Schattenspiele
von Riniell
Kurzbeschreibung
Fortsetzung zu ‚Keine Rose ohne Dorn‘: Der ambitionierte Aufschwung Langollions bleibt nicht lange unbeachtet. Während die Elfenkönigin einen nahenden Verrat wittert, wird am anderen Ende Albenmarks die Sorge um einen engen Freund wach. Bald beginnt ein Spiel zwischen den Mächten von Vorurteilen und Wahrheiten, Vergangenheit und Zukunft, Begierde und Zwietracht, tiefen Ängsten und dunkler Magie, fälschlicher Rechtschaffenheit und dem Verrat aus Liebe.
GeschichteDrama, Fantasy / P16 / Gen
Emerelle
OC (Own Character)
Tiranu
Yulivee
20.12.2015
01.12.2016
50
187.715
3
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Dieses Kapitel
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12.11.2016
4.330
Geschwisterliebe II
Das Schreien der exotischen, buntgefiederten Tiere klang in seinen Ohren mehr wie lästiges Lärmen als das anmutige Lied von Singvögeln. Die farbenfrohen Gesellen hüpften aufgeregt in ihren üppig mit allerlei Früchten und Salzsteinen ausgekleideten Volieren umher, als sie ihn zu bemerken schienen. Schwarze, gelbe, kleine Augen musterten ihn neugierig, beinahe erwartend. Die Käfige der Vögel ragten weit über das Doppelte seiner eigenen Körpergröße hinaus, griffen mit ihrer anmutig stilisierten Bauart elegant in den Himmel. Über ihnen bildeten Rosengewächse und Efeuranken ein natürliches Laubengeflecht, das gemeinsam mit der Nachmittagsonne für eine milde, schattige Luft im Schutz des Blätterdachs sorgte. Der leicht süßliche Geruch der Sommerblüten wehte zu ihm herunter, konnte ihn aber kaum milde stimmen. Tiranu hielt inne und war einen Moment lang konsterniert.
Langollion befand sich in den letzten Zügen einer ausufernden Hungersnot und sein Hofmeister warf das Geld für bunte Vögel und duftende Blumen heraus!
Tiranu wusste natürlich, dass diese neu arrangierten Teile der Rosengärten faktisch ein Geschenk von Fürstin Valaria an seine Schwester waren. Landschaftsarchitekten aus Arkadien fristeten schon Wochen ihre sinnbefreite Zeit in den Gärten, um die Umgestaltungsarbeiten umzusetzen. Plätschernde Brunnen, gezwirbelte Pavillons, neu angelegte Pfade zwischen exotischen Blumenbeeten … Der Fürst verstand nicht, wie dieser Tand seiner Schwester bei der Genesung helfen sollte, und gleichzeitig entzog sich ihm, was sich rational denkende Elfen von Lustwanderungen und Vogelgesang erhofften. Jornowell aber zeigte sich begeistert von der Idee – statt also Valarias Angebot in mehr Ernteerträge aus ihrem Land umzumünzen, beauftragte er die Arkadier, die Küstengärten in ein neues Gewand zu kleiden.
Als er um die nächste Ecke der Käfigreihen bog, fand er endlich Morwenna auf dem Kiespfad zwischen den Gitterwänden. Seine Schwester blickte in die Schatten einer Voliere, den Hals gereckt, die Haltung gerade. Tiranu konnte sie nur von der Seite mustern, stellte aber erleichtert fest, dass einige der rötlichen Schatten unter ihren Augen geschwunden waren. Allein ihr Erscheinen außerhalb ihrer Gemächer war schon ein Fortschritt, den Tiranu so nach den letzten Wochen kaum zu erhoffen gewagt hatte.
