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Schattenspiele

von Riniell
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Fantasy / P16 / Gen
Emerelle OC (Own Character) Tiranu Yulivee
20.12.2015
01.12.2016
50
187.715
3
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
2 Reviews
 
24.09.2016 4.660
 
„Man nennt es Sehnsucht …“


Obilee goss den Tee ein und ein einnehmender Duft von frisch geschnittenem Zitronengras, gepressten Ingwerknollen und süßem Honig breitete sich auf der Terrasse aus. Als die Elfe die Kanne absetzte, schaute sie bedeutungsschwer auf und ihren schmalen Lippen entkam ein Seufzen.

Yulivee wich ihrem Blick aus und verschränkte die Arme. In Gedanken verloren lehnte sie sich weit in ihrem eisernen, edel gezwirbelten Stuhl zurück, um ihr Augenmerk über die Stadt zu lenken. Das letzte Abendlicht schickte rötlich schimmernde Lichtspiele auf die Fassaden der prächtigen Paläste. Es gab keine Fenster und keine Glasscheiben in Valemas, doch die Perlmuttmuster auf einigen Dächern glänzten wie winzige Bronzeschilde gegen das Himmelsspektakel.

Gemeinsam mit ihrer Freundin hatte sie es sich auf der Dachterrasse eines bekannten Kräuterhändlers bequem gemacht. Der Händler bot seinen Gästen neben exotischen Würzmischungen und lindernden Heiltinkturen einen atemberaubenden Ausblick auf der Terrasse über der Ladenzeile seines Etablissements. Wer sich hier auf einen Tee traf, war stets geneigt, über Dinge zu sprechen, die er andernorts gemieden hätte, und das angeborene Zeitgefühl völlig zu verlernen. Yulivee hatte geahnt, weshalb Obilee mit ihr hierher wollte. Vseslin musste ihr den Palast des Kräuterhändlers gezeigt und sie über die beinahe magische Wirkung dieser Örtlichkeit aufgeklärt haben.

Obilee hatte Fragen. Und dieser Abend, an dem das Teehaus über der Ladenzeile wenig besucht war, eignete sich scheinbar hervorragend für einen zwanglosen Plausch unter Freundinnen. Doch dieses angestrebte Gespräch wäre weder bedeutungslos, noch fühlte sich Yulivee wie sonst an diesem neutralen Ort sicher oder gar redselig.

Als die Erzmagierin wieder zu ihrer Freundin blickte, lag Kummer in deren Augen. „Ich möchte dir keinen Vortrag über falsche Entscheidungen des Herzens halten“, sagte sie ohne bestimmten Ton in den Worten. „Wir beide wissen, wie armselig dieser Versuch wäre.“

„Es ist nicht nötig, dass du …“, begann Yulivee und wurde geflissentlich überhört.

„Ich will nur verstehen, wie du von der Einstellung zu Beginn deiner Abreise an diesen … Punkt der Gefühle gelangen konntest.“ Obilee griff ihre Porzellantasse, die hoffnungslos winzig in ihren schwieligen Fingern wirkte, und schüttelte das Haupt. „Du sagtest, er sei ein Monster …“

Yulivee nickte bestätigend. Ihre Meinung hatte sich, gerade was diesen Punkt anbelangte, kaum geändert.

„Ich weiß ja, wie versessen du sein kannst, wenn du einem Geheimnis auf den Grund gehen möchtest“, seufzte Obilee und dachte bestimmt an die zahllosen Rätsel, welche Yulivee als Kind bis zum Erbrechen auswendig gelernt hatte. „Und ich weiß, dass …“ Ein schneller Blick in die Runde der anderen anwesenden Albenkinder: Zwei größere Familien am anderen Ende der Terrasse und ein träumerisch wirkendes Pärchen ganz in der Nähe bei ihnen. „Er ganz besonders geheimnisvoll wirken kann …“

„Obilee?“ Die Erzmagierin stützte die Ellenbogen auf den Mosaiktisch und legte ihren Kopf in die Hände. Ein bittersüßes Lächeln lag auf ihren Zügen. „Ich bin kein Kind mehr. Und dieser Vortrag ist in der Tat …“

„Armselig?“

Yulivee nickte lächelnd, entschuldigend und dankbar.

