War of Olympus
von Tharax Batora
Kurzbeschreibung
Ein Jahr ist seit der Niederlage der Giganten vergangen. Doch der Frieden soll schon bald ein blutiges Ende finden. Ein neuer Feind erhebt sich gegen die Götter, noch furchtbarer und unerbittlicher als alle Vorangegangenen. Mit einem einzigen, brutalen Angriff vernichtet er Camp Jupiter und bezwingt dabei sogar die legendären Helden des Olymp. Camp Half-Blood bleibt nun nichts anderes mehr übrig, als eine Mannschaft aus alten und neuen Helden zusammenzustellen, um den einzigen Gegenstand zu finden, der ihn bezwingen könnte: die Büchse der Pandora. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, denn sollte ihr Feind die Büchse vor ihnen finden, könnte ihn so gut wie niemand mehr aufhalten. Und der mächtige Krieger ist nicht allein. Hinter ihm stehen zwei von den Göttern im Stich gelassene Halbblute, ein mächtiger Nekromant sowie eine ganze Armee blutdurstiger Monster, die allesamt den Untergang des Olymps besiegeln wollen... [Crossover mit God of War]
CrossoverAbenteuer, Fantasy / P18 / Gen
Hekate
Leo Valdez
Nico di Angelo
OC (Own Character)
Thanatos
30.01.2016
29.05.2023
89
237.748
10
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05.02.2021
5.762
Kapitel LXXVI - Gebrochenes Eis
Zum ersten Mal seit vielen Jahren, womöglich zum ersten Mal in ihrem Leben und definitiv zum ersten Mal, soweit ihre Erinnerungen zurückreichten, wurde Nova bejubelt.
Den Bronzetitanen Talos hatte Raven mit einem Bein innerhalb der Mauern im Nordwesten des Camps neben der neuerrichteten Werkstatt der Telchinen abgestellt; einer von ihnen, Alexei, hatte darauf bestanden, die einzelnen Funktionen des Riesen zu überprüfen und gegebenenfalls zu optimieren.
Hätten ihre Träume sich nicht auf einen ganz bestimmten, in beunruhigender Frequenz auftretenden Albtraum beschränkt, käme ihr die Szenerie, die sich ihr nach dem umständlichen Ausstieg aus dem Bronzeriesen bot, wie ein Traum vor. Telchinen, Dracaenae, Lamien, Zyklopen, Empusen und weitere Kreaturen, die sie teils gar nicht mehr zuordnen konnte, hatten sich vor Talos‘ Fuß versammelt und applaudierten ihr und den anderen Mitgliedern des Suchtrupps, als sie mit der gefangenen Hekate durch eine Öffnung im Zeh des Riesen ins Freie traten.
Ihr wurde applaudiert; ihr, die über so lange Zeit, wenn auch nicht grundlos, immer nur Furcht und Hass geerntet hatte, und der jedes empfindsame Wesen konsequent aus dem Weg gegangen war.
Nach der blanken Verwunderung regte sich noch etwas anderes in ihr, als es ihrem Verstand gelang, das Geschehen als Teil der Wirklichkeit zu identifizieren. Ein altes Gefühl, das sie während der dunklen Jahre im Camp Half-Blood beinahe vergessen hatte, so lang lag es dort bereits begraben.
Eine leichte, entspannende Wärme breitete sich in ihrem Inneren aus, floss vom Bauch aus nach unten in ihre Füße und nach oben bis in ihren Kopf, wo sie all die Sorgen, Zweifel und Ängste einfach hinwegspülte und ihr ein Gefühl der Schwerelosigkeit verlieh. Jetzt erkannte sie es wieder. Es war die Gewissheit, für das, was man tat, anerkannt und nicht gefürchtet oder gehasst zu werden.
Nova lächelte, ließ ihren Blick über die versammelte Menge jener Wesen schweifen, die man unter Halbgöttern gemeinhin als Monster kannte, und zweifelte zum ersten Mal daran, ob diese Bezeichnung überhaupt angemessen war.
Morton bahnte sich einen Weg durch die Versammelten, so mühelos und leichtfüßig, als würde er durch ein hüfthohes Kornfeld waten, und betrachtete erst das gewaltige Konstrukt aus der Nähe, ehe er sich ihnen zuwandte.
„Wie verschwenderisch von den Göttern, ein solches Wunderwerk einfach wegzuwerfen.“ Er schüttelte grinsend den Kopf. „Und wenn man bedenkt, wem es letztendlich in die Hände gefallen ist… wie außerordentlich töricht von ihnen!“
Hekate kniff die Augen zusammen und musterte ihn mit ansonsten starrer Miene. „Morton Deader. Du bist also derjenige, der diesen…“, ihr Blick schweifte über die versammelten Krieger, „…Irrsinn hier auf die Beine gestellt hat.“ Sie trat einen Schritt auf ihn zu, soweit es ihr möglich war, und sah ihm direkt in die Augen. „Und der Vernunft vermutlich auch nicht zugänglicher als deine wahnsinnige Schwester und ihr Schlägertrupp.“
Raven warf der Göttin nur einen kurzen Seitenblick zu und rollte lächelnd mit den Augen. Mortons Miene hingegen erstarrte wieder zu jener eisernen Maske, mit der Nova ihn kennengelernt hatte.
Er ging seinerseits auf Hekate zu, bis er fast direkt vor ihr stand, packte die aus ihrer Brust ragende Klinge von Ravens Sichel und zog sie das letzte Stück zu sich heran, was ihr ein leichtes Verziehen der Lippen sowie ein kurzes Zucken mit dem Augenlid entlockte.
„Du irrst dich, Hekate. Wie auch nahezu jeder andere, der versucht, meine Ambitionen abzulesen. Mein Verständnis von Vernunft sieht lediglich nicht vor, derartigen… Kreaturen wie denen da oben…“, er deutete gen Himmel, „…weiterhin freie Hand über mein Schicksal zu gewähren.“
„Dein Streben nach einem Krieg mit dem Göttern wird dein Untergang sein… Kylon, du bist nicht der erste, der versucht, die Weltordnung umzustoßen.“
Mortons Augenlid zuckte, und seine mimische Maske schien einen Sprung zu erleiden, ehe er sich wieder fing. „Wie du auch nicht die erste bist, die mich mit Kronos und Gaia vergleicht. Ich beabsichtige nicht, ihre Fehler zu wiederholen, dessen kannst du dir sicher sein.“
Hekates Mundwinkel verzogen sich zu einem spöttischen, kaum wahrnehmbaren Lächeln. „Dann versuche dein Glück, Sohn des Thanatos, und hoffe, dass das Schicksal diesen Pfad nicht mit einer allzu schmerzhaften Sackgasse versehen hat! Ich hörte, du hättest kürzlich bereits einmal alles verloren; erwarte besser keine erneute Gnade, wenn du ihn weiter beschreitest!“
„Es gibt kein Schicksal“, antwortete Morton ruhig, aber mit einer schneinden Kälte in der Stimme, die Nova selbst jetzt noch erschaudern ließ. „Nur den freien Willen. Ich habe noch nie Glück oder jemandes Gnade gebraucht, um meine Ziele zu erreichen, und weder du noch Zeus noch einer der übrigen Götter wird mich von meinem jetzigen abhalten.“
Die versammelten Krieger begannen erst verhalten, dann immer lauter zu applaudieren und Morton zuzujubeln, einer Gottheit die Stirn bieten zu können. Ein großer, pelziger Telchine mit dem Kopf eines Wolfes trat hinter ihm aus der Menge und starrte geradewegs an ihnen vorbei.
„Kaum zu glauben, dass er tatsächlich noch intakt ist…“
Nova erkannte Alexeis warme Stimme aus dem Telefonat wieder; er musste den Bronzeriesen, der seinen Blick gefangenhielt, demnach vor langer Zeit selbst mitgebaut haben.
„Morton, du hast sicher Verständnis dafür, wenn ich jetzt ein paar nostalgische Erinnerungen wieder auffrischen gehe.“
Morton wandte sich von der Göttin ab und ließ wieder ein leichtes Lächeln sehen. „Sicher. Immerhin will ich diesen Riesen auf unserem Schlachtzug in Topform sehen! Aber ich denke, bei dir ist er in guten Händen.“
Er schien seine absolute Unnahbarkeit in den letzten Tagen zumindest in Teilen abgelegt zu haben. Noch bei ihrem Aufbruch hätte Nova nicht damit gerechnet, Morton in diesem Leben noch einmal lächeln zu sehen. Sich selbst allerdings ebenfalls nicht…
Während Alexei und einige andere Telchinen in Talos‘ Fuß verschwanden, führte Morton den zurückgekehrten Suchtrupp mit der gefangenen Hekate in ein unscheinbares Gebäude, das den Eingang zu einem unter Neu-Sparta liegenden Gefängniskomplex darstellte. Nova verlor in den Tiefen des Kerkers nach wenigen Biegungen die Orientierung, noch ehe sie überhaupt die sich öffnenden Wände erreichten; Morton schien sich hier dafür umso besser zurechtzufinden. Wie viel Zeit er hier bereits verbracht haben mochte…
In einigen der Zellen lagen Skelette in zusammengekauerten Posen, viele der Räume hatten nichteinmal eine Tür. An einer Stelle lag ein riesiger Gesteinsbrocken auf dem Gang, der anscheinend gewaltsam aus der Wand gerissen worden war, um eine der Zellen zu öffnen.
Ganz am Ende des Korridors öffnete Morton mit einem schneidenden Quietschen eine Tür und führte Hekate, die den ganzen Weg über nicht mehr gesprochen hatte, in eine kleine, notdürftig mit einer Steinpritsche ausgestattete Zelle, die ansonsten vollkommen leer war.
„Wir holen dich wieder ab, sobald der Olymp in Trümmern liegt“, sagte Morton.
Hekate ging nicht darauf ein, sondern bedachte sie alle der Reihe nach mit einem forschenden Blick. Ihre Augen, zwei im schwachen Fackelschein glänzende, schwarze Perlen, schienen Nova zu durchbohren und jedes noch so dunkle Geheimnis ihrer Seele aus ihr herauszuschneiden. Auch Leander, Erinys und selbst Raven verzogen leicht das Gesicht, nur Morton ließ sich keinerlei Reaktion entlocken.
„Wahr ist, dass ihr einige mächtige Wesenheiten sowohl in euren Reihen als auch… hier unten in eurem Kerker habt. Sei jedoch gewarnt, Kind des Todes; nicht alle deiner augenscheinlichen Verbündeten…“, sie sah erneut an ihm vorbei auf Nova, Leander, Erinys und Raven und ließ dabei wieder ein schwaches Lächeln erkennen, „…werden bis zum Schluss an deiner Seite stehen!“
„Ich zwinge niemanden dazu, für meine Sache zu kämpfen“, erwiderte Morton. „Du magst in diesem Punkt Recht haben, vermutlich wird mir nicht jeder hier in Camp Ghul bis auf den Olymp folgen. Aber diejenigen, die es tun; diejenigen werden stark genug sein, darauf kannst du dich verlassen.“
Die Göttin schmunzelte. „Dann gib dich weiter deinen naiven Überzeugungen hin, Kind, und lebe mit den Folgen deines kopflosen Handelns.“
Kratos, Aktaion und die rote Dracaena Siferis erwarteten sie bereits im Senatsgebäude, als sie sich zum ausführlichen Austausch über die Ereignisse der letzten Tage dort einfanden. Der Geist Spartas nickte ihnen mit einem grimmigen Lächeln zu, als sie den Saal betraten, während die vernarbte Schlangenfrau sie nur interessiert musterte. Nova ging davon aus, dass sie mittlerweile einen hohen Rang im Camp innehatte, wenn sie an einer derart wichtigen Beratung teilnahm.
„Also, wer möchte anfangen?“, fragte Morton in die Runde.
In den folgenden Minuten fassten erst die Mitglieder des Suchtrupps die Ereignisse der Jagd im Kurzformat zusammen, wobei Aktaion die Anekdote, wie er die Camper ausgenutzt hatte, um den Teumessischen Fuchs zu töten, etwas ausschmückte, bis sie schließlich zur Begegnung mit Hekate übergingen.
„Schon wieder in einen Hirsch verwandelt zu werden, war gar nicht lustig!“, warf Aktaion ein. „Aber diesmal immerhin einigermaßen nützlich.“
„Wie habt ihr essss dann gesssschafft, ssssie zzzzu fangen?“, hakte Siferis nach. „Ich hörte, dassss sei angesichts ihrer magisssschen Fähigkeiten fasssst unmöglich.“
Raven lächelte und legte Leander, der ihr einen verwunderten Blick zuwarf, eine Hand auf die Schulter. „Ich glaube, das kann er euch am besten erzählen.“
Er nickte langsam und schloss für einige Sekunden die Augen, seine Lippen bewegten sich dabei kaum merklich.
„Hekate hat mich unterschätzt.“ Als er seine Augen wieder öffnete, war seine Stimme ruhig und sein Ton entschieden. „Sie dachte, sie könnte mich mit einem Trugbild in die Irre führen und davon überzeugen, euch zu verraten.“
Ravens Lächeln wurde breiter. „Falscher hätte sie gar nicht liegen können!“
„In der Tat“, bestätigte Nova. „Wäre er genauso unvorsichtig wie der Rest von uns gewesen, hätten wir diesen Kampf verloren.“
Leander lächelte ihr dankbar zu.
Im Anschluss erzählten Morton und Siferis von der Schlacht gegen die Amazonen und Mortons anschließender Infiltrierung ihres Hauptquartiers sowie der Gefangennahme ihrer Königin. Raven, die regelmäßig mit ihrem Bruder telefoniert hatte, schien die meisten Details bereits zu kennen; Nova hatte bislang nichts weiter als grobe Erwähnungen ihrerseits mitbekommen.
Sie bemerkte nach einer Weile des Zuhörens, dass Morton Siferis „Sif“ nannte; eine Kurzform, wie sie vermutete. Überhaupt schienen die beiden, die das Wort teils mitten im Satz an den jeweils anderen weitergaben, mittlerweile sehr viel vertrauter miteinander zu sein als noch vor ihrem eigenen Aufbruch auf die Jagd.
Den Kampf mit Apollo schilderten sie dermaßen bildgewaltig, dass Nova sich beinahe wünschte, selbst vor Ort gewesen zu sein, um die Niederlage des Gottes mitansehen zu können. Aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass die Auseinandersetzung, wie auch ihr eigener Kampf mit Hekate, nur ein Vorspiel auf die gewaltige Schlacht sein konnte, die noch vor ihnen lag – sofern Mortons Plan funktionierte.
Als Ausklang erklärte Morton, wie er die geheimen Informationen im Bunker gefunden und größtenteils entschlüsselt hatte; den Rest wollte er sich gemeinsam mit einer direkt vor der Rückkehr des Jagdtrupps aus dem Kerker befreiten Halbgöttin namens Julie Keene noch genauer ansehen.
Leander runzelte die Stirn. „Die Römer haben Halbgötter da unten eingesperrt?“
„Offensichtlich“, sagte Morton. „Julie haben sie zwei Jahre dort festgehalten, nachdem sie sich in den Bunker geschlichen hatte. Als Sif ihre Zelle gefunden hat, war sie schon fast tot.“
Erinys knirschte mit den Zähnen. „Warum nur kommt mir das so unangenehm bekannt vor…“
Morton warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. „Es lag nicht in meiner Absicht, irgendwelche negativen Erinnerungen wieder hochkochen zu lassen. Verzeih, wenn das der Fall ist. Jedenfalls haben wir dieses Verlies noch immer nicht vollständig aufgedeckt, hauptsächlich aufgrund der beweglichen Wände. Ein paar der Gefangenen haben wir befreit, aber wir wissen nicht, wie viele von ihnen wir noch gar nicht gefunden haben.“
„Was ist, wenn einer der Geheimgänge ins Freie führt?“, fragte Leander nach. „Würde das möglichen Feinden nicht die perfekte Gelegenheit zum Angriff bieten?“
Morton nickte langsam. „Prinzipiell hast du Recht. Solange wir nicht alle Gänge und Winkel kennen, stellt der Kerker ein potenzielles Risiko da, deshalb habe ich von Anfang an recht viele Wachen dort unten postiert. Und zwar in einem Abstand und einer Position, die es ihnen bei jeder entdeckten Bedrohung ermöglichen, eine Warnung wie bei einer Kette von einem zum anderen bis nach oben weiterzugeben.“
Raven kratzte sich am Kopf und lächelte schief. „Genauso umständlich und übervorsichtig wie immer!“
Mortons Lächeln war beinahe mit dem ihren identisch, als er einen Zeigefinger hob. „Und meine Übervorsicht, wie du sie nennst, hat uns schon oft gerettet, wenn du dich bitte erinnern würdest!“
Auch wenn sie nichts weiteres über sich preisgegeben hatten, meinte Nova doch, in den vergangenen Minuten mehr über die Geschwister erfahren zu haben als an allen bisherigen Tagen, die sie die beiden nun schon kannte, zusammengezählt. Dass sie sich in ihrer Gegenwart überhaupt derart locker verhielten, war im Fall der Todeskinder vermutlich bereits als Vertrauensbeweis zu deuten.
Morton bat Nova und Leander im Anschluss an die Besprechung in überraschend freundlichem Tonfall, ihn zu begleiten. Während sie scheinbar ziellos durch Neu-Sparta wanderten, achtete Nova unwillkürlich genauer auf das Treiben um sich.
Dracaenae, Telchinen, Harpyien, Empusen, Zyklopen, einige Lamien und weitere Gestalten, die sie im Camp Half-Blood nur als Monster gekannt hatte, strömten durch die Stadt und um sie herum, führten ausgelassene, scheinbar völlig gewöhnliche Gespräche, handelten auf dem Forum offenbar auch miteinander und grüßten sie manchmal sogar, wenn sie an ihr vorbeigingen.
Sie sah einen Zyklopen durch die Stadt schlendern und sich mit einer Harpyie unterhalten, die es sich auf seiner Schulter bequem gemacht hatte. Zwei Empusen sowie eine Lamia saßen im Schatten einer großen Säule und vertrieben sich die Zeit mit einem Würfelspiel. Ein Telchine führte einer begeisterten Dracaena gar Kunststücke mit einem scheinbar zahmen, stymphalischen Vogel vor. Irgendwo in der Menge glaubte Nova sogar, Aktaion und Erinys zu erkennen.
„Ihr habt euch verändert, seit wir… damals aus Camp Half-Blood aufgebrochen sind“, sprach Morton sie unvermittelt an.
„Damals… ja, damals.“ Nova kaute das Wort mehrfach durch und ließ es sich schließlich auf der Zunge zergehen, ehe sie zu dem Schluss kam, dass er keine treffendere Formulierung hätte finden können.
„Du dich allerdings auch“, entgegnete Leander. „So freundlich habe ich dich gar nicht in Erinnerung.“
„Wohl wahr.“ Morton schmunzelte und sah sich dann auf dem Forum Neu-Spartas um, beobachtete all die Wesen, die nun in dieser früheren Geisterstadt lebten – unter seiner Aufsicht, sofern Nova alles richtig verstanden hatte. „Zum ersten Mal in 20 Jahren ein weitergedachtes Ziel zu verfolgen als abends noch am Leben zu sein, verändert gewisse Ansichten… wobei man die Vorzüge eines einfachen Lebens auch nicht unterschätzen sollte.“
Leander unterdrückte ein Kichern. „Du nennst es ein leichtes Leben, jeden Tag mit der halben Monsterwelt darum kämpfen zu müssen?“
„Monster?“ Nova hob eine Augenbraue und ließ ihren Blick demonstrativ über die Stadtbewohner schweifen.
Leander öffnete den Mund, schloss ihn wieder und runzelte die Stirn.
„Nicht diese hier…“, setzte er an. „Ich meinte eigentlich…“
„Ich weiß, was ihr meint“, erlöste Morton ihn aus seiner Verlegenheit. „Und einige der Kreaturen aus der alten Welt haben diese Bezeichnung tatsächlich verdient, wie Chimären, Gargoyles und dergleichen; allerdings sollte man in der Tat vorsichtiger sein, wen oder was man mit welchen Begriffen belegt.“
Leander deutete nach oben. „Als was würdest du die Olympier bezeichnen?“
Morton schloss kurz die Augen und setzte dann ein nur minimal diabolisch wirkendes Grinsen auf. „Nun, ich denke, da trifft es das Wort Monster doch relativ gut.“
„Warum betreibst du eigentlich diesen ganzen Aufwand, um die Götter kleinzukriegen?“, fragte Nova. „Ist es nur die Rache für deine Schwester oder hast du noch einen anderen Grund?“
Er legte den Kopf schief. „Warte. Habe ich dir überhaupt erzählt, dass es mir um Rache ging? Ich glaube, nicht.“
Sie schüttelte den Kopf und grinste ihrerseits. „Ich bin nicht so dumm, wie ich vielleicht aussehe, Morton! Nein, direkt hast du davon nichts gesagt. Aber bei unserer ersten Begegnung hast du mir gesagt, du hättest meine Rachsucht auf den ersten Blick erkannt. Später hast du einen mächtig wütenden Eindruck gemacht, als du meintest, du wolltest Krieg gegen Zeus führen. Und dann kam noch die ganze Geschichte mit Raven und der Wiederbelebung dazu…“
Morton nickte langsam. „Na, sieh mal an. So viel Einfühlungsvermögen hätte ich dir in der Tat nicht zugetraut! Ja, du hast Recht. Anfangs ging es mir um unserer Rache. Aber jetzt…“
Erneut wandte er sich von ihr ab, um das Leben in der Stadt um sie herum zu betrachten. „Mir ist klar geworden, dass meine Schwester und ich nicht die einzigen waren, die unter der jahrtausendelangen Herrschaft der Olympier zu leiden hatten. Und ganz bestimmt nicht diejenigen, die das härteste Los gezogen haben.“
Bei seinen letzten Worten wurde seine Miene für einen kurzen Augenblick sanfter, als er sie beide betrachtete.
„Früher in Europa, da haben Raven und ich alles getan, was nötig war, um den nächsten Tag zu erreichen. Wir haben getötet, was unser Leben bedrohte. Monster, Sterbliche… einige Halbgötter waren auch dabei. Und manchmal… manchmal mussten wir auch fliehen.“
Morton knirschte mit den Zähnen. „Aber wie willst du vor jemandem fliehen, dessen Einfluss sich über die gesamte Welt ersteckt? Ja, die Olympier, insbesondere Zeus, sind Monster, und zwar die gefräßigsten, bedrohlichsten Monster, denen ich jemals gegenüberstand. Sie bedrohten mein Leben, als ich in diesem Flugzeug saß, sie bedrohten mein Leben, als ich euch in Camp Half-Blood gefunden habe, und sie bedrohen mein Leben auch jetzt.“
Er schloss die Augen, atmete tief durch und sammelte sich wieder. „Ich kenne diese Situation. Ich habe sie schon oft erlebt. Und wie sonst auch werden meine Schwester und ich das tun, was wir immer getan haben, um zu überleben.“
Leander nickte. „Also dieselbe Situation in einer anderen Größenordnung.“
„Du hast es erfasst. Und bei diesem Kampf…“, er schloss alle Stadtbewohner mit einer einzigen, weiten Geste mit ein, „…sind wir nicht allein, zum ersten Mal in unserem Leben. Aber auch diesen Kampf werden wir überleben, indem wir den Jäger zum Gejagten machen!“
Er sah ihnen beiden erneut in die Augen und lächelte sie dabei an, zum ersten Mal, seit Nova ihn kannte. „Und ich bin froh, dass ihr beide dabei an meiner Seite steht!“
…
„Acht Beine, Nova! Veronika hat acht Beine und an jedem davon eine… Hand… eine verdammt gruselige Hand!“
Leander verzog das Gesicht und schüttelte sich. „Und abgesehen davon… sie ist eine Spinne! Eine verfluchte Riesenspinne aus Menschenteilen mit Rippchenrüstung und angespitzten Knochenzähnen! Etwas noch gefährlicheres kann es einfach nicht geben!“
Er stapfte mit hektischen, rhythmisch äußerst ungleichmäßigen Schritten ein kleines Stück der Mauer auf und ab und schien das, was er in Mortons Labor auf dem ehemaligen Tempelgelände gesehen hatte, noch immer nicht ganz verarbeitet zu haben.
„Nicht zu vergessen die frei beweglichen Greifarme… zugegeben. Aber Ivan hat eine viel größere Reichweite… und die längeren Sicheln.“ Nova saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der Mauerkante und betrachtete die sich vor dem stetig dunkler werdenden, mittlerweile sonnenlosen Himmel abzeichnenden Umrisse der Berge.
Mehr als zehn Meter unter ihr floss der Kleine Tiber, wie die Römer den Fluss einst getauft hatten, an der westlichen Mauer entlang; sein Rauschen vermischte sich mit den metallischen Klängen von Hämmern, Ambossen und anderen Geräten aus der früheren Kaserne, die die Telchinen mittlerweile zu ihrer Werkstatt umfunktioniert hatten.
Sie warf lächelnd einen Blick über die Schulter. „Deine Veronika hätte die Hälfte ihrer Beine verloren, bevor sie überhaupt in Biss- oder Greifreichweite wäre!“
Leander blieb ruckartig stehen und hob einen Zeigefinger. „Unterschätze niemals die Hinterlist und die Gemeinheit einer Spinne!“
„Du meinst Mortons Hinterlist und Gemeinheit.“
„Bitte?“
Nova rutschte ein Stück zurück, stand auf und drehte sich zu ihm um. „Vergiss nicht, dass er jede ihrer Handlungen kontrolliert! Beide können nur so hinterlistig und gemein sein wie ihr Schöpfer. Und da es in beiden Fällen unser wunderbar inspirierender Todesengel ist, dürften wir in diesem Punkt einen Gleichstand erreichen.“
Leander knirschte mit den Zähnen und runzelte kurz angespannt die Stirn. „Na schön, du hast Recht, was das angeht. Aber den Sicheln könnte sie immernoch mit ihren Zähnen beikommen. Und wenn sie erstmal dicht genug an ihn herangelangt, ist sie die beweglichere der beiden.“
Nova seufzte. „Was haben die Spinnen dir überhaupt angetan? Du bist schon so merkwürdig drauf, seit Morton uns seine Leichenfledderwerkstatt gezeigt hat.“
Er lachte kurz auf. „Wenn du das schon merkwürdig nennst, dann warte mal ab, bis der Rest von Hütte Sechs Veronika begegnet!“
„Der Rest von Hütte…“
„Ich glaube, diese Arachnophobie ist genetisch bedingt“, fuhr er fort und schien kurz zu überlegen. „Ah, richtig, jetzt hab ich‘s wieder. Athene hatte vor Ewigkeiten mal eine Auseinandersetzung mit einer Weberin – Arache war ihr Name, soweit ich weiß – und hat sie im Zorn in eine Art Halbspinne verwandelt. Und all ihren Kindern ihre Abneigung gegen Spinnen ebenfalls aufgezwungen.“
Mit einem schwachen Lächeln fügte er hinter vorgehaltener Hand hinzu: „Ich glaube, sie ist einfach sauer, dass diese fiesen, kleinen Biester es mit ihren eigenen Webkünsten aufnehmen können… was sie natürlich nicht weniger ekelerregend macht!“
„Also eine Form von Rache… na, damit kenne ich mich ja bestens aus… auch wenn die Gründe der Götter oft reichlich banal sind.“
„Deine Mutter war Nemesis, oder?“
„Ja, ist sie.“ Nova legte den Kopf schief. „Wieso, wusstest du das nicht?“
„Nicht mit Sicherheit, nein. Ich meine, mich daran zu erinnern, dass du eine Hütte für dich allein hattest – was das angeht, kannst du dich übrigens wirklich glücklich schätzen. Aber ich wusste nicht mehr, welche genau. Und sonderlich gesprächig warst du im Camp ja auch nicht.“
„Nein… aber ich kann trotzdem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, dass wir im Camp bereits miteinander zu tun hatten!“
Wieder runzelte er die Stirn. „Moment. Hatten wir das?“
Sie stieß ihm einen Finger in den Bauch, genau dorthin, wo sie die Narbe vermutete. „Die hast du immerhin von mir.“
Leander riss die Augen auf, sah kurz hinunter zu seinem Bauch und dann in ihr Gesicht. Mund und Augen standen offen, als könne er nicht fassen, sich hier gerade mit der Person zu unterhalten, die ihn einmal fast umgebracht hätte.
Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich langsam über Novas Körper aus. War es wirklich eine gute Idee gewesen, ihm jetzt davon zu erzählen? Vielleicht hätte sie noch ein wenig warten sollen, dann hätte er es bestimmt besser aufgenommen. Warum nur musste sie immer alles überstürzen…
„Das… das warst du?“
„Ich nehme an, für eine Entschuldigung ist es jetzt ein wenig spät, aber…“, für das nicht vorhandene Einfallsreichtum ihrer nächsten Worte schämte sie sich beinahe selbst; „… es tut mir leid.“
Sie hatte soeben die erste, ernstgemeinte Entschuldigung seit vielen Jahren ausgesprochen und hoffte zum ersten Mal seit mindestens genauso langer Zeit, es nicht mit einem unverzeihlichen Fehler zu tun zu haben. Jeder andere Mensch auf dieser Welt möge ihr grollen, bis der Tartarus ihn verschlucke. Jeder andere, nur nicht er… der erste seit dem Tod ihrer Familie, für den sie so etwas wie Sympathie empfand.
Leander schloss die Augen, nahm einen tiefen, ausgedehnten Atemzug… und lächelte. „Ja… ja, das könnte sein. Ich erinnere mich nur noch ziemlich schwamming daran. Ist vielleicht auch besser so.“
Nova kniff die Augen zusammen und musterte ihn eine Weile. Sie hätte damit gerechnet, dass er sie anschreien oder ihr vielleicht auch direkt einen Kinnhaken oder ähnliches verpassen würde – den sie in dieser Situation vermutlich sogar zugelassen hätte. Sie wäre auf vieles gefasst gewesen, aber nicht darauf.
„Du… bist nicht wütend auf mich?“
Er öffnete die Augen wieder und sah sie an, blieb dabei völlig gelassen. „Warum sollte ich wütend auf dich sein? Abgesehen davon, dass es Jahre her ist, und…“, er lächelte kurz, „…ich nicht glaube, dass uns so etwas heute noch einmal passieren würde, war ich doch selbst Schuld daran!“
Nach dieser Erklärung war sie beinahe noch verwirrter als zuvor. „Wie darf ich das verstehen?“
Leanders Miene gefror und verkrampfte sich, seine Hände begannen, einen Ringkampf miteinander auszutragen. Scheinbar ging ihm erst jetzt auf, was er da gerade gesagt hatte.
„Verdammt, ich weiß nicht, ob ich das jetzt hätte sagen sollen…“
„Vermutlich weißt du es immer noch besser als ich, also…“
Er seufzte. „Wohl wahr. Also gut… als Morton mich gefragt hat, ob ich mit ihm kommen will, war ich gerade dabei, mich zu erhängen. Wäre er nur eine Minute später gekommen, würden wir jetzt nicht miteinander sprechen.“
Novas Gesichtszüge entgleisten, während diverse Zahnräder in ihrem Kopf zu rotieren begannen und versuchten, diese neue Information mit dem, was sie bereits über Leander wusste, zu einem halbwegs stimmigen Gesamtbild zusammenzusetzen.
„Was?“, stammelte sie. „Du warst…“
„Lebensmüde?“, entgegnete er leise und starrte zu Boden. „Ja… ja, das war ich wohl.“
„Heißt das, du… wolltest, dass ich dich umbringe?“
Leander atmete zitternd aus. „Ja, wollte ich tatsächlich.“ Er sah ihr wieder ins Gesicht, und seine Mundwinkel zuckten leicht. „Ich glaube, im Nachhinein bin ich froh, dass du es nicht geschafft hast.“
„Scheiße…“
Nova schüttelte unwillkürlich den Kopf. Normalerweise antwortete sie sofort, wenn auch nicht immer überlegt. Aber hier fiel ihr beim besten Willen keine auch nur im Entferntesten passende Antwort ein.
Er hob die Hände. „Keine Sorge, du musst nicht antworten. Nur bitte… versprich mir eines!“
„Ja…“
„Wenn ich nochmal auf so eine bescheuerte Idee komme, wie mich zu erhängen, dann hau mir einen in die Fresse, binde mich an einen Stuhl und kipp mir einen Eimer Eiswasser über den Kopf!“
Nova atmete einmal durch und fing sich wieder. „Versprochen. So lange und so oft, bis du wieder zur Vernunft kommst!“
Leander lächelte schwach. „Das wollte ich hören!“
„Wie… wie hat Morton dich dazu überredet, mitzukommen“, wagte Nova sich noch weiter vor. „Hängt das irgendwie miteinander zusammen oder… war dir einfach nur langweilig?“
„Enger könnte es gar nicht miteinander zusammenhängen, wobei… langweilig war der einsame Campalltag auf Dauer schon, wenn du mich so fragst.“
Er schloss die Augen und bewegte den Kopf im Takt mit den Lippen auf und ab, als würde er zählen.
„Also gut… vor sechs Jahren, direkt bevor ich ins Camp gekommen bin… ist etwas passiert. Wir waren gerade beim Abendessen… mein Bruder Bryan, mein Vater und ich.“
Er machte eine Pause und schien zu überlegen. „Genau, es gab Hähnchensandwiches. Verdammt noch eins, haben wir die als Kinder geliebt!“
Eine erneute Pause, diesmal begleitet von einem ungesund klingenden Zähneknirschen. „Das erste, leichte Wackeln der Möbel hat uns nicht weiter beunruhigt. Hätte es aber tun sollen. Auf einmal fielen Tisch, Stühle und Schränke einfach um oder wurden durch die Gegend gewirbelt, und ein riesiger Schatten fiel durchs Fenster nach drinnen. Bryan hat sich den Fuß eingeklemmt, und Dad… er sagte mir, ich solle schonmal nach draußen laufen und dort warten, sie würden gleich nachkommen.“
Seine Stimme war mit jedem Wort leiser und schwächer geworden; beinahe machte es den Eindruck, als würde er mit den Tränen kämpfen.
„Ich rannte also nach draußen, so schnell ich konnte. Als ich mich wieder umdrehte, sah ich nur noch, wie ein riesiger Fuß das Haus zertrümmerte… mit meiner Familie darin. Was es für ein Wesen war, konnte ich nicht richtig erkenne, dafür war es zu dunkel, und das Monster in irgendeinen Rauch gehüllt.“
Er wandte nicht direkt den Blick ab, sondern starrte an ihr vorbei auf die weit jenseits der Mauern aufragenden Berge.
„Ich habe zwei Tage ununterbrochen gegraben, bis ich sie gefunden hatte. Aber da… war es natürlich schon zu spät. Als die Satyre mich fanden, war ich halb verdurstet und von einem ganzen Rudel von… Monstern umzingelt. Aber irgendwie haben sie es geschafft, mich lebendig bis nach Camp Half-Blood zu bringen.“
„Verdammt, Leander…“, murmelte Nova nur.
Die Geschichte schockierte sie keineswegs, überraschte sie nicht einmal, sondern erweckte lediglich einige äußerst unangenehme Erinnerungen zum Leben, die ohnehin schon seit langem in ihrem Verstand herumgeisterten.
„Entschuldige, falls ich dich damit überfordert habe“, fuhr Leander fort, nun wieder mit fester Stimme. „Ich… erwarte nicht, dass du nachvollziehen kannst, wie ich mich danach gefühlt habe.“
Er vertraute ihr, dessen war Nova sich nun sicher. Vermutlich mehr als jedem anderen seit seiner Ankunft im Camp. Etwas in ihr drängte mit geradezu beunruhigender Radikalität darauf, dieses Vertrauen zu erwidern.
„Oh doch, das kann ich“, sagte sie. „Besser als du denkst.“
Leander hob eine Augenbraue. „Ach wirklich?“
Er starrte einen Moment in die Luft, ehe er sie wieder ansah. „Gut, du bist dran! Wie bis du ins Camp gekommen, und weshalb hast du dich Morton angeschlossen?“
Nova schloss die Augen und sammelte sich. Ein Geheimnis für ein Geheimnis. Bei Leander würde es sicher sein, dessen war sie in diesem Moment gewiss. Womöglich würde es die Last, die sie seit zwölf Jahrem mit sich herumschleppte, sogar lindern, ihr eigenes, blutiges Geheimnis endlich teilen zu können…
„Als ich zwölf Jahre alt war, hat mich ein Gott – Ares, vermute ich – dazu gezwungen, meine gesamte Familie umzubringen.“
Leander riss die Augen auf, stolperte einen Schritt von ihr weg und wäre beinahe von der Mauer gefallen.
