zögerlich und bedächtig – schritt er durch den staubigen Korridor, stieg über den noch immer nicht beiseitegeräumten Felsen hinweg und näherte sich der kleinen, unscheinbaren Tür in der hintersten Ecke.

Hekate stand aufrecht inmitten der Zelle, starrte ihm unverwandt in die Augen, begonnen mit dem Moment, indem sie in sein Sichtfeld geriet. Es schien, als habe sie sich kein noch so kleines Stück bewegt, seitdem Morton sie hier eingesperrt hatte. Ihr Gesicht verblieb reglos, doch der Kopf bewegte sich ganz langsam mit, als Leander vor die verrostete Gittertür trat und den starren, nicht zu deutenden Blick erwiderte.
     „Du bist meinem Ruf also gefolgt, Leander“, stellte sie fest, ohne jegliche Emotion in der Stimme. „Ich mag nicht sagen, ich sei überrascht, aber es stimmt mich doch überaus zufrieden, dass zumindest einer aus der vermeintlichen Gefolgschaft dieses größenwahnsinnigen Halbgottes noch offen für andere Sichtweisen als bereits bekannte scheint.“
     Leander spürte, wie sich seine Augen unwillkürlich ein kleines Stück zusammenzogen, als ihm gewahr wurde, dass er es war, der in der nun womöglich folgenden Verhandlung die Bedingungen stellen würde.
     „Keine Tricks?“, fragte er mit eindeutiger Forderung in der Stimme. „Keine magischen Spielereien und anderweitige Täuschungen mehr?“
     Hekate schüttelte knapp den Kopf. „Nein. Mein Wort beim Styx, dass ich diesmal nur auf Wahrheiten und Begründungen setzen werde.“
     Er nickte langsam. „Dann bin ich bereit, mir diese... Wahrheiten und Begründungen anzuhören.“
     „Wie überaus erfreulich“, antwortete die Göttin, und ihre Stimme schien mit diesem Satz spürbar wärmer und freundlicher zu werden. „Aber ich sehe, du hast einige Fragen, auf die es nach Antworten verlangt.“
     Er dachte einen Moment darüber nach, welche Fragen ihn am meisten beschäftigten...
     „Warum setzt du deine Magie erst jetzt ein? Und warum hast du mich hierhergerufen? Was auch immer du dir davon erhoffst; irgendjemand in diesem Camp wäre ganz sicher besser dafür geeignet.“
     Sie legte den Kopf leicht schief und schien beinahe zu lächeln. „Weil, Leander, du das einzige, denkende Wesen an diesem Ort bist, das die Konsequenzen von Mortons Vorhaben noch sehen kann. Ich bin sicher, du weißt, was die Olympier all die Jahrtausende neben ihrer zugegebenermaßen nicht immer ruhmreichen Herrschaft vor allem getan haben.“
     Er starrte sein Gegenüber stur an. „Ordnung. Sie haben dafür gesorgt, dass unsere Welt und die der Sterblichen weitgehend getrennt voneinander blieben; ihr Monopol hat einen Großteil heute etablierter Naturgesetze definiert und diverse andere Wesen davon abgehalten, wahllos tendenziell chaotischen Zielen und Wünschen nachzugehen.“
     Hekate nickte anerkennend. „Sehr gut. Und dir ist ohne jeglichen Zweifel auch bewusst, dass diese Ordnung einfach in sich zusammenfallen wird, wenn die Armee über unseren Köpfen ihr Ziel erreicht und die Welt ohne eine geeignete Nachfolgedynastie zurücklässt.“
     Ihr Blick wurde wieder ernster. „Und ich befürchte, Mortons Vorhaben könnte mit Atlas und dieser... widernatürlichen Kreatur, die ihr Delphyne nennt, im Rücken, besser Erfolgschancen haben, als ich ihm gegenüber zugab... oder auch vermutet habe, ehe mir bewusst wurde, wie weit seine Gier nach Triumph in diesem Konflikt tatsächlich reicht.“
     „Das ist wahr“, bestätigte Leander. „Morton weiß, was er tut, und wie er es tut. Ich bin sicher, er hat schon längst einen weitreichenden Schlachtplan erstellt, der alle Olympier und möglichen Störungen miteinbezieht.“
     „Du begreifst schnell. Das hier ist eine Kreuzung, Leander, die dir drei Wege bietet. Du könntest das Vorhaben dieses Todbringers weiterhin unterstützen, und vielleicht würdet ihr es sogar schaffen, bestehende Ordnung zu zerstören. Du könntest aber auch mein altes Angebot annehmen, diesen Konflikt hinter dir lassen und ohne Kriege oder sonstige Ängste ein Leben leben, wie du es wünscht... vorausgesetzt, das Chaos holt dich nicht ein.“
     „Du sprachst von drei Möglichkeiten.“
     Ihre schwarzen Augen glänzten. „Du könntest dich mit jenen alten Heroen zusammenschließen, die noch hier unten gefangen sind, und diesen Wahnsinn aufhalten, bevor er die ganze Welt verschlingt.“
     Leander ließ sich Zeit mit der Antwort, malte angestrengt mit den Zähnen, so lange bis es wehtat. Wog ab, was dafür und dagegen sprach und entschied, dass er noch nicht bereit für diese Entscheidung war.
     „Warum sollte ich das tun?“, fragte er nur. „Selbst wenn der Ausfall der als natürlich bekannten Ordnung ein Problem darstellt; weshalb sollte ich Morton und alles, wofür ich jemals gekämpft habe, verraten, um den Göttern zurück in den Schoß zu laufen? Was haben sie getan, das so etwas rechtfertigen würde?“
     „Nichts“, antwortete Hekate schlicht. „Keine Taten, die du gelten lassen würdest, dafür denkst du zu praktisch. Vermutlich auch zu praktisch, alsdass dich das Mitleid für all die Halbgötter umstimmen könnte, die in ihrem Kampf für den bestmöglichen Kompromiss zwischen einem sicheren und einem freien Leben für ihresgleichen sterben werden.“
     Er malte weiterhin die Zähne aufeinander, biss sich dabei in die Wange und schmeckte das Blut in seinem Mund. Janes Gesicht erschien wieder vor seinem inneren Auge, ehrlich, voller... Lebensfreude und mit der festen Überzeugung, dass es sich für sie lohnte, alles für ihre Freunde zu tun... für ihre Freunde, nicht für die Götter. Nur für ihre Freunde und ihr Zuhause.
     Und die Tränen drangen nach oben, wollten mit aller Gewalt an die Oberfläche. Freunde und ein Zuhause; etwas, das er gerade erst gefunden hatte und sogleich wieder verlieren würde, sollte er das Angebot der Göttin annehmen...
     „Das stimmt“, bestätigte er abermals. „Für was soll ich also noch kämpfen, wenn nicht für das hier.“
     „Für deinen innigsten Wunsch. Den, der dich erst zum Kampf getrieben hat.“
     „Für meinen... was?!“
     „Der Olymp belohnt jene, die ihm die größten Dienste erweisen. Ein strategischer Vorteil durch einen Überläufer könnte sein Fortbestehen sichern. Selbst du zweifelst daran, dass jemand, der eine ganze Stadt vernichtet, um seinem Ziel näher zu kommen, ein solches Versprechen halten würde; was hast du also zu verlieren?“
     „Die einzige, wirkliche Freundin, die ich jemals hatte“, entgegnete er leise.
     Zum ersten Mal schien es, als wüsste Hekate keine perfekte Entgegnung; und als sie wieder sprach, war ihre Stimme ungewöhnlich sanft und... beinahe mitfühlend.
     „Das... verstehe ich“, antwortete sie. „Einen Freund zu verlieren, schmerzt; die Umstände, die dazu führen, bewusst einzuleiten, umso mehr.“
     Sie schaute kurz an ihm vorbei ins Leere und sprach dann mit trockenerer Stimme weiter: „Aber womöglich findest du dennoch einen Weg, eurer beider Ziele zu vereinen, und irgendwann – wenn genug Zeit verstrichen ist – mag sie dir verzeihen.“
     Leander schloss die Augen, und eine einzelne Träne kämpfte sich ins Freie.
     „Es tut mir leid, Nova...“, flüsterte er so leise, dass er es selbst kaum vernahm. Dann traf er seine Entscheidung.
     „Wo in diesem Gemäuer finde ich die alten Heroen?“

Der Zugang zum womöglich bestversteckten Raum in diesem Gewölbe war nur durch einen Schalter zu öffnen, der als gewöhnlicher Stein getarnt war. Ohne Hekates im wahrsten Sinne des Wortes wegweisende Magie hätte Leander womöglich Jahre danach suchen können. Er hatte die Göttin befreit, Ravens Sichel in Ermangelung einer besseren Alternative einfach in der Zelle liegen lassen. Sie war zur Zeit nicht wirklich körperlich anwesend, doch spürte er ihre Präsenz noch immer klar um sich herum.
     Kaum dass Leander die als Wand getarnte Steintür mit dem zuständigen Schalter geöffnet und die Kammer betreten hatte, hörte er von der linken Seite das hektische Rasseln schwerer, über den Boden geschleifter Ketten. Er richtete die Fackel, die er vom Gang mitgebracht hatte, auf die Wand und entdeckte drei zitternde Gestalten in der hintersten Ecke des Raumes, dermaßen verdreckt und abgemagert, dass er selbst einige Sekunden brauchte, um sie überhaupt identifizieren zu können.
     Drei der größten Helden unter den Demigottheiten des gegenwärtigen Zeitalters, Frank Zhang, Annabeth Chase und Percy Jackson, allesamt von Chiron für tot erklärt, kauerten vor ihm auf dem Boden, abgemagert, kraftlos, womöglich gebrochen, aber zweifelsohne überaus lebendig. Sie versuchten, ihn zu erkennen, wollten ihn immer wieder anschauen, mussten aber sofort wieder ihre Augen bedecken. Leanders Wissensstand und Einschätzung zufolge mussten sie seit mindestens einer Woche hier unten sein. Er blieb ruhig in der Mitte des Raumes stehen, beobachtete sie zunächst nur und sann darüber nach, wie er mit ihnen verfahren sollte; recht schnell stand sein Urteil fest.
     Sollte er den Krieg wirklich beenden wollen, bevor er beginnen konnte, würden diese Gefangenen – selbst vollständig geheilt – in einem offenen Kampf gegen Morton und seine Ghoul-Horden keinen entscheidenden Vorteil bringen. Doch drei der größten Helden Camp Half-Bloods gerettet zu haben, würde es ihm zweifelsohne einfacher machen, dort wieder aufgenommen zu werden – erst recht, wenn sie sich allesamt für ihn verbürgten. Sie zu befreien und mitzunehmen könnte ihm den entscheidenden Vorteil liefern, den er jetzt brauchte. Er hatte genügend Ambrosia dabei, würde sich aber daavor hüten, ihnen mehr zu geben, als sie unbedingt brauchten, um ihn zu begleiten. Sollten sie sich wider Erwarten gegen ihn wenden, hätte er somit immernoch leichtes Spiel mit ihnen...
     „Seht mich nicht direkt an!“, warnte er. „Eure Augen werden eine Weile brauchen, um sich wieder an das Licht zu gewöhnen.“
     Er hielt die Fackel ein Stück weg und verdeckte die die direkte Lichtquelle mit der Hand, um sie nicht zu sehr zu blenden. Annabeth, die bereits beim Klang seiner Stimme innegehalten hatte, schaffte es als erste, ihn im abgeschwächten Feuerschein zu erkennen.
     „Leander?!“ Wären Kratos und Morton hier heruntergekommen, um in der Zelle ein Picknick zu veranstalten; sie würde nicht noch überraschter wirken. „Was... wie bei allen Göttern bist du denn hier runtergekommen? Und... was machst du überhaupt hier im Camp?“
     „Lange Geschichte“, winkte er ab. „Die erzähle ich euch auf dem Heimweg. Erstmal müssen wir irgendwie an den Wachen vorbei und durch die Telchinenwerkstatt.“
     Frank öffnete den Mund und starrte ihren unerwarteten Befreier erstmal nur an. Er schien ähnlich verwirrt. „Telchinenwerkstatt? Was um alles in der Welt ist da oben passiert?“
     Leander beantwortete die Frage nicht, sondern kramte in einer seiner Hosentaschen herum und sammelte gerade soviel Ambrosia zusammen, wie die drei brauchen würden, um den Fußweg bis zu Talos zu schaffen, ohne unterwegs umzukippen. Er hatte gesehen, wie dieser Riese bedient werden musste; und sofern Hekate ihr Eindringen in die Werkstatt decken sollte, wäre er ihre schnellste Möglichkeit nach Camp Half-Blood. Wenn er den Steuermechanismus im Kopf erreichte, würde er Ravens Herangehensweise imitieren können, dessen war er sich sicher.
     Wortlos überreichte er ihnen die Götterspeise uns zog sie danach auf die Füße.
     Percy klopfte ihm schwach auf die Schulter und nickte ihm zu, Tränen – möglicherweise solche der Dankbarkeit – in den Augen. „Danke, Kumpel... ich... bin mir zwar nicht mehr so ganz sicher, wer du bist, aber das hier werden wir nie wieder gutmachen können!“
     Leander erwiderte das Nicken, zufrieden, dass zumindest dieser Teil seines Vorhabens aufzugehen schien. „Keine Ursache. Ich bin sicher, es wird sich eine Möglichkeit finden.“
     Er versuchte, seine Stimme dabei etwas freundlicher klingen zu lassen, als es seinem momentan sehr kühlen Verstand recht war, und drehte sich zur Tür. „Wenn ihr euch fit genug fühlt, sollten wir jetzt aufbrechen. Im Moment deckt der Nebel uns noch, aber ich möchte unseren Aufenthalt hier unten so kurz wie möglich halten.“
     Annabeth sah sich im Raum um, und ein Zittern überkam ihren geschwächten Körper. „Ganz meine Meinung...“

Auf dem Rückweg führte Hekates Nebel sie unmittelbar zu einer weiteren, vergitterten Zelltür, hinter der eine hochgewachsene, schwarzhaarige Frau in einem dunkelgrauen Overall auf- und abstapfte.
     „Königin Hylla!“, entfuhr es Percy; er sowie Frank und Annabeth deuteten eine Verbeugung an, während Leander weitgehend unbeeindruckt blieb.
     „Hylla, Königin der Amazonen?“, fragte er nach.
     Die Frau nickte, ehe sie sich an seine Begleiter wandte. „Ihr seid noch am Leben! Ich hatte Meldung bekommen, dass Kratos euch umgebracht hat, aber ich bin froh, dass dem nicht so ist!“ Sie wandte sich an Leander und sah ihn zum ersten Mal direkt an. „Ich schätze, es geht auf dein Konto, dass wir hier wieder herauskommen. Im Namen aller Amazonen danke ich dir dafür. Und hoffe, du vergibst mir meine Frage, wer du eigentlich bist.“
     „Leander Belmont, Sohn der Athene“, antwortete er knapp und öffnete die Zelltür mit dem Schlüssel, den er einer der Wachen aus dem Nebel heraus angenommen hatte. „Und ich habe vor, diesen Krieg zu beenden, ehe er eskaliert.“
     Hylla nickte grimmig und trat zu ihnen auf den Gang. „Wir müssen ihren Anführer töten! Diesen Morton Deader; er ist für all das verantwortlich!“
     Leander schüttelte den Kopf. „Ich widerspreche wirklich nur ungern, aber daraus wird nichts. Morton hat bereits einen Gott ausgeschaltet; wenn wir ihn offen herausfordern, wird das höchstwahrscheinlich unser Tod. Und selbst wenn wir es schaffen sollten, ihn zu besiegen, hätten wir immer noch eine ganze Armee um uns... die hiervon im Augenblick übrigens noch nichts weiß.“
     Erst schien es, als wolle sie widersprechen, ballte dann aber die Faust und nickte. „Auch wenn ich es nicht gern zugebe... du kennst die Lage da oben vermutlich besser als ich. Kannst du uns hier herausbringen?“
     Leander wandte sich um, richtete die Fackel in die Dunkelheit. Hekates Magie hatte nachgelassen, aber ab hier kannte er den Weg. „Das hoffe ich doch...“
     Sie packte seinen Arm. „Eines noch, Leander! Meine Schwester Reyna. Morton sagte, sie sei hier unten eingesperrt, aber ich bin nicht sicher, ob ich ihm da trauen kann. Weißt... weißt du vielleicht, was mit ihr passiert ist?“
     Als ihm das Bild von Reynas... zerstörtem Körper wieder in den Sinn kam, wurde ihm beinahe übel. Sie irgendwo einzusperren, würde keinen allzu großen Sinn mehr haben.
     „Es tut mir leid“, sagte er und versuchte, dabei so sanft wie möglich zu klingen. „Reyna ist tot.“

Den ganzen Weg vom Kerker bishin zur Werkstatt blieben sie ungesehen. Frank, Percy und Annabeth sahen sich mit aufgerissenen Augen um, schienen nicht begreifen zu können, dass das einst so sichere Camp Jupiter mit dem zuvor waffenfreien Neu-Rom innerhalb einer Woche zur Monster-Hochburg geworden war. Percy hielt sein Schwert gezückt, das ihm aufrgrund der ihm innewohnenden Magie nicht abgenommen werden konnte, und hätte mehr als nur einmal im Reflex ein passierendes Wesen attackiert, würde Leander ihn nicht davon abhalten.
     Als sie das Stadtgelände verließen, hatte er glücklicherweise nur noch Augen für Talos, der ihn derart zu ängstigen schien, dass er alles andere ignorierte. Umso unwohler schien er sich zu fühlen, als Leander beiläufig erwähnte, dass genau dieses Konstrukt ihr Ziel war.
     Ein Großteil der Telchinen unterbrach seine Arbeit genau in dem Moment, als sie Talos‘ Fuß erreichten, zweifelsohne das Werk von Hekate, die nicht offensiver vorgehen konnte, da sonst jemand von dem seltsamen Verhalten der Schmiede mitbekäme und entsprechend Alarm schlagen würde.
     Zielstrebig und ohne Widerstand vonseiten der Telchinen führte Leander sie direkt ins Innere des Giganten, an all den mechanischen Windungen vorbei. Nach einer gerade für die drei geschwächten Halbgötter enorm anstrengenden Kletterpartie erreichten sie den Kopf.
     Leander betrat ohne jegliches Zögern die Steuerkabine, die sich um seinen Körper schloss, wie sie es auch bei Raven getan hatte. Das Gefühl war gewöhnungsbedürftig, aber erträglich; lediglich die Schnalle um seine Taille war beinahe schmerzhaft eng, und das Gefühl, den Kopf nicht bewegen zu können alles andere als angenehm...
     „Festhalten!“, warnte er, ehe er zunächst probehalber einen Arm bewegte.
     Noch war unten nichts zu sehen, aber er wusste genau, dass die Bewegung dort am Boden eine Kettenreaktion aus Warnungen und möglichen Angriffsversuchen auslösen würde, weshalb er jetzt sehr schnell sein musste...
     Leander hob Talos‘ Fuß an, dachte kurz daran, ihn einfach auf dem Stadtgebiet wieder abzusetzen, ehe ihm einfiel, dass Nova sich auch irgendwo dort unten aufhielt...
     Er trat aus der Mauer des Camps heraus, fühlte sich mit seinen ersten Schritten in die Steuerung des Riesen ein und hielt dann auf die das Gelände umschließenden Berge zu.

Hylla setzten sie wenige Kilometer außerhalb des Camps wieder ab; für den Riesen waren die Berge wenig mehr als kleine Hühel. Nach eigener Aussage befand sich ganz in der Nähe ein Außenposten der Amazonen, von dem aus sie das weitere Vorgehen ihrer Organisation planen würde. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden sie ihr in absehbarer Zeit noch einmal begegnen.
     „Hab‘ Dank für deine Vernunft, Sohn der Athene“, hörte er noch Hekates Stimme direkt neben seinem Ohr wispern. „Du hast den richtigen Pfad gewählt, und dein Lohn wird deinen Taten entsprechen.“
     Die Präsenz der Göttin wurde kontinuierlich schwächer und verschwand schließlich. Annabeth, Frank und Percy saßen auf dem harten, aber warmen Metallboden und genossen die Möglichkeit sichtlich, sich an einem sicheren Ort ausruhen zu können.
     „Jetzt wo wir... räumlich betrachtet vermutlich außer Gefahr sind...“, setzte Annabeth an, die diese abrupte Wendung der Ereignisse noch immer nicht ganz zu glauben schien, „...würdest du uns über das aufklären, was in den letzten Tagen... oder vielleicht Wochen... alles passiert ist, Leander?“
     Er nahm einen tiefen Atemzug uns bewegte die Augen soweit es ging nach rechts und links. Frank hatte kein Wort mehr gesprochen, seit er Reynas Todesnachricht erhalten hatte, aber auch die anderen beiden befanden sich in seinem Blickfeld; sollten sie etwas Unüberlegtes versuchen, brauchte er nur mit dem Kopf zu schütteln...
     „Eine Woche“, begann er. „Ungefähr eine Woche, seit ihr da unten eingesperrt wurdet.“
     Percy nickte. „Dann... haben wir nicht ganz so viel verpennt wie befürchtet.“ Er grinste. „Gut, dass wir nicht den ganzen Spaß verpasst haben!“
     Annabeth rollte mit den Augen. „Algenhirn... was er eigentlich sagen wollte; da unten verliert man recht schnell das Zeitgefühl.“
     Leander unterdrückte ein Nicken. „Das kann ich mir vorstellen.“
     „Jedenfalls...“, ergriff Percy wieder das Wort, „...scheint auch in dieser einen Woche eine Menge passiert zu sein. Ein wütender Krieger zerstört Camp Jupiter, eine mysteriöse Gestalt namens Morton Deader zettelt den nächsten Krieg gegen den Olymp an... und besiegt einen Gott, wenn ich das richtig verstanden habe?“
     „Ja... der Punkt bereitet mir auch Sorgen“, stimmte Annabeth zu.
     Leander legte die Stirn in Falten. „Also die Kurzfassung. Morton ist ein Sohn des Thanatos und am Abend vor Kratos‘ Angriff auf Neu-Rom in Camp Half-Blood aufgetaucht, mit der Behauptung, er wolle sich dort ausruhen. Nach allem, was ich mitbekommen habe, stammt er aus der alten Welt; er ist in Europa aufgewachsen und hatte seit frühester Kindheit täglich mit Monstern zu tun.“
     „Als Kind... in dieser Hölle überlebt?“, hakte Annabeth nach. „Das ist ziemlich schwer zu glauben...“
     Leander stieß ein Schnauben aus, schmunzelte dabei. „Hätte ich auch gedacht, bevor ich ihn zum ersten Mal kämpfen sehen habe. Clarisse und einige der besten Kämpfer unseres Camps haben versucht, ihn zu stoppen. Teilweise vier, fünf gegen einen.“
     Percy leckte sich vorsichtig über die Lippen. „Und... wie ging es für sie aus?“
     „Tot“, erwiderte Leander trocken. „Jeder von ihnen. Und es war nichtmal ein Kampf, es war ein Gemetzel.“
     „Clarisse... ist also tot?“, fragte Annabeth mit zitternder Stimme nach. „Ich meine... sie war nie meine beste Freundin oder so, aber das...“
     „Nicht nur sie“, fuhr Leander fort. „Aber dazu später. Ein Team aus Camp Half-Blood ist aufgebrochen, um die Büchse der Pandora zu finden; ein Gegenstand, der mächtig genug ist, um Kratos und Morton aufzuhalten... oder – sollte er in ihre Hände fallen – den Olymp zu zerstören.“
     „Kratos... ist also noch immer dort?“, fragte Frank. Es war das erste Mal seit dem Kerker, dass er wieder sprach.
     „Allerdings“, bestätigte Leander. „Und arbeitet mit Morton zusammen. Die beiden müssen sich von früher kennen. Jedenfalls haben sie innerhalb der letzten Woche einen Kleinkrieg mit den Amazonen geführt – offensichtlich siegreich – und den Gott Apollo gefangengenommen.“
     Percy wirkte, als würden ihm vor Überraschung die Augen aus dem Kopf quellen. „Sie haben... das ist nicht dein Ernst?! Apollo? Einen der heftigsten Macker, die sie da oben haben?“
     „Mein voller Ernst. Und mit der Büchse der Pandora könnten sie die Götter sogar töten.“
     Percy und Frank starrten ihn an wie einen Wahnsinnigen, Annabeth nickte nur. „Jungs... es hat keinen Sinn, das jetzt in Frage zu stellen... wir müssen... irgendwie mit dem arbeiten, was wir haben.“ Sie atmete tief durch, schloss die Augen und fuhr dann viel ruhiger und gefasster fort. „Das ist auch nichts anderes als die letzten beiden Kriege. Wir kennen das alles schon. Camp Jupiter, wie wir es kannten, existiert also nicht mehr. Gibt es Überlebende.“
     „Einige, in Camp Half-Blood.“
     Sie nickte abermals. „Wir haben es mit zwei sehr mächtigen Wesen zu tun, von denen eines ein Kind des Todes und das andere nach eigenen Aussagen ein Göttermörder ist. Und beide wollen die Olymper tot sehen, habe ich das richtig verstanden?“
     „Hast du. Und mach drei draus; Morton hat eine Schwester namens Raven, die ihm bezüglich Kampfkraft in nichts nachsteht.“
     „Gut... drei also. Und eine Gruppe von Halbgöttern von Long Island versucht also, diese Büchse vor ihnen zu finden... weißt du, wer dabei war?“
     „Von denen, die du kennst? Reyna, Jason, Piper und Nico. Knox und Jane sind dir möglicherweise ebenfalls bekannt; Alaina vermutlich nicht.“
     „Doch... ich kenne jeden von ihnen, wenn auch Alaina nur vom Namen und Aussehen her. Sie haben... nicht alle überlebt, oder?“
     „Das ist richtig.“
     „Ich denke... ich will jetzt noch gar nicht wissen, wer von ihnen gehen musste...“
     „Verständlich.“
     „Trotzdem... wer oder was war dafür verantwortlich?“
     „Ein Jagdtrupp unter Führung von Raven“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Sie ist mehr Monster als die meisten anderen Wesen, die ihr unter dem Begriff kennt.“
     „Wir werden sie dafür zahlen lassen“, sagte Frank tonlos. „Für Reyna und jeden unserer Freunde.“
     „Eine Sache, die euch vermutlich freuen wird; Leo ist später auch zu ihnen gestoßen.“
     Percy kicherte, Annabeths Gesicht entspannte sich etwas, und selbst Frank horchte zumindest auf.
     „Ich wusste, er ist noch irgendwo da draußen!“, sagte Percy. „Ich wusste es einfach!“
     „Das... ist gut zu wissen“, stimmte Annabeth zu. „Immerhin eine gute Nachricht.“
     Sie sah ihn an, wurde wieder ernst. „Aber was ich mich schon die ganze Zeit über frage, Leander... welche Rolle hast du bei der Sache gespielt? Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hast du mit niemandem gesprochen, bist nur stur dem Tagesrhythmus nachgegangen. Und jetzt...“
     Sie schien ebenso nach den richtigen Worten zu suchen, wie er es im Moment tat. Spätestens in Camp Half-Blood würde die Lüge auffallen; dort hatte man ihn zweifelsohne an Mortons Seite gesehen.
     „Um es so auszudrücken... weil ich mit ihnen zusammengearbeitet habe. Ich war ein Mitglied von Ravens Jagdtrupp.“
     Percy und Frank versuchten, aufzustehen, aber Leander drehte Talos‘ Kopf ruckartig zur Seite und warf sie somit zurück zu Boden.
     „Sitzen bleiben!“, warnte er.
     „Alles gut!“, sagte Annabeth und hob beschwichtigend die Hände, als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
     Ihre beiden Gefährten taten es ihr gleich, rutschten aber unbehaglich ein Stück von Leander weg.
     „Du... hast also für sie gekämpft“, wiederholte Annabeth leise. „Warum... erzählst du uns das?“
     „Weil ihr es spätestens von den anderen Campern auf Long Island erfahren hättet“, erwiderte er. „Der Punkt ist... Morton hat mir etwas versprochen, von dem ich nicht mehr glaube, dass er es halten wird. Ich werde nicht darüber sprechen, worum es genau ging.“
     „Musst du nicht... erzähl bitte weiter.“
     „Gut, dass wir uns dort einig sind. Und wenn es euch beruhigt; ich selbst habe niemanden getötet, weder einen Sterblichen noch einen Halbgott.“
     Annabeth nickte wieder. „Das ist... gut zu wissen.“
     „Jedenfalls... war ich mit den... Kollateralschäden, die Morton bei seinen Aktionen hinterließ, irgendwann nicht mehr einverstanden.“
     „Kollateralschäden.“
     „San Francisco existiert nicht mehr. Das ging mir zu weit. Er sprach von einer freien Welt ohne Unterdrückung durch die Götter, aber nicht auf Kosten ganzer Städte.“
     Ein Zittern hatte sich in eine Stimme geschlichen. „Ihr habt selbst gesehen, wie weit Kratos zu gehen bereit ist. Und Morton... ich befürchte fast, er ist noch gefährlicher. Wenn es sein muss, wird er das gesamte Land auslöschen, um sein Ziel zu erreichen; so etwas konnte ich nicht zulassen.“
     „Das ist gut, Leander“, redete Annabeth langsam auf ihn ein. „Du... hast erkannt, dass du einen Fehler gemacht hast...“
     „Annabeth!“, rief Percy aus und wollte wieder aufstehen, überlegte es sich mit einem Blick auf Leander aber anders. „Wie kannst du ihm noch vertrauen? Nach allem, was er getan hat?“
     Er verstummte augenblicklich, als sie sich zu ihm umdrehte. „Er hat uns das Leben gerettet, Percy. Und wenn das, was er sagt stimmt, nicht nur uns. Ich habe schon einen Bruder an den Hass verloren; das wird mir ganz sicher kein zweites Mal passieren.“
     Sie sah Leander wieder an, der glaubte, eine Träne in ihrem Augenwinkel zu erkennen. „Leander... es stimmt; viele werden... Schwierigkeiten haben, dich wieder als einen von uns aufzunehmen, aber ich weiß, dass du die richtige Entscheidung getroffen hast!“
     Er schloss kurz die Augen, atmete durch. Vielleicht würde Camp Half-Blood nach all den Jahren nun doch noch sein Zuhause werden...
     „Percy hat nicht ganz Unrecht!“, warf Frank ein und starrte Leander mit stechendem Blick an. „Wie können wir dir noch vertrauen, nachdem du wissentlich mit einem solchen Mörder kooperiert hast?“
     ...oder vielleicht auch nicht.
     „Ganz einfach“, entgegnete Leander. „Ich habe euch gerettet. Ich habe keinen Genozid in Kauf genommen. Ich werde Chiron persönlich Mortons Kriegsplan vortragen und im Ernstfall an eurer Seite kämpfen. Und – jetzt hört gut zu, denn das ist das wichtigste – ICH bin derjenige mit dem allgewaltigen Riesenroboter!“
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