Die Heilerinnen aus Arkadien hatten ihm berichtet, dass sie Morwenna nicht länger die großen Dosierungen der Kräutermixturen verabreichten, die bei Tiranu von Anfang an für Unmut gesorgt hatten. Da ihr Körper endlich weit genug erstarkt war, die Schmerzen auf sich allein gestellt zu tragen, bestand nun nicht länger die dringende Notwendigkeit für die Präparate. Tiranu selbst hatte im Zuge dieser Maßnahme bereits festgestellt, dass dies Morwenna nicht nur körperlich, sondern auch geistig entlastete. Er hatte sich entgegen ihrer abweisenden Haltung bemüht, öfter in ihren Gemächern zu erscheinen, auch wenn dies das ein ums andere Mal bedeutete, ihre Schmähungen über sich ergehen lassen zu müssen. Ihr Gemüt wurde nun zwar merklich einhaltender, besänftigter – doch war es noch immer in seinen dunklen Spiralen gefangen. Sie wollte sich nicht eingestehen, dass sie litt. Sie wollte es nicht zeigen, nicht einmal sich selbst. Sie würde niemals verarbeiten können, was geschah, wenn die Situation nicht bald begann, sich erheblich zu wenden. Tiranu verstand sie. Doch die Heiler warnten ihn davor, sie nun einfach ihrer zurückschreckenden Willfährigkeit zu überlassen. Wenn sie nun nicht die ersten Schritte zur Überwindung ihres Schicksals tat, würden die Wunden in ihrer Seele nur narbig und unförmig zusammenheilen. Je mehr Zeit verstrich, desto weiter würde sich Morwenna der Realität entziehen. Wenn sie nun nicht aus ihrem gemachten Nest gelockt – oder gestoßen? – würde, könnte sie nie das Fliegen wiedererlernen. Tiranu fürchtete sich vor dem angestrebten Wandel in ihrem Heilungsprozess. Wo Jornowell bisher als einziger Lichtblick in ihrem ganz persönlichen Schicksalsschlag erschienen war, kristallisierte sich nun heraus, dass er der unerkannte Dreh- und Angelpunkt ihres Leidens war. Was würde geschehen, wenn er ging, sich ihr entzog? Was würde geschehen, wenn er blieb?
„Du kommst spät“, ließ seine Schwester verlauten, als er an ihre Seite trat. Tiranu nickte und blickte ebenfalls in die Voliere, in der ein bläulich schimmernder Ara sein Gefieder putzte. „Ich konnte mich nicht eher aus den Schreibstuben zurückziehen …“ Er räusperte sich. „Du wolltest mich sprechen?“
„Ich schulde dir eine Entschuldigung für mein Verhalten in den letzten Wochen“, erläuterte Morwenna leise, sachlich. Sie wandte sich nicht zu ihm, als sie sprach, und Tiranu wusste, dass er kaum mehr als diese Worte der Reue hören würde. Er nickte und schwieg. Mehr wäre nicht angebracht gewesen in diesem Moment, denn zu verzeihen gab es nichts. „Lass uns ein Stück gehen, Bruder“, sagte sie dann und wies ihm den Weg den schattigen Pfad entlang. Er bemerkte ihren Impuls, sich bei ihm unterhaken zu wollen, biss sich aber auf die Lippen, als sie ihre Hand mit leeren Augen wieder sinken ließ. Stattdessen verschränkte er die Arme hinter seinem Rücken und schaute auf in das Dach des Laubengangs. „Gefällt es dir?“
Ein skeptischer Blick traf ihn. „Wenn du glaubst, einige Blüten genügen, um … nun, um mich in Euphorie zu versetzen, so irrst du. Ich habe dich aber nicht zu mir gebeten, um über Belanglosigkeiten zu sprechen.“
Tiranu hob die Brauen, irritiert von diesem ungeschickten Versuch, von ihrer Person abzulenken. „Über was dann?“
Als sie aus dem Laubengang traten, fanden sie sich an einem kleinen Zierbrunnen wieder, an dessen Spitze ein marmorner Prachtvogel Wasser in das Becken spie. Das Gluckern übertönte beinahe den schweren Atem seiner Schwester, die sich sichtlich ausgelaugt auf die Brunnenkante niederließ. Ihr Gesicht war blass geworden. Dennoch zögerte sie nicht, mit entschlossener Miene zu ihm aufzuschauen: „Yulivee weilt nun schon seit Wochen im Rosenturm. Sie hat sich bereits in die Gesellschaft eingelebt, wie mir berichtet wurde. Nur du meidest sie …“
Tiranu verschränkte die Arme und verlagerte sein Gewicht auf das rechte Bein. „Du hast mir geraten, sie hinter mir zu lassen – und du hattest deine Gründe. Zumindest bewahrheitete sich deine Annahme, dass sie auch die politische Nähe zu mir suchen könnte. Sie hat mir ihre Hilfe angeboten, was die Staatsgeschäfte angeht. Vermutlich hattest du Recht mit deinen Befürchtungen.“
Tiranu kamen die Worte schwer über die Lippen. Er hatte es wieder und wieder in seinem Kopf überschlagen. Aber nein – es gab keine Möglichkeit, in der Yulivees Anwesenheit in Langollion einen positiven Ausgang haben könnte. Also lohnte es sich erst gar nicht, diesen amourösen Hirngespinsten der Erzmagierin nachzugehen. Zumal … zumal ohnehin mehr Schein als Sein dahinter zu stecken schien. Das Angebot der Magierin, das sie ihm in Jornowells Privatgemächern unterbreitet hatte, konnte sich tatsächlich als Hinterlist oder Kontrollversuch herausstellen. Er hatte ihr sein Vertrauen ausgesprochen. Doch wie es schien, durfte dieses nicht auf die Probe gestellt werden … und er konnte es Yulivee nicht verdenken, wenn sie weiterhin Emerelles Ruf folgte. Es war der sichere Weg für sie. Ein Weg, der sie gewiss eines Tages an wahre Größe in der Albenmark führen könnte.
