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Das Ringweltenprojekt

Kurzbeschreibung
GeschichteAllgemein / P18 / Gen
31.12.2015
02.05.2021
7
37.333
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03.01.2016 6.826
 
Kapitel 2

Karl benutzte einen Highway, um auf die nächsthöhere Sub-Ebene zu wechseln, keinen der Fahrstühle. Diesmal nutzten sie das Gelblicht, zumindest um schneller voran zu kommen. Nicht, dass das Labor, beziehungsweise der Geschäftsmann, der hinter diesem illegalen Betrieb steckte, seinen Kunden warnen würde, aber jede Sekunde, die der arme weibliche Klon im Eigentum seines Bürger vier verbringen musste, ärgerte Roga persönlich. Nicht, dass die junge Frau ab hier ein besonders gutes Leben erwartete. Arhto hatte zwar gesagt, Min-Hi Dan-Vor wolle all ihre Klone adoptieren und ihnen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen, aber das bedeutete auch nur im besten Fall, sie in bezahlte Pflege zu geben. Letztendlich, was sollte man auch mit zwei oder drei oder mehr Versionen seiner selbst machen, außer sie irgendwo hinzubringen, wo man sie nicht andauernd sehen musste?
„Ich habe nachgedacht“, sagte Turni plötzlich. „Welches ist das schlimmste Viertel von Nuhjag?“
Aruuna antwortete vor Roga: „Die Oberflächenebene.“
„Bürger sieben-Revier, vom Anfang bis zum Ende“, ergänzte der Anführer. „Manche Ecken sind so schlimm, da würde ich nachts nur mit ALLSWAT reingehen, in manche sowieso nur am Tag. Da gibt es nicht mal Fickfleischlabors, weil das Risiko zu hoch ist.“
„Dagegen sind unsere Sub-Ebenen ja regelrecht gemütlich“, murmelte der junge Polizist.
„Natürlich sind sie das. Was macht die drei Sub-Ebenen unter der Kernstadt aus? Sie schaffen Wohnraum. Verdammt viel Wohnraum. Aber für Leute, die es sich leisten können. Im Prinzip sind die Kavernen gigantisch, und es gibt nicht wirklich Kontrollen an den Übergängen, aber man kriegt hier unten Sonnenlicht und Frischluft, und es ist ein überschaubarer Raum. Wer es sich leisten kann, geht auf die Luftebenen oder in die Subebenen. Was immer sich direkt an der Oberfläche befindet hingegen ist in großen Teilen der schlimmste Slum des Landes. Von den Schulen einmal abgesehen.“
„Und deshalb fahren wir nur bis Subebene eins hoch. Weil es für einen Bürger vier immer noch ein angenehmes Leben, ein angenehmes Umfeld bedeutet.“
Roga nickte. „Entweder das, oder er hat in einem akzeptablen Umfeld für das Geld, das er bezahlen wollte, das Vielfache an Wohnraum erhalten. Wer zum Bürger vier ernannt wurde, muss nicht zwangsläufig im „richtigen“ Viertel wohnen. Sein Rang ist so hoch, dass er das „richtige“ Viertel ist.“
„Und deshalb genießt du es so, ihn hochzunehmen“, raunte Aruuna ihm zu.
„Natürlich tue ich das“, erwiderte er grinsend.
„H-haben Sie keine Angst vor Repressalien?“, fragte der Jüngere unvermittelt. „Ich meine, das ist ein Bürger vier! Sie sind zwar ein Bürger fünf, Mr. Watts, aber unser Tatverdächtiger ist immerhin ein Mann, der auf Landesebene arbeitet.“
„Nein“, erklärte Roga jovial. „Und ich erkläre Ihnen auch, warum das so ist, Dienstmann Fünfter Klasse Legs Turni.“
„Na, da bin ich aber gespannt“, sagte Aruuna. Ein spöttischer Zug lag um den Traum, der ihre Lippen bildete.
„Erstens steht ein Bürger zwei hinter uns. Und der will Ergebnisse, und die so schnell wie möglich.“
„Klingt ja schon mal einleuchtend“, sagte die Coina.
„Und zweitens“, fuhr Roga fort, „können wir den Bürger vier leider, leider, leider nicht verhaften, nur festnehmen, denn er ist Vorstrafenfrei. Außer natürlich, er hat den Klon zu Tode gefickt oder in seiner geheimen Folterkammer umgebracht. Das ist dann fahrlässiger Totschlag oder Mord. Das wird der Gute wissen, und darum wird er versuchen, den Ball flach zu halten und das Geschehen nicht an die große Glocke hängen. Er wird uns den Klon übergeben, Sozialarbeit und eine dicke Geldstrafe aufgebrummt kriegen und sich geläutert geben. Abgesehen davon, dass er hofft, dass Frau Min-Hi Dan-Vor niemals seinen Namen erfährt, denn dann wird ihm der Unterschied zwischen einem Bürger zwei und einem Bürger vier sehr recht deutlich gemacht werden.“
„Und was ist, wenn er einfach einen Ripper anheuert?“
„Ich kann schon auf mich aufpassen. Und das tue ich seit vierzig Jahren“, erwiderte Roga grinsend.
„Du hast drittens vergessen“, sagte Aruuna.
„Drittens?“, echote Turni.
„Drittens?“ Roga zog die Augenbrauen hoch.
„Drittens. Unser lieber Bürger vier hat Arhto an der Backe. Wenn du das, was ein Bürger zwei mit ihm anstellen kann, schon schlimm findest, Arhto ist Bürger eins, und er hat seine Adresse.“
„Und das wäre?“
„Nun, Legs, Frau Min-Hi Dan-Vor ist Bürger zwei. Sie kann also dafür sorgen, dass unser Bürger vier die Landesgrenzen nicht verlassen darf. Ganz legal. Sie operiert auf globaler Ebene. Aber Alan Rhotaro kann ihm verbieten, den Planetenring zu betreten. Auch vollkommen legal. Darüber hinaus kann er ein Embargo für alles verhängen, was durch den Planetenring geht. Rein oder raus, alles was für unseren Bürger vier bestimmt ist, kann solange gelagert werden, bis es verrottet oder verrostet ist. Und kein Zugang zum Planetenring bedeutet auch kein Zugang zum Megaring und damit zu unseren Schwesterwelten. Selbst wenn unser Verbrecher sich daran den Arsch abwischt, weil er nichts aus dem Ring braucht, oder aus dem Megaring, so ist er doch stigmatisiert, gebrandmarkt. Jeder Bürger, vom Bürger sieben bis zum Bürger zwei, hat das Recht, den Planetenring zu betreten und den Megaring zu betreten. Wenn er oder sie die Passage bezahlen kann. Dieses Recht verweigert zu kriegen ist fast automatisch eine Abstufung auf Bürger fünf oder gar Bürger sechs.“
„Und genau deshalb wird unser Bürger vier auch alles versuchen, um den Ball flach zu halten“, ergänzte Aruuna.
„Verstehe. Und wofür brauchen wir dann die ALLSWAT?“
Roga grinste nur noch breiter. „Für den Fall, dass der Bürger unvernünftig ist. Was ich doch sehr hoffe.“
„Verstehe.“

