Schattenspiele
von Riniell
Kurzbeschreibung
Fortsetzung zu ‚Keine Rose ohne Dorn‘: Der ambitionierte Aufschwung Langollions bleibt nicht lange unbeachtet. Während die Elfenkönigin einen nahenden Verrat wittert, wird am anderen Ende Albenmarks die Sorge um einen engen Freund wach. Bald beginnt ein Spiel zwischen den Mächten von Vorurteilen und Wahrheiten, Vergangenheit und Zukunft, Begierde und Zwietracht, tiefen Ängsten und dunkler Magie, fälschlicher Rechtschaffenheit und dem Verrat aus Liebe.
GeschichteDrama, Fantasy / P16 / Gen
Emerelle
OC (Own Character)
Tiranu
Yulivee
20.12.2015
01.12.2016
50
187.715
3
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Dieses Kapitel
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07.10.2016
3.620
Wer von euch frei von Sünde ist, werfe den ersten Stein
Yulivee sog tief die stickige Luft in ihre Lungen und verharrte einen Moment lang im Zwielicht. Es war ungewöhnlich für sie, durch die geheimen Gänge der Kobolde durch Elfenlicht zu streifen. Sie waren eng und mit sperrigen Holzbalken ausgekleidet. Auf ihren rauen Oberflächen sammelten sich ganz unbehelligt Staub und Spinnweben, deren Enden sich sanft im Zug bewegten und in Yulivees Haar verfingen. Dies war das Reich der Dienstboten und Diener auf Elfenlicht, welches ihnen ermöglichte, schneller an abgeschottete Orte zu gelangen, im Geheimen zu wirken und unauffällig zu verschwinden, wenn sie nicht länger am Tisch des Adels benötigt wurden. Die Kobolde waren stolz auf die kleine Welt, die ihnen im Palast der Elfenkönigin vorbestimmt war. Doch Yulivee empfand ein tiefes Widerstreben dabei, zu wissen, wie abseits die Kobolde hier wirkten und dies obgleich der gesamte Hofstaat abhängig von ebenjener Arbeit war, welche die Dienerschaft Tag um Tag vollbrachte. Es war ihr unerklärlich, wie wenig ihr Schaffen gewürdigt und wie sehr sich wiederum darum bemüht wurde, ihre Anwesenheit auszuklammern. Diese Gänge in Elfenlicht waren nur ein weiterer Beweis dafür, wie überheblich das Volk der Elfen noch immer war. Ganz gleich, was Emerelle tat oder sagte, in der Annahme, es damit gerechter zu gestalten: Die Königin würde niemals jemanden akzeptieren, der ihr gleichgestellt war und schon gar kein ganzes Volk, ganz gleich welcher Spezies. Entscheidungen und Bestimmungen – weniger offensichtlich, vielleicht auch etwas weniger auf Unwesentliches konzentriert – lagen nach wie vor in Emerelles Hand.
Am heutigen Tag war Yulivee durch die Dienstbotengänge gekommen, da Xern ihr dies als beste Möglichkeit empfohlen hatte, sich Emerelle zu nähern. Sie schien nicht eben bester Laune zu sein, auch wenn dem Hofmeister Elfenlichts verborgen blieb, weshalb. Yulivee hatte ein schlechtes Gefühl. Vielleicht wäre es besser gewesen, doch auf Obilee zu hören. Ein paar Tage weiteren Aufschubs waren das, wonach sie sich gerade am meisten sehnte.
Die Erzmagierin schüttelte diese duckmäuserischen Gedanken von sich ab, straffte die Schultern und trat unter dem Durchgang hinweg, der sie ins Freie führte. Die Sonne blendete sie für einen unangenehmen Moment, doch der Klang eines herrlich weichen Wasserspiels umschmeichelte ihre Ohren auf eine beinahe tröstliche Weise. Sie hatte es immer gemocht, hier oben zu stehen und hinunter auf den Thronsaal zu blicken. Vom Balkon der Königinnengemächer aus wirkte das Wasserspiel, welches die Wände des Saals wie ein lebendiger Zierteppich auskleidete, fast zierlich und filigran, nicht so imposant wie für jene Besucher, die sich umringt von Höflingen dem Thron der Elfen näherten. Mehr noch erschien der gesamte Thronsaal von hoch oben wie ein perfekt arrangiertes Blumenbeet, nicht wild oder naturbelassen, sondern geplant und von gewollter Schönheit. Die bunten Gewänder des Hofstaats, dessen brillierender Schmuck, der strahlende Ton der alabasterfarbenen, elfischen Haut … wie Blüten wirkten die Höflinge, die hier lebten und sich im Thronsaal, dem Herzen Elfenlichts, präsentierten. Und über all ihnen erhob sich Emerelle als aufregendste und schönste und erhabenste Blume im gesamten Reich.
In diesem Moment befand sich Emerelle wahrhaftig über ihnen. Die Arme lang ausgestreckt, die schmalen Hände elegant auf die Balustrade des Balkons gelegt, stand sie mit durchgestrecktem Rücken dort und blickte hinunter auf das verzauberte Kuppeldach des Thronsaals. Von hier oben wirkte es kristallen und durchscheinend, doch die Albenkinder innerhalb des Zaubers schauten stets auf einen wundervoll blauen Himmel, der den immerwährenden Frühling zu repräsentieren versuchte. Emerelle trug ihr Haar offen, in sanften Wellen fiel es ihr über den Rücken, wo ihr Kleid einen tiefen Ausschnitt ihrer makellosen Haut zeigte. Die blutrote Farbe der Feenseide erinnerte Yulivee an die Trauergewänder ihres Reichs in der fernen Gebirgswüste, die metallenen, fein ausgeschmiedeten Schulterstücke dagegen an eine wehrhafte Rüstung aus längst vergangenen Epochen.
Yulivee brauchte nicht auf sich aufmerksam zu machen, damit Emerelle ihre Anwesenheit bemerkte. Die Herrscherin der Elfen hob den Kopf ein Stück: „Ich hätte dein Kommen früher erwartet, Yulivee.“
Zuerst glaubte die Angesprochene, dass überhaupt keine Antwort von ihr erwartet wurde. Doch ein kleinwenig Trotz, der in ihrem Herzen wie ein Funke glomm, forderte sie auf, die Wahrheit mitzuteilen: „Ich brauchte Zeit, um mir über einige Dinge klar zu werden. Leider hatte ich bisher keinen Erfolg dabei.“
„Keinen Erfolg?“, widerholte Emerelle trocken und die Erzmagierin war sich beinahe sicher, den beiden Worten haftete eine unterschwellige Schmähung an.
„Weshalb hast du mich geschickt?“, griff Yulivee auf. Ihr war bewusst, dass Emerelle nie persönlich mit diesem Auftrag vor sie getreten war. Dazu waren die Worte, mit denen Obilee bei ihrem ersten Besuch in Valemas gesprochen hatte, so willkürlich und andeutungsweise gewählt, dass man alle möglichen Schlüsse daraus hätte ziehen können. Und doch war ihr von Anfang an klar gewesen, dass all die schönen Worte und vorgeschobenen Gründe nur einem Zwecke dienten: Sie hätte Tiranu stürzen sollten. „Warum sollte ich das tun, wofür Andere so viel besser geeignet wären?“
Schon der kleine Moment, den Emerelle mit Schweigen überbrückte, fachte ihre Ungeduld nur weiter an: „Sollte ich meine Nähe zu Jornowell wie einen Schlüssel benutzen, um an die Fürsten zu gelangen? Sollte ich sein Vertrauen missbrauchen, um deine Ziele zu erreichen?“
„Deine Taten, deine Entscheidungen und dein Umgang mit der Situation geschahen ohne Zwang“, entgegnete Emerelle leichthin. „Alles geschah aus freiem Willen, Yulivee.“
„Warum fühlt es sich dann nicht danach an?“ Die Erzmagierin wusste, dass Emerelle die Wahrheit sprach. Doch ein Teil von ihr wollte nicht akzeptieren, dass all dies tatsächlich von ihr allein ausgegangen sein sollte. Sie war nicht niederträchtig oder scheinheilig, keine Denunziantin und keine Richterin. Alles, was sie erreichen wollte, war Jornowell zu schützen und das böse Wesen zu bannen, das sie in Tiranu und Morwenna vermutet hatte.
Dafür war sie sogar bereit gewesen, ihr eigenes Wesen zu verraten. Oder zumindest das, was sie glaubte zu sein. Sie hatte gelogen, hatte Jornowell hintergangen. Sie hatte Albenkindern getraut und blind ihren Worten geglaubt, die sie einstmals nicht einmal in ihre Nähe gelassen hätte. Sie war bereit gewesen, für ein höheres Wohl zu opfern.
Sie sollte sich dafür schämen und tat es auch. Doch ein Teil von ihr wusste, dass all dies ein weiterer, kleiner Schritt auf dem Pfad gewesen war, der zu ihrem bisher wohlverborgenen, innersten Selbst führte. Es fühlte sich nicht sonderlich edel an, dies anzuerkennen, und noch immer widerstrebte es ihr, wirklich daran zu glauben, was ihr Tiranu bereits mehr als ein Mal mitgeteilt hatte. Doch spürte sie mehr und mehr einen kleinen Frieden dafür in sich erwachen.
„Ich habe meine Lektion gelernt, Emerelle.“ Yulivee straffte die Schultern, den Blick weiterhin fest auf den Rücken der Königin geheftet. „Ich sehe nun, dass ich dir ähnlicher bin, als ich es selbst wahrhaben möchte. Ich habe die Makel, die mich stets von dir und der Krone distanzierten, an mir selbst entdeckt … dort, wo ich sie schon lange vermutete. Ich weiß nun auch, dass ich über all die Jahre hinweg nicht von den Erwartungen, die in Elfenlicht an mich gerichtet wurden, fortgelaufen bin. Sondern vor mir selbst … und der Gewissheit, dass du längst ein Teil meines Selbst geworden warst und mich mit den richtigen Reizen zu lenken vermochtest. Wolltest du, dass ich mir in Langollion die Hände schmutzig mache, damit ich dich nicht länger verurteilen und mich nicht länger betrügen konnte? Wolltest du mir zeigen, was die Bürde der Schwanenkrone wirklich bedeutet? Nun, ich versichere dir: Dein Vorhaben war mit Erfolg gekrönt…“
Emerelle wandte den Kopf halb in ihre Richtung. Um ihre Augen waren die Linien härter gezeichnet als sonst. Sie wirkte müde, beinahe ausgezehrt.
„Ich habe die Schatten der Angst und des Hasses in mir entdeckt, bin ihnen viel zu weit gefolgt. Es war verführerisch, zu vergessen, wie falsch ich liegen könnte, dass ich mich irren könnte in den Fürsten … Beinahe hätte ich diesen Schatten gewährt, die Überhand über mein Denken gewinnen zu lassen. Beinahe. Doch dann wurden mir die Augen geöffnet – es war nicht Tiranu, der mit seiner momentanen Politik gegen Albenmark intrigierte. Du hast zugelassen, dass deine Angst vor seiner Vergangenheit und seinem Wissen deinen Blick auf die Wahrheit verschleiert, während du als Königin dem hungernden Volk deine Unterstützung hättest zuteilkommen lassen sollen. Das ist keine Gerechtigkeit! Das ist Wahn … das … das ist Willkür! Ich weiß, wie gefährlich er ist, aber du kannst ihn nicht ohne Gericht verurteilen – aus Furcht, was er vielleicht tun könnte, wenn du ihn gewähren lässt! Ich kann dir auf diesem Pfad nicht folgen! Das verbietet mir mein Glaube. Andere mögen über dieses Denken lachen, aber ich kann nicht davon ablassen – selbst, wenn ich dabei noch so oft in die Knie gezwungen, mein Vertrauen noch so oft missbraucht, ich hundertfach hintergangen und verspottet werde. Ich wähle diesen Glauben über jene Vollkommenheit, die man so leichthin in der Macht und in der Kontrolle über Andersdenkende vermutet. Das … das unterscheidet mich von dir in all der Ähnlichkeit, die wir teilen …“
Yulivee konnte nicht verhindern, einen Stich in ihrem Herzen zu fühlen, als sie sah, wie Emerelle die Hände vom Geländer des Balkons nahm, um sie näher an sich heran zu ziehen. Ihre Gestalt schien ein wenig in sich zusammen zu sinken. „Was für ein Zufall, dass du all dies in Langollion entdeckt hast.“
„Wo kann man seine Angst vor Schlangen besser besiegen, als in einem Schlangenhort?“ Yulivee hob eine Braue, wohlwissend, dass Emerelle dies nicht sehen konnte. „Wann lernt man besser, als in der tiefsten Nacht, dass man die Dunkelheit nicht zu fürchten braucht?“
„Du hast dich verändert, Yulivee.“
„Nein. Ich verberge nur nicht länger die Trauer und die Wut in mir. Das aufgesetzte Lächeln und die unbedarfte, erzwungene Leichtigkeit sind nicht länger das, was mich beherrscht.“
„Es war nie das, was dich beherrscht …“
Yulivee zog die Brauen zusammen. Ihr war, als würde es plötzlich kühler auf dem Balkon werden. Oder war dies die Aura der Königin? Sie wirkte so fremd und abweisend. Verhärmt.
Dann wechselte Emerelle erneut das Thema, ohne den Ton in ihrer Stimme zu ändern: „Ich erhielt viele Briefe und Berichte zu den Ereignissen aus Langollion. Doch keinen einzigen von dir.“
Der Vorwurf war kaum verhohlen.
„Ich wollte dir meinen Bericht persönlich überbringen, Emerelle.“ Ihre Handflächen wurden feucht, während sie unter der eigenen Härte ihrer Stimme schauderte. „Um dir zu sagen, dass ich derlei Befehle nicht mehr annehme. Auch wenn der Grund noch so prekär scheint … Ich bin nicht wie du. Ich kann nicht wie du sein. Ganz egal, wie viele Lehrstunden du mir erteilen möchtest. Ganz gleich, welche Konsequenzen es nach sich zieht …“
Stechend zynisch waren Emerelles nächsten Worte, die kaum lauter als ein Flüstern, dafür aber kräftig wie ein Fausthieb waren: „Dann waren also alle Ahnungen und Befürchtungen unbegründet und du konntest nichts Verdächtiges in Langollion ausmachen? Jornowell geht sicherlich völlig in seiner neuen Rolle auf. Morwenna und er sind glücklich?“
Nein, nein und nein! Diese Antworten brannten schmerzliche Löcher in Yulivees Zunge und zeitgleich wusste sie ganz genau, dass Emerelle sie nur einem weiteren Test unterzog. Dabei war es ihr herzlich egal, ob sie diesen bestand oder kläglich scheiterte. Doch war ihr auch klar, dass so viel mehr als ihr eigener Stolz an ihren nächsten Worten zerbrechen könnte. Sie hatte Tiranu ein Versprechen gegeben. Und Jornowell auch. Und wenn heraus kam, dass auch Amana so lange von den verborgenen Aufzeichnungen in den Rosenlabyrinthen gewusst hatte, ohne dieses Wissen mit der Elfenkönigin zu teilen … Sie durfte keinen Fehler machen!
Als nach langer Stille noch immer keine Antwort von Yulivee erklang, fuhr Emerelle fort, als hätte sie nichts Anderes erwartet: „Wusstest du, dass die beiden Anführer des kleinen Aufstands in Vascar verschwunden sind? Ich glaube, sie sind schon lange tot.“
Ein Kübel voll Eiswasser hätte sie nicht mehr aus der Contenance bringen können, wie diese lapidar ausgesprochene Anmerkung.
Ein Hauchen. Zu mehr war sie nicht fähig. „Wie bitte?“
„Sollten ihre Leichen jemals auftauchen – und glaube mir, das werden sie nicht – wird es aussehen, als haben sie sich selbst gerichtet. Es ist nicht leicht, es so wirken zu lassen. Aber nicht unmöglich.“
„Das kann nicht sein …“, entgegnete Yulivee, die sich gedrängt fühlte, etwas zu sagen. „Wer hätte das tun sollen? Wir brachen auf, kaum einen Tag nach Morwennas Verwundung. Tiranu war die gesamte Zeit über in der Burg … Ich habe ihn nicht aus den Augen gelassen!“
Nun, das stimmte nicht ganz. Aber in den wenigen Stunden, in denen sie nicht bei dem Fürsten gewesen war, da hatte er sich in Besprechungen mit Meryl befunden. Es wäre zudem unmöglich gewesen, die beiden in nur so kurzer Zeit aufzutreiben und …
Es gab einen Moment, in dem sie nicht wusste, wo genau sich Tiranu aufhielt. Als sie sich im Geheimen mit Cirinth besprochen hatte. Aber auch dieser Zeitraum wäre viel zu knapp für den Fürsten gewesen, um unbemerkt aus der Burg zu gehen, zwei Albenkinder im Wald aufzuspüren und ...
Riana.
Sie war der Elfe erst begegnet, als sie aus Cirinths Gemächern getreten war. Gemeinsam mit Silvain und einer prangenden Wunde an der Schläfe war sie durch die Gänge der Nebelburg getreten, um wahrscheinlich zu Tiranu gelangen. Wo sie bis dahin steckte, wusste wohl nur sie selbst.
Ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf. Doch hielt sie an ihren Worten fest: „Wohin auch immer es Filan und Maka getrieben hat... Tiranu hat bestimmt nichts damit zu tun! Er hätte keinen Grund, ihnen etwas anzutun. Sie fallen unter seine Gerichtsbarkeit. Warum sollte er einem von ihm vollführten Prozess vorausgreifen?!“
Schon als Yulivee sprach, wurde ihr ein sehr eindeutiger Grund klar. Wenn Tiranu die beiden Aufrührer vor ein Gericht gestellt hätte – vor sein Gericht – so hätte er riskiert, dass Emerelle sich mit der Hoheitsmacht einmischte und Maka und Filan vor einer dem Fürsten angemessen erscheinenden Strafe schützte.
Doch dies war lange kein Beweis!
„Ich sandte dich nach Langollion, um einem Monster das Handwerk zu legen.“ Emerelle stand nun kerzengerade mit durchgestrecktem Rücken vor ihr. „Doch du hast dich dazu entschieden, ihm den Mantel deines Schutzes überzustreifen. Wir wissen beide, wie er ist … und wie wenig Unschuld er in sich trägt. Hat er dir versprochen, sich zu bessern, sein Wesen zu ändern oder zu kontrollieren? Er wird es nicht tun. Er hat dich ausgenutzt und manipuliert. Die Ungerechtigkeit, die er Anderen, Schwächeren, zuteilkommen ließ, wird sich wiederholen und wiederholen. Er tritt deinen sogenannten Glauben mit Füßen. Er denkt nicht daran, dass es falsch sein könnte, was er tut und wie er waltet. Es ist seine Gerechtigkeit, seine Willkür, die herrscht. Du warst es, die dies zuließ! Du wirst die Konsequenzen tragen müssen. Irgendwann. Und dann wirst du bereuen, ihm vertraut zu haben.“
In diesem Moment erkannte Yulivee, dass Emerelle nicht von Tiranu sprach. Sie sprach von sich selbst. Unbewusst zwar, doch die Konsequenz war dieselbe. Das Ideal jener Emerelle, welche Yulivee einst als Mädchen kennen gelernt hatte, zersprang in unzählbare Teile. Zuvor schon hatten die vielerzählten und mit Begeisterung verfolgten Märchen der Elfenkönigin Risse und Dellen erhalten, doch nun barst das Bild endgültig. Es schmerzte, mehr noch als es sollte, und sie bemitleidete Emerelle. Denn in ihrem Herzen musste sie wissen, dass diese Vorbehalte in so vielen anderen Köpfen auch für sie galten. Nur dachte sie, dass all ihre Entscheidungen und Taten wahrlich zum Wohle der Albenmark geschehen waren. Doch waren sie dies wahrhaftig? Oder hatte die Silberschale, zusammen mit dem Stolz einer Königin, lediglich ihren Blick getrübt?
Sie dachte an Noroelles Sohn, dessen Tod Nuramon und Farodin so lange gequält hatte. Sie dachte an all jene Gerüchte, welche die Shalyn Falah nach dem Ende des zweiten Trollkriegs umfassten. Sie dachte an all jene Gerüchte, welche die plötzlichen Tode etlicher einflussreicher Adliger, herausragender Magier und großgewordener Gelehrter ausschmückten. Sie dachte an Meliander, der als Emerelles Bruder in Abgeschiedenheit gelebt hatte, ehe er sich wahnverfallen die Pulsadern in einer tintengefüllten Wanne aufschnitt. Sie dachte an die Alten des vergangenen Valemas, deren Wunsch nach Unabhängigkeit im Tod von so vielen geendet hatte. All das geforderte Blut, die Gräueltaten in den Tjuredkriegen. Es waren nicht nur Elfen wie Tiranu, die den Befehlen der Königin nachkamen und jene Blutzölle einfuhren, sondern Emerelle selbst, die all das Blut an den Händen kleben hatte.
Wozu diente eine Königin, die nicht den Schwachen und Wehrlosen selbst diente? Die ihren Fürsten nicht vorlebte, wie ein wahrer Anführer agieren musste, um Vertrauen und Wohlstand innerhalb der Reiche zu mehren?
Vielleicht gab es dieses Licht, nach dem sich Yulivee sehnte und welches sie so lange in Emerelle vermutet hatte, nicht. Vielleicht gab es nur die Schatten und jene, die vermochten, sich ihnen wenigstens für eine Zeit zu entziehen. Vielleicht war es närrisch, an etwas Anderes zu glauben.
„Deine Gedanken stehen dir wie stets ins Gesicht geschrieben, Yulivee.“ Emerelles leise Worte holten sie zurück ins Hier und Jetzt. „Eine Eigenschaft, die ich zu schätzen lernte, auch wenn ich dich vor ihrer Gefahr warnen muss. Was weckte den Argwohn, den ich in deinen Augen sehe?“, fragte die Königin, ohne sich umzuwenden. Ein kaltes Gefühl stieg dabei in Yulivee auf. Emerelle vermochte, in ihr Innerstes zu blicken, ohne sie dabei überhaupt anzusehen. „War es Tiranu? Welche Verleumdungen rief er gegen mich aus?“
„Nein, Emerelle“, entgegnete Yulivee halb erstickt. „Es war Luana, die mir zeigte, was du …“
Emerelle fuhr herum und die Welt hielt für einen Moment den Atem an. Es war bitter kalt geworden und alle Farben wirkten blass, alle Gerüche stechend; die Luft sirrte und Yulivee schmeckte ganz schwach altes Blut auf ihrer Zunge. Sie erschrak bis ins Mark, als sich ihr Emerelles Gesicht offenbarte. Die sonst fein gezogenen Linien waren hart und verkniffen. Ihre Züge schienen steif wie eine Maske der Niedertracht. Haut, bleich und fahl, spannte sich kränklich über dunkel gewordene Adern. In ihren Augen lag Schwärze, tiefer und abgründiger als alle Schluchten, in die Yulivee je geblickt hatte. Doch ihr entsetzter Blick ging zum aufgesperrten Mund, in dem die perlweißen Zähne bedrohlich glänzten. Und für einen Moment glaubte die junge Magierin, Fänge in der Sonne aufblitzen zu sehen. Wie das Zischen einer großen Echse klang eine fremd wirkende, verstörende Stimme über den Balkon: „Was ich wahrhaftig bin!?“
Yulivee schrak aus ihrem Traum auf und fand sich orientierungslos in der Dunkelheit. In ihren Adern pochte das Blut, welches ihr Herz im aufgeregten Tonus durch den Körper sandte. Die Bilder, viel zu lebendig und real, zogen sich nur langsam aus ihrem Bewusstsein zurück, während sie blind über das seidene Bettzeug fuhr.
Ein Traum. Nur ein Traum. Erneut nur ein Traum.
Sie sprach ein Wort der Macht und die Öllampen in ihrem Schlafgemach begannen, mit angenehm sanftem Licht zu brennen. Wie sich die Schatten langsam aus den Räumlichkeiten verzogen, erkannte Yulivee mit wachsender Gewissheit, dass sie allein war. Zurück in Valemas, in Sicherheit.
Erleichtert ließ sie sich ein Stück zurück in die Kissen sinken und ballte ihre schweißnassen Hände zu Fäusten zusammen. Diese Traumbilder verfolgten sie nun schon seit beinahe einem Monat. Immer und immer wieder durchlebte sie das Gespräch mit der Königin über dem Thronsaal von Elfenlicht. Die unwirklichen Szenen, mit denen Emerelles stets perfekt ausgeglichene Miene überlagert wurde, brannten sich dabei so tief in ihre Seele, dass sie langsam an ihrem Verstand zweifelte. Diese Augen ...
Nur ein Streich ihres Gemüts. Mehr nicht.
In Wahrheit war das Gespräch mit Emerelle grausig angespannt und von herrischer Distanz geprägt gewesen, erst recht, nachdem die Königin ihr offenbart hatte, dass ihr Vertrauen in Tiranu ein bitterer Fehler sein könnte. Emerelle schien ganz genau zu wissen, was in Langollion geschehen war. Mit jedem wohlplatzierten Wort schien Emerelle ihr entlocken zu wollen, was sie verheimlichen könnte, und ließ doch mit keiner Silbe vermuten, in was sie wahrhaftig eingeweiht war.
Als das Gespräch auf Luana stieß, war da nichts bis auf die verleumderische Stille gewesen, mit der Emerelle weder bestritt, noch gestand, was sich vor so vielen Jahrhunderten abgespielt haben musste. „War sie eine zu große Gefahr?“, hatte Yulivee zuletzt gefragt und schloss innerlich bereits alle Tore, die jemals für Emerelle offen gestanden hatten. Und wieder war da nur Schweigen.
Die Magierin fühlte eine tiefe Leere in sich aufklaffen, als sie an die Offenbarung über Filan und Maka dachte. Die beiden Aufrührer galten auch knapp einen Monat nach diesem Gespräch als verschollen. Hatte Tiranu sie tatsächlich ermorden lassen? Das durfte nicht sein! Möglicherweise war dies nur ein Trick Emerelles, um sich ihre Loyalität doch zu sichern?
Wahrscheinlich waren die beiden Albenkinder lediglich aus Vascar in den Untergrund irgendeiner Provinz geflohen, um sich einer Bestrafung zu entziehen, und Emerelle wusste diesen bedauerlichen Umstand für sich zu nutzen. Doch der Zweifel, der sich in Yulivees Herz einistete, blieb bestehen.
Tiranu war nicht unschuldig. Er war es nie gewesen.
Es schmerzte, an ihn zu denken. Und es wurde schlimmer, je härter sie versuchte, ihn aus ihrem Denken zu verbannen. Die Erinnerungen an den Frieden in Luanas Palast, den wilden Ritt zu den Gläsernen Wäldern, die spannenden Momente auf der Sturmjäger, das hitzige Gespräch im Turmgemach der Nebelburg und zuletzt der Schmerz, den Morwennas Verwundung verursacht hatte, begleiteten sie jeden Tag, ob sie wollte oder nicht. Einzig das schlechte Gewissen brannte noch heller in ihrer Seele.
Jornowell …
Es war aufreibend, nicht zu wissen, wie es ihm und Morwenna erging. Seit Obilee sich aus Valemas verabschiedet hatte, gab es keinerlei Ablenkung mehr für sie. Zwar hatte ihre Freundin das Versprechen gegeben, baldmöglichst wieder zurück zu kommen, doch Yulivee wusste, dass die fahrende Ritterin Pflichten in Elfenlicht und Alvemer zu erfüllen hatte, die ihre Aufmerksamkeit für einige Zeit beanspruchen könnten.
Ohne die Ratschläge und den Beistand von Obilee, die von der katastrophalen Aussprache mit Emerelle noch keine Ahnung hatte, fühlte sie sich wie gestrandet. Sie verabscheute es schon seit jeher, allein zu sein. Doch in dieser Situation kam es einer Tortur gleich, aus der sie sich kaum zu winden wusste.
Alle Gedanken brachten keinen Frieden. Und Yulivee wusste, der würde erst dann kommen, wenn sie endlich begann, aus ihrem Schneckenhaus zu kriechen. Sie musste etwas tun, sonst würde sie wahnsinnig werden. Wo sie zu beginnen hatte, war ihr klar. Schmerzhaft klar.