„Großartig“, bemerkte Obilee schnippisch und nippte an ihrem Tee. „Ich versuche, dir zu helfen und ernte nichts als deinen Spott.“

„Du brauchst mir nicht zu helfen, Obilee“, entgegnete die Erzmagierin ernster als zuvor. „Ich kann auf mich selbst aufpassen. Ich habe nicht vor …“ Sie brach ab, aus Furcht, sich aus Überschwang irgendetwas eingestehen zu müssen, zu dem sie nicht bereit war, und setzte eindringlich nach: „Ich schätze deinen Versuch so sehr, Obilee, aber was ich wirklich brauche, ist jemand der mir zuhört. Jemand, der versteht.“

Eine warme Hand legte sich auf ihre: „Ich will nicht, dass dir wehgetan wird.“

Yulivee zögerte zu antworten. Lange schaute sie in das Gesicht ihrer Freundin, aus dem das lange blonde Haar zu einer aufregenden Flechtfrisur gekämmt worden war. Obilee war nie eitel, oder selbsteingenommen gewesen. Doch die schrillen Farben der Stadt schmeichelten ihr so sehr, dass sie von innen heraus zu leuchten begann. Doch Yulivee erkannte unter diesem Strahlen auch Argwohn in einem verkniffenen Zug um ihren Mund.

Was ging nur in ihr vor, dass sie sich vor kurzem noch für eine gefährliche Mission in Langollion ausgesprochen hatte, sich nun aber gegen die fahrengelassene Vorsicht für einen ihr völlig Fremden stellte? Es war Obilee gewesen, die ihr Emerelles Auftrag übermittelte, und auch wenn es so wirkte, als sei seither eine Ewigkeit verstrichen, so wog diese Erinnerung noch schwer in Yulivees Gemüt.

„Tiranu“, flüsterte Obilee, nur um dann lauter zu werden, „ist gefährlich. Er ist ein Intrigant. Glaubst du nicht, er könnte mit deinen Gefühlen und deiner Aufrichtigkeit spielen, um sich Vorteile zu verschaffen? Mit deinem Fürwort ist er gegen viele Anschuldigungen der Krone so gut wie immun und beschützt. Du würdest ihm so viele Türen öffnen können … es wäre wie mit Morwenna und Jornowell.“

Yulivee erinnerte sich daran, wie gebrochen Jornowell auf die Verwundung der Fürstin reagiert hatte. Es hatte ihr schier das Herz zerrissen, ihren Freund so zu sehen. Sie hätte niemals geglaubt, ihn je so verletzlich und zart zu erleben. Was Jornowell empfand, war echt und aufrichtig. Und wo sie sich zuvor gewünscht hätte, diese Liebe würde durch die kurzlebige Einseitigkeit schnell zerbrechen, hoffte sie nun inständig, dass sie erwidert wurde.

„Er weiß nichts von meinen … Gefühlen.“ Yulivee sprach das letzte Wort aus, als müsste sie einen Kaktus schlucken. Es tat weh, war unangenehm und brachte weder einen guten Geschmack, noch sonst einen Nutzen. „Ich bin mir sicher, in ein paar Tagen richtet sich dieses Problem von allein. Ich sehe ihn nicht, er schreibt mir nicht … es erstickt sich von selbst.“

Obilee hob eine Braue: „Das glaubst du doch nicht wirklich?“

Erneut wich die Erzmagierin dem irritierten Ausdruck ihrer Freundin aus und ließ den Blick über die Stadt schweifen. Sie hätte Valemas nie verlassen sollen. „Ich kenne mich nicht aus damit …“

„Man nennt es Sehnsucht und ich bin deren ungekrönte Königin“, versuchte Obilee sich. „Ich liebte einen Mann, kämpfte dagegen, weil es unschicklich war und ich glaubte, ich sei die größte Verräterin in ganz Albenmark. Je mehr Gedanken ich mir aber über das Wider machte, desto größer wurde das Für.“

Yulivees Lippen kräuselten sich, während eine tiefe Falte merklich ihre Stirn furchte: „Du gibst recht eigenwillige Ratschläge.“

Obilee nahm die Hand wieder fort und zuckte mit einer Schulter. „Ich sage dir nicht, dass du diesen Unfug sofort aufgeben sollst. Weil es unmöglich ist, das zu tun. Ich kann nicht in ihn hineinschauen. Ich kenne dich. Du bist launenhaft, aber dein Herz … es ist wie der Mond der Menschenwelt, welcher das große Meer hinter dem Fjordland bewegt. Es wirkt anziehend und wird leicht angezogen. Es wendet sich allem zu und alles wendet sich ihm zu. Emerelle glaubt, dies sei eine Gabe – ich glaube, es wird dich in gewaltige Schwierigkeiten bringen, wenn du nicht vorsichtig bist. Du musst lernen, nicht alles an dich heranzulassen. Du darfst nicht jeden, der dir aufregend erscheint, ohne jede Abwägung in dein Herz schließen.“

„Ich weiß“, murmelte Yulivee. Für diesen Ratschlag war es reichlich spät, dachte sie dabei. „Ich weiß…“

Am liebsten würde sie nun aufstehen und gehen. Stattdessen legte sich Schweigen über sie, das nur vom Gelächter der anderen Gäste durchbrochen wurde. Obilee schaute mit einem feinen Lächeln herüber zu dem Pärchen, das sich ganz offensichtlich neckte. Sehnsucht lag in ihrem Blick, als sie sich wieder Yulivee zuwandte.

