War of Olympus
von Tharax Batora
Kurzbeschreibung
Ein Jahr ist seit der Niederlage der Giganten vergangen. Doch der Frieden soll schon bald ein blutiges Ende finden. Ein neuer Feind erhebt sich gegen die Götter, noch furchtbarer und unerbittlicher als alle Vorangegangenen. Mit einem einzigen, brutalen Angriff vernichtet er Camp Jupiter und bezwingt dabei sogar die legendären Helden des Olymp. Camp Half-Blood bleibt nun nichts anderes mehr übrig, als eine Mannschaft aus alten und neuen Helden zusammenzustellen, um den einzigen Gegenstand zu finden, der ihn bezwingen könnte: die Büchse der Pandora. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, denn sollte ihr Feind die Büchse vor ihnen finden, könnte ihn so gut wie niemand mehr aufhalten. Und der mächtige Krieger ist nicht allein. Hinter ihm stehen zwei von den Göttern im Stich gelassene Halbblute, ein mächtiger Nekromant sowie eine ganze Armee blutdurstiger Monster, die allesamt den Untergang des Olymps besiegeln wollen... [Crossover mit God of War]
CrossoverAbenteuer, Fantasy / P18 / Gen
Hekate
Leo Valdez
Nico di Angelo
OC (Own Character)
Thanatos
30.01.2016
05.06.2023
90
254.901
11
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Dieses Kapitel
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08.10.2022
4.884
Kapitel LXXX - Der letzte Gefangene
Die erste Assoziation, die Morton angesichts des eigentümlichen, ihn und seine Begleiter zurück nach Neu-Sparta eskortierenden Phänomens in den Sinn kam, war jene eines wandelnden Erdbebens, das sie gezielt zu verfolgen schien. Keiner von ihnen hatte Delphyne direkt gesehen, als Atlas die Bestie geweckt hatte; lediglich Legionen entwurzelter Bäume und eingestürzter Häuser kennzeichneten ihren Weg, als sie ihnen in weiten Kurven und wechselhaften Abständen in Richtung ihrer Basis folgte.
Seit dieses Beben sich zum ersten Mal bemerkbar gemacht hatte, fiel ihm zudem eine mit jedem Schritt ein kleines Stück wachsende Nervosität bei Leander auf; er reagierte zeitversetzt auf diverse Ansprachen – meistens von Nova – und brauchte oft eine Wiederholung der Frage, um überhaupt zu antworten. Es schien, als würde er versuchen, sich an etwas zu erinnern... und dabei Stück für Stück zu seiner früheren Persönlichkeit zurückzukehren. Delphynes Anwesenheit musste eine alte Erinnerung in ihm ansprechen, dessen war Morton sich sicher – und er glaubte nicht, dass es eine angenehme war...
Er sah die Menschen in San Francisco in Panik aus der Stadt fliehen, von herabfallenden Trümmern erschlagen werden oder in gewaltigen, sich plötzlich öffnenden Felsspalten verschwinden, als sie die Stadt auf ihrem Rückweg erneut durchquerten; und ihm wurde klar, dass der Krieg nun endgültig begonnen hatte. Nach seinen Handlungen auf dem Othrys, nach dem Bündnis mit Atlas und Delphyne würde der Olymp nicht länger tatenlos zusehen können.
Zweifelsohne schmiedeten die Götter bereits ihre eigenen Pläne, um Camp Ghul auszulöschen... und ahnten nicht einmal, dass ihre eigenen Kinder in diesem Augenblick ungewollt gegen sie arbeiteten. Nach Kratos‘ Vermutungen standen ihre Chancen, an die Büchse heranzukommen, sogar besser als erwartet, nachdem er seine Schätzungen an Ravens genauere Schilderungen bezüglich des Widerstands der Halbblute angepasst hatte. Und obendrein dürften sie das Werkzeug ihres eigenen Untergangs weit schneller als bisher gedacht auf den Olymp gebracht haben...
Morton und seine Verbündeten würden den Götter zuvorkommen... und sie allesamt zerstören, wie er es mit allen Monstern getan hatte, die ihn und seine Schwester bedroht hatten.