Sie fuhren auf Subebene zwei ein. Dunst hing unter der Decke des Brückentunnels. Viel Dunst.
Roga zog die Augenbrauen hoch. „Karl? Warum regnet es auf Subebene zwei?“
„Es regnet nicht, es nieselt“, korrigierte der T-4. „und es nieselt, weil eines der Kraftwerke wegen eines Ausfalls auf der Oberfläche stärker angefahren wurde. Die Abluftschächte kommen mit dem zusätzlichen Wasserdampf nicht zurecht, und daher schlägt die Feuchtigkeit überall nieder oder nieselt sogar ab.“
Legs Turni fuhr erschrocken auf. „Radioaktiver Regen?“
„Himmel, wie kommen Sie denn darauf?“, fragte Roga überrascht.
„Na, die Kraftwerke auf den Subebenen arbeiten doch alle auf Kernspaltungsprinzip! Dabei werden hochwertige Uran-Isotope durch Neutronen zertrümmert, sodass neue Elemente entstehen und Energie frei wird! Hauptsächlich Wärme und Radioaktivität, die dann Wasser erhitzt, bis dieses als Gas eine Turbine betreibt, die den Strom produziert.“
„Sehr gut erklärt, Turni. Erinnern Sie mich daran, Ihnen einen Keks zu geben, wenn wir wieder reinkommen. Aber warum soll der Wasserdampf jetzt radioaktiv sein?“
„Na. Weil... Weil, na, weil das Wasser doch aus dem hochgradig strahlenden Reaktorkern kommt.“
„Sag mal, abgesehen davon, dass reines Wasser gar keine Radioaktivität aufnimmt, hat dir schon mal jemand das Prinzip von zwei Wasserkreisläufen in atomaren Reaktoren erklärt?“, fragte Aruuna mit todernster Miene.
„Äh, was?“
„Es gibt zwei Wasserkreisläufe. Einer direkt am Kern, der theoretisch radioaktiv sein kann, und ein zweiter, der von der Hitze des ersten verdunstet wird, damit er die Turbine betreiben kann. Dadurch kann fast gar keine Radioaktivität vom Reaktor auf den Wasserdampf übertreten, der sich gerade überall niederschlägt.“
„Also doch. Ein bisschen radioaktiv kann der Niesel also sein.“
Amüsiert musste Roga schmunzeln. „Sicher. Und zwar so wenig, dass es vollkommen egal ist. Woraus besteht das Deckgestein der Subebenen, Turni?“
„Aus- aus Granit?“
„Richtig. Und Granit strahlt. Nicht in hohem Maße, aber es strahlt. Daher ist das, was theoretisch in diesem Nieselregen strahlen könnte, in keinster Weise relevant.“
„Granit strahlt?“, fragte der junge Polizist verschreckt.
„In einem sehr geringen Maße“, erklärte Aruuna. „Viele Dinge strahlen in diesem Universum, auch ohne, dass sie mit Neutronen beschossen werden. Argon zum Beispiel, eines der Edelgase, das dafür bekannt ist, aus dem Boden zu emissieren und deshalb auf den Subebenen ein Problem werden kann, strahlt auch. Aber beim heutigen Stand der Wissenschaft und bei unserer leistungsfähigen und allgemein verfügbaren Medizin ist das geradezu vernachlässigbar. Ich meine jetzt für euch Menschen. Wir Coini haben mit Radioaktivität ohnehin keine Probleme. Außer sie droht uns durchzubraten.“
„Ja, ja, Ihr Coini seid schon ein tolles Völkchen. Stimmt es, dass Ihr nur Frauen zeugt? Und das auch nur, um uns arme Menschen mit eurer perfekten Schönheit zu blenden?“, neckte Roga.
„Oh nein, das ist falsch. Eine von einer Million Geburten oder Invitro-Produktionen bringt einen Mann hervor. Das lässt sich gar nicht verhindern. Wenn uns einer gegeben wird, nehmen wir ihn dankbar an.“
„Aber Ihr wollt lieber Frauen haben.“
„Wundert dich das? Dieser Planet wurde zwanzigtausend Jahre von Männern regiert, und das Ergebnis war, dass er beinahe in einer Eiszeit versunken wäre, obwohl eure Vorfahren die Mittel hatten, um das zu verhindern.“
„Touché.“
„Jedenfalls gibt es keine Beeinträchtigung meiner Fähigkeiten“, sagte der T-4. „Ich fahre direkt durch zum Aufzug. In zehn Minuten sind wir dann auf Subebene eins.“
„Gut. Die örtlichen Behörden wurden informiert?“
„Es gab einen Protest des Subebene eins-Commissioners, aber nur der Form halber. Er hat darauf bestanden, die Durchsuchung der Wohnung des Verdächtigen von seinen Leuten durchführen zu lassen, aber Captain Millard hat sehr eindrücklich klargestellt, dass es unser Fall ist und dass die Vorschriften für solch einen Fall klar sind. Uns erwartet allerdings ein Verbindungsmann am Fahrstuhlausgang, den wir aufnehmen sollen.“
„Ein Verbindungsmann? Okay, aber warum aufnehmen?“, fragte Legs Turni.
„Weil der Captain die Identität des Bürger viers nicht preisgegeben hat.“
Roga lachte leise. „Das dürfte alle Bürger vier mit Zerebralfickfleisch in hellste Aufregung versetzen, wenn die Beamten, die sie schmieren, jeden einzelnen von ihnen warnen. Gefällt mir. Gefällt mir sehr gut.
Unser ALLSWAT ist noch da?“
„Wurde ein wenig hinter uns gedrängt. Allerdings von registrierten Zivilwagen, keine Lastschweber oder von Fahrzeugen, die eher selten auf der Brücke gesehen werden.“
Roga registrierte das mit Genugtuung. Wie in jeder Gesellschaft, die aus einem Großteil aus Menschen bestand, gab es Korruption und organisiertes Verbrechen. Es wäre nicht verwunderlich gewesen, hätte irgendjemand angeordnet, dass die Polizisten, die einen Bürger vier festnehmen wollten, kurzerhand aus dem Verkehr genommen werden sollten. Aber Roga glaubte nicht so recht, dass es solchen potentiellen Attentätern gelungen sein sollte, ein paar Berufspendler vor der Brücke aus ihren Wagen zu zerren und sie anschließend vom ALLSWAT zu trennen, deren Allzweckzhubschrauber gerade mit eingezogenen Rotoren brav wie ein Lastenschweber hinter ihnen her fuhr.
„Einer der Wagen biegt ab. ALLSWAT ist jetzt fast direkt hinter uns.“
„Danke, Karl. Weiter beobachten.“
„Versteht sich von selbst.“