„Was ich mich gefragt habe …“ Ein feiner, roter Schimmer legte sich auf die Wangen der fahrenden Ritterin. Sie räusperte sich, einmal, zweimal. „Habt ihr … nun, habt ihr … miteinander, ich meine … habt … ihr!?“

Yulivee hob eine Braue und brauchte einen Moment, ehe sie zu verstehen glaubte. „Wir haben nicht das Lager geteilt, falls du das meinst.“

Die Erleichterung war ihrer Freundin ins Gesicht geschrieben, sodass die nächste Frage wesentlich leichter über sie kam: „Und … habt ihr euch ge…küsst?“

Yulivee nickte und fühlte eine traurige Ruhe in sich aufsteigen: „Wie soll ich es nur Vseslin sagen?“

Obilee sog tief die trockene Luft in ihre Lungen und strich sich eine verirrte Goldsträhne aus der Stirn: „Vor ihm davon zu laufen ist jedenfalls keine erfolgsversprechende Option.“

„Ich bin mir so unsicher …“, lenkte Yulivee ein und dachte dabei an den rothaarigen Valer, der mittlerweile zutiefst gekränkt von ihrer Feigheit sein dürfte. Sie brachte es nicht über sich, ihm gegenüber zu treten, ihm zu sagen, dass sie einen anderen geküsst hatte. Und dies nicht bereute.

„Unsicher? Wie das?“ Obilee rutschte nervös auf ihrem Kissen herum, als die Magd des Kräuterhändlers an ihren Tisch kam, um einen kunstvoll gemeißelten Barinstein auf ihrem Tisch zu platzieren. Ein kleiner, goldgelber Fisch erhellte nun das Mosaik auf der Tischplatte und Obilee schaute drein, als würden sie hier im Angesicht von halb Valemas eine Verschwörung planen. Als sich die Magd mit einem gelangweilten „Bitte sehr“ von Dannen machte, lehnte Obilee sich weit zu ihr herüber: „Gestern hast du mir noch gestanden, du seist in ihn verliebt, dabei hast du Vseslin versetzt und ließt mich für dich Lügen. Was hat deine Unsicherheit plötzlich hervorgerufen?“

Yulivee tippte mit den Fingern auf der eisernen Armlehne ihres Stuhls herum, versuchte dabei allerdings, sich nicht zu sehr von Obilees Nervosität anstecken zu lassen. Das hier war keine Staatsaffäre … nicht einmal eine Affäre …

„Das gestern … es war nur ein Gefühl, ein Moment.“ Sie lehnte sich zurück. „Ich war einsam und glaubte mich völlig abgeschnitten von allem, was mich die letzten Wochen so sehr forderte. Ich wollte in Langollion sein, um Jornowell beizustehen, meine Fehler wieder gut zu machen. Ich wollte helfen. Vielleicht hätte ich es gar nicht erst aussprechen sollen, um dem so viel Raum zu geben. Aber, verdammt, ich konnte dir immer alles anvertrauen und du hast mich nie verurteilt.“

„Ich verurteile dich doch nicht…“

„Obilee!?“, schnappte die Erzmagierin daraufhin aufgeregt. „Nur, weil wir Tee auf einer Dachterrasse trinken, heißt das noch lange nicht, dass ein Kreuzverhör plötzlich legitim oder gar angenehm ist!“

Die Elfe öffnete den Mund, hob fragend die Augenbrauen, streckte die Schultern durch, legte dann den Kopf schief und murmelte schließlich verwundert: „Ich dachte, man tut das so unter Freundinnen …“

Eine braune Braue wölbte sich skeptisch und Obilee nippte erneut sichtlich irritiert an ihrem Tee, um anschließend einige Löffel Zucker aus dem beistehenden Porzellanfässchen darin verschwinden zu lassen.

„Na gut, ich werde still sein, zuhören und versuchen, dich zu verstehen.“ Schließlich lehnte auch sie sich zurück und war sichtlich bemüht darum, sich zu entspannen: „Aber wehe, du lässt etwas aus …“

Yulivee war sich nicht sicher, ob sie wirklich das erreicht hatte, was sie wollte. Noch mehr darüber zu sprechen, war sicherlich nicht leicht oder angenehm für sie, aber Obilee war das Einzige, was sie in ganz Albenmark noch eine Familie nennen konnte. Sie konnte ihr voll und ganz vertrauen. Vielleicht würde sie einen klareren Kopf bekommen, vielleicht ein leichteres Herz. Es war zu verführerisch, endlich mit jemandem darüber zu sprechen, als dass sie widerstehen konnte. Sie wollte ihre Gedanken mit Obilee teilen.

Und so erzählte sie all das, was sie zuvor in ihren Erzählungen ausgespart hatte. Noch immer herrschten kleine, wohlplatzierte Lücken im Geschehen der letzten Tage. Doch alles, was in Luanas Palast, auf der Sturmjäger und in Vascar zwischen ihr und Tiranu geschehen war, fand erneut einen Raum, gewann an Stärke und Bedeutung. Ihre Schuldgefühle gegenüber Jornowell und Morwenna wuchsen gleichwohl, wie ihre Verbindung zu dem Inselreich vor Obilees Heimat im Osten.

Als sie endete, war es dunkel über Valemas und nur noch das Schimmern der Barinsteine spendete etwas Licht auf der Terrasse. Die übrigen Gäste waren gegangen. Es war still.

So still, dass Yulivee es bald nicht mehr ertragen konnte. Warum sagte Obilee nichts?

„Was denkst du?“

„Nun“, räusperte Obilee sich. „Ich denke, dich nun besser verstehen zu können. Ihr beiden habt eine Menge zusammen erlebt und du lerntest eine andere Seite an ihm kennen. Vielmehr noch zeigte er dir eine neue Seite an dir selbst. Das ist kostbar. Es klingt nur nicht eben so, als sei Tiranu dir sonderlich … zugetan?“

„Fürst Tiranu von Langollion ist nichts in ganz Albenmark sonderlich zugetan …“, bemerkte die Erzmagierin lakonisch und erhob sich. „Wir sollten gehen.“

Auf dem Weg zu Yulivees Palast schwiegen sie die meiste Zeit, ehe Yulivee irgendwo zwischen ihren Gedanken ihre Sprache wieder fand. „Ich werde morgen nach Elfenlicht reisen. Emerelle erwartet meinen Bericht …“

„Bist du dir sicher?“ In Obilees Augen war Sorge zu erkennen. „Vielleicht wäre es besser, wenn du noch ein paar Tage wartest, um einen klaren Gedanken zu fassen. Du solltest dir etwas Ruhe gönnen.“

Lange blickte sie ihre Freundin an, ehe sie entgegnete: „Du magst recht haben, jedoch bin ich mir nicht sicher, ob Ruhe und Zeit zum Nachdenken das ist, was ich nun benötige …“



* * *




Seit der Rückkehr der Fürsten waren neun Tage vergangen und allmählich begann Jornowell zu glauben, dass ein Tag nahtlos in den nächsten überging, ohne eine entscheidende Wende zu bringen. Ein zäher Brei der Ereignislosigkeit, ein angespanntes Erwarten.

Es gab keine Erlösung.

Die Heilerinnen aus Arkadien, gleichwohl wie die Heiler aus der Hauptstadt und Naylin, gewährten Morwenna ihren Beistand, gaben ihr Kraft und Linderung. Doch erwachen wollte die Fürstin nicht.

Jornowell wachte die Nächte hindurch an ihrer Seite, bis sein gekrümmter Rücken schmerzte und seine Augen zufielen. Er sprach mit ihr, in der Hoffnung, sie würde in ihrem Schlummer seine Stimme hören und bald erkennen, dass sie sich in Sicherheit befand. Doch nichts Dergleichen geschah.

Die Tage verbrachte er manches Mal in den Schreibstuben. Doch die Albenkinder zeigten wenig Geduld mit ihm in seinem unseligen Zustand, in dem ein Fehler den nächsten jagte. Sie schickten ihn fort, um Ruhe zu finden. Er kam dennoch stur jeden Tag solange zurück in die Schreibstuben, bis Tiranu ein Machtwort sprach und ihn aus dem Trakt des Rosenturms verwies. Nun, am neunten Tag, verließ Jornowell die Gemächer der Fürstin erneut. Anarion war seit zwei Tagen nicht mehr zu ihm gekommen und der Weltenwanderer glaubte, dies hinge mit der uferlosen Arbeit zusammen, die auf seinen Neffen und Tiranu zuhielt. Er fühlte sich schlecht, