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Schattenspiele

von Riniell
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Fantasy / P16 / Gen
Emerelle OC (Own Character) Tiranu Yulivee
20.12.2015
01.12.2016
50
187.715
3
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Dieses Kapitel
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20.11.2016 3.658
 
Kompass ohne Norden


Unzählige Libellen tanzten im reflektierenden Schein der Sonne über dem Wasser, ließen sich auf samtene Rosenblüten hinab oder ihre zierlichen Körper in der sprudelnden Fontäne verschwinden, ehe sie jäh wieder auftauchten, glitzernd wie sattfarbene Edelsteinsplitter. Es war eine magische Jagd, welches sich am Seerosenbrunnen zutrug. Wild und doch ruhig, von Eleganz geprägt.

Yulivee kam beinahe jeden Tag hierher und bestaunte das Werk der Architekten. Unter den knorrigen, tiefwuchernden Ästen blasser Magnolienbäume plätscherte ein Wasserspiel, versteckt im flirrenden Schatten der großen Blüten. Die marmorne Fassung des Brunnens war ausgekleidet mit mannshohen Laternen, die je nach Tageszeit in verschiedenen metallenen Tönen leuchteten. Ihr Schein strahlte hinüber zu den Statuetten, die sich träge im Zentrum des Wasserspiels räkelten. Ihre Körper waren so perfekt gehauen, dass die wahrhaftige Schöpfung der Alben beinahe überboten wurde. Vier lächelnde Apsaras, die Flöte und Harfe spielten, das Kinn zum Gesang erhoben hatten und die Hände hinunter zu den Seerosen streckten. Ihr Haar umschmeichelte ihre Gesichter, war bunt von den Berührungen der Libellen, während ihre bleichen Schultern von Wassertropfen benetzt wurden. Ihr Bild verkündete den Sommer, der sich in völlig neuer Gestalt präsentierte.

Und für Yulivee waren sie die bittere Erinnerung daran, dass Wochen und Monate ins Land gezogen waren, seit sie im Rosenturm angekommen war. Obgleich sie versucht hatte, die Tage zu zählen, so war ihr, als würde eine Nacht in die andere fließen. Zwischen ihnen die träge Bedeutungslosigkeit, die sie stur fristete und mit unwillkürlichen Begegnungen füllte, um nicht völlig den Verstand zu verlieren. Denn auch, wenn Jornowells Vertrauen in sie mit Beständigkeit zu seiner alten Stärke heranwuchs, so existierten nur wenige persönliche Momente zwischen ihnen. Viel zu sehr beanspruchten ihn seine Pflichten und die stetige Fürsorge um seine Geliebte. So erlebte sie Jornowell stets in Eile und Hektik, nie jedoch ohne diesen bitteren Zug um die Lippen. Er versuchte, sie in sein Leben bei Hofe zu integrieren, schien dabei aber langsam und sicher zu bemerken, dass er selbst kein Leben in Langollion besaß, an dem er sie hätte teilhaben lassen können. Es blieb also an ihr, Bekanntschaften zu schließen. Zerstreuende Bekanntschaften, welche das Maß der Oberflächigkeit kaum übertrafen. Die Gesellschaft am Rosenturm war verschworen, um nicht zu sagen abweisend bis kühl. Geheimnisse, Intrigen, Ränkeschmiede, verschlagener noch als selbst in Elfenlicht, wirkten beinahe so abschreckend wie die alles beherrschende Ruchlosigkeit. So zeigte sich, dass die Fürsten einen schweren Stand bei ihrem eigenen Gefolge besaßen. Sie wurden verehrt, auf eine befremdliche Weise, so wie sie belächelt wurden. Es war eine tückische Form von Respekt. Die Höflinge sprachen in aller Öffentlichkeit nur Gutes, zeigten sich geschockt über die jüngsten Ereignisse, doch im Zweifel würde wohl niemand unter ihnen zögern, dem Fürsten und seiner Schwester ein Messer in den Rücken zu stoßen. Sei es für den eigenen Vorteil oder den zweifelhaften Vorteil von ganz Langollion. Morwenna und Tiranu waren für ihr Gefolge gleichwohl personifizierte Sündenböcke wie Hoffnungsträger auf ewiger Probe.

Yulivee selbst wurde mit Achtung behandelt, das mochte stimmen, doch die Spannungen innerhalb des Hofstaats schreckten sie von Tag zu Tag mehr ab. So suchte sie immer wieder die Einsamkeit in den neu arrangierten Rosengärten, wo sie zu vergessen neigte, wie verloren sie sich fühlte.

Verdrossen ließ sie sich auf den Beckenrand des Brunnens nieder und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Ihr Atem ging rasselnd, schwer, während sich in ihrem Innern eine Leere auftat, die sie das Denken vergessen ließ. Da war nur noch dieses nagende Gefühl der Einsamkeit.

Sie wusste, dass sie sich dieser Emotion nicht hingeben durfte. Sonst wären all jene Risiken der vergangenen Monate vergebens gewesen. Diese härteste aller Prüfungen konnte sie nur bestehen, wenn sie vor sich selbst standhaft blieb und die Schatten, welche sich in der Zukunft auftürmten, nicht fürchtete. Nur dieses verräterische Ziehen, das dann auftrat, wann immer sie an Vseslin, Emerelle oder Obilee dachte – es gab ihr das Gefühl, wie ein Blatt im Winde zu sein. Orientierungslos. Sie hatte ihre Sicherheit aufgegeben, wobei es völlig gleich war, ob diese Sicherheit real oder trügerisch gewesen war. Und ja, sie stand hinter ihren Entscheidungen. Was nicht hieß, dass sie nicht ängstigte, wohin sie diese Entscheidungen geführt hatten. Denn einmal mehr musste sie sich eingestehen, dass sie miserabel darin war, auf sich selbst gestellt, allein und einsam zu sein.

„Kapitulierst du endlich?“  

Yulivee schrak auf und blickte überrascht in die Richtung, aus der die Stimme geklungen war. Sie hatte nicht bemerkt, dass jemand so nahe an sie heran getreten war. Doch kaum eine Körperlänge von ihr entfernt stand eine sehr vertraute, gerade Gestalt. Ein abwartender Blick aus dunklen Augen taxierte sie, scharf geschnittene Züge waren spöttisch-hochmütig verzogen, Arme abweisend verschränkt.

„Ich wüsste nicht einmal, wie man das anstellt…“, murmelte Yulivee rau und lenkte den Blick auf ihre Fußspitzen. Ihr war nicht nach einer Unterhaltung zumute, welche ohnehin wie so oft ins Leere führen würde. Tiranu war mindestens so stur wie sie und seine Versuche, sie aus dem Rosenturm zu manövrieren, geradezu halsstarrig. Dabei machte er es sich relativ leicht, sie langsam aber sicher in den Wahnsinn zu treiben. Er kannte sie und verwandte dieses Wissen gegen sie. Indem er sie mied. Seit dem Abend über den Klippen der Bucht. Wenn er allerdings glaubte, dass er sie damit zum Einknicken brachte, täuschte er sich.

Es wunderte sie, dass er hier erschien, gleichwohl, wie sie misstrauisch wurde.

Doch wider erwarten schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht, das Yulivee für einen Augenblick an ihrer Sehfähigkeit zweifeln ließ. „Damit bist du wohl nicht allein.“ Tiranu löste die Arme aus ihrer abwehrenden Haltung und bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, ihm zu folgen.

Yulivee zog die Brauen zusammen und schaute dem Fürsten hinterher, welcher sich langsam von ihr entfernte. Es war das erste Mal, dass sie ihn seit dem Gespräch in Jornowells Gemach sah. Damals hatte er sie mit Nichtachtung gestraft. Eine Stimme in ihr warnte sie davor, dieser einladenden Geste zu trauen. Doch die Stimme verstummte, als ihre Neugier überhand gewann. Stattdessen breitete sich eine leichte Nervosität in ihr aus, als sie aufstand und sich ihrem Schicksal ergab. Tatsächlich wartete er darauf, bis sie zu ihm aufschloss, ehe er sie auf einen Weg führte, der weiter in die Gärten reichte.

Yulivee nutzte die kurzen Momente des Schweigens, um ihn unauffällig zu mustern. Sie hatte ihn tatsächlich für Tage nicht zu Gesicht bekommen und musste feststellen, dass die Schatten unter seinen Augen verschwunden waren. Dafür strahlte er wieder etwas dieser überheblichen Selbstsicherheit aus, die wie eine Maske über seiner Gestalt lag. Doch Yulivee glaubte, darunter zu erkennen, wie Tiranu unruhig war. Sie hatte von Jornowell in einem beiläufigen Gesprächsfetzen erfahren, dass der Fürst wieder regelmäßig in den Baracken vor der Hauptstadt mit seinen Schnittern trainierte. Es mochte ihm etwas seiner vertrauten Stärke zurückgegeben haben, wirkte er doch ausgeglichener und zurückgenommener im Umgang mit seinem Hofstaat, wie Jornowell ihr weiter berichtet hatte. Also wunderte es sie, dass er hier bei ihr wieder in diese ruhelosen Verhaltensmuster abdriftete.

„Ich hörte, du hast dich gut in der Gesellschaft eingelebt …“, brach Tiranu ihren Gedankenstrang und musterte irgendetwas zwischen den hochwuchernden Rosenhecken zu seiner Seite.

Yulivee schnaubte. Konversation also. „Nun, soweit wie sich dieser zusammengewürfelte Haufen Albenkinder an deinem Hofe ‚Gesellschaft‘ nennen lässt – ja habe ich. Denn selbst wenn du es mir nicht glaubst, man lernt meine eigene Gesellschaft in der Regel schnell zu schätzen. Ich gehe auf andere Persönlichkeiten zu, interessiere mich für ihre Belange, gebe Rat und mein Humor ist berüchtigt, von Elfenlicht bis in die fernen Regionen von Dailos …“ Ein freches Grinsen erschien auf ihren Zügen, als sie seinen skeptischen Blick suchte. „Du siehst also, es existieren durchaus Gründe, mich nicht zu meiden, und …“

Tiranu beendete ihren Redeschwall: „Du wurdest in den Palast von Dolithan eingeladen.“

„Ja“, antwortete sie, irritiert vom lauernden Unterton dieser Worte. „Er und sein Gattin feiern …“

„Es ist seine zwölfte Gattin“, grollte Tiranu.

Seine vierzehnte, korrigierte Yulivee stumm. Dolithan war einer der wenigen Emporkömmlinge, die Langollions Gesellschaft hervorgebracht hatte. Als Erbe einer der einflussreichsten Schiffswerften verfügte er über genügend Vermögen, um regelmäßig prächtige Feste in seinem Palast im Umland des Rosenturms zu feiern. Ausschweifend und anrüchig sollten diese Feste sein, aber Yulivee hegte keinen Hintergedanken, als sie die unerwartete Einladung angenommen hatte. Denn eigentlich war sie davon ausgegangen, dass die Abwechslung durchaus ihren Charme hätte. Ihre selbstauferlegte Geduldsprobe hätte dann möglicherweise einen weniger erbärmlichen Ton angenommen.

„Er und all die anderen Höflinge sind wohl kaum an deiner Person interessiert, sondern an deinem Einfluss und deiner Macht“, klärte Tiranu sie bitterernst auf, als glaubte er, sie wüsste dies nicht. „Er ist ein Widerling und besitzt keinerlei Stil …“

Yulivee verschränkte belustigt die Finger hinter ihrem Rücken, als sie diese Einschätzung hörte. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie ähnliche Worte dazu verwandt, um Tiranu zu beschreiben. „Keine Sorge, Fürst. Ich weiß mit Widerlingen sehr gut umzugehen.“

Tiranu hielt inne und starrte sie verkniffen an. Seine Augen wurden schmal: „Du erwägst doch nicht tatsächlich, auf dieses Fest zu gehen?!“

Ihre Brauen wanderten in die Höhe, als eine simple aber entscheidende Frage ihren Verstand kreuzte: „Woher weißt du überhaupt von dieser Einladung?“ Sie sog tief die Küstenluft in ihre Lungen, als ihr kaum ein Herzschlag später die Erkenntnis kam. „Lässt du mich etwa beschatten?“

Er wandte den Blick ab, ehe er im gesetzten Schritt weiterging: „Du wirst nicht gehen.“

„Dir ist klar, dass mich das nur wenig beeindruckt?“, mahnte die Elfe und schloss zu ihm auf. „Du meidest mich für Wochen, nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben … ohne jeden Grund oder eine Erklärung und nun willst du mir …“

„Ich habe dich nicht gemieden“, entgegnete Tiranu eisig. „Meine Pflichten nahmen mich nach der Krise im Norden lediglich in Anspruch und …“

„Das sind Ausflüchte …“

„…und schließlich stand die Tür meiner Amtsstube stets offen …“

„Wo du – oh Wunder – niemals anzutreffen warst, wenn ich dort war“, vollführte Yulivee und stellte sich einem betreten dreinblickenden Tiranu in den Weg. Dieses Mal würde sie sich nicht von schwachen Worten abspeisen lassen! „Du bist mir aus dem Weg gegangen! Doch … nun, ich kann nicht behaupten, nicht zu wissen, auf wen ich mich eingelassen habe. Ich kann deine Eigenheiten akzeptieren. Aber dieses Schweigen bringt mich schier um den Verstand! Ich kann auf mich selbst aufpassen und brauche niemanden, der mich zu meinem vermeintlichen Glück zwingen muss. Also hör auf damit, mich belehren zu wollen, hör auf damit, mich zu meiden! Es wird dir nichts nützen. Ich habe meine Entscheidung getroffen und wenn ich dabei noch so oft hinfalle, dann lass mich fallen. Ich will es so! Und ich bleibe hier. Um Deinetwillen, um Jornowells Willen und meiner Selbst Willen!“

Wieder streifte ein Lächeln über seine Lippen und kaum hörbar entrang sich seiner Kehle ein nachgiebiges Seufzen, was sie nur zaghaft lächelnd die Distanz zu ihm schließen ließ. Zögernd umfing sie seine Unterarme und suchte sein Augenmerk: „Verschließe dich nicht vor mir, ich flehe dich an! Ich will dir nicht schaden, will dir nicht wehtun. Und ganz bestimmt plane ich auch nicht, mich selbst ins Unglück zu stürzen.“ Ihr Herz begann zu flattern, als er endlich ihren Blick erwiderte und das Schwarz seiner Augen sie umfing wie die Dunkelheit den Mond. Sie strahlte und konnte nicht anders, als die Hände weiter seine Arme hinauf wandern zu lassen. „Ich habe nicht vergessen, wer du bist. Aber ich habe auch verstanden, dass du mehr bist. Ich will dieses Mehr…“

Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf, seine Lippen bildeten eine schmale, weiße Linie, als er den Blick wieder fort lenkte. Es war das erste Mal, dass Tiranu dies tat – ihren Blick nicht ertragen können – und es versetzte ihr einen Stich, direkt in die Eingeweide. Ihre Finger begannen zu zittern, in der unsicheren Zerrissenheit, welche diese Reaktion bei ihr auslöste. Wagte sie zu viel? Am Ende mochte sie mit diesen Zugeständnissen mehr zerstören, als erschaffen. Doch diese Möglichkeit, dass tatsächlich er einen Schritt auf sie zugekommen war, wollte sie unmöglich verstreichen lassen. So bahnten sich all die stillen Gedanken der letzten Wochen ihren Weg. „Ich weiß, worauf ich mich einlasse, und ich schere mich nicht um das Geschwätz von anderen … ich will nur eine Chance, eine Chance … ich könnte es ertragen, wenn du … nicht so empfindest wie … wie ich“, hauchte sie und flehte innerlich darum, er möge sie wieder ansehen. Schließlich legte sie ihre Hand an seine Wange, auf dass er sie anschauen musste. „Das wäre … ich könnte irgendwie damit zurechtkommen … aber wenn diese Chance existiert, dann verlange nicht von mir, sie aufzugeben. Das kann … das kann ich nicht!“  

„Du wirst das bereuen“, wehrte Tiranu weniger harsch und vorpreschend als zuvor ab.

Yulivee wagte ein breiteres Lächeln, als sie sich auf die Zehnspitzen stellte, um ihre Stirn an die von Tiranu zu lehnen, welcher sich, wenn auch nur ein klein wenig, zu ihr herunterbeugte: „Lieber bereue ich, meinem Herzen gefolgt zu sein, als eines Tages zu bedauern, auf deine Worte gehört zu haben.“

Tiranu stieß ein kurzes, gehauchtes Lachen aus; ob es ihren Worten galt oder ihrer Situation, wusste sie nicht und es wurde ihr gleich, als er ihr Gesicht in seine rauen Hände nahm und sie seine Lippen auf ihren spürte.

* * *


Jornowell überprüfte ein letztes Mal den Sitz der Satteltaschen, ehe er den unvermeidlichen Blick hinauf wagte. Das Licht in den Stallungen war diffus, unstet. Die Strahlen der Morgensonne brachen sich durch die wenigen Lücken, die das Holzgeflecht der Fassade bot. Sie reichten aus, um die Schatten auf den Zügen seines Gegenübers zu offenbaren.  

Er streckte eine Hand aus, um ihr Gesicht zu berühren: „Sieh mich nicht an, als sei dies ein Abschied auf immer. Ich werde zurück kommen. Das glaubst du mir doch?“

Morwenna wich seinem Blick aus und zog ihre Lippen zusammen. Er fühlte ihren Unwillen. Wie eine Aura umhüllte er sie und ließ sie mehr trotzig denn erhaben wirken. Sie nickte.

Jornowell spürte die Zweifel deutlich. Doch er ermahnte sich, dem Bedürfnis, einfach hier bei ihr zu bleiben, nachzugeben. Er musste und wollte gehen. Auf eine Reise durch die Albenmark, an die entlegensten Winkel, verborgene Plätze und verwunschene Orte. Nur sein treuer Schimmel, sein Zelt, etwas Reisegepäck und seine Kladde mit Feder und Tinte. Er brauchte diese Zeit, brauchte diese Eindrücke der Fremde. Er brauchte den Abstand zu Langollion. Morwenna wollte ihn nicht verstehen können, oder tat es und leugnete dies, aber auch sie benötigte Zeit. Zeit, um zu kurieren. Ihre körperlichen Wunden waren nicht alles, womit sie zu kämpfen hatte. Ihre Seele war verletzt, ihr Stolz besaß Brüche und Risse. Und sie musste verstehen, dass er nicht fähig war, ihr ihren Schmerz zu nehmen. Sie durfte ihre Pein nicht betäuben, schlucken, verdrängen, nur um Seinetwillen, sie musste ihren Weg finden, all dies zu verarbeiten. Sie musste dies selbst tun, allein, denn sonst würde es ihr niemals gelingen.

Er hatte mit Tiranu über seine Pläne gesprochen. Erst zwei Monate waren seit den Aufständen in Vascar vergangen und Langollions Wirtschaft lag zu weiten Teilen noch immer in Trümmern. Es schien kaum der richtige Augenblick, um nach einer Freistellung zu fragen. Denn auch, wenn Tiranu sein Amt nunmehr mit weniger vehementer Härte und mehr ausgeglichener Besonnenheit ausfüllte, so fehlte es noch immer an genügend Nachwuchs, der geeignet war, die offenen Posten in Politik und Wirtschaft auszukleiden. Aber Tiranu hatte ihm sein Einverständnis erklärt. Der Weltenwanderer war von dieser Reaktion mehr als überrascht und eigentlich hatte er sich innerlich auf die nächste handfeste Diskussion vorbereitet. Doch keine Vorwürfe über wankende Loyalität oder schlecht verborgener Feigheit waren gefallen, keine Vorbehalte über diese offene Zurschaustellung von Hilfsbedürfnis gegenüber anderen. Nachdem Jornowell einige Zeit später den Vorschlag unterbreitet hatte, sich an den anderen Fürstenhöfen Albenmarks nach geeigneten Kandidaten für die Übernahme politischer Würden umzusehen, war Tiranu sogar für einen Dank bereit gewesen. Nach wie vor stand es nicht gut zwischen ihnen, das wäre zu viel gesagt, doch Tiranu zeigte Verständnis für seine Gründe. Und auch Jornowell wagte zu hoffen, dass diese Ausflucht ein Umdenken für Morwenna bereithalten könnte. Es würde sie dazu bringen müssen, sich vollends und mit eigener Verantwortung mit ihrer Lage auseinanderzusetzen. Auch wenn ihr noch immer Tiranu als Stütze blieb.

Jornowells Finger streiften Morwennas Wange. „Achte auf deinen Bruder. Auch wenn er sich eher die Zunge abbeißen würde, als es zuzugeben, aber er braucht Unterstützung. Ich hoffe, er sieht dies ein und nimmt Yulivees Hilfsangebot während meiner Abwesenheit an. Zwinge ihn ruhig, wenn er dir keine andere Wahl lässt.“ Er versuchte ein Lächeln, das erstarb, als es nicht erwidert wurde. „Und gib auch du ihr eine Chance. Sie ist eine gute Person und will ihre Fehler wieder gut machen.“

Yulivee weilte tatsächlich noch immer im Rosenturm. Sie hatte sich ihm anvertraut und gestanden, dass es in Valemas im Augenblick nicht viel gab, zu dem sie wirklich zurückkehren könnte. Wenn dies nur der Grund wäre, aus dem sie hier weilte …

Nein, das sture Ausharren der Erzmagierin im Rosenturm war einem anderen Grund geschuldet, einem völlig anderen. Und wenn Jornowell die Zeichen richtig deutete, so hatte Tiranu nach allem endlich nachgegeben. Zumindest zeigte sich Yulivee fröhlicher und gelassener als noch vor einigen Tagen, als sie die Melancholie schier zu erdrücken schien. Leise hatte Jornowell die Hoffnung gehegt, sie würde bald wieder zur Räson kommen und dieses albernere Hirngespinst, das sie mit Morwennas Bruder verband, aufgeben. Doch dem war nicht so. Im Gegenteil schien die Magierin ihr Leben lang darauf gewartet zu haben, Tiranu zu begegnen, und realisierte diesen Umstand erst jetzt. Während man Tiranu kaum eine Veränderung in Bezug auf die Elfe anmerkte, strahlte diese vor Glück und Enthusiasmus, an ebendiesem Glück festzuhalten.

Sie hatte zuletzt ihre Hilfe in der politischen Krise angeboten und als sie von Jornowells Aufbruch gehört hatte, zeigte sie sich bereit, einige seiner Aufgaben während seiner Abwesenheit zu übernehmen. Es stellte ein gewisses Risiko dar, die eigentlich unabhängige Erzmagierin in diese Geschäfte einzubeziehen – sowohl für ihre Person, wie auch für Langollion. Emerelle würde ihre Anwesenheit im Rosenturm womöglich als weitere Provokation ansehen und Tiranus ohnehin geschwächten Stand durch einige geschickte Züge endgültig zum Wanken bringen.

Trotz ihrer Macht wäre Yulivee eine Schwachstelle für Langollion. Geübten Meistern der Ränkeschmiede würde es nicht zum ersten Mal gelingen können, eine Zuneigung ins Gegenteil zu verkehren. Vor allem dann, wenn diese noch so jung und unsicher war wie diese.

Doch Jornowell musste sich eigestehen, Tiranu falsch eingeschätzt zu haben, wenn er bisher geglaubt hatte, der Fürst würde eine weitere Schwachstelle kaum zulassen, ganz gleich, wie sehr sein verhärtetes Herz auch danach verlangte. Er hatte Yulivee in Langollion akzeptiert, trotz allem, was sie in den letzten Monaten an Verrat und Ungemach in das Inselreich getragen hatte. Warum – das wussten wohl nur die Alben allein.

„Ich werde für dich ein Auge auf sie haben“, flüsterte Morwenna. „Auf sie beide.“

„Gut.“

Er beugte sich zu ihr, um sie zu küssen. Sie reagierte zuerst nur zögerlich auf diese Geste, ihre Lippen zitterten unter seiner Berührung. Schließlich suchte sie dann seine Nähe, machte Anstalten, nach ihm zu fassen, ehe sie zusammenzuckte und unterdrückt fluchte.

Jornowell seufzte und umfing bestimmend ihre Arme: „Gräme dich nicht. Diese Pein wird dich nicht auf immer quälen. Du wirst wieder lernen, deine Hände zu benutzen. Du musst dich nur endlich dem stellen, was dir zugestoßen ist. Dabei kann ich dir nicht helfen. Du lässt es nicht zu und es scheint, als vermagst du ganz allein, diesen Schritt zu gehen. Ich komme zu dir zurück. Ich verspreche es!“

Ein Nicken, ehe sie erneut auf den Lehmboden blickte. Es war, als würde ihr Feuer langsam verglühen. Dabei heilten ihre Wunden mit der Zeit immer besser zusammen und mit jedem Tag, der ins Land zog, wuchs Jornowells Hoffnung, dass dieser Schrecken ein weniger schreckliches Ende nehmen könnte. Morwenna würde die Narben, welche nun wohlverborgen unter Brokat und Gaze waren, auf ewig tragen, und auch ihre Einschränkungen würden niemals vollständig verschwinden. Doch wenn es ihr gelingen sollte, endlich den Mut zu fassen, den sie nur für sich selbst schöpfen und nur in sich selbst finden konnte, würde das Lebensfeuer zu ihr zurückkommen. Und mit allein diesem Wunsch verließ Jornowell seine Geliebte schweren Herzens. Denn er wusste: Bliebe er weiterhin an ihrer Seite, würde sie sich nur tiefer in seiner Fürsorge vergraben, um für ihn zu existieren, während sie ihren Schmerz vor sich selbst um Seinetwillen einfach leugnete. Sie musste ihren Lebenswillen finden. Sonst wäre sie weiterhin ein Kompass ohne Norden, unfähig, sich an einen Hafen in der stürmenden See zu navigieren.

„Versprich mir, dass du kämpfen wirst“, forderte er von ihr im Gegenzug. Er erhielt ein schwaches Lächeln – und erneut ein Nicken: „Ich verspreche es.“

Er umfing ihr Kinn und zwang sie, in seine Augen zu sehen. „Ich liebe dich.“

Als sie vor die Stallungen traten, empfing sie das warme Licht des Morgens. Jornowells Hengst begann bereits, in freudiger Erwartung mit den Hufen zu scharren, während der Elf sich mit einem letzten, langen Kuss von seiner Geliebten verabschiedete. Er umfing sie, in jedem seiner Atemzüge das stumme Versprechen, dass er ihre Erinnerung während ihrer Trennung im Herzen halten würde. Dass er zurückkommen würde. Dass er sie nicht vergaß. Dass er sie liebte.

Dann löste er sich von ihr, verinnerlichte den Blick aus ihren tiefen schwarzen Augen, die ihn ihrerseits eindringlich musterten. Bei den Alben – er könnte niemals aufhören, diese Augen zu lieben.

Als er sich auf sein Ross schwang, erwiderte sie sein Lächeln endlich und tatsächlich schien sich die Faust zu lösen, welche sich seit Monaten um sein Herz geklammert hatte. Wieder im Sattel zu sitzen, mit der Gewissheit, die Weite der Albenmark zu betreten, ohne Pflicht und ohne Protokoll und ohne Reue – diese Freiheit war wie der Wind, ein Kribbeln auf seiner Haut.

„Auf bald, meine schöne, tapfere Fürstin.“

„Auf bald, mein tollkühner Träumer.“



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Noch ein Kapitel, einmal posten. Wir sehen uns hier am 30.11./1.12. wieder - denn jetzt fahre ich erst einmal spontan wie immer in den wohlverdienten Urlaub!
Ich hoffe, dieses Kapitel hat euch gefallen - und ja, auch im Urlaub würde ich mich tierisch über Reviews und Nachrichten freuen! Euch wünsche ich jedenfalls noch einen erholsamen Restsonntag, lasst es euch gutgehen!

Liebste Grüße
eure Riniell
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