Seine Schwester... auch in Raven war ihm eine wenig beruhigende Verhaltensänderung seit ihrer Rückkehr von der Jagd aufgefallen. Zwar war er mit ihren gelegentlichen, meist gefahrbedingten Stimmungsschwankungen einigermaßen vertraut und wusste mit ihnen umzugehen, doch konnte er sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal derart in sich selbst zurückgezogen hatte. Ob der Auftrag sie derart ausgelaugt hatte, dass sie eine Auszeit für sich brauchte, war ihm als erstes in den Sinn gekommen, doch hielt er es angesichts ihrer Erlebnisse in der alten Welt für sehr unwahrscheinlich. Insbesondere, da sie seit ihrer Rückkehr noch nicht einmal mit ihm mehr als ein paar einzelne Worte gewechselt hatte...
Vor vielen Jahren – sie waren fast noch Kinder gewesen – hatte er seine Schwester bereits einmal beinahe an den Wahnsinn verloren; als sie realisiert hatte, was nach dem ersten Jahr, das sie auf sich allein gestellt waren, aus ihr geworden war... unmittelbar vor ihrer Einsicht war sie damals ähnlich verschlossen geworden, wie es sich jetzt wieder anbahnte...
Kurz nach Verlassen des Stadtgebietes sagte Atlas etwas, wurde jedoch durch ein in unmittelbarer Nähe zusammenstürzendes Gebäude übertönt.
„Bitte nochmal!“, rief Morton ihm über die Schulter zu. „Das war leider nicht ganz verständlich.“
Der Titan stieß einen genervten Seufzer aus. „Delphyne war noch nie übermäßig taktvoll, was habe ich nur erwartet... Meine Frage, Halbgötter, war folgende: wie seid ihr – offenbar weder Titanen noch Riesen – in die Position gekommen, eine Armee aus Monstern gegen den Olymp zu führen? Kratos erwähnte, dass seine Verbündeten mir einen Gott vorbeibringen würden... aber ich gebe zu, ich war überrascht, ausgerechnet einer Handvoll Demigottheiten gegenüberzustehen... und so außergewöhnlichen gleich dazu.“
„Außergewöhnlich...“, wiederholte Nova das Wort. „Ich glaube, die Bezeichnung gefällt mir. Klingt gleich viel netter als Abartig oder Unnormal.“
Morton zuckte mit den Schultern. „Was ist in dieser Welt schon normal?“
Er ging weiter, sann dabei über die Frage des Titanen nach. Wenn er so darüber nachdachte, schien es in der Tat ein wenig verwunderlich, dass ein einziges, verirrtes Metallstück eines explodierenden Flugzeuges der Auslöser für seinen Feldzug sein sollte. Natürlich hätte Kratos sein Vorhaben auch ohne diesen Zwischenfall umgesetzt, doch hätte er ohne Mortons Unterstützung zweifelsohne auf andere Mittel zurückgegriffen... zurückgreifen müssen.
Er tauschte einen Blick mit Nova aus, und stillschweigend entschieden sie, den noch immer weitgehend abwesenden Raven und Leander diese Frage nicht aufzuzwingen.
„Sagen wir einfach...“, begann Nova und leckte sich über die Lippen, „...einer der Götter hat sich einen Spaß mit mir erlaubt, der entschieden zu weit ging. Ich bin hier, um sein Leben als Preis dafür einzufordern!“
Morton nickte. „Bei mir ein ähnlicher Fall.“
Atlas strich sich über das Kinn. „Also ist es Rache, die euch antreibt. Ein verblüffend... traditionelles Motiv.“
„Beinahe“, erwiderte Morton. „Sei dir sicher, dass ich es – ausnahmsweise, wie ich anmerken muss – genießen werde, die Götter im Staub kriechen und verenden zu sehen. Aber ich denke da doch ein wenig... praktischer. Sie sind die gefährlichsten, bedrohlichsten Monster von allen; und wenn ich sie erst einmal vernichtet habe, wird nicht mehr viel übrig sein, das mein Leben noch gefährden könnte. Wäre Rache allein für mich Grund genug, einen Krieg anzufangen? Ich denke, nicht. Viel zu riskant. Aber am Leben zu bleiben, stand für mich schon immer an erster Stelle; und die Götter haben mir bewiesen, dass ich dem am besten nachkomme, indem ich sie auslösche.“
„Ein Pragmatiker... stimmt, das passt besser zu dir.“ Er lächelte finster und musterte sie beide abwechselnd. „Ein Pragmatiker und eine Rächerin also! Was für ein überaus interessantes Duo ihr doch seid... oder auch Quartett, wenn man die beiden Stummen noch dazuzählt...“
Die Reaktionen der Neu-Spartaner auf den früheren Titanengeneral fielen weit weniger eindeutig aus, als Morton im Voraus vermutet hatte; zwar gabe es einige unter ihnen, die die Rückkehr ihres alten Anführers begrüßten, gar bejubelten, doch mindestens ebenso viele, die ihm weitgehend gleichgültig oder sogar ausgesprochen vorsichtig und misstrauisch begegneten. Über die Mauer hinweg hatte er bereits hören können, wie die Campbewohner in gespannter Erwartung stetig leiser wurden, nachdem die wachestehende Lamia ihre Ankunft bekanntgegeben hatte.