„Was?“, hauchte er. „Das ist jetzt nicht dein Ernst…“
Bereits nach diesem ersten Satz drängte sich die Szene wieder nach oben, direkt vor ihr geistiges Auge, ohne dass sie es hätte verhindern können. Als wäre sie durch Zeit und Raum zu jener Nacht zurückgereist, sah sie alles genau vor sich, so wie sie es damals erlebt hatte.
Sie stieg die Treppe hinauf, die Wange brennend vom Schnitt, den sie sich selbst zugefügt hatte. Sie stieß Bill das Messer ins Herz, ein schneller, verhältnismäßig schmerzloser Tod und doch so voller Schrecken. Sie grub die Klinge in Lucys Bauch, wieder und wieder, verteilte Blut und Innereien auf Bett und Fußboden, lauschte den verzweifelten Schmerzensschreien, sah den verstörten Blick ihrer Schwester, der sie anflehte, aufzuhören. Sie schnitt Dad die Kehle durch und…
„Nein!“, murmelte sie vor sich hin. „Nein, nein, nein!“
Die Immersion verblasste, nicht vollständig, aber soweit, dass sie ihre tatsächliche Umgebung wieder deutlich wahrnahm.
„Hey.“
Nova blinzelte die Tränen weg, die ihren Blick verschleierten und sah, dass Leander zögerlich einen Arm nach ihr ausgestreckt hatte.
„Alles… alles in Ordnung?“
„Den Umständen entsprechend“, entgegnete sie mit belegter, zittriger Stimme. „Aber danke der Nachfrage.“
Sie nahm sich die Zeit, die sie brauchte, um ihre beinahe außer Kontrolle geratene Atmung wieder zu beruhigen, und versuchte dann, die nach oben drängende, unter der Oberfläche kochende Erinnerung auch dort zu halten.
„Du verstehst sicher, dass ich da nicht weiter ins Detail gehen möchte… und offenbar auch noch gar nicht kann, ohne dabei wahnsinnig zu werden.“
„Was für eine Frage… natürlich…“
Er schüttelte energisch den Kopf. „Nova, hör mal, wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann…“
Sie hob die Hand. „Schon gut. Das ist wirklich lieb von dir, Leander… ich glaube, so nett war seit… du weißt schon, wann, niemand mehr zu mir. Aber ich habe diesen Mist sieben Jahre mit mir herumgetragen und werde es auch noch ein paar Tage länger aushalten.“
„Ein paar Tage? Was…“
Ein Anflug von Panik schlich sich auf sein Gesicht. „Du willst doch nicht…“
Nova winkte ab. „Nein, keine Sorge! So verrückt wie du vor ein paar Wochen bin ich dann doch wieder nicht.“
Eine kurze, geballte Ladung Zorn kämpfte sich in ihr Gemüt vor. „Wenn wir den Olymp angreifen, werde ich Ares töten! Koste es, was es wolle!“
Die Wut verrauchte wieder und ließ sie zurück, ausgebrannt und erschöpft.
„Deshalb habe ich mich Morton angeschlossen“, fuhr sie fort. „Er sagte, man könne Götter töten, etwas, dass ich vorher für unmöglich gehalten hatte.“
Sie warf einen Blick gen Himmel, an dem bereits erste Sterne zu sehen waren.
„Kaum zu glauben, dass wir uns erst seit ein paar Tagen kennen… mir kommt es so vor, als sei der Flug hierher schon eine Ewigkeit her.“
Leander nickte. „Ich weiß, es klingt komisch, aber ein Leben ohne euch… ohne dich könnte ich mir jetzt schon gar nicht mehr vorstellen.“
Wie bereits nach ihrem Empfang vor einigen Stunden fühlte Nova bei seinen Worten eine Wärme in sich, die sie vorher überhaupt nicht gekannt oder schon längst vergessen hatte.
„Geht mir genauso“, antwortete sie, jetzt wieder mit einem Lächeln. „Hat Morton dir auch etwas angeboten?“
„Hat er“, bestätigte Leander. „Er sagte, er könne mir meine Familie zurückgeben.“
Seine Worte trafen sie wie der Messerstich, zu dem sie vor sieben Jahren nicht in der Lage gewesen war. Sie sackte ein Stück zusammen.
„Ich wünschte, ich könnte auch darauf hoffen“, sagte sie leise. „Aber sie würden mich für das, was ich getan habe, hassen.“
Leander schlug sich eine Hand vor den Mund, als würde ihm erst jetzt klar, was seine Worte je nach Situation noch bedeuten konnten.
Er fing sich wieder und schüttelte den Kopf. „Hör zu, Nova, du bist mit weitem Abstand der stärkste Mensch, den ich jemals getroffen habe! Ich habe keine Ahnung, wie du das anstellst; so lange mit dieser Misere zu leben, aber ich wäre schon längst daran zerbrochen. Und wenn sie wirklich eine Schwester oder eine Tochter wie dich verdienen, dann werden sie auch verstehen, dass es nichts zu verzeihen gibt!“
Nova starrte ihn einen Augenblick an, unfähig etwas zu sagen oder sich zu bewegen. Dann trat sie einen Schritt auf ihn zu und umarmte ihn.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren, womöglich zum ersten Mal in ihrem Leben und definitiv zum ersten Mal, soweit ihre Erinnerungen zurückreichten, fühlte sie sich wirklich verstanden.