Die restliche Fahrt verlief ereignislos genug, als auch der zweite Wagen irgendwann aus der Kolonne der Pendler ausscherte und das ALLSWAT-Team wieder direkt hinter ihnen war. Sie erreichten den Fahrstuhl, fuhren auf die Platte auf, solange das Grün-Zeichen noch leuchtete, wurden aber vom Eingreifteam getrennt, denn Großfahrzeuge hatten Parkplätze in der Mitte.
Die große Platte mit über zweihundert Fahrzeugen hob an und brachte sie die dreihundert Höhenmeter zur Subebene eins.
Auch das Ausladen ging ruhig und geordnet vonstatten. Es hagelte nämlich empfindliche Strafen, wenn jemand durch unnötig auffällige Fahrweise den Fahrstuhlverkehr behinderte, vor allem das Aus-, und Einladen.
Vor dem Fahrstuhl erwartete sie bereits ein junger Kaukasier in einem teuren, aber schlecht geschnittenen Anzug. Oder die aktuelle Mode war mal wieder an Roga vorbeigeschliddert.
„Da ist unser Kontakt“, meldete Karl. „Dienstmann Dritter Klasse Ludig Baun.“ Der T-4 hielt selbstständig, und ebenso selbstverständlich stieg der Beamte in Zivil ein.
„Willkommen auf Subebene eins. Gute Jagd gehabt?“ Er reichte jedem die Hand, der Coina natürlich zuerst. „Ludig Baun, Dienst drei, Sozialdepartement.“
„Dienst zwei Roga Watts, Anführer.“
„Dienst eins Aruuna Rose zwei, Stellvertreter. Freut mich.“
„Dienst fünf Legs Turni. Der Azubi.“
Baun grinste ein Heldengrinsen. „Na, dann lernen Sie ja bei den Richtigen.“
„Um auf Ihre Frage zu antworten, wir haben ein Labor auf Subebene drei ausgehoben und dabei drei Föten in verschiedenen Stadien der Entwicklung sichergestellt.“
„Föten? Zerebralfleisch zur sexuellen Stimulation?“
Roga verzog innerlich das Gesicht, als Baun den offiziellen Namen von Fickfleisch sagte. Er hielt das für verlogen, ja, für Schönfärberei. „Warum sonst sollten sich in einem illegalen Labor für nonzerebrales Fleisch zur sexuellen Stimulation drei Brutcontainer mit vollständigen Föten befinden?“
Bauns Miene wurde verkniffen. „Eine verdammte Sauerei ist das. Nicht nur, dass die armen Kinder nur zwanzig Jahre vor sich haben. Nein, wofür sie gedacht waren...“
Roga war sich nicht ganz sicher, ob der Herr Kontaktmann gerade die schauspielerische Leistung seines Lebens ablieferte, oder ob er das wortwörtlich meinte. „Zumindest die drei konnten wir vor diesem Schicksal bewahren.“
„Hatte sie mit dem Fall zu tun?“
„Wenn Sie wissen wollen, ob es sich ebenfalls um Klone von Bürgerin zwei Min-Hi Dan-Vor handelte, so kann ich Ihnen das weder bejahen noch verneinen“, sagte Roga. „Das werden die Labortests ergeben. Was ich aber ziemlich sicher weiß, das ist, wo wir einen Klon finden werden.“
„Was uns zur Frage bringt, wer unser Verdächtiger ist.“
„Unser lieber Bürger vier heißt Ranon Kandell und arbeitet in der Landesjugendschutzabteilung. Er wohnt im Parkavenue-Hochhaus auf den Stockwerken achtundvierzig bis einundfünfzig.“
„Landesjugendschutzabteilung? Na, den Posten ist er aber sehr sicher los“, murmelte Baun.
Karl setzte sich wieder in Bewegung. Der ALLSWAT-Heli schloss sich an.

„Wenn er klug ist, geht er von selbst und versucht, seinen Status als Bürger vier allein durch sein Vermögen zu behalten“, sagte Aruuna.
„Sie gehen davon aus, dass er vermögend ist?“
„Sie nicht? Er hat sich einen Klon von einer Bürgerin zwei machen lassen. Das wird nicht nur ein paar Credits gekostet haben.“
„Der Preis für ein so rares Stück dürfte bei fünf bis acht Millionen liegen, je nach Nachfrage“, fügte Roga an. „Immerhin gibt es neben den Produktionskosten noch die Ausbildungskosten, eine Menge Schmiergeld und die Kosten für das Waisenhaus, das als Tarnung dient. Dazu kommt die Marge, die das Labor machen will. Bei Frau Min-Hi Dan-Vor könnten es sogar bis zu fünfzehn Millionen sein. Niemand, der nicht einhundert oder mehr Milliönchen auf der Seite hat, gibt mal eben so viel für einen Klon aus.“
„Wie viel kann ein Bürger vier, der in der Landesjugendschutzabteilung arbeitet, verdienen? Ich meine, mein Jahresgehalt sind dreißigtausend Credits mit Zulagen. Und ich bin Bürger fünf.“
„Das ist doch eine sehr gute Frage. Halten Sie am besten die Augen offen. Vielleicht kriegen Sie genug Material für eine Anklage wegen Korruption zusammen, Baun“, sagte Roga mit einem breiten Grinsen.
„Noch zwei Minuten“, meldete Karl.
„Gut. Wir gehen direkt rein. Die ALLSWAT soll das Gebäude abriegeln. Die Gensequenzen aller Personen, die rein oder raus gehen, egal ob unterirdisch über die Luft oder durch die Tür, werden geprüft, für den Fall, dass jemand den Klon nach einer Warnung rauszuschleusen versucht. Zwei sollen uns nach oben begleiten.“
„Verstanden.“
„Rauszuschleusen? Meinen Sie, Kandell wurde gewarnt?“, fragte Baun.
„Ich wette, in der Zentrale sitzen ein paar korrupte Personen, die unseren Kurs sehr genau verfolgen, und an einige Besitzer von Klonen gerade Entwarnung geben, weil wir an ihnen vorbei gefahren sind. Wenn wir aber halten, könnte es ganz schnell gehen.“
„Dann sollten wir auch nach anderen Klonen Ausschau halten, die eventuell rausgebracht werden sollen.“ Baun griff in seine Jacke, zog seinen Spectre hervor und stellte ihn auf lähmen. Ungesichert steckte er ihn zurück. Als er Rogas Blick bemerkte, sagte er: „Was? Ich kann mit einer ungesicherten Waffe umgehen, keine Sorge.“
„Sicher können Sie das.“ Roga brauchte nicht erst zu Aruuna rüberzuschauen, um klarzustellen, dass sie ein unauffälliges Auge auf Ludig Baun haben würde. Auch wenn es unwahrscheinlich war, dass, war er korrupt, einem von ihnen in den Rücken schießen würde, es war nicht auszuschließen. Und man wurde kein alter Polizist, wenn man nicht auch auf die Kleinigkeiten achtete.

Karl hielt an. Die vier Polizisten stiegen aus. Auch der Heli des ALLSWAT hielt, öffnete sich und entließ eine Schar von zwölf Mann in schweren Panzerrüstungen. Zwei stiegen auf und nahmen Kurs auf die Dachlandefläche. Die anderen sicherten die Eingänge und die Seitenfronten. Ab dato nahmen sie einen Scan von jeder Person, die das Gebäude verlassen oder betreten wollte. Zwei von ihnen schlossen sich wortlos den vier Polizisten an.
„Na, dann los.“ Roga schritt voran. Er zückte seine Dienstmarke und präsentierte sie dem Scanner. Sofort öffnete sich die Lobby für ihn. „Willkommen, Dienstmann Roga Watts und Begleitung. Wem darf ich Sie ankündigen?“, säuselte der Portier-Computer.
„Niemandem. Dies ist eine Hausdurchsuchung.“
„Ich halte Rücksprache mit der Zentrale.“ Es verging ein banger Augenblick. „Wir kooperieren in vollem Umfang mit Ihrer Hausdurchsuchung, Sir.“
„Danke. Fahrstuhl für den achtundvierzigsten Stock, bitte.“
„Folgen Sie bitte der Leuchtmarkierung. Das ist ein Privataufzug.“
„Danke.“ Sie betraten den Aufzug, der groß genug war, um auch die beiden ALLSWAT aufzunehmen. Surrend ruckte er an, und es vergingen nur drei Sekunden, bis er wieder abzubremsen begann. Verdammt guter Andruckabsorber.

Die Tür öffnete sich im dreigeschossigen Appartement ihres Verdächtigen. Wenn sich der Hauscomputer an das Procedere gehalten hatte, dann war Kandell nicht vorgewarnt worden. Wenn doch, nun, Roga bezweifelte, dass er dadurch viel Vorlaufzeit bekommen hatte.
Die erste Person, die sie sah, war daher auch reichlich überrascht, als der Fahrstuhl unaufgefordert hochfuhr und sich öffnete.
„Was zum...?“ Die ältere Frau negroiden Typs, vielleicht einhundert Jahre alt, sah verschreckt drein.
Roga trat sofort hinaus. „Dienstmann Watts, Metropol-Polizei. Ich komme, um Ranon Kandell vorläufig festzunehmen und um den Klon in seinem Eigentum zu konfiszieren. Bitte identifizieren Sie sich.“
„I-ich bin Nadasa Kandell. Hören Sie, Dienstmann, dies ist ein Bürger vier-Haushalt. Wenn Ihnen Ihr Job lieb und teuer ist, dann...“
„Sie sind seine Frau?“
„Ja.“
„Ich informiere Sie darüber, dass der Klon ein illegaler Klon einer Bürgerin zwei ist. Sie dürften es schwer haben, ihrem Zorn zu entkommen.“ Roga wandte sich den beiden ALLSWATS zu. „Rauf in die oberen Stockwerke, nach Lebenszeichen suchen und alle Anwesenden im Appartement sicherstellen und hierher bringen.“
„Ja, Sir.“
„Wir suchen hier unten. Wie viele Personen halten sich gerade in dieser Wohnung auf, Mrs. Kandell?“
Die Frau zögerte. „N-nur mein Mann und... Und...“
„Und der Klon?“
Erneut zögerte sie, aber schließlich nickte sie.
„Wo befinden sich Ihr Mann und der Klon?“
„I-im Spielzimmer. Hören Sie, dem Klon geht es gut. Er wurde nicht misshandelt, und er hat selbstständigen Zugriff auf Nahrung und das Entertainmentsystem. Zudem lassen wir ihm eine grundlegende Ausbildung angedeihen, das ist mehr, als seine Produzenten getan haben.“
„Ich bin sicher, das wird die Bürgerin zwei etwas besänftigen“, sagte Roga sarkastisch. „Wo is das Spielzimmer?“
„Im obersten Stock der Wohnung. Wir...“
Ein Signal auf seinem Pad ließ Watts abwinken. „Ja?“
„Zwei Personen im obersten Stock sichergestellt. Einer von ihnen ist der Gesuchte, der andere ist der weibliche Klon. Beide sind nackt. Erlaubnis, ihnen Kleidung zu gestatten.“
Watts verzog seine Miene zu einem Schmunzeln. Seit das ALLSWAT-Team hier war, war die Kandell-Familie ohnehin verrufen. Ranon Kandell nackt abzuführen würde ihn gesellschaftlich vernichten. Vor allem, wenn sie warteten,bis die ersten Pressewagen, angelockt vom Polizeiaufgebot am Parkavenue-Hochhaus, draußen vor der Tür ihr Equipment aufbauten.
„Straßenbekleidung. Trennen Sie Mr. Kandell vom Klon. Er ist vorläufig festgenommen wegen Sklaverei.“
„Habe verstanden, Sir.“
„Ich schicke Ihnen Aruuna Blume zwei hoch. Sie wird den Klon betreuen.“
„Verstanden, Sir.“
„Aruuna! Geh hoch in den obersten Stock. Wir haben den Klon gefunden. Wäre auch nett, wenn du ihn fix unter eine Dusche stellen könntest. Scheint so, als hätte Kandell sein Eigentum gerade benutzt.“
Die Coina kam aus dem Raum, den sie gerade untersucht hatte. „Wirklich? Brauchen wir Proben?“
„Ich denke, die Beweislast ist auch so erdrückend genug, ohne dass du einen Abstrich von seinem Sperma aus ihrer Vagina nimmst. Das kannst du dem armen Mädchen ersparen.“
„Geht klar.“ Sie wechselte das Stockwerk.
„Und was uns angeht, Nadasa Kandrell, so sollten Sie ebenfalls Straßenkleidung anlegen.“
Erschrocken sah sie den Polizisten an. „Bin... Bin ich verhaftet?“
„Wenn, dann wären Sie vorläufig festgenommen. Eine Verhaftung kann nur ein Richter anordnen. Sie sind aber nicht vorläufig festgenommen. Sie kommen lediglich mit aufs Revier. Dort werden Sie haarklein alles aussagen, was diesen Fall betrifft, denn als Ehefrau sind Sie mit tatverdächtigt, obwohl klassisch der Mann bei weiblichen Klonen als Hauptverdächtiger gilt. Je überzeugender Sie dabei sein können, dass Sie nichts ausgelassen haben, desto weniger wahrscheinlich wird eine Mitanklage wegen Sklaverei.“
„Was erwartet uns?“
„Wenn Sie kooperieren, dann eine Geldstrafe, Sozialarbeit und eventuell eine Abstufung um einen Bürgerrang, weil Ihr Mann nicht vorbestraft ist. Wenn Sie nicht kooperieren, kommt es zu einem langen Prozess, bei dem die Geklonte als Nebenklägerin auftreten und Ihnen als Bürger zwei den Arsch breittreten wird. Sie haben die Wahl, Mrs. Kandrell.“
„Dann sollte ich wohl besser alles sagen, was ich weiß.“
„Sicherlich sollten sie das.“
„Da kommt noch jemand mit dem Fahrstuhl.“
Als Roga sich automatisch umdrehte, wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Hinter sich hörte er das bösartige Zischen eines Thermoblasters. Verdammt, er hatte vergessen, Nadasa Kandrell auf Vorstrafen zu überprüfen. Wenn sie was auf dem Kerbholz hatte, würde Sklaverei ihr eine recht große Strafe einbringen. Eventuell groß genug, um sie verzweifelt genug zu machen, um einen Polizisten zu töten und sich aus dem Gebäude freizukämpfen zu versuchen.
„Uff, da haben Sie ja richtig Schwein gehabt“, klang hinter ihm Bauns Stimme auf.
Roga wandte sich wieder um. Baun war an die Frau heran getreten und prüften ihren Puls. „Sie lebt.“ Er hob die kleine Waffe hoch, die ihr im Moment der Betäubung durch Bauns Spectre aus den Händen gefallen war. „Keine Seriennummer.“
„Danke. Sie haben mir das Leben gerettet.“
„Gern geschehen. Allerdings war das kein Zufall.“
„Was?“
„Ich habe ein Foto von ihr geschossen und mit der Datenbank verglichen. Vor ihrer Hochzeit mit Kandell hatte sie ein beeindruckendes Strafregister, dann brach das abrupt ab. Gewaltverbrechen, Raub, Sexualdelikte, sie hat mindestens zwanzig Jahre in der Reha gesessen. Dann aber...“
„Dann aber hat sie ihre Verbrechen dank eines Bürger vier auf solidere Füße gestellt“, fügte Roga an. „Sie haben mein Versäumnis gut gemacht.“
„Richtig. Ich stand um die Ecke und habe sie beobachtet. Im Prinzip ist sie sauber und ihre Taten verjährt, außer natürlich, es kommt zu einer neuen Anklage. Und das drohte jetzt. Sie hätte sich ohne Anklage rauswinden können, aber... Es gab da mal zwei Morde, die ihr nicht nachgewiesen werden konnten. Und die Waffe hier, die wird unsere Forensiker garantiert interessieren.“ Er lächelte, aber nur kurz. „Wir haben Familie Kandrell schon seit einiger Zeit im Auge, konnten aber gegen den Bürger vier-Status nichts machen. Was meinen Sie, was für einen inneren Freudentanz ich aufgeführt habe, als ich gehört habe, wo es hingehen soll.“
„Na, wenigstens haben wir jetzt eine Ahnung, wie das Geld für den Klon zusammengekommen ist.
Karl?“
„Sir?“
„Wir brauchen ein Forensik-Team hier, einen Krankenwagen und die Hacker. Scheint so, als wären wir hier mitten in einem Wespennest rausgekommen. Bürger vier-Verbrechen.“
„Habe verstanden, Sir. Die Kontrolle der Ein-, und Ausgehenden hat übrigens nichts ergeben, nur ein wenig Beifang. Nichts großartiges, nur ein paar Verstöße gegen Drogenauflagen. Ach, und Major Keller vom ALLSWAT meldet, dass sie einen gut getarnten, illegalen Fluchttunnel aufgespürt und vernichtet haben.“
Baun warf Roga einen vieldeutigen Blick zu. „Von dem wussten nicht mal wir was.“
„Passt. Aber was habe ich auch anderes erwartet? Ein Appartement über drei Stockwerke in einem exklusiven Gebäude wie diesem hier, eine eigene Klonsklavin von einem Bürger zwei-Supermodel... Die Hacker werden wahrscheinlich auf etliche Spuren illegaler Geldtransaktionen und Hinweise auf Verbrechen stoßen.“
Baun lachte. Er kam herüber und klopfte Roga auf die Schulter. „Ihnen der Klon, mir der Ermittlungserfolg gegen einen Capo.“
„Ein Capo.“ Watts wagte sich an einem dünnen Lächeln, obwohl im wirklich nicht danach war. „Sie haben ermittelt?“
„Gegen Unbekannt. Allerdings gab es einen Verdächtigen. Aber das war der Mann, nicht sie.“
„Gelobt sei die Bürgerin zwei, die so angepisst war, dass sie mir die Ermittlung bis gegen Bürger vier ermöglicht hat“, sagte Roga. „Und gelobt sei Ihre Aufmerksamkeit, die mir das Leben gerettet hat, Baun.“ In Gedanken aber fügte er hinzu: 'Und gelobt sei Alan Rhotaro, der mir einen Monat Ermittlungsarbeit erspart hat.'
***
Eine Stunde später wimmelte die Wohnung von Ermittlungsbeamten und Forensikern. Die Computersysteme wurden untersucht, die Datenströme verfolgt, und dabei entdeckten die Experten ein zweites, unabhängiges System. Die Daten dort waren bereits auf den ersten Blick wahre Goldgruben. Während der Ermittlungen hatte es Anrufe gehagelt, denn eine Menge hochrangiger Bürger befürchteten zu Recht, dass sie bei diesen Ermittlungen belastet werden würden. Aber der Hinweis, dass ein Bürger zwei die Ermittlung angeordnet hatte, brachte jeden zum Verstummen.
Der Klon, Eigenname Harys, saß in all dieser Aufregung brav und still auf einer Couch und schmiegte sich an Aruuna an, die sie beschützend umarmt hatte. Man konnte sagen, was man wollte, aber die sozialen Fähigkeiten der Coina waren hervorragend. Einer der wichtigsten Gründe, warum sie Rogas Team angehörte. Keiner hatte so viel Erfahrung wie sie darin, mit dem Opfern von Fickfleischverbrechen umzugehen.
Eine weitere Beamtin aus Bauns Department führte ein oberflächliches Verhör. Damit wurde der jungen Frau der Kulturschock einer Polizeistation erspart. Mehr als das Waisenhaus, in dem sie illegal aufgezogen worden war, und dieses Appartement kannte sie nicht aus eigener Anschauung. Sie besaß eine gewisse Bildung und hatte viel im Holovid gesehen, aber ihre erste Frage nach ihrer Befreiung war gewesen, ob sie jetzt reisen dürfe. Vorsichtiger Optimismus lockerte ihre starre Miene, als sie hörte, wer sie aufnehmen und sich fortan um sie kümmern würde. Ohne, dass sie dafür bumsen musste. Eventuell. Aber auf jeden Fall würde sie ein besseres Leben erwarten, dessen war sich Roga sicher. Sehr viel besser als das Sklavenverhältnis, in dem sie hier gelebt hatte. Zwar in relativem Luxus, aber isoliert, von jeder Entscheidung befreit, gefangen.

Sein Pad klingelte, er ging ran. „Watts.“
„Boss Commissioner Nuhjag.“
Für einen Moment schluckte Roga trocken. Kel Boras, sein oberster Boss, ein Bürger drei. „Sir?“
„Zuallererst möchte ich Ihnen zu Ihrem Ermittlungserfolg gratulieren. Die Befreiung des Klons ist eine hervorragende Leistung. Auch, dass Sie zufällig einen Capo ausgebuddelt haben, wird sich sehr positiv auf Ihre Bürgerrechte auswirken. Aber stoppen Sie augenblicklich alle Ermittlungen.“
„Sir?“
„Tun Sie es.“
Roga nahm das Pad ab. „ALLE HÖREN SOFORT AUF ZU ARBEITEN!“ Er sah auf die Uhr. „Ermittlungen um 14:34 Uhr gestoppt, Sir.“
Boras schnaubte zufrieden. „Alles, was wir bis jetzt haben, dürfen wir behalten. Aber Sie glauben nicht,wie viele Bürger drei bis fünf mir im Nacken sitzen. Das könnte eine wirklich große Nummer werden. Oder für einige von uns der Untergang. Deshalb ist die nächste Frage von höchster Bedeutung. Für Sie, für mich, für Ihre Kollegen, für Baun und seine Kollegen.“
„Ich verstehe, Sir. Stellen Sie die Frage, Sir.“
„Sie haben Ermittlungserlaubnis bis Bürger vier erhalten.“
„Ja, Sir.“
„Wie sind Sie an den Hinweis gelangt, der Sie zu den Kandrells geführt hat, Watts?“
Für einen Moment war er verunsichert. Auf diese Frage musste er antworten. Und gab er die falsche Antwort konnte er, obwohl er den Megafund des Jahres gemacht hatte, leicht in Schwierigkeiten kommen, denn Formsachen waren beinahe noch wichtiger als Verbrechen zu verhindern. Weil jene, die Macht hatten, die Regeln machten. Und dann konnten sie bestimmen, was falsch und was richtig war. Darüber hinaus konnten sie bestimmen, was zum Beispiel für einen Bürger sieben verboten war, aber nicht für einen Bürger drei oder höher. Oder sie konnten wie jetzt eine Ermittlung anhalten und mit einem Trick zumindest dafür sorgen, dass sie nicht fortgeführt wurde. Gab es Gründe, die dafür sprachen, konnte das auf ihn zurückfallen. Zum Beispiel, wenn er illegal an die entscheidende Information gelangt war. „Sir, ich erhielt den entscheidenden Hinweis auf Mr. Kandrell aus den Händen eines Bürger eins.“
Eine Zeitlang war Stille am anderen Ende der Leitung. Dann aber begann Kel Boras kehlig zu lachen. Augenscheinlich amüsierte er sich gerade köstlich. „Das ist phantastisch. Das ist mehr als phantastisch. Führen Sie die Ermittlungen in vollem Umfang fort. Ich hoffe, Sie können das unter Eid aussagen.“
„Natürlich, Boss Commissioner.“
„Dann haben Sie mich heute zu einem sehr glücklichen Mann gemacht. Ich schicke Ihnen beizeiten eine Einladung, Ihnen, Ihrem Team und Baun sowie den ALLSWATS, um sich ein paar Orden abzuholen. Ach, ich nehme an, der Bürger eins war Arhto?“
„Das vermuten Sie richtig, Sir.“
„Ich habe es nicht anders erwartet. Tun Sie jetzt weiter Ihren Job, Watts.“ Er legte auf.
„Das werde ich. Danke, Sir.
DIE ERMITTLUNGEN WERDEN WIEDERAUFGENOMMEN!“
Leiser Jubel setzte ein, und die Polizisten fuhren mit ihren Arbeiten fort.

„Was war das denn?“, fragte Turni.
„Das ist schnell erklärt. Wäre mir diese Information von irgendjemanden zugesteckt worden, hätte man mir vorwerfen können, auf illegalem Wege an sie gekommen zu sein. Dann hätte ein Gericht verboten, sie zu verwenden. Wir hätten nur das nehmen dürfen, was wir bereits gehabt haben, und darum hätte sicher noch ein Gericht gestritten. Aber da es ein Bürger eins war, der mir die Information gegeben hat, kann niemand, kein Bürger vier, kein Bürger drei und auch kein Bürger zwei mir daraus eine illegale Handlung stricken.“
'Denn die gleiche Gesellschaft, die die Rechte für die Reichen und Mächtigen macht', dachte er bei sich, 'beschützt vor allem die Bürger eins im Orbitalring, und damit auch Arhto. Damit steht er über ihnen allen. Und das nutzt er so gut aus, wie er kann.'
„Das heißt, unsere Arbeit und die ganze Aufregung hätte beinahe umsonst sein können?“ Turni schnaubte ärgerlich aus.
„Und wir hätten dann die Kandrells wieder freilassen und die Ermittlungen beenden müssen. Nur der Klon wäre in Freiheit geblieben.“
„Das klingt nach einer Menge Scheiße, Sir.“
„Ist es auch. Aber das bedeutet es, wenn man sich mit Bürgern anlegt, die höhere Bürgerrechte als wir haben.“
„Das ist ein ungerechtes System, Sir.“
„Es ist ein ungleiches System, kein ungerechtes. Denn Sie können, wenn Sie sich Mühe geben, selbst aufsteigen und ein Bürger werden, der höhere Privilegien genießt, Turni“, tadelte Watts.
„Das ist auch...“
Roga legte ihm einen Zeigefinger auf den Mund. „Sprechen Sie das niemals aus. Niemand mag einen renitenten Polizisten, der das System anzweifelt. Haben Sie mich verstanden?“
Er zögerte, aber dann nickte der junge Polizist.
Roga zog den Finger wieder zurück. „Tun Sie Ihre Arbeit, Turni.“
„Ja, Sir.“

Ludig Baun trat neben Roga. „Ach ja, die Jugend. Enthusiastisch, bis sie aus eigener Sicht begreifen, dass es in unserem System Gleichere als Gleiche gibt.“
„Man muss ihnen nur beibringen, wie sie das System benutzen müssen, damit es auch gegen höhere Bürgerrechte hilft“, schmunzelte der erfahrene Ermittlungsbeamte. „Ist sie da?“
„Sie fährt gerade vor, im Blitzlichtgewitter von allen großen Zeitungen und Sendeanstalten Nuhjags. Dazu mindestens dreißig überregionale Sender. Also alles, was sie sich wünschen könnte.“
„Gut für ihre Karriere.“
Roga ging zu der Couch herüber, auf der das Klonmädchen saß. Er kniete sich hin und sah der jungen Frau, die körperlich etwa siebzehn Jahre alt war, so freundlich er konnte in die Augen. Zugegeben, darin hatte er weniger Übung als Aruuna, aber schlecht war er darin auch nicht. „Harys. Deine Klonmutter kommt dich jetzt holen. Sie möchte, dass du bei ihr lebst, zumindest, bis du für erwachsen erklärt wirst. An dir wurde großes Unrecht begangen, und sie möchte jetzt etwas richtig machen.“
Die junge Frau wurde sichtlich nervös. War es ein Grund zur Freude? Einer, um Angst zu haben? Würde sie ihr vorwerfen, dass sie mit den Kandrells – ja, mit beiden – Sex gehabt hatte? Sex haben gemusst hatte?
Als die Tür des Fahrstuhls aufging, zuckte sie merklich zusammen, trotz Aruunas unterstützenden Umarmung.
Die Frau, die herauskam, sah nicht viel älter als zwanzig aus. Sie war Harys wie aus dem Gesicht geschnitten. Nein, Harys war ihr aus dem Gesicht geschnitten. In ihrer Begleitung war ein kleiner Junge von vielleicht sechs Jahren. Presse war nicht dabei. Roga wertete das als gutes Zeichen.
Der Junge sah interessiert zur Couch und dann wieder zu seiner Mutter, dann zu den ganzen Polizisten, die ihn natürlich auch brennend interessierten, dann aber erneut zur Mutter. „Wer ist das? Sie sieht aus wie du, Mama.“
Min-Hi Dan-Vor beugte sich zu ihm herunter und küsste ihn auf den Mund. „Warum fragst du sie nicht einfach, Do-Kwon?“
Der Junge lächelte sie an. Schnell kam er an die Couch und stützte seine Hände auf ihren Beinen ab. „Wie heißt du? Ich bin Do-Kwon. Du siehst aus wie meine Mama. Nur jünger.“
Als Harys in die strahlenden Kinderaugen sah, verlor sie die Angst aus ihren Augen. Ihre Rechte ging hoch, so als wolle sie das Kind streicheln, aber sie wagte es nicht. „Ich bin Harys. Ich bin ein Klon deiner Mutter.“
„Ein Klon? Aber klonen ist doch nicht erlaubt.“ Der Junge sah auf einmal traurig drein. „Oh. Mama hat mir was erklärt. Böse Menschen haben dich gemacht, ohne dich zu fragen. Und du bist jetzt ganz allein.“ Übergangslos begannen seine Augen feucht zu schimmern. Und genauso übergangslos umarmte er die junge Frau, so fest er konnte.
Ergriffen von dieser Geste legte auch Harys ihre Hände um den Jungen.

„Geschickt“, flüsterte Roga dem Model zu.
Min-Hi Dan-Vor sah zu ihm herüber. Sie lächelte. „Acht Semester Psychologie, bevor ich entdeckte, wie ich noch viel mehr Geld machen konnte als mit einem Doktortitel. Kinder neigen eher weniger zum lügen, deshalb vertraut man ihnen eher. Vor allem, wenn sie so niedlich sind wie Do-Kwon. Danke für Ihre Arbeit, Dienstmann Watts. Seien Sie versichert, Harys wird es gut bei mir haben. Und wenn sie sich entschließt, selbstständig zu leben, werde ich ihr alles ermöglichen, was sie erreichen kann und will. Sie ist mein Fleisch.“
„Es ist mir eine Ehre und eine Freude, sie Ihnen anzuvertrauen, Bürger zwei Min-Hi Dan-Vor“, sagte Roga.
„Danke. Es gab Probleme bei den Ermittlungen, hat man mir zu verstehen gegeben?“
„Eine kurze Störung, nichts weiter.“
„Dann brauche ich mein Gewicht also nicht in die Waagschale zu werfen.“
Roga grinste. „Es schadet dennoch nichts, Ma'am.“
„Gut. Dann werde ich der Presse einiges zu erzählen haben.“ Sie reichte Roga Ihr eigenes Pad. „Machen Sie bitte ein Foto von mir, wenn ich es sage. Danach bringe ich sie und meinen Jungen übers Dach weg. Ich gehe dann runter und rede mit der Presse.“
„Gerne doch.“

Min-Hi Dan-Vor trat nun ebenfalls an die Couch. Sie ging in die Hocke und legte eine Hand auf ihren Sohn. „Ruhig, mein Großer. Harys ist nicht allein auf der Welt. Sie ist mein Klon, und damit hat sie eine Familie. Dich, deine kleine Schwester, mich, Papa, und alle unsere Verwandten.“
„Isdaswahr?“, fragte der Junge verheult.
„Ja, das ist wahr. Das heißt, wenn du das willst, Harys. Niemand hat dich gefragt, ob du auf diese Welt kommen willst, und niemand hat dich gefragt, was du und nur du tun möchtest. Du wurdest ausgenutzt. Aber jetzt hast du die Wahl.“ Das Topmodel lachte. „Ich weiß nicht, wie oft ich geklont wurde, aber da man mir zu verstehen gegeben hat, dass Kopien von mir sehr teuer sind, hoffentlich nicht zu viele. Ich würde dich gerne mit zu uns nehmen, wenn du das möchtest. Ich möchte, dass du und deine Klonschwestern, die ich hoffentlich noch finden werde, Teil unserer Familie werden, denn das seid Ihr ja schon. Meine Klontöchter. Ich habe keine Ahnung, ob ich zehn oder zwanzig von euch gehandhabt kriege, zugegeben. Aber noch ist es ja überschaubar. Noch gibt es nur dich und mich.“
Harys sah ihr in die Augen. Ihr Blick wurde immer feuchter, bis die ersten Tränen flossen.
Min-Hi schluckte hart, denn dieses Bild hatte sie oft, sehr oft im Spiegel gesehen. „Du musst natürlich nicht. Und wenn du volljährig erklärt wirst, kannst du natürlich tun, was immer du willst, aber wenn du mich lässt, dann werde ich dich immer...“
„Ja. Ich komme mit... Mama.“
Vom Augenblick ergriffen liefen auch dem Model die Tränen. Sie umarmte ihren Klon und ihr Kind und drückte sie an sich. Watts machte das Foto.
„Mama?“
„Ja, mein Schatz?“
„Mir wird zu warm.“
Min-Hi Dan-Vor und ihr Klon lachten. Das taten sie mit der gleichen Stimme und mit dem gleichen Gesicht. Sie brachen die Umarmung auf, und zum Vorschein kam ein vor Freude strahlender Junge. „Wenn wir Zuhause sind, muss ich dir so viel zeigen! Mein Spielzeug! Meine kleine Schwester! Ich muss dich Papa vorstellen! Und Opa und Oma in Hotschi anrufen! Und Oma und Opa in Kanstat! Und... und...“
„Das tun wir alles. Vor allem aber werden wir mit dem Jugendamt klären, dass ich als Klonmutter mein Vorrecht ausübe, dich zu mir zu nehmen.“ Sie strich ihrer Kopie über die Wangen und wischte die Tränen weg. „Ich bringe euch gleich hoch aufs Dach und lasse euch ausfliegen. Mama hat danach was mit der Presse zu bereden.“
Sie erhob sich wieder und ließ die beiden fahren. Es fiel ihr sichtlich schwer.

„Dienstmann Watts.“
„Ma'am.“ Er gab ihr das Pad zurück.
„Auf ein Wort.“
„Ja, Ma'am.“
Sie traten ein Stück beiseite. „Ich wünsche, dass Sie mich begleiten, wenn ich vor die Presse trete. Ich werde da unten verkünden, dass ich eine Stiftung gründe, die sich um illegale Klone kümmern wird, wenn ihre Familien sie nicht aufnehmen wollen. Außerdem setzt die Stiftung großzügige Kopfgelder aus für jeden, der ein illegales Klonlabor für Zerebralfickfleisch betreibt. Gucken Sie nicht so erschüttert. Denken Sie, ich kenne die Realität nicht?“ Sie seufzte. „Als ich hier eintrat, war mein fester Wille, das Mädchen mitzunehmen, auch gegen seinen Willen, und es dazu zu zwingen, was gut für sie ist. Aber ich weiß, ich muss es nicht. Sie ist froh, endlich irgendwo angekommen zu sein. Bei ihrer Familie zu sein.“ Sie lachte leise. „Ich hoffe wirklich, dass ich nicht zu oft geklont wurde...“
„Wieso?“
„Wieso was?“
„Wieso hoffen Sie das?“
„Ich verstehe Sie nicht.“
„Sie können sich doch eine bessere Werbung gar nicht wünschen. Schauen Sie, Sie sind nicht umsonst Bürger zwei. Jetzt stellen Sie sich vor, Sie treten mit vier oder gar fünf von Harys' Klonschwestern auf. Können Sie sich die Wucht vorstellen, die Sie ausüben würden? Jeder Sender, jeder Laufsteg, jedes Filmstudio wird sich um Sie reißen. Um Sie, um ihr Schicksal, um einfach alles. Und in zwanzig Jahren, wenn sich die Leben der Klone ihrem Ende nähern, werden sie prominent sein, und die Welt wird sehen, was wachstumsbeschleunigtes Klonen wirklich bedeutet.“
„Sie sind gut, Watts.“
„Ich gebe mir Mühe. Vor allem, weil ich Ihnen glaube, dass Harys es bei Ihnen gut haben wird. Und dass Sie sie nicht aufhalten werden, wenn sie doch gehen möchte.“
„Was mir schwerfallen wird. Jetzt bin ich das dritte mal Mutter.“ Erneut seufzte das Model. „Und das ist das eigentlich Schlimme daran. Niemand hatte das Privileg, sie aufwachsen zu sehen. Zumindest niemand, dem wirklich etwas an ihr lag. Keine Sorge, Watts, ich als Bürger zwei kann mir jeden Altruismus leisten, den ich ausleben möchte.“
„Ich bin einverstanden.“
„Was?“
„Sie vor die Presse zu begleiten. Es wird gut für meine Reputation sein. Und es schadet nicht, wenn ich als Fachmann etwas zur Thematik beitragen kann. Ich stehe auch gerne als Berater für Ihre Stiftung zur Verfügung.“
„Wollen Sie einen neuen Job?“
„Nein, Ma'am. Vielleicht in ein paar Jahrzehnten, aber jetzt bin ich noch ein Straßenpolizist. Da gehöre ich hin.“
Min-Hi Dan-Vor lächelte. „Sie erinnern mich ein wenig an einen Freund von mir.“
„Sie meinen Alan?“
„Ja.“
„Von ihm stammt der Hinweis, der mich hergeführt hat.“
„Ich wusste, es war eine gute Idee, ihn einzubeziehen.“ Sie gab dem Ermittler die Hand, der ergriff sie und drückte fest, aber nicht zu kräftig, zu. „Dann wollen wir den Halunken mal Angst und Bange beibringen.“
„Bin dabei“, schmunzelte er.

Min-Hi ging zur Couch zurück. „Alles geklärt. Der freundliche Polizist hilft Mutti, wenn sie vor die Presse geht. Ihr aber fliegt jetzt nach Hause. Hört auf Minnie, wenn Ihr ankommt, ja?“
„Dürfen wir spielen?“, fragte Do-Kwon hoffnungsvoll.
„Ich weiß nicht. Hast du heute schon was gegessen, Harys?“
„Ich hatte ein gutes Frühstück“, beeilte sie sich zu sagen.
„Das reicht nicht. Bei uns wird dreimal am Tag anständig gegessen. Minnie soll euch ein ordentliches Mittagessen kochen, verstanden, kleiner Mann? Ja, dir auch. Du hast dein Mittagessen in der Schule verpasst.“
„Oh, toll! Dürfen wir Nudeln essen?“
„Nudeln?“, fragte Harys erstaunt.
„Nudeln. Du weißt doch, was Nudeln sind.“
„I-ich habe Proteinriegel bekommen. Da ist alles drin, was der Mensch braucht.“
Do-Kwon sah sie wütend an. „Bah! Das ist doch kein Essen! Wir essen Nudeln! Die werden dir bestimmt schmecken!“
Das Model sagte lächelnd. „So lange weiße Dinger, die man mit einer Gabel zusammendreht und dann isst. Hast du bestimmt im Holovid gesehen. Ja, Ihr dürft Nudeln essen.“
„Ehrlich? Das darf ich...? Echt?“ Erneut flossen Tränen ihr Gesicht herab.
„Ja, darfst du.“ Min-Hi Dan-Vor wischte ihr erneut die Tränen fort, dann gab sie ihr einen Kuss auf den Mund. „Und jetzt kommt. Do-Kwon, du nimmst deine Schwester bei der Rechten.“ Sie selbst ergriff Harys' Linke. Gemeinsam gingen sie zum Aufzug. Der Blick, den das Model dabei Roga zuwarf, ließ ihn einen halben Schritt zurückweichen. Jemand würde heute noch einen verdammt schlechten Tag erleben, dessen war er sich ebenso sicher wie der Tatsache, dass er es nicht war.
Gemeinsam verschwanden sie im Aufzug.
Erneut piepte sein Pad. „Watts.“
„Sir, Dienstmann vier Coleen Darsi. Es gab einen Angriff auf den Gefangenentransport. Es gab Tote und Verletzte. Schicksal der Kandrells noch nicht bekannt.“
„Danke. Sehen Sie zu zu retten, was zu retten ist.“ Er beendete das Gespräch und sah ins Rund. „ERHÖHTE SICHERHEIT FÜR ALLE BETEILIGTEN! BAUN, ZWEI WEITERE ALLSWAT-TEAMS!“
„Verstanden.“
„Wir haben hier echt in ein Wespennest gestochen, was?“, sagte Aruuna.
„Aber in was für eins.“
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