Morton trat selbst als erster wieder durch das Tor, gefolgt von Nova und Atlas; Raven und Leander schlichen sich als letzte ins Mauerinnere, ehe die Lücke wieder versiegelt wurde.
Siferis befand sich ganz vorn unter den Versammelten und musterte Atlas mit kühler Neugier, ohne dabei sonderlich nervös oder begeistert zu wirken; Julie, die ein Stück hinter ihr stand, schien sich in Gegenwart ihres neuen Verbündeten etwas unsicher zu fühlen. Erinys‘ Miene wiederum gab rein gar keinen Aufschluss über ihr Empfinden. Kratos hielt sich recht weit im Abseits und nickte dem Titanen kurz zu, als ihre Blicke sich trafen; erwartbar, da er ihn bereits kannte. Alexei war nicht zugegen, vermutlich war er zu sehr mit der Reparatur des Bronzeriesen beschäftigt, um sich von Atlas‘ Ankunft ablenken zu lassen.
Der Titan wurde nur Sekunden später von einer Horde seiner größten Bewunderer in Beschlag genommen; Morton meinte sogar, jemanden um ein Autogramm bitten zu hören...
„Wenn du einen Augenblick Zzzzeit hasssst...“, sprach Sif ihn an, „...wir ssssind auf etwassss gesssstoßßßßen, dassssssss dich interessssssssieren könnte.“
Er zuckte mit den Schultern. „Sicher doch. Worum geht es?“
Sie entfernten sich bereits von der sich langsam um Atlas bildenden Traube; Morton sah gerade noch Raven im Augenwinkel davonfliegen. Womöglich wurde ihr der Trubel auch ein wenig zu viel...
„Wir haben in deiner Abwessssenheit den Resssst dessss Kerkerssss erkundet und gessssichert“, fuhr sie fort. „Und dabei noch einen letzzzzten Gefangenen entdeckt.“
„Sehr gute Arbeit! Und... um was für einen Gefangenen handelt es sich dabei?“
„Nun... dassss wissssssssen wir nicht...“
„Nicht? Wie das?“
„Er... sssschien nicht ssssonderlich kooperativ. Und isssst definitiv kein Halbgott. Ein Ssssterblicher ebensssso wenig.“
„Interessant... hat er irgendetwas gesagt? Einen Namen? Ein Ziel? Eine Seite bezüglich unseres Konfliktes?“
„Er hat unssss alssss... unhöfliche Römer bezzzzeichnet... danach hat er kein Wort mehr von ssssich gegeben, egal wassss wir gessssagt haben. Wir dachten unssss, wir warten auf dich, ehe wir ihn befreien... wenn wir dassss überhaupt wollen.“
„Nun, diese Aussage lässt durchaus darauf schließen, dass er kein Freund der Römer ist; seine Gefangenschaft irgendwie auch, findest du nicht?“
„Durchaussss, nur gab essss in allen bissssherigen Kriegen, in die die Götter verwickelt waren, auch... neutrale Wessssen, die ssssich entweder rausssshielten oder...“
„Oder?“
„...oder direkt verssssucht haben, alle Beteiligten zzzzu vernichten. Sssso jemanden können wir hier nicht gebrauchen, denke ich.“
Morton rieb sich über das Kinn und nickte; mittlerweile hatten sie den Stadtrand erreicht. „Gut mitgedacht, Sif... wir sollten wirklich sichergehen, dass dieser etwas besser darin ist, Entscheidungen zu treffen. Einen weiteren Wutanfall im Apollo-Stil brauchen wir hier nicht.“
Sif grinste und nickte überdeutlich. „Ganzzzz ssssicher nicht! Und... wie lief deine Verhandlung mit Atlassss? Ganzzzz offenssssichtlich erfolgreich, aber worauf habt ihr euch geeinigt?“
Er erwiderte das Grinsen. „Wir kommst du darauf, ich hätte mit dem großen Titanengeneral verhandelt?“
„Ach komm, du würdesssst doch nicht wirklich ein sssso mächtigessss und für sssseine Kampfeslust bekanntessss Wessssen direkt vor unsssserer Bassssissss freilassssssssen, ohne ihm vorher ein paar kleine Verssssprechen abzzzzunehmen... auf den Sssstyxxxx vermutlich?“
Sein Grinsen wurde breiter. „Du kennst mich einfach schon viel zu gut, Sif! Er musste notgedrungen akzeptieren, meine Anweisungen zu befolgen, bis wir den Olymp gestürzt haben. Und in meiner Abwesenheit... die deinen als meine Stellvertreterin ebenso.“
Die Dracaena stieß ein geräuschvolles, überaus amüsiertes Kichern aus. „Ich kann mich noch ganzzzz gut daran erinnern, wie er mich und meine Sssschwesssstern herumgesssschubsssst hat, alssss er vor ein paar Jahren befreit wurde... essss wird mir ein Vergnügen ssssein, diesssse Nettigkeiten zzzzu erwidern!“
Morton hob in gespielter Abwehr die Hände. „Sei nur nicht zu streng mit ihm, ja? Es war sicher auch so schon schwer genug für ihn, seinen Stolz soweit hinunterzuschlucken, unseren Bedingungen zuzustimmen, da brauchen wir ihn nicht noch weiter demütigen... außer natürlich, er gibt dir einen guten Grund dazu...“
Ihr Grinsen wurde eine Spur diabolischer. „Keine Ssssorge, Morton, ich werde wirklich mein Allerbesssstes geben, um ganzzzz nett zu ihm zu ssssein! Essss ssssei denn natürlich... hasssst es ja gerade sssselbsssst gessssagt...“
Augenscheinlich hatte sich nicht viel am Kerker verändert, doch erkannte Morton sofort die im Vergleich zu seinem letzten Besuch hier unten gesunkene Anspannung der Wachen; ihnen drohte keine mögliche Gefahr mehr aus dem Unbekannten... nicht mehr, seit ihnen das Unbekannte bekannt geworden war. Wenige Biegungen später öffnete Sif nach einigen Momenten konzentrierten Abtastens eine Öffnung in einer selbst ihm noch unbekannten Scheinwand und führte ihn durch einen langen, unbeleuchteten Durchgang in einen mehrere Meter hohen, verhältnismäßig breiten, von magischen, blutroten Fackeln spärlich erhellten und leicht muffig riechenden Korridor.
Der Schacht mündete seitlich in den größeren Gang; am näher geliegenen Ende zu ihrer Linken hing eine schwere Eisenkette von der Decke herab, während die andere Seite nach vielleicht zwanzig bis dreißig Metern in einem massiven Metallgitter endete.
Sif leckte sich vorsichtig über die Lippen, ehe sie Morton mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken bedeutete, ihm zu folgen, und sich langsam auf die bestimmt einen halben Meter dicken Metallstäbe zuzubewegen begann. Es konnte nicht länger als eine halbe Minute gedauert haben, dennoch kam ihm der Weg durch den Gang vor wie ein halber Tagesmarsch... möglicherweise sollte er die Ausführlichkeit, in der er über das Wesen hinter den Stäben spekulierte, einmal im Kern überdenken und ein Stück zurückfahren. Dennoch ließ ihn die Frage nicht los, was für ein Gefangener den Römern einen derartigen, planerischen Aufwand wert gewesen war...
Morton bemerkte, wie Sif leicht zusammenzuckte, als sich hinter dem Gitter etwas zu regen begann, und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. Sie nickte ihm dankbar zu, wandte sich dann wieder dem Wesen vor ihnen zu. Ihr Blick war ruhig und konzentriert, als würde sie jederzeit mit einem Angriff rechnen. Bestimmt eine weitere halbe Minute, die ihr Gegenüber sie zweifelsohne genau musterte und abwog, wie am besten mit ihnen zu verfahren sei, geschah nichts, beide Seiten – vor und hinter dem Gitter – beobachteten einander nur.
„Warum starrt ihr mich so an?“, grollte eine tiefe Stimme aus der Dunkelheit der Zelle. „Sitzt mein Helm etwa schief? Das wäre durchaus denkbar, immerhin musste ich mir die letzten paar Jahre keine allzu großen Gedanken um mein Aussehen machen...“
Eine erneute Bewegung verriet Morton, dass die Person... oder auch das Wesen, das ihnen gegenüberstand... oder saß, um einiges größer als ein Mensch war. Er hörte einige metallisch klingende Geräusche, dann brachen die Bewegungen wieder ab.
„Doch frage ich mich, warum ihr Römer in letzter Zeit bloß so oft zu mir herunterkommt. Sagt mir, habe ich vielleicht eine Information, die ihr begehrt? Wünscht ihr meine Hilfe? Oder ist euch plötzlich doch nur danach, mich in meiner Misere zu verspotten? Was es auch sein mag, möget ihr es behalten! Hank Bang mag für den Moment um seine Freiheit gebracht sein, doch seinen Willen werdet ihr nicht brechen können, ganz gleich, was ihr auch versucht.“
Morton tauschte einen kurzen Blick mit seiner Begleiterin aus, der ihm verriet, dass sie mit genau so einer Antwort gerechnet hatte. Beteuerungen, sie seien keine Römer, würden bei diesem Gefangenen nicht funktionieren. Er musste schon ein Stück weiter gehen.
„Um dich erstmal davon zu überzeugen, dass wir keine Römer sind... was nicht ganz einfach zu sein scheint; weißt du, wie sich deine Zelle öffnen lässt?“
Hank Bang hielt einen Moment inne und beugte sich dann vor. Ein beschlagener, leicht zerbeulter und aus einem sehr dunklen Metall gefertigter Helm, der an eine alte Schweißermaske erinnerte, schob sich langsam ins Dämmerlicht der Fackeln und schien ihm aus einem schwarzen, vollkommen undurchsichtigen Visier direkt in die Seele zu starren, jede einzelne seiner Muskelzuckungen und Reaktionen aufzusaugen und zu analysieren. Morton ging auf, dass der Mann in der Zelle selbst in seiner sitzenden Position beinahe auf Augenhöhe mit ihm war...
„Wie meine Zelle zu öffnen ist, fragst du? Das ist interessant... eine solche Frage ist in der Tat höchst ungewöhnlich für einen Römer... andrerseits... würde er nicht genau so eine Frage stellen, nur um mich in die Irre zu führen?“
„Könnte er natürlich“, entgegnete Morton ruhig. „Nur was hätte er davon? Dich eine Frage beantworten lassen, deren Antwort er bereits kennt?“
„Würde ich ihm vertrauen, so könnte er dieses Vertrauen ausnutzen, um mir weitere Fragen zu stellen, deren Antwort er nicht kennt. Und auch nicht kennen sollte.“
„Wenn das deine Befürchtung ist, so schwöre ich beim Styx, dir keine weiteren Fragen mehr zu stellen, ehe du diesen Kerker verlassen hast.“
„Ein Schwur auf den schwarzen Fluss also, jegliche Täuschungsmöglichkeit aufzugeben, ehe ich nicht angemessen zu reagieren imstande bin? Fürwahr nichts, was einem dieser Römer zuzutrauen wäre und in der Tat nichts, was mir in meiner Situation schaden könnte...“
Er lehnte sich wieder zurück, und ein breiter, kräftiger Finger deutete durch die Stäbe an ihnen vorbei. „Die Kette am anderen Ende des Ganges. Zieht mit all eurer Kraft daran!“
Morton und Sif kehrten zur Kette zurück und packten sie von zwei verschiedenen Seiten. Ein kurzer, überprüfender Ruck verriet, dass sie fest irgendwo dort oben verankert war. Als sie zu ziehen begann, war ihnen zunächst, als würden sie ein Haus zu verrücken versuchen, doch nach einigen Momenten schien ihre Zugkraft einen in der Decke verborgenen Mechanismus in Gang zu setzen; die Kette ließ sich bewegen, und das zunehmend leichter.
Sie vernahmen über sich das Mahlen von Zahnrädern und kurz darauf ein scharfes, schmerzhaftes Quietschen, als die dicken Gitterstäbe, die sich vermutlich jahrelang nicht bewegt hatten, langsam aus dem Gestein gezogen wurden. Noch ehe sich das Gitter zur Gänze gehoben hatte, kam der Gefangene auf die Füße, bückte sich und kroch unter der Lücke durch. Er erhob sich zur vollen Größe, in der er beinahe bis an die Decke reichte, und gab ihnen ein Handzeichen, dass sie aufhören konnten. Synchron ließen sie die Kette los, woraufhin das Gitter sich rasch wieder absenkte und mit einem dumpfen Grollen in seine ursprüngliche Position zurückkehrte.
Morton, der ihn bislang nur aus dem Augenwinkel betrachtet hatte, drehte sich die schmerzenden Hände reibend zu ihm. Ein mindestens zweieinhalb Meter großer, über alle Maßen massiver Mann, der neben seiner ehrfurchtgebietenden Eisenmaske eine schwarze, nietenbeschlagene Hose und massive, schwarze Stiefel trug, stapfte auf sie zu und schien im engen, schwach beleuchteten Gang mit jedem Schritt größer zu werden. Als er näher kam, war sein trotz der vielen Jahre im Kerker seltsamerweise sonnengebräunter, muskulöser und völlig zernarbter Oberkörper zu erkennen.
Hank blieb wenige Schritte vor ihnen stehen und musterte sie aufmerksam. „Römer seid ihr nicht, so viel steht fest. Aber aus Gründen der Höflichkeit werde ich meine eigenen Fragen so lange zurückhalten, bis du gemäß deines Schwurs selbst wieder welche stellen darfst. Wenn ihr einen Schritt zur Seite treten mögt...“
Hank zertrümmerte die Wand mit zwei mächtigen Faustschlägen und legte somit einen Weg in das ihnen bekannte Gewölbe frei. Auf dem Weg zurück nach oben wechselten sie kein weiteres Wort, doch waren die ausgetautschten Blicke zwischen Morton und Sif Gewissheit genug, dass der jeweils andere zufrieden war.
Noch während er aus dem Dunkel des Kerkers ins Licht der Sonne trat und sich reckte, sah Hank sich in den sich vor ihm ausbreitenden Gassen um, erfasste die neuen Bewohner der Stadt und kratzte sich am Helm.
„Nun... damit habe ich nicht gerechnet. Es scheint, als sei es den hiesigen Halbgöttern in jüngster Zeit nicht allzu gut ergangen. Wäret ihr beiden so freundlich, mir zu erklären, was hier passiert ist?“
Morton tauschte einen weiteren Blick mit Sif aus und nickte dann. „Sicher doch...“
Er stellte sie beide vor, fasste alle ihm bekannten Ereignisse seit dem Flugzeugabsturz möglichst rasch zusammen und wartete vergebens auf irgendeine Reaktion seines Gegenübers, die es ihm möglich machte, ihn einzuschätzen. Hank nahm die Ereignisse weitaus ruhiger auf als jeder andere, der bislang auf diese Weise davon erfahren hatte, und kommentierte sie zunächst lediglich mit einem Nicken, als Morton fertig war.
Einen Moment schien er darüber nachzudenken, dann nickte er erneut. „Ich sehe schon, ich bin nicht der einzige, der Kratos früher gekannt hat. Dennoch verwundert es mich, dass diese Leute hier ein derart starkes Vertrauen in seine Zerstörungswut haben, dass sie sich in so großer Menge um ihn zusammenschließen... das kann nicht das einzige sein, was sie zusammenhält.“
Morton zuckte mit den Schultern. „Nein... vermutlich nicht.“
Ein Geräusch erklang aus Hanks Maske, das ein wenig nach dem Ansatz eines Lachens klang. „Ganz sicher nicht! Und ich habe eine Ahnung, was vielleicht sogar noch wichtiger ist... aber dazu später.“
Hank ging einmal über die Straße und inspizierte eine der Ruinen, die beim Kampf gegen Apollo zustandegekommen waren. „Sieh an, die Zerstörungskraft eines übereifrigen Gottes...“
Er kam zu Morton und Sif zurück, um ihnen beiden die Hand zu schütteln. „Wenn ich mich recht entsinne, habe ich meinen Namen zwar bereits genannt, doch erlaubt mir nur der Höflichkeit halber, mich nocheinmal anständig vorzustellen; ich bin Hank, meines Zeichens Götterverbrenner im Dienste Gaias mit der Aufgabe, die vorolympische Ordnung wiederherzustellen. Da Gaia bedauerlicherweise wieder in ihren Schlaf zurückgefallen ist, seid ihr es vermutlich, an deren Seite ich diese Aufgabe fortführen werde.“
Sif beobachtete ihn aufmerksam. „Götterverbrenner nanntesssst du dich. Isssst diesssser Titel wörtlich zzzzu versssstehen?“
Hank nickte. „Allerdings. Ich kann mit Stolz behaupten, noch keinem der nicht gerade wenigen Götter, denen ich im Kampf gegenübergetreten bin, unterlegen zu sein und ihnen einige der übelsten Wunden ihres langen, bald nicht mehr ganz so unsterblichen Lebens beigebracht zu haben!“