Morwenna aber schenkte ihm ein bitteres Lächeln, das von Bedauern sprach. „Ich glaube nicht, dass ich in den letzten Wochen wirklich … bei klarem Verstand war. Ich … Jornowell erzählte mir, was Yulivee in Vascar für mich tat. Sie hat zweimal versucht, mich zu retten, und nahm dafür bereitwillig Unmut und Schmerz in Kauf. Als Naylin mir berichtete, dass Yulivee sogar den Albenstein einsetzte, um mir Stärke zu leihen, und mir damit wohl das Leben rettete, war ich viel zu überrascht und befangen, als dass sich mir die wahre Bedeutung dieser Tat erschloss. Ich hatte nun mehr als genug Zeit zum Nachdenken. Und ich muss gestehen, dass mich ihr Durchhaltevermögen noch mehr überrascht als selbst ihre Selbstlosigkeit. Wer weiß, was sie wirklich plant? Weder du noch ich können wirklich erahnen, ob sie Emerelle noch ergeben, oder endlich zu Verstand gekommen ist. Nun, immerhin sind wir nach all der Zeit noch immer nicht zu Geiseln der Krone verkommen …“
Der Fürst zog die Brauen zusammen. „Du traust ihr?“
„Nein“, lachte sie müde. „Aber ich schulde ihr mein Leben. Zumindest das, was davon übrig bleibt. Und das tust du auch.“
„Woher kommt dieser Sinneswandel?“
Tiranu glaubte, einen Schimmer in den schattigen Augen seiner Schwestern zu erkennen, doch wandte sie den Blick ab, als sie sein Starren zu bemerken schien. Ihre Schultern zogen sich schützend nach vorn, worüber sie vor sichtbaren Schmerzen zusammenzuckte. Ihre Stimme bebte, als sie das Wort erneut an ihn richtete: „Ich nehme an, Jornowell hat dich bereits von seinen Plänen informiert?!“
Das Augenmerk seiner Schwester traf ihn nun doch für einen erhaschenden Moment, ehe sie den Kopf wieder senkte. Diese Geste genügte, um ihn zu erahnen lassen, wie genau das Gespräch des Hofmeisters mit ihr von Statten gegangen sein musste. Morwenna war alles andere als angetan von der Idee ihres Geliebten, ausgerechnet nun eine seiner berühmten Reisen durch die Albenmark anzutreten. Doch statt des vertrauten Zorns und der schneidigen Zurückweisung, schienen nun Angst und Resignation ihren Geist zu beherrschen. Ob Jornowells Plan wirklich aufgehen konnte? Die Alben allein wussten, wie stur Morwenna sein konnte. Wenn sie sich verschloss und den Schlüssel zu ihrem Innern fortwarf, würde nie wieder jemand den Weg zu ihr finden.
Tiranu nickte.
„Nachdem nun also mein Glück zu vergehen scheint …“, fuhr Morwenna fort, bis er sie bei diesen Worten unterbrechen wollte. Doch sie hob nur eine in Seidenstreifen verbundene Hand. „Ich will nicht, dass du diese Chance auf Anerkennung und Frieden für dich verstreichen lässt. So gering sie auch erscheint … das … das würde dir nicht entsprechen. Du warst schon immer wagemutiger als ich es bin …“
„Das ist nicht wahr“, widersprach Tiranu, „was du in Vascar getan hast …“
„Bitte! Erspare mir das!“
Mit einem schalen Nachgeschmack ließ Tiranu das Thema fallen und schloss sich für einen Moment ihrem erstickten Schweigen an. Sich ihren Gedanken zu öffnen war schwer. Wie sollte er diese Chance wirklich ergreifen, wenn die Zweifel an Yulivee und ihren Motiven noch immer in ihm keimten? Sie könnte ihn hintergehen. Sie könnte ihn ihrerseits nur ausspielen wollen und all dies könnte nicht echt, lediglich eine Farce sein.
Er musste sich eingestehen, dass er nicht wusste, was er tun sollte. Und er hasste dieses Gefühl zutiefst. Allein aus diesem Grund hatte er erst nie hinterfragt, was er sich überhaupt von Yulivee und ihrer Nähe erhoffen könnte. Es wäre nur ein überflüssiges Übel, sich albernen Fantasien hinzugeben, die so aller Wahrscheinlichkeit ohnehin nie ihren Weg in die Realität finden würden. Wenn da nur nicht die leidliche Tatsache existieren würde, dass er in ihrer Nähe bereits zu oft schwach geworden war…
„Ich weiß, wie du dich fühlst“, murmelte Morwenna, die ihn mit etwas mehr Milde musterte. „Und ich hoffe, dass auch du mich nun besser verstehen kannst …“
Die ehrliche Antwort lautete klar: Nein.
Morwenna lächelte aber, als sie sein angedeutetes Kopfschütteln sah. „Nun, wie dem auch sei … Yulivee ist hier im Rosenturm und so schnell scheint sie nicht klein beigeben zu wollen. Wie ich schon erwähnte, ist sie bereits im Begriff, sich einen Namen in der Gesellschaft der Höflinge zu machen. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass sie sich nicht eben geschickt mit der Wahl ihres Umgangs anstellt …“
Tiranu wurde hellhörig: „Was meinst du damit?“
„Die Kreise, in denen sie sich bewegt, sind recht … speziell.“ Morwenna legte den Kopf schief und schürzte die Lippen. „Ich kann mir natürlich ausmalen, dass sich einige Höflinge förmlich um sie reißen … ihre Macht und ihr Einfluss in der Albenmark sind kaum mit denen einer anderen Persönlichkeit zu vergleichen…“
„Morwenna!?“
Seine Schwester verbarg ein schelmisches Grinsen, was ihm im Moment aber herzlich egal war. Sollte sie doch denken, was sie wollte!
„Dolithan hat sie wohl bereits auf eines der berühmten Feste in seinen Palast geladen“, erläuterte seine Schwester endlich und Tiranu fühlte bei jedem Wort, wie sich eine Faust immer fester um seinen Magen zu schließen schien. Wie bitte? „Wir alle wissen, wie diese Feierlichkeiten für gewöhnlich enden …“
Ja, Tiranu wusste sehr wohl, wie sie das taten. Dolithan war einer der wenigen Emporkömmlinge, die es unter seiner Herrschaft zu Reichtum und einer berüchtigten Bekanntheit gebracht hatten. Allerdings galt er selbst in seinen Kreisen ganz unverblümt als ein Widerling, Ränkeschmied und Lüstling. Wie dieser Elf zu seinem Wohlstand gekommen war, war Tiranu seit Jahrhunderten schleierhaft – und leider besaß er die Gabe, sich gekonnt bei Albenkinder jeden Stands einzuschmeicheln und die Treue seines Gefolges zu sichern. Er war nicht willkommen an Tiranus Hof und dies wusste Dolithan sehr wohl. Doch seine Freunde unter den Höflingen zogen noch immer die Fäden am Rosenturm für ihn, während er seine zwielichtigen Geschäfte im Untergrund abwickelte. Doch dies war noch lange nicht das Ende der Fahnenstange. Im nahegelegenen Palast des Elfen kam es regelmäßig zu den größten Skandalen Langollions. Normalerweise würde es ihn als Fürst nicht sonderlich kümmern, was in den Palästen von Renommisten vor sich ging, nur war es nicht selten so, dass diese Skandale wohl auf obskuren Machenschaften beruhten, die in seinem Reich gemeinhin unter Strafe standen. Bisher blieb Dolithan aber unglücklicherweise nur ein unliebsamer Dorn in Tiranus Auge, denn eine handfeste Straftat war nie auf ihn zurückzuführen gewesen. So blieb ihm auch als Fürst keine andere Wahl, als ihn in Langollion zu dulden und ihn wenigstens des Hofs zu verweisen, denn Dolithans Einfluss reichte zu weit, als dass ein plötzliches Verschwinden unentdeckt oder gar ungeschoren bliebe.
„Woher weißt du das?“
Ganz war er sich nicht sicher, ob diese Aussage auf Wahrheiten beruhte, oder ob Morwenna ihn lediglich provozieren wollte. Allerdings musste er sich eingestehen, dass ihm diese Neuigkeit ganz und gar nicht zusagte. Wie sollte es Yulivee nur schon wieder gelungen sein, sich derart in Probleme zu stürzen?
„Ich bin nach allem immer noch die Fürstin, Bruder“, entgegnete Morwenna spitzzüngig. „Der Klatsch bei Hofe gehört zu meinem Tagesgeschäft.“
Nun war es an Tiranu, skeptisch dreinzublicken. „So etwas höre ich aus deinem Munde zum ersten Mal! Und es klingt … schrecklich. Du solltest dein Augenmerk wieder auf das Leben lenken und das schnell.“
„Nun, ich danke dir für diesen Rat“, schnaubte Morwenna, der dieser halbherzig durchdachte Themenwechsel kaum zu entgehen schien. Nur ließ sie es wohlweißlich dabei bewenden. „Doch möchte ich dir ins Gedächtnis rufen, dass es dir vor nicht allzu langer Zeit ganz ähnlich erging wie mir. Damals maßt du deinerseits meinen Ratschlägen keinerlei Bedeutung zu …“
Tiranu öffnete tonlos den Mund und fühlte sich für einen viel zu langen Moment wie zu Stein erstarrt. Nur zu gut erinnerte er sich an Morwennas unermüdliche Versuche, ihn nach den Tjuredkriegen dazu zu bewegen, sich von seiner Lethargie zu lösen. Das Versagen in seiner letzten Schlacht nagte lange an ihm – zu lange, wie er sich eingestehen musste. Tatsächlich hatte er sich allen Zuspruchs gegenüber verschlossen, um sich völlig der ausufernden Arbeit im Fürstentum hinzugeben, wo er Sturzbäche mit bloßen Händen aufzuhalten versuchte. Ein weiteres Scheitern schien unausweichlich. Er hatte es nicht wahrhaben wollen.
Ein bitterer Zug legte sich um seinen Mund: „Dann sei nicht so töricht, meine Fehler zu wiederholen.“
„Du hast dich geändert“, bemerkte Morwenna ganz unvermittelt auf diese Worte. „Als ich hörte, dass du den Baronen nicht ihr Amt entzogen hast, zweifelte ich erst an dieser Entscheidung, doch nun … ich verstehe sie. Du fühlst dich schuldig?“
„Ich hätte vor all diesen Jahren Leandra und Meryl im Kampf gegen die Seehexe beistehen können, aber das tat ich nicht.“ Tiranu blickte in den Himmel, als würde dort die Antwort auf seine nächste Frage zwischen den Wolken prangen. „Vielleicht wäre dann alles ganz anders gekommen? Wenn ich nicht so kopflos Yulivee gefolgt wäre, wäre ich an deiner Stelle gewesen, und …“
„Es hätte auch alles weniger glimpflich ausgehen können.“ Morwenna schüttelte das Haupt. „Du trägst keine Schuld, kleiner Bruder.“
„Leandra und Meryl haben Aufgaben in der Grafschaft zugeteilt bekommen, welche die Wirtschaft unterstützen sollen. Der Sohn des zwergischen Handelsbevollmächtigten weilt im Augenblick in Vascar, um sich die Gebirgsketten genauer anzusehen … wenn er die Geschäfte übernimmt, will er Stollen und ganze Minen im Nordgebirge errichten, um nach Erzen zu schürfen, die in Aelburin lange schon nicht mehr vorkommen. Die Barone werden ihn dabei unterstützen und mit ihren Einnahmen die Last ihrer Schuld abtragen. Du sollst versichert sein, dass Leandra und Meryl für ihre Vergehen büßen. Ich gebe ihnen keine zwei Monate, bis sie zitternd unter der Fuchtel des Zwergs am eigenen Stolz ersticken …“
Morwenna hob die Brauen: „Du lässt Zwerge unser Land umgraben und schickst unsere Barone unter Tage?!“ Sie schüttelte im halben Ernst den Kopf. „Dafür werden wir den Spott sämtlicher Fürstenhäuser über uns ergehen lassen müssen!“
Sie lächelte. Und diese Mal erschien ihr Lächeln sogar echt. Es gab noch Hoffnung für sie, das wurde Tiranu klar. Sie würde wieder zu Kräften kommen, wenn sie bereit wäre, Jornowells Motive für seinen Weggang zu akzeptieren, und die Chance, die sich ihr dadurch bot, zu nutzen.
Tiranu musste mit Naylin sprechen. Es wäre gut für Morwenna, wenn sie dieses Hoch der letzten Stunden dazu verwandt, um sich für einen Besuch in den Heilungshäusern der Hauptstadt aufzuraffen. Der Rat und die Lehren seiner Schwester wären dort immer noch gefragt, wie Naylin und andere Heiler ihm schon mehrfach bestätigt hatten. Vielleicht wäre dies ein Pfad, den Morwenna einschlagen konnte, um zurück zu sich selbst zu finden.
„Spott ist mein geringstes Problem …“, schnaubte der Fürst und versuchte, etwas Leichtigkeit in die Worte zu bringen. „Wer weiß, womöglich vermag er letzten Endes sogar, von all dem Hass gegen uns ein wenig abzulenken.“
„Bin ich eines dieser Probleme?“, fragte Morwenna und wirkte dabei ganz plötzlich wieder ungewohnt kleinlaut. Ihre Miene war zusammengefallen, dunkel, regungslos. Als hätte sie einen Schlag abgefangen, den er nicht hatte kommen sehen.
Tiranu holte tief Luft und wusste nicht, wie er auf diese Direktheit reagieren sollte. „Du … nein. Du musst dich nicht schuldig fühlen! Ich weiß, was du durchmachst und schwöre dir, dass du meine bedingungslose Rückendeckung besitzt.“ Er breitete seine Hände aus, ballte sie zu Fäusten. Schließlich ließ er sie sinken und entließ seinen Atem in einem rauen, kehligen Geräusch. „Sage mir nun, dass du nicht möchtest, dass Jornowell geht, und ich werde ihn niemals ziehen lassen!“
Sie schüttelte das Haupt, wich nun ihrerseits seinem Blick aus und schaute in den Himmel: „Nein! Ich … ein Teil von mir ... hofft inständig, die Geschicke dieser Welt mögen es einrichten, dass er Recht behält.“ Ihre Stimme wurde leise, brüchiger. Es schien, als könne sie kaum selbst wagen, an diese Worte und deren Bedeutung glauben. „Ich weiß, dass ich … befallen bin von Angst und … Pein. Meine Seele ist wund und ich weiß nicht, wie … wie ich mir helfen könnte. Ich weiß nicht, ob … es macht mir Angst. Und ich weiß, dass ich mich nicht länger verstecken kann, aber … es fällt mir so schwer, meine Gedanken neu zu ordnen. Nacht für Nacht durchlebe ich jene Momente wieder und wieder, in denen das Schwert auf mich niederkam und ich mich schon verloren glaubte. Diese Bilder … sie sind wie wucherndes Efeu, das sich an mir festkrallt und sich an meinem Schmerz gütlich tut. Ich will nicht länger so leben! Doch gleichzeitig … ich habe das Gefühl, den Anschluss, ja die Verbindung an mein vorheriges Leben verloren zu haben. Da ist nur noch … Scham.“
Morwennas Augen schimmerten, als ihr Blick den seinen suchte. Die Aufwühlung in ihrem Innern zeichnete sich kaum merkbar in ihren schwarzen Tiefen ab; war zugleich wohlverborgen, wie unübersehbar. „Ich habe kein gutes Gefühl bei diesem Plan, ich fürchte mich vor dem Tag, an dem Jornowell geht – aber ich muss daran glauben, dass ich dieser Furcht zum Trotz wie durch die stürmende See endlich an einen Hafen getrieben werde, an den ich gehöre. Ich besitze weder Sextant noch Kompass noch eine Karte… ich weiß nicht, wie, aber es muss mir gelingen, durch diesen Sturm zu navigieren. Entweder das, oder ich stehe bald im Begriff, mich selbst aufzugeben. Jornowell kann nicht für uns beide leben.“
„Du bist nicht allein“, flüsterte Tiranu, der durch diese Worte spürte, wie er ihre Haltung – ein kleinwenig nur – untergrub. Früher einmal hätte er es nicht erkannt, doch diese Offenheit, dieser unerschrockene Umgang mit ihrer Schwäche, zeigte sich ihm als reiner Mut. Er wollte das Gesagte schon richtigstellen, war ihm doch klar, dass sie niemanden anderen wirklich benötigte, um die Stärke ihrer Selbst, ihres Hauses und ihres Landes in sich zu tragen, doch sie zeigte ihm nur durch ein bebendes Lächeln ihr Einverständnis in diesen Umstand. Sie wusste, sie war nicht allein. Sie wusste, sie musste sich ihrem Schicksal nicht alleine stellen. Nicht nur er als ihr Bruder, sondern auch Naylin, Riana, Abelle, ihre Schüler und nicht zuletzt Silvain mit seiner unverbesserlichen Art waren unerschrocken ob all der harschen Momente dennoch an ihrer Seite. Dies zeigte Tiranu einmal mehr, wie richtig die Entscheidung doch gewesen war, die Bürde der Fürstenkrone mit ihr zu teilen. Wenn sie auch wankte, sie war eine Anführerin, der man über kurz oder lang bereitwillig folgte.
Sie war nach allem immer noch eine Tochter Alathaias. Maka würde nicht auf ewig seine Fänge in ihr halten können.
„Danke.“ Morwenna erhob sich, schaute ihn offen an. „Danke, dass du nach allem noch an mir festhältst. Ich weiß, dass ich nicht … leicht im Umgang bin.“
An Tiranus Lippen zupfte ein Lächeln, als er sich zwang, auf einen entsprechenden Kommentar zu verzichten. Die Gesten ihrer Nähe waren selten und noch seltener ohne Hintergedanken. Er fürchtete, sie könnte zurückschrecken, wenn er nun ein forsches Wort verlor, das die Situation wenigstens für ihn erleichtern würde. Denn wie er mit ihr in dieser Lage umgehen sollte, wusste er wahrhaftig nicht. „Wir sind die letzten Überlebenden unserer Sippe. Ich würde alles für dich tun…“
Morwenna stieß ein glückloses Lachen aus, schloss die Distanz zu ihm und legte in starrer Haltung ihre Schläfe an seine Schulter. „Dieses Denken hat uns schon einmal beinahe alles gekostet. Du musst mir versprechen, vorsichtiger zu sein. Unser Wesen ist gefährlich – doch in diesen Zeiten scheint sich diese Gefahr gegen uns selbst zu wenden. Die Ereignisse der letzten Monate haben uns dies überdeutlich gezeigt. Wir können von Glück sprechen, dass wir nicht alleine durch dieses Ungemach gegangen sind. Was wäre aus uns geworden, wenn Emerelle jemand anderen als Yulivee geschickt hätte, um in unserer Vergangenheit nach Leichen zu graben? Nur die Alben wissen, wo ihr so lange gesteckt habt – und ich fürchte mich vor dem, was sie bereits alles über uns weiß! Und was wäre aus uns geworden, wenn Jornowell weniger loyal uns gegenüber wäre? Er hat sich schier selbst geopfert, um entgegen unserer Steine in seinem Weg unser Land vor dem Bankrott zu bewahren. Wir hätten womöglich längst keinen Kopf mehr auf unseren Schultern, wenn wir nur einen Fehler mehr gemacht hätten. Yulivee und Jornowell haben erkannt, wie es wirklich um uns stand … und womöglich immer noch steht. Wir waren unserer Bürde überdrüssig geworden, des Lebens unter den Konditionen der Königin müde. Wir haben uns beinahe aufgegeben. Wir wurden zu willfährig. Auch wenn es meinen Stolz verletzt, dies zuzugeben. Wir müssen uns … ändern, wenn wir eine Chance haben wollen, unsere Linie fortzuführen. Wir müssen uns anpassen, um zu überstehen. Emerelle darf nicht bekommen, was sie will! Nicht nach all der Zeit, in der wir ihr Widerstand leisten konnten.“
Tiranu horchte auf und schob sie ein Stück von sich, um ihr Augenmerk zu suchen: „Du glaubst, Jornowell und Yulivee könnten uns auf diesem Kurs beistehen … führen?“
„Ich sage nicht, dass ich ihnen vorbehaltslos traue“, stellte Morwenna klar. „Aber ich habe Vertrauen in ihren guten Willen – und dies ist mehr, als wir erwarten können. Dies ist mehr, als wir bisher je erhalten haben. Emerelle sandte Yulivee, um gemeinsam mit Jornowell unsere Mauern zu Fall zu bringen. Nun, ich sage, wir können unsere Mauern durch sie festigen.“
Tiranu lächelte schmal. „Dies klingt schon sehr viel mehr nach meiner Schwester.“
„Ich brauche deine Hilfe, wenn wir diesen Weg einschlagen wollen“, führte Morwenna fest fort und berührte kaum merklich seine Hand, um ihm bestimmt in die Augen zu schauen. Ihr Blick suchte ganz unverhohlen nach Nähe und Sicherheit. „Und dein Vertrauen.“
Tiranu zögerte nicht, zu antworten und war halb getroffen davon, dass sie sich nach allem wohl noch immer seines Wohlwollens versichern musste. „Du besitzt beides.“
„Dann lass uns gemeinsam in diese Zukunft blicken – ob auf Gedeih oder Verderb.“
Tiranu verstand, dass Morwenna, sollte sie in den letzten Wochen in einem starren Schlaf gebannt gewesen sein, nun im Begriff war, endlich zu erwachen. Der Auslöser dieses Moments schien nicht allein aus Furcht, Jornowell und ihr Umfeld zu verlieren, geboren worden zu sein. Vielmehr war eine Art Trotz in ihr gereift, der sie weiter antrieb, ihrem Kummer die Stirn zu bieten. Trotz. Jornowell kannte Morwenna nur zu gut, denn was war es anderes als Trotz, der Morwenna seit jeher angetrieben hatte? Ob nun als Fürstin, als Heilerin, als ausgerufene Despotin … ihr Kampfeswillen, ihr Wappnen gegen Intrigen, Tod und Häme, war schon immer eine eigenwillige Form von Renitenz gewesen, die einst schon ihre Mutter in den Kampf gegen Emerelles Herrschaft gerufen hatte. Und Morwenna hatte Recht in ihrer Annahme, dass dieser unbeugsame Wille sich zuletzt gegen sie selbst gewendet hatte und im Begriff war, eine Gefahr zu werden, die sie auf kurz oder lang in einem Sumpf der Selbstbemitleidung ersticken würde. Wenn der Trotz und der Zorn begannen, sich weiterhin in Frust und Kapitulation zu verwandeln, würde ihre Krone vergehen – und damit ihr Lebensmut. Sie mussten sich wahrlich neu orientieren, waren nicht gefeit gegen den Wandel der neuen Albenmark. Jornowell hatte möglicherweise ganz unbewusst diese Gefahr einzuschätzen gewusst und setzte nun den wortwörtlichen Schlussstrich in einer Diskussion, die nie offen geführt worden war. Er hatte wohl erkannt, wie Morwenna – und ja, auch Tiranu selbst – zur Räson zu rufen waren. Er hatte sie ausgespielt, in einem sehr ernsten, sehr realen Spiel. Und ganz gleich, wie Tiranus persönliche Meinung zu diesem Umstand war…
…sie mussten wieder zu aktiven Spielern werden, um in der neugeformten Welt zu überstehen.
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An dieser Stelle ein schneller, langer Dank an Phae, wegen/dank der ich dieses Kapitel noch einmal grundlegend überarbeitet habe. Deine Anmerkung im letzten Review hat mir sehr weitergeholfen, um einen neuen, sagen wir, abgeänderten Blickwinkel auf die Situation zu bekommen. Der Text möchte sich nun nicht anbiedern oder aber – nur – einer einzelnen Stimme nachgiebig sein, so wichtig mir diese auch ist, sondern er gefällt mir in seiner neuen Form persönlich auch viel, viel besser als zuvor. Also danke, Phae! Ihr seht, Kritik, Feedback, Gedankenspiele retten nicht nur trübe Tage, sondern auch schlechte Kapitel!!
Auch meinen anderen Lesern vielen Dank fürs Lesen! Ich hoffe, ihr hattet Freude am neuen Kapitel.
Liebe Grüße
Riniell