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Schattenspiele

von Riniell
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Fantasy / P16 / Gen
Emerelle OC (Own Character) Tiranu Yulivee
20.12.2015
01.12.2016
50
187.715
3
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04.11.2016 6.539
 




Ein unzerbrechliches Band




Jornowell war vertieft in die Depesche, welche am heutigen Morgen zusammen mit unzähligen weiteren Schriftstücken in den Rosenturm gelangt war. Aelburins ältester Handelsbeauftragter informierte Langollion darin, dass er seine Arbeit und seine Würden seinem Sohn vermachen würde. Er beschrieb ihn in hochlobenden Worten und versicherte Tiranu, dass er ein mehr als passabler Nachfolger für den Posten war, der alle Vorteile ihrer Handelspartnerschaft mehren würde.

Jornowell presste die Augen zusammen, als die Lettern begannen, vor seinen Augen zu verschwimmen. Müde strich er sich über die geschlossenen Lider und fragte sich, wann er das letzte Mal genügend Schlaf bekommen hatte. Er blieb sich eine Antwort schuldig, als sich ein vernehmliches Räuspern in die Ruhe seiner Gedanken drängte.

Als er aufschaute, blickte er in das Gesicht seines Neffen, der ein verhaltenes Lächeln zeigte. Jornowell ließ sich unwillkürlich anstecken: „Bist du hier, um dich zu verabschieden?“

Anarion nickte: „Wenn ich auch nur eine Stunde länger hierbleibe, wird Valaria mich nicht mehr erkennen, wenn ich wieder in Arkadien aufschlage. Sie ist nicht nur fürchterlich stolz, sondern auch fürchterlich vergesslich …“

„Hast du Tiranus Angebot in Erwägung gezogen?“, entgegnete Jornowell und versuchte dabei, so neutral wie möglich zu klingen. Doch sein Neffe hob nur abschätzend die Braue: „Wenn ich die Wahl habe, als Valarias persönlicher Assistent durch die Gegend gescheucht zu werden, oder Tiranus Sklave … ähm, Hofmeister zu werden, fällt mir die Wahl natürlich denkbar schwer … aber die Lehre an Arkadiens Fürstenhof ist die beste in ganz Albenmark. Ich werde sie abschließen … wer weiß, wohin es mich dann verschlägt? Politik liegt mir, aber noch habe ich nicht ergründet, was mir außerdem liegen könnte. Möglicherweise schlage ich nach meinem Onkel und bereise die neue Albenmark, um Abenteuer zu erleben …“

„Die Alben mögen bewahren …“, grinste Jornowell und erhob sich aus seinem Stuhl. Anarion kam ihm entgegen, schloss ihn in eine feste Umarmung und murrte: „Dir ist klar, dass Mutter mich über meine Zeit hier ausfragen wird? Sie wird wie ein Luchs auf der Lauer darauf gieren, ein schlechtes Wort über das Verhältnis von Morwenna und dir zu vernehmen …“

Jornowell schüttelte den Kopf: „Sie macht sich lediglich Sorgen … sage ihr die schlichte Wahrheit.“

Die Wahrheit war, dass es zwischen Morwenna und ihm nicht sonderlich gut stand. Während Jelisse sich wohl vordergründig um ihn sorgte, so machte sich Jornowell pausenlos Gedanken um seine Liebste. Sie schien sich selbst in einen Käfig gesperrt zu haben und nichts vermochte, sie herauszulocken. Dabei bemühte Jornowell sich, es ihr auf alle erdenkliche Arten leicht zu machen. Sie musste nicht mit ihm sprechen, musste sich nicht für ihre Ängste rechtfertigen, sollte kein gezwungenes Lächeln aufsetzen und schon gar nicht sollte sie ihre Tränen verbergen. Doch sie vergrub sich in ihren Gemächern, wo sie alles und vor allem sich selbst verstecken konnte. Er konnte sie nicht aus ihrem Schneckenhaus bewegen, ganz gleich, was er versuchte. Seine Ambitionen reichten so weit, dass er eigens für die Umgestaltung der Rosengärten Landschaftsarchitekten aus Arkadien nach Langollion geholt hatte, um Morwenna hinter ihren selbsterrichteten Mauern hervorzuziehen. Doch auch, wenn sie ihm zuliebe an seiner Seite durch den Park wanderte, so war ihr Interesse allenfalls geheuchelt. Er konnte förmlich beobachten, wie sie sich immer weiter zurückzog, während sie innerlich daran zerriss, sich ihm gegenüber keinen Schmerz anmerken zu lassen.

Jornowell wusste nicht mehr, was er tun sollte, und Anarions Abreise stimmte ihn nicht eben zuversichtlich. Ohne den Rückhalt seines Neffen würde es hart werden. Es wäre jedoch nicht gerecht, ihn zu bitten, hier zu bleiben, auch wenn sich der Weltenwanderer sehr wohl dessen bewusst war, dass Anarions Zukunft in Langollion durchaus von Erfolg geprägt sein könnte. Tiranu hatte ihm am Vortag das verlockende wie abschreckende Angebot unterbreitet, den Posten des Hofmeisters im Rosenturm zu bekleiden. Jornowell war bei dieser überraschenden Eröffnung bei den beiden gestanden, erstaunt, verwundert, ein wenig stolz und kaum gekränkt. Über Tiranus Unverfrorenheit, dieses Angebot nicht nur über seinen Kopf hinweg, sondern auch in aller Öffentlichkeit zu unterbreiten, hatte er sich nicht sehr gewundert. Denn auch, wenn Tiranu sich nunmehr dazu herabließ, tatsächlich mit ihm zusammenzuarbeiten, so war die Stimmung zwischen ihnen noch immer so eisig wie eine klare Sternennacht im Carandamon. Vielmehr war es überraschend, dass Anarion in seiner Jugend überhaupt als Hofmeister für Tiranu infrage kam. Selbst wenn sein Neffe sich in den letzten Wochen mehr als ein Mal vor dem Adel und Höflingen Langollions bewiesen hatte, so fehlte ihm die Erfahrung, sich wahrhaftig gegen die Ränkeschmiede bei Hofe durchzusetzen. Womöglich sah Tiranu in ihm ein formbares Werkzeug, welches er nach seinen Vorstellungen zu seinen Zwecken anzuwenden vermochte. In diesem Falle war es aber wahrlich besser, wenn Anarion sich rechtzeitig zurückzog.

„Ich werde ihr deine Grüße übermitteln, Onkel“, lächelte Anarion. „Vielleicht lässt sie sich milde stimmen, wenn sie erfährt, dass sie bald einen neuen Reisebericht ihres berühmten Bruders in den Hallen von Valaria ankündigen kann …“

Jornowell schnaubte ein berührtes Lachen und fragte sich unwillkürlich, ob es weise gewesen war, Anarion so früh in seine Pläne einzuweihen. Den Entschluss, eine weitere Reise in die Albenmark anzutreten, hatte er noch nicht lange gefasst. Er war durch Anarion selbst und der beinahe sentimentalen Aufbruchsstimmung erwacht, die eine lange stillgelegte Saite in ihm zum Schwingen gebracht hatte.

Denn er sehnte sich selbst nach einem Abschied, wenn auch nur nach einem kurzfristigen. Es zog ihn seit geraumer Zeit wieder hinaus, hinaus in die veränderte Welt der Albenmark. Alles hier schien ihm langsam aber sicher über den Kopf hinauszuwachsen und er sah kein konkretes Ziel, keinen Weg mehr vor Augen. Er brauchte Zeit, Zeit für sich, die er in der Fremde auskosten konnte.

Er wusste, wie Morwenna diesen Wunsch aufnehmen würde. Ausgerechnet jetzt. Doch es war keine Flucht, die er plante, und sie brauchte keinesfalls zu fürchten, er könnte nicht wieder zurückkehren. Wenn er sie nur davon überzeugen könnte, dass er eine Reise ins Ungewisse brauchte, um seine Seele wieder zu ihrer alten Stärke zurückzuführen. Morwenna würde auch davon profitieren können, wenn sie sich dieser Idee zu öffnen vermochte. Immer weiter zog sie sich aus der Gesellschaft zurück, gab niemandem mehr Einblick in ihr Seelenwesen. Selbst Tiranu und Jornowell hatten es schwer, an sie heran zu kommen. Seine Geliebte musste ihren Weg ins Leben zurückfinden, sonst würde sie weiterhin nur den scheinbar leichten Pfad gehen und ihre Existenz für andere fristen. Sie musste endlich die Kraft aufbringen, sich ihrer Situation zu stellen. Er durfte nicht zulassen, dass er auf immer ihr Schutzschild blieb, sonst verlor sie sich am Ende noch selbst. Der Abstand würde sie zwingen, sich endlich mit ihren inneren Dämonen auseinanderzusetzen. Doch er befürchte, dass seine sture Fürstin all dies gar nicht hören wollte, sondern halsstarrig sein Bleiben fordern würde.

Jornowell entließ seinen Neffen mit gemischten Gefühlen. Er würde ihn vermissen und wusste, dass die Verwaltungsarbeit nun wieder vollends auf seinen eigenen Schultern lasten würde, dennoch war er froh, dass Anarion wieder unter die Fittiche seiner Lehrherren in Arkadien und die von Jelisse geriet. Ihr Abschied war nicht für lange, das war er noch nie gewesen.

* * *


Am frühen Abend trieb es ihn dann das erste Mal aus dem Arbeitszimmer, in dem es schon lange still geworden war. Der Fürst befand sich seit dem Nachmittag außerhalb des Rosenturms, um mit seinen Schnittern in den Baracken zu trainieren. In den letzten Tagen kam dies immer häufiger vor und Jornowell musste feststellen, dass sowohl die Ruhe, wie auch das stetig ausgeglichenere Gemüt des Fürsten eine Wohltat für den gesamten Beraterstab, die Schreiber und nicht zuletzt für ihn selbst waren.

Als der Hofmeister über die verwaisten Gänge des Rosenturms schritt, wirkte die Ruhe jedoch beinahe entrückend. Der Weg hinauf in Morwennas Gemächer führte ihn über die freiliegenden Treppensteigen, in denen das abendliche Licht tanzte. Seine Gedanken hingen träge bei den letzten Begegnungen mit seiner Geliebten. Wie sollte er jemals die Mauern, welche sie einmal mehr und stärker denn je um sich herum errichtet hatte, überwinden? Seine geplante Reise war ein neuer, waghalsiger Versuch, sie ans Leben zurückzugewinnen. Doch was, wenn dies fehlschlug? Sein Herz sank mit jeder Stufe, die er nahm. Doch als vor seinen Füßen ein langer Schatten erschien, der ihn erst irritiert die Stirn kraus ziehen und dann überrascht aufblicken ließ, pochte es ihm unvermittelt bis zum Hals.

Vor ihm stand eine zierliche Gestalt, die Hände unsicher ineinander verschränkt, ein scheues Lächeln auf den Lippen. Helle, grüne Stoffe umscheichelten schmale Schultern und eine knabenhafte Statur … Jornowell räusperte sich und blickte in große, rehbraune Augen, die voll von Schuld und Anspannung waren.

„Was willst du hier?“, bekam er kratzend heraus, ehe er überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte.

Yulivee biss die Lippen zusammen und wirkte ganz plötzlich so, als wollte sie nichts Anderes als vor ihm fliehen. Sie blieb. „Ich … bitte! Wir müssen reden, ich …“

Jornowell verschränkte die Arme und wusste nicht, wie er reagieren sollte. Es versetzte ihm einen Stich, Yulivees sonst so tiefe, sichere Stimme zittern zu hören. Früher hätte er sie ohne Umschweife in eine feste, brüderliche Umarmung geschlossen, ihr ohne Rücksicht auf die marternden Gedanken und Zweifel versichert, dass alles zum Besten zwischen ihnen stand. Doch in ihm war eine Kälte, die er dort so nie erwartet hätte. Yulivees Anblick war nicht angenehm und mit einem Male bemerkte er, dass der Zorn noch immer tief in ihm glomm.

„Nein.“

Er schob sich an ihr vorbei, weiter die Treppe hinauf, und zwang sich, nicht in ihr Gesicht zu blicken. Dieses zeigte Pein von der harschen Zurückweisung und Jornowell konnte nicht umhin, sich elend zu fühlen. Er wusste, dass Yulivee ihn in Larion hintergangen hatte, um ihn vor vermeintlichen Gräueltaten zu schützen. Sie hatte Morwenna verunglimpft, um ihn zu schützen. Letztlich hatte sie aber auch Morwennas Leid und Schmerz auf sich genommen, um ihn zu schützen. Doch wog dies all die Lügen und die Missgunst auf?

„Jornowell …“, ertönte es gebrochen in seinem Rücken und in ihm schien der Widerstand zu bröckeln. Er wandte den Kopf in ihre Richtung und schluckte.

Nur kurze Zeit später befanden sie sich in der kleinen Räumlichkeit, welche Jornowell offiziell im Rosenturm bewohnte. Auch wenn er sich hier nur sehr selten aufhielt, so beherrschte ein unüberblickbares Chaos das Gemach. Die Diener hatten längst aufgegeben, hinter ihm aufzuräumen…

Überrascht stellte er fest, dass die zeremonielle Kleidung, welche vom Hofschneider eigens für Jornowell angefertigt worden war, herbeigeschafft wurde. Die edlen Seidenstoffe wirkten erhaben neben der Pergamentflut, die sich über das Bett und den Boden erstreckte. Die Stoffe bedeckten Aufzeichnungen – seine Aufzeichnungen – über Langollions Gebirge, Seen und verwunschene Täler, Briefe, die er von Vertrauten aus der ganzen Albenmark erhalten hatte, nie wahrgenommene Einladungen auf Bankette und Feste und Bildnisse, die er angefertigt hatte, wenn die ruhelosen Nächte zu umtriebig wurden. Es wirkte, als würde die Seide das überstrahlen, das verbergen, was er auf den vielen losen, abgegriffenen Seiten festgehalten hatte. Er beachtete das Bild für einige Augenblickte mit einem völlig fremden Gefühl, das in seinem Magen kroch und ihn erkennen ließ, dass diese Garderobe einst ebenso von seinem Vater hätte getragen werden können. Die Garderobe eines Hofmeisters der großen Fürstenhöfe Albenmarks. Wie hatte er je an diesen Punkt gelangen können?

Yulivees Räuspern holte ihn zurück aus den befremdlichen Gedankenspielen, die sein Herz schwer werden ließen. „Stimmt etwas nicht? Jornowell?“

Er nickte tonlos und rückte ihr einen der beiden Stühle zurecht, die bei einem Beistelltisch standen. Die Elfe ließ sich mit besorgtem Blick darauf nieder und bedachte ihn dabei, wie er zwei Pokale zusammen mit einer bauchigen Flasche heranschaffte. Als die kieselfarbene Flüssigkeit gluckernd in Yulivees Gefäß floss, breitete sich ein latent stechender Geruch aus. Yulivee hob mit einem leisen „Danke“ zwei Finger, um ihm zu bedeuten, dass sie kaum an noch mehr Schnaps interessiert war. Jornowell füllte ihren Pokal aber bis unter den Rand, was die Magierin nur mit einem knappen bis konsternierten „in Ordnung“ auffasste. Anschließend füllte er auch seinen Kelch und ließ sich verkrampft auf den zweiten Stuhl sinken. Sein Blick ging zu den gläsernen Flügeltüren, die hinaus zum kleinen Balkon führten. Der Abendhimmel zeigte sich zuletzt grau und ließ die Sterne verborgen.

Der Weltenwanderer nahm einen großen Schluck aus seinem Pokal und verzog das Gesicht, als die brennende Flüssigkeit seine Kehle hinunterfloss. Er schloss die Augen und umklammerte das Gefäß mit zitternden Fingern und bebenden Lippen. Nur langsam schlich sich die Ruhe des Alkohols in seine Muskeln. So nahm er noch einen gierigen Schluck und vernahm dabei, wie Yulivee es ihm leise und zaghafter nachtat. Er fühlte ihren Blick auf sich ruhen und seufzte: „Morwenna erzählte mir, was du für sie getan hast. Ich danke dir …“

Seine Bemühungen, sachlich zu klingen, gingen in einem Röcheln unter, das sich aus seiner Kehle schlich wie Gift.

„Du siehst fürchterlich aus“, kam die gestauchte Entgegnung. „So habe ich dich noch nie erlebt. Das ist erbarmungswürdig …“

Sein Blick schnellte nach oben. Yulivee stand plötzlich vor ihm und streckte eine Hand nach ihm aus. Ihre Berührung war zögerlich, wie sie ihm über die Schulter strich, langsam auf Bestätigung oder Ablehnung wartete. Auch sie wirkte müde, die sorgenvollen Schatten in ihren Augen bestärkten diesen Eindruck, doch ihr mitfühlendes Lächeln sollte dies wohl überstrahlen. Vergeblich.

Jornowell fuhr sich durch das Haar, rieb sich rastlos über Stirn und Augen und ließ ihre Berührungen zu. „Ich weiß nicht … ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.“

Kaum waren diese Worte über seinen Lippen, nagte sich die Gewissheit dieser Erkenntnis in seine Brust. Tränen stachen in seine Augen. Er sollte sich so nicht zeigen, vor allem nicht vor Yulivee. Er wollte stark sein, wissen, was zu tun war. Doch gerade nun, als Anarion fort war und Yulivee so unverhofft bei ihm war, schienen alle Bemühungen umsonst. Seine Sorgen und Ängste brachen einen Damm in ihm, der nicht einmal von Yulivees Armen gehalten werden konnten, die sich fest um seine Gestalt schlossen. Er zögerte, länger als es angebracht war, ehe er auch seine Arme um ihre Taille schlang und seine Stirn fest an ihre Seite drückte. Er hörte ihr raues Lachen und fühlte sich unwillkürlich befreiter, sicherer. Er schämte sich nicht, in ihrer Gegenwart zu weinen. Er schämte sich nicht, ihr einzugestehen, dass alles, was sein Leben erfüllte, über seinen Kopf hinausgewachsen und mit bloßen Händen nicht mehr zu greifen war. Sie verstand. Ganz ohne Worte.

„Ich bin hier“, murmelte sie immer und immer wieder, während sie ihre Finger in seinen Rücken krümmte. „Ich pass‘ auf dich auf.“

Er glaubte ihr diesen liebevollen Unsinn nur halb. Konnte er ihr überhaupt trauen, fragte er sich, und schalt sich zugleich für diesen Gedanken. Er kannte diese Elfe seit sie als kleines Kind nach Elfenlicht gekommen war. Er hatte erlebt, wie sie aufgewachsen war, hatte sie begleitet. Er kannte sie. Er wusste, wer sie war; wusste es zu gut, um sie wahrhaftig hassen zu können.

Ein Räuspern kam trocken über seine Lippen, als er etwas Platz zwischen sie schaffte. „Du kannst doch nicht einmal auf dich selbst aufpassen, kleine Julifee!“, schmunzelte er, nicht ohne einen Hauch der Bitterkeit. Er schüttelte das blonde Haupt. „In was bist du da nur hineingeraten?“

Ihr Blick ging zu Boden und er konnte ihre Scham regelrecht spüren. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass … dass ich solche Angst um dich hatte und dich schützen wollte. Dann habe ich alles nur hundertfach schlimmer gemacht! Wirst du … kannst du mir jemals verzeihen?“

Jornowell hob die Brauen: „Schützen?“

Langsam sickerte das Verständnis in seinen Geist, als er sie dabei beobachte, wie sie die Hände rieb, hörbar schluckte und den Blick nicht mehr hob. Zischend sog er die Luft in seine Lungen: „Wirklich? Du fängst schon wieder mit diesem unseligen Thema an?“

Ungehalten sprang er auf und hob die Hände. „Ich weiß nicht, wie oft ich es dir noch predigen muss, damit du es endlich begreifst, aber bitte: Ich liebe Morwenna! Ich liebe sie! Und keine meiner Handlungen, die die Politik von Langollion betreffen, haben unter Zwang oder Beeinflussung stattgefunden.“

Yulivee wollte aufbegehren, doch er wischte ihren Einwand mit einer harschen Geste fort. „Ich kann nicht fassen, dass du ihr unterstellst, eine Gefahr für mich zu sein! Ich kann nicht fassen, dass du so kleingeistig bist! Ausgerechnet du! Du kennst sie ja nicht einmal!“

Mittlerweile waren Yulivees Knöchel ganz weiß geworden, so fest presste sie ihre Finger zusammen. „Ich … ich wollte nicht …“

Um auch seinen Fingern eine Beschäftigung zukommen zu lassen, die nicht beinhaltete, sein Gegenüber aufgebracht zu schütteln, fuhr er durch seine Haare. „Was wolltest du nicht!? Sie durch deine Unbedachtheit gefährden? Nun, das hast du aber! Deinetwegen ist sie verstümmelt!“

Dieser Hieb hatte gesessen. Nun war es Yulivee, die bebte. Tränen zogen feuchte Furchen auf ihrem Gesicht. „Es tut mir so leid … ich … ich … ich wünschte, ich könnte all dies rückgängig machen. Ich hätte dir vertrauen sollen. Aber … es gab so viele Anzeichen, so viele Gründe zu zweifeln. Ich hatte Angst um dich. Ich weiß nun, dass ich mich täuschte.“

„Diese Erkenntnis kommt zu spät, Yulivee“, stellte er fest. „Viel zu spät.“

Ein Teil von ihm wusste, wie ungerecht diese Anschuldigungen waren. Aber Ungerechtigkeit war es auch, die Morwenna zuteil geworden war. Und dies nicht erst seit den Ereignissen in Vascar. Yulivee war nicht unschuldig und er könnte ihr nie in wahrhaftiger Vergebung unter die Augen treten, wenn er sie mit dieser Wahrheit nicht konfrontierte. Schließlich musste er sich ebenso mit ihr auseinandersetzen, jeden Tag, jede Stunde, ob er wollte oder nicht. Es war nur eine Verkettung unglücklicher Umstände – doch Yulivee war deren Auslöser gewesen. Und vor ihr Emerelle.

„Hast du wenigstens gefunden, wonach du in Langollion gesucht hast? Konntest du Emerelle zufrieden stellen? Wird Langollion bald von neuen Fürsten regiert?“

„Ich habe Emerelle nichts geliefert“, entgegnete Yulivee und erwiderte seinen Blick. „Und ich habe ihr klar gemacht, dass ich dies auch niemals tun werde.“

Jornowell horchte auf: „Du hast dich gegen Emerelle gestellt?“

Ein Nicken. „Auf deine Seite. Und die befindet sich nun einmal hier. Nun, hier bin ich. Und ich verspreche dir, dass du mich so schnell nicht wieder los wirst. Du kannst mich anschreien, wann es dir beliebt, mich meiden und mir grollen, wenn es dir gefällt, mich mit Strafarbeiten überhäufen – ich erledige jede Aufgabe, solange sie dich nur entlastet. Du kannst mir einige deiner Pflichten übertragen, um so mehr Zeit mit Morwenna verbringen zu können. Ich habe gehört, dass der Rosengarten in neuem Glanz erstrahlen soll, um ihr Ablenkung und Zerstreuung zu schenken. Und die Übungen, welche sie für die Beweglichkeit ihrer Hände tätigt, sind gewiss sehr zeitaufwendig … mit dir an ihrer Seite gewinnt sie vielleicht schneller an Kraft und …“

Jornowell geriet mit jedem Wort mehr aus dem Konzept. „Woher weißt du das alles?“ Dann bekam er unweigerlich große Augen. „Bei den Alben, wie lange weilst du schon im Rosenturm?!“

Die Elfe zuckte die Achseln: „Ein paar Tage …“

„Anarion!“, stieß Jornowell aus. „Hat er dich in all dies eingeweiht? Hat er dich womöglich sogar bekräftigt?“ Er stemmte mit großen Augen die Hände in die Hüften. „Vermutlich hat er dir auch noch über meinen Kopf hinweg Gemächer zugeteilt…“

„Ja und offen gestanden sind sie weitaus größer als diese Besenkammer hier …“, entgegnete Yulivee nonchalant und rieb sich die Tränen aus den Augen. Ein freches Grinsen erschien auf ihren Zügen. „Mit Blick auf das Meer …“

Jornowell schnaubte: „Du magst das Meer nicht.“

Ihr Lächeln wuchs und zeigte eine vertraute Wärme, die unwillkürlich auf ihn überging. Er merkte, wie die zähe Anspannung von ihm abfiel. Er löste die Hände von seinen Seiten und führte sie unsicher ein Stück nach oben, ehe er sie ratlos wieder sinken ließ. Keinen Herzschlag später fühlte er erneut ihre warme, feste Umarmung und schloss die Augen.

Yulivee stellte sich auf ihre Zehen, um auf einer Höhe mit ihm zu sein, und drückte ihr Gesicht in sein Haar: „Vergib mir! Du … du bist wie ein Bruder für mich … Große Brüder verzeihen ihren kleinen Schwestern. Ganz gleich, welche Dummheit sie begehen! Ich brauche dich!“

Er erwiderte ihre Umarmung, drückte ihren sehnigen Körper an sich und glaubte für einen Moment, vergessen zu haben, weshalb er ihr überhaupt grämte. Doch die Erinnerung biss sich in seine Seele und ließ nicht los. Alles, was er ihr versprechen konnte, war: „Ich werde es versuchen.“

Als sie schniefend von ihm abließ und sich erneut mit spitzen Fingern über das gerötete Gesicht fuhr, murmelte sie. „Danke. Das ist weitaus mehr, als ich verdient habe. Du ahnst ja nicht, wie viel mir das bedeutet. Ich werde gerade stehen. Für alles.“ Ihr hoffnungsvolles Lächeln wurde für einen Moment getrübt, als sie die Lippen zusammen biss und schluckte. „Ich hatte solche Angst, dass du nie wieder ein Wort mit mir wechseln würdest. Seit Tagen lungere ich hier herum und wagte nicht, auf dich zuzugehen! Ich hätte dir schreiben sollen, noch viel früher, aber …“

„Deine Briefe waren wohl allesamt Tiranu vorbehalten …“, vollendete Jornowell ihren Redeschwall und erntete einen schockierten Blick. Den wusste er nun seinerseits mit einem Achselzucken zu erwidern: „Ich bin sein Hofmeister. Nichts wandert über seinen Arbeitstisch, ohne von mir gesehen zu werden.“

Ihr ohnehin verdunkeltes Gesicht wurde noch eine Spur röter, während ihr Mund auf und wieder zuklappte. Sie schluckte und schluckte wieder, ehe sie sehr tief nach Luft schnappte.

Jornowell kräuselte amüsiert die Lippen, schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf, ehe er sich herüberbeugte, um ihre Pokale zu greifen. „Ich nehme an, du bist in den letzten Tagen nicht nur herumgelungert … zumindest nicht nur vor meiner Tür.“

Yulivee nahm ihren Pokal und setzte ihn überhastet an die Lippen, um einen großen Schluck zu nehmen. Viel zu überstürzt, sodass im nächsten Moment ein lautes Husten und Röcheln erklang. Es erfüllte Jornowell mit heißer Freude, über die er sich nur wundern konnte. Ausgerechnet Tiranu. Ausgerechnet der dunkle Fürst Langollions.

„Ich fürchte“, krächzte seine Freundin, „an diesem Hof kann man sich trotz der architektonischen Begebenheiten ganz wunderbar aus dem Weg gehen. Tiranu meidet mich wie ein Frosch die Wüste.“

„Also tatsächlich exis-…“, begann Jornowell mit erhobenem Finger.

„Nun komme mir nicht mit einer seltenen Froschart, die du in der Wüste ausfindig machen konntest!“, echauffierte Yulivee sich und hob dabei leidend die Faust vor ihren Mund, als ein erneuter Hustenkrampf ihr den Atem raubte. „Jornowell, was genau trinken wir da überhaupt?!“

Jornowell schaute in seinen Becher und hob eine Braue: „Vergorene Kreuzechsenpisse. Sehr selten. Die Flasche habe ich aus Katara mitgebracht …“

War ihr Gesicht eben noch rot wie reife Beeren, so wich nun alle Farbe daraus, als sie sich mit entsetztem Blick an den Hals griff, den Becher wegstellte und ihn übertrieben vorwurfsvoll anblickte: „Wie bitte!? Willst du … willst du mich vergiften!?“

„Das ist eine Delikatesse!“, lachte er und stellte seinen Becher ebenfalls zur Seite. „Soll eine beruhigende Wirkung haben …“

Yulivee wirkte nicht beruhigt. Sie wirkte eher so, als würde sie ihm gleich ins Gesicht springen wollen. Stattdessen stützte sie sich an dem Tisch ab und schnalzte mit der Zunge, als der Husten endlich nachließ: „Ich weiß nicht, was dir vor den Kopf getreten hat, aber es muss verdammt groß gewesen sein!“

„Wann hat das angefangen?“, räusperte sich der Hofmeister. „Mit ihm.“

Yulivee ließ sich Zeit, auf seine Frage zu reagieren. Ihr Blick tastete den Raum ab, als fände sie zwischen unsortierten Bücherregalen und wirren Bettlaken eine passende Antwort. „Ich weiß es nicht. Er … er nahm mir die Sicherheit, überführte meinen Stolz, entblößte meine Ängste und urteilte nie über das, was darunter zum Vorschein kam. Er verurteilte viel mehr meine Ambition, es zu verbergen. Ausgerechnet er … er ist so verdammt verschlossen, überheblich und …“ Ein Grollen entrang sich ihr, das zwischen Frustration und Belustigung lag. Dann lächelte sie halb und schaute ihm direkt in die Augen als suchte sie seine Akzeptanz, sein Verständnis. „Ich konnte ihm im Gegenzug einige Facetten entlocken, die nun ... ich will nicht behaupten, er hätte sich mir geöffnet, nicht freiwillig, aber … ich sah auf seinen Grund und es … faszinierte mich. Auf eine beängstigende Weise, zunächst. Nun aber beginne ich zu begreifen, dass er mir gar nicht so fremd ist. Um genau zu sein, sind wir uns nicht unähnlich – und glaube mir, ich weiß, wie lächerlich dieser Vergleich wirkt. All die Opfer, die wir brachten, die Einsamkeit, die … ich weiß, wir gehen auf völlig verschiedene Weisen damit um. Wir haben verschiedene Ansichten, völlig verschiedene Ansichten, aber … ich kann ihn verstehen. Besser als ich sollte. Und ich frage mich, was aus ihm geworden wäre, wenn … wenn er eine wirkliche Chance bekommen hätte. Wenn Alathaias Schatten nicht auf ihm gelegen hätte und … sieh‘ mich nicht so an! Ich weiß, was du denkst! Ich mache mir keine Illusionen darüber, dass er sich plötzlich ändert und zum nächsten weißen Ritter der Albenmark wird. Ich weiß, dass ich ihn kaum ändern kann, aber … ich kann ihn besser kennen lernen und vielleicht vermag ich es, ihm eine neue Chance zu geben. Zumindest hier.“ Bei diesen Worten legte sie die Hand auf ihr Brustbein und lächelte schwach. „Zuletzt habe ich gehofft, ihn endlich für mich gewonnen zu haben, aber nun ist er erneut stachelbewehrt wie eine dieser verdammten Rosen, die hier überall wuchern… Wenn er glaubt, mich so loswerden zu können, kann er sich ruhig daran versuchen. So leicht gebe ich nicht auf! Verdammter Feigling.“

„Du bist ein hoffnungsloser Fall …“, stellte er lakonisch fest und fragte sich, wie sie es immerzu bewerkstelligte, das Beste in den Seelen anderer zu sehen. Schlimmer noch schien sie sich gedanklich so sehr auf ebendiese Eigenschaften zu versteifen, dass sie alle anderen Aspekte einer Persönlichkeit völlig vergaß. Dies geschah nicht zum ersten Mal und wenn Jornowell daran dachte, wie weit sie dieses Spiel mit Graf Fenryl getrieben hatte, dann wurde ihm völlig anders. Damals hatte er sie noch unterstützt, doch nun … Tiranu war nicht Fenryl. Und Jornowell ahnte, dass dies kein gutes Ende nehmen würde.  

„Du hältst mich für töricht!?“, stellte sie atemlos fest und verzog das Gesicht. Sie ließ sich seufzend zurück auf ihren Stuhl sinken und fuhr sich nun ihrerseits durch das lange Haar, bis sich ihre Finger darin verfingen und ihr Ellenbogen auf der Tischplatte ruhte. „Du hältst mich für eine Närrin!“

„Ich halte dich für eine Träumerin“, berichtigte Jornowell und setzte sich ihr gegenüber, um seinen Becher wieder aufzunehmen, ehe mit einem gepressten Murmeln erwidert wurde: „Mir das ausgerechnet von dir anhören zu müssen...“

Mit einem schnippischen Lächeln hob er seinen Kelch zum Vivat: „Auf uns Träumer!“

Seine Häme reflektierte sich in ihrem Blick, als sie mit funkelnden Augen aufblickte und mit spitzen Fingern ihren Pokal umschloss, um seine Geste zu spiegeln: „Auf katarische Kreuzechsen!“

Kaum polterten ihre Kelche zurück auf die Tischplatte, ließ Jornowell nicht ohne eine gewisse Ernsthaftigkeit verlauten: „Was ist mit dem Bibliothekar aus Valemas, von dem du mir vor wenigen Monaten noch so aufgeregt berichtet hast?“

Sie schüttelte den Kopf, um ihm zu verstehen zu geben, dass dies nun nicht eben das richtige Thema war. Zumindest noch nicht. Jornowell wollte irgendwann auch diese Wahrheit erfahren, entschied sich aber dagegen, nun noch weiter nachzuhaken. „Tut mir leid.“

„Schon gut. Ich habe das Mitleid kaum verdient …“

Als er den traurigen Ausdruck auf ihrem Gesicht betrachtete, entrang sich ihm ein beinahe niedergeschlagenes Seufzen. Er wusste, dass Tiranu und Morwenna es einem denkbar schwer machen konnten, und in ihrer momentanen Lage setzte das nicht nur ihren Gefühlen und ihrem Stolz zu. Auch sie sah ausgezehrt aus, ihre Züge waren verkniffen, ihre Augen schattenumrandet. Tiranu zerrieb ihre Substanz, wie Morwenna es einst mit ihm getan hatte…

Er wusste, wohin dies führen könnte, wenn Yulivee nicht vorsichtig war. „Versprich mir, dass du auf dich achtgibst.“

Auf ihre Lippen legte sich ein zögerliches Lächeln, als sie über den Tisch nach seiner Hand griff und diese drückte. „Wir mögen uns zwar in Langollion befinden, am Hofe der sündhaftesten Fürstenfamilie der ganzen Albenmark, und ganz offensichtlich haben wir beide unseren Verstand an diese eingebüßt – aber wir haben einander, mein Bruder. Ich weiß, dass du auf mich achtgibst ebenso wie ich auf dich achtgebe. Wir sind unsere Rückendeckung. Daran wird sich nie etwas ändern. Ich bin immer für dich da.“

Er schloss seine Finger um ihre Hand, was sie unwillkürlich breiter lächeln ließ, und konnte keine anderen Worte finden, als: „Vergib mir, dass ich je daran zweifelte ... Schwester.“

Nach diesen Worten kehrte Schweigen zwischen ihnen ein und dieses Mal war es einvernehmlich, vertraut und ohne jeden Groll. Jornowell dachte daran, wie unvergesslich die Zeit mit ihr in Elfenlicht gewesen war. Wann immer er von einer seiner unzähligen Reisen in den Herrschaftssitz der Königin zurück gekehrt war – wohlwissend, dass sein Vater dort nicht mehr auf ihn wartete – so war Yulivee stets die Erste gewesen, die ihn mit löchernden Fragen und überschwänglichen Gesten willkommen hieß. Zu gerne lauschte sie seinen Geschichten, zeigte übermäßig ihre Begeisterung an seinem Wagemut. Dies ging so weit, dass er, als sie älter wurde, befürchtet hatte, sie könnte ein amouröses Interesse an ihm hegen. Nicht, dass er es ihr verübeln könnte … doch ihre Zugewandtheit war allein deshalb so übermäßig, weil sie sich in seiner Abwesenheit einsam fühlte bei Hofe. Sie besaß eine Seele, die derer der anderen Albenkinder an Emerelles Hof kaum ähnelte. Bis auf Emerelle und Obilee hatte Yulivee keinen Vertrauten auf Elfenlicht und selbst den beiden erfahrenen Elfendamen fiel es schwer, das Wesen der Magierin wahrlich zu begreifen. Jornowell dagegen glaubte, in ihr eine Seelenverwandte gefunden zu haben. Und wenn er ehrlich war, so freute er sich, sie von nun an wohl häufiger um sich zu haben. Nicht in Elfenlicht, sondern hier, im Rosenturm, in Langollion. Es war ein eigenwilliges Gleichnis, doch der Weltenwanderer ahnte, dass sie auf Kurz oder Lang einen Platz in dieser Gesellschaft gewinnen könnte, der ihr gerecht wurde. Tiranu würde auf sie achten, wenn die Ränkeschmiede sie zu umgarnen drohten – wobei die Elfe, was dies anbelangte, auch sehr gut auf sich selbst aufpassen konnte. Yulivee könnte ihrerseits einen Beitrag leisten, um Tiranus Geist zu stärken. Die Politführung eines aufstrebenden Reichs war ihr nicht fremd und Jornowell war sich sicher, dass auch er noch einiges von der Erzmagierin lernen konnte. Wenn man von den Risiken und Bedrohungen absah, könnte Yulivee es tatsächlich gelingen, in Langollion ein weiteres Heim zu erbauen. An Risiken und Bedrohungen wollte er in diesen Moment nicht denken, nicht wenn er mit Yulivee endlich wieder an einem Tisch saß und von alten Abenteuern erzählen konnte.

„Kann ich davon ausgehen, dass du noch hier bist, wenn ich von meiner Reise zurückkomme?“, fragte er deshalb grinsend und erhaschte einen erstaunten Blick.

„Du brichst zu einer Reise auf?“, stellte sie die Gegenfrage und bekam große Augen.

„Über jenes Gedankenspiel hat Anarion dich also nicht informiert?“, versuchte er sich an einem Spaß, doch Yulivee schien irritiert: „Was hält Morwenna davon?“

„Sie ist der Grund, aus dem ich gehe“, entgegnete er und entließ die Hand der Magierin. „Verstehe mich nicht falsch … ich gehe, damit sie die Chance hat, alles mit sich selbst zu verarbeiten. Sie … seit Tagen verbirgt sie ihren Schmerz, lächelt gezwungen, wenn ich sie ansehe und macht mir vor, es gehe ihr gut. Dabei sehe ich, wie sie leidet. Sie verbirgt sich, belügt sich selbst … das kann so nicht weitergehen. Sie muss lernen, dass ich nicht der alleinige Grund für ihr Weiterleben bin. Stattdessen sollte sie sich endlich selbst mit der Situation auseinandersetzten, denn ich habe das Gefühl, dass ich den Verstand verliere, wenn ich sie noch ein einziges Mal vergebens dazu bringen muss. Ich versuche, mit ihr zu sprechen. Über ihr Schicksal, ihr weiteres Leben, die Auswirkungen … ich versuche, sie davon zu überzeugen, dass nicht alles verloren ist, dass sie keine Schande an ihrem Leib trägt. Sie hat ihre Schüler, ihr Wissen, ihre Pflichten. Doch sie will dies nicht sehen.“

„Und du glaubst, du könntest sie mit deiner Abwesenheit dazu bewegen?“, schlussfolgerte Yulivee und seufzte. „Wenn dieser Plan mal aufgeht … wie lange wirst du fort sein? Wochen, Monate?“

Er zuckte die Achseln. „So lange, bis ich es nicht mehr aushalte, von ihr getrennt zu sein.“

Wieder schlich sich ein leichtes Grinsen auf ihre Lippen. „Weißt du“, sagte sie, „früher hättest du an solche Worte nicht einmal gedacht.“

Jornowell ließ sich in die Lehne seines Stuhls fallen und verschränkte schnaubend die Arme. „Schrecklich, nicht wahr? Meine Leserschaft darf sich wohl bald auf einen Band von sehnsuchtszerfressener Lyrik gefasst machen, wo sie eigentlich auf einen weiteren Reisebericht wartet …“

Yulivees Becher wanderte in die Höhe: „In mir hättest du zumindest eine Abnehmerin.“

„Das wüsste ich zu sehr schätzen!“, spottete Jornowell und fuhr sich über das Gesicht. „Hofmeister, Politiker, Barde … wenn mein Vater mich so sehen könnte. Ich fürchte, er würde wahrhaftig platzen vor Stolz.“

Ihr Lachen erfüllte den Raum. „Er würde dir nicht glauben, kein einziges Wort! Er würde denken, du würdest ihn verspotten!“ Sie nahm einen Schluck aus dem Becher und fuhr sich über das verzogene Gesicht: „Ich glaube, ich mag diese Seiten an dir. Auch wenn dein Erscheinungsbild darunter gelitten hat, so scheint es dich auf beinahe unheimliche Weise zu komplettieren …“ In einer verschwörerischen Geste lehnte sie sich zu ihm herüber und tippte sich mit ihrem Finger an die Nase: „Du bist etwas blass im Gesicht geworden.“

Ihrem unterschwelligen Lallen nach zu urteilen, stieg ihr die vergorene Echsenpisse direkt in den Kopf. Jornowell räusperte sich und nahm ihr unter sachten Protesten den Becher aus der Hand: „Keine katarischen Delikatessen mehr für dich!“

„Den Alben sei Dank!“, grinste Yulivee und schenkte ihm ein freches Zwinkern. „Ich freue mich für dich. Ich glaube, es ist eine gute Entscheidung und hoffe, Morwenna kann die richtigen Schlüsse ziehen.“

„Das hoffe ich ebenso“, erwiderte Jornowell. „Vielleicht …“ Er schnaubte. „Nein, das ist albern…“

„Was?“

„Würdest du – für mich – auf sie achten?“, stieß er unsicher hervor. „Ich weiß, ihr steht euch nicht ohne Vorbehalte gegenüber … es wäre naiv zu glauben, dies würde sich durch den puren Wunsch ändern, aber … wenn du ein Auge auf sie haben könntest, vielleicht gelingt es dir sogar, sie in einem anderen Licht zu sehen.“

Kaum ein Zögern begleitete ihre Reaktion. Sie nickte und ließ die Luft aus ihren Lungen entweichen: „Ich kann es versuchen. Auch wenn ich bezweifle, dass sie es zulassen wird.“

„Danke.“

Als es klopfte, zuckten beide unwillkürlich zusammen. Es war kurz und hart und keinen Herzschlag später schwang die Tür auf. Jornowell erhob sich, als Tiranu das Zimmer betrat. Er wirkte ungehalten, um nicht zu sagen: Grimmig. Sein Haar war im Nacken zusammengefasst, die Unterarme waren durch lederne Rüstungsteile geschützt. Den gesamten Nachmittag hatte er, wie Jornowell wusste, in den Baracken der Schnitter verbracht. Er verschwendete keinen Blick an Yulivee, als er sich ihm gegenüber aufbaute: „Du willst gehen? Ausgerechnet jetzt?“ Er stieß ein kurzes, abgehacktes Schnauben aus und endlich schien er auch zu begreifen, dass sie nicht alleine im Raum waren. Auch Yulivee hatte sich erhoben und stellte sich an Jornowells Seite, während der Fürst mit abschätzigem Ausdruck die beiden Pokale auf dem Tisch musterte. „Anarion hat mir von deinen Plänen berichtet … ich hätte es wissen müssen. Ich hätte wissen müssen, dass du bei der erstbesten Chance den Schwanz einziehst!“

Jornowell hatte kaum einen Moment, um seine Gedanken zu sammeln, ehe Tiranu direkt vor ihn trat: „Du bist mein Hofmeister. Du kannst nicht einfach verschwinden und wieder auftauchen, wie es dir beliebt!“

Der Weltenwanderer hob die Hände: „Ich möchte nicht verschwinden! Und ich bin mir sehr wohl im Klaren darüber, dass der Zeitpunkt denkbar prekär ist. Doch die Lage hat sich soweit stabilisiert, dass deine Berater auch einen Monat lang ohne meine Assistenz zurecht kommen werden. Du weißt das!“

„Was ist mit Morwenna?!“, lautete die eisige Gegenfrage. „Willst du sie einfach so im Stich lassen?“

„Es ist ihre einzige Chance, zu sich selbst zurückzufinden.“ Jornowell blickte sich hilfesuchend nach Yulivee um, die ihm einen bestätigenden Blick zuwarf. „Ich weiß, wie es aussehen muss, aber … Ich tue dies für sie! Hast du sie in den letzten Tagen einmal erlebt? Sie ist am Boden und versucht krampfhaft, dies vor mir zu verbergen. Sie hat Angst, sich dem zu stellen, was in Vascar geschehen ist, und versteckt sich vor der Wahrheit. Ich kann nicht zulassen, dass sie mich als Schild benutzt, während sie in diesem Gift ertrinkt. Um Ihretwillen, ich muss gehen!“

Dies brachte Tiranu wohl in die Reserve. Er ließ die Schultern sinken, hielt den Blick aber prüfend auf Jornowells Gestalt, als wollte er die Wahrheit allein durch seine Augen erkennen. Es gab keine Hintertüren, keine versteckten Lügen. Schließlich wanderte das Augenmerk des Fürsten hinüber zu Yulivee, die es lange erwiderte. Die Spannung im Raum erhöhte sich noch einmal spürbar und ließ Jornowell die Luft anhalten. Er wusste, dass diese unausgesprochenen Pläne einem Affront gleichkamen, schließlich war er offiziell immer noch Tiranus Untergebener. Dass dieser durch einen Dritten von seinem Vorhaben erfuhr – und dafür würde Anarion etwas zu hören bekommen! –, sprach nicht unbedingt für ihn.

Umso überraschender war es, als Tiranu mit milderer Stimme das Wort ergriff: „Im Norden heißt es, die Krise sei überwunden. Durch Valarias Unterstützung konnte der Hunger in den Bergdörfern beinahe zur Gänze bekämpft werden. Die Erbauung der neuen Kornspeicher in den Ebenen verläuft planmäßig, ebenso die umstrukturierte Arbeit in den Schiffswerften. Die Zwerge haben eine weitere Handelsflotte bestellt, was den Holzhandel unter Amana in Larion geradezu florieren lässt. Außerdem planen sie die Erbauung von Erzmienen in den Gebirgen, was mit Erfolg endlich zu etwas Wohlstand führen könnte.“ Erneut schnaubte Tiranu, doch dieses Mal klang es mehr nach einem unterdrückten Lachen. „Das ist die annehmbarste Ausgangslage seit … Jahrhunderten. Ich schätze, ich kann für eine Zeit auf dich verzichten. Wann wirst du es ihr sagen?“

Da wurde Jornowell klar, dass Anarion nicht ohne Hintergedanken über seine Pläne gesprochen hatte. Offenbar hatte er schon Vorarbeit geleistet, um den Fürsten zum Einlenken zu bewegen, und sie bekamen hier die abgeschwächte Version von Tiranus Wut zu spüren. Außerdem hatte Anarion ihn durch diesen Schachzug quasi dazu gezwungen, seine Pläne wirklich in die Tat umzusetzen, wo er eben noch mit sich gehadert hatte. Mit Tiranus Einverständnis aber gab es keine falschen Ausreden mehr, denen er sich bedienen konnte, um an Ende doch nicht von Morwennas Seite zu weichen. Einmal mehr würde er seinem Neffen danken müssen.

„Noch heute, wenn du es wünscht“, entgegnete Jornowell ungewohnt kleinlaut. Er wunderte sich selbst darüber, wie die Situation sich plötzlich wendete. Tiranu schien ihn und seine Motive wahrlich zu verstehen. Etwas, das vor wenigen Wochen noch undenkbar erschienen wäre. Und instinktiv wusste er, dass Yulivee an diesem Wandel nicht ganz unschuldig war.

Die Elfe trat einen Schritt vor: „Ich kann meine Hilfe anbieten in der Zeit von Jornowells Abwesenheit. Ich …“

Yulivee kam nicht zum Ende, als Tiranu erneut das Wort an den Weltenwanderer richtete: „Ich finde dich, wenn du nicht zurück kommst. Das schwöre ich dir.“

Damit war er schon dabei, sich mit aufgeräumten Gesichtszügen umzuwenden, um ohne ein weiteres Wort aus dem Raum zu gehen. Yulivee wollte ihm hinterher, mit Unverständnis und Betroffenheit im Blick: „Tiranu!?“, rief sie mit bröckelnder Stimme und erhielt keine Reaktion. Offenbar hatte die Erzmagierin mit ihrer Einschätzung seiner Haltung ihr gegenüber voll ins Schwarze getroffen. Nicht eine Silbe hatte er an sie gerichtet.

Jornowell hielt seine Freundin am Handgelenk zurück. „Das bringt nichts. Nicht jetzt. Glaub mir, ich habe so meine Erfahrungen mit ihm gesammelt.“

Die Erzmagierin entließ ungläubig die Luft aus ihren Lungen: „Und was schlägst du vor?“

„Du solltest hartnäckig bleiben“, brachte er vor. „Dezent hartnäckig. Zeige ihm, dass – egal, was er anstellt – du hier sein wirst. Versichere ihm deine Motive. Irgendwann, mit viel Glück und Geduld, glaubt er dir vielleicht.“

Vielleicht?!“, schnaubte Yulivee. „Das ist nicht eben … vielversprechend.“

In einer brüderlichen Geste legte er die Hand auf ihre Schulter und schenkte ihr nun seinerseits ein freches Zwinkern: „Willkommen in Langollion!“
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