Morton bedachte ihn seinersetits mit einem respektvollen Nicken. „Nun, in diesem Fall ist es mir ein Vergnügen, dich in Neu-Sparta willkommen zu heißen. Fühl dich ganz wie zu Hause, nur nicht zu lange; in ein paar Tagen brechen wir zum Olymp auf.“
„Neu-Sparta? Das gefällt mir! Nur... bräuchte ich, bevor ich mit dem Götterverbrennen fortfahren kann, natürlich meine Ausrüstung zurück...“
Hank marschierte aus der Stadt hinaus zielstrebig auf die Werkstatt der Telchinen zu und blieb einen Moment stehen, als er Talos erblickte. Im Anschluss öffnete er eines der diversen Lager, die Morton nicht zu unterscheiden vermochte und suchte gezielt einige Gegenstände heraus. Zunächst legte er einen mit festen Lederriemen verschnürten Brustpanzer an, der aus demselben Metall geschmiedet schien wie seine Maske. Anschließend griff er nach einem gewaltigen, etwa zur Hälfte gefüllten Patronengurt und schulterte zum Schluss ein über alle Maßen massives und kompliziert wirkendes Gewehr mit einer schweren, direkt unter der Mündung angebrachten Bronzeklinge.
„Eine angenehme Überraschung, dass die Römer sich gar nicht erst getraut haben, an meinen Sachen herumzuspielen. Wenn du mich jetzt entschuldigst; ich muss vor unserem Abmarsch noch ein paar neue Patronen herstellen. Ich habe anscheinend doch eine ganze Menge beim Legionäre verbrennen aufgebraucht...“
Morton sah ihm nach, als er in einer der Schmieden verschwand und musste an Novas Beschreibung des Kabumm-Griechen denken. Möglicherweise hielt Hank sich bereits ein paar Jahre länger in dieser Region auf...
„Sif, macht es dir etwas aus, wenn ich dich für ein, zwei Stunden allein lasse? Organisatorisch relevantes scheint abgeschlossen, und nach den letzten Tagen brauche ich langsam mal wieder ein wenig Zeit für mich.“
„Keine Ssssorge; fallssss in der Zzzzeit noch ein Gott auftaucht, kümmere ich mich darum!“
Er grinste. „Danke, Sif!“
Morton begab sich zum momentan wohl noch ruhigsten Ort hier im Camp; dem Dach des Senatsgebäudes. Für diesen einen Moment der Ruhe wollte er über nichts nachdenken, verbannte all die ungelösten Probleme, Verantwortungen und Aufgaben, die noch vor ihm liegen mochten, aus dem Verstand. Sein Geist würde diese Ruhe brauchen, um für ebenjene Aufgaben gewappnet zu sein, wenn der Zeitpunkt ihrer Erfüllung denn gekommen war. Und für einige Minuten – wie viele genau, konnte er nicht sagen – gelang es ihm; all seine Sorgen fielen von ihm ab wie Sand von einer sich gen Sonne reckenden Schlange und ließen ihn so leicht und befreit zurück wie schon lang nicht mehr. Doch lange sollte er nicht ungestört bleiben... ein Luftzug wie von schlagenden Schwingen fuhr ihm durch die Haare, als jemand hinter ihm landete.
„Morton...“
Der Rhythmus ihres Flügelschlags, ihre Schritte und selbst das Geräusch ihres Atems waren ihm nach all den Jahren gemeinsamen Reisens so vertraut, dass Morton nicht einmal ihre Stimme hätte hören müssen, um seine Schwester zu erkennen. Das Zittern, das darin lag, gefiel ihm allerdings ganz und gar nicht...
Er seufzte und erhob sich langsam. „Etwas stimmt nicht, habe ich recht?“
Raven trat noch einen Schritt auf ihn zu und stieß ein schrilles, kaum kontrolliertes Kichern aus. „Mit mir soll etwas nicht stimmen? Ha, du bist lustig! Ja, das bist du...“
Alarmiert fuhr Morton herum. Nein, hier stimmte etwas ganz und gar nicht... Ihre Augen waren gerötet, weit aufgerissen, zuckten wild in alle Richtungen, als fürchte sie sich davor, zu blinzeln. Ihr Lächeln schien eine unfreiwillige Grimasse, nicht glaubwürdig, aber auch nicht in Täuschungsabsicht getragen...
Er trat ihr seinerseits entgegen und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Raven! Was ist los?“
Mit einer beiläufigen Handbewegung wischte sie seinen Arm beiseite, dabei noch immer dieses verstörende, unergründliche Lächeln auf dem Gesicht. „Das musst du mich wirklich fragen? Morton, das kannst du doch besser! Schau dich einmal um und sag mir, was du siehst!“
Er folgte ihrer Aufforderung, wobei ihm aufging, dass er zum ersten Mal seit vielen Jahren nicht genau wusste, was er gerade eigentlich tat... und beinahe vergessen hatte, wie es war, nicht Herr seiner Situation zu sein...
„Ich sehe die Stadt“, antwortete er und stellte erschrocken fest, dass seine Stimme dabei stockte. „Ihre Bewohner. Und... die Ghule, die wir erschaffen haben.“
„Nein, nein, nein...“, erwiderte Raven und schüttelte energisch den Kopf. „Das ist nur die Oberfläche, Morton! Was siehst du darunter?“
So sehr er es auch versuchte; er begriff nicht, worauf sie hinaus wollte. Und wenn er sich zu viel Zeit mit der Antwort ließ, würde sie ungeduldig werden...
„Unsere... Verbündeten? Raven, worauf...“
Sie öffnete den Mund und unterbrach ihn mit einem Fingerzeig. „Guter Punkt, Morton, sehr guter Punkt! Verbündete nennst du sie also? Nur das? Nichts weiter?“
Obwohl er es mit allen Mitteln zu vermeiden suchte, war er zu langsam und blieb ihr diesmal die Antwort schuldig.
„Keine... tieferen Bindungen also? Was ist mit der roten Schlange?“ Ein erneutes Kichern. „Morton, selbst du kannst mir nicht vorgaukeln, dass das alles ist!“
„Sif ist meine Freundin...“
Raven packte ihn mit einem erschreckend harten, unnachgiebigen Griff bei den Schultern und schüttelte ihn. „Morton, hast du etwa vergessen, was diese Teufelskreaturen und all die Jahre über angetan haben?! Sie haben uns gejagt wie Vieh, jeden einzelnen Tag, erbarmungslos! Nur darauf aus, uns zu töten, zu zerreißen und aufzufressen! Und du kommst allen Ernstes auf die Idee, dich mit ihnen anzufreunden? Verdammt, was ist los mit dir?!“
Ihre Stimme wurde immer schriller und wilder, steigerte sich in ihren Zorn hinein. Längst war ihr Lächeln verschwunden, ihre dünne Maske zerbrochen und einer geballten Mischung Zorn und Verzweiflung gewichen.
Morton versuchte, möglichst sanft nach ihren Armen zu greifen, aber sie ließ nicht locker. „Raven, sie ist nicht wie die Wesen, denen wir in Griechenland begegnet sind. Und die anderen auch nicht.“
Sie hielt inne, ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. All ihre ungezügelte Energie schien auf einen Schlag verschwunden, ließ nur ein besiegtes, kraft- und beinahe ausdrucksloses Gesicht zurück.
„Verstehe, so ist das also... Morton, ich dachte immer, wir haben uns damals ein Versprechen gegeben. Es sollte nur uns beide geben. Wir allein würden für immer zusammenbleiben, jeden Winkel dieser Welt entdecken und alles überleben, was darin auf uns lauern könnte. Nur wir beide, und der Rest der äußeren Welt sollte nichts mit unserer zu tun haben. Hast du das vergessen? Morton, bitte sag mir, dass du das nicht hast!“
Als er die Träne auf ihrer Wange bemerkte, packte Morton ein Gefühl, dass er beinahe schon vergessen hatte – Angst... Angst, seine Schwester nach all dem, was sie durchgemacht hatten, jetzt doch noch zu verlieren...
„Raven, bitte glaub mir, ich werde immer bei dir sein, egal, was passiert! Aber nicht alles, was man früher einmal gedacht hat, kann für immer sein...“
Erneut hob sie eine Hand. „Bitte... Morton, hör auf...“
Sie wandte den Blick ab, und Morton sah die Tränen auf ihrem Gesicht im Sonnenlicht glitzern.
„Wenn dir diese... Wesen jetzt also wichtiger sind, dann tut es mir leid... alles, was ich vielleicht falsch gemacht habe. Möglicherweise... ist es besser, wenn sich unsere Wege hier trennen.“
Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich vollends von ihm ab, erhob sich in die Luft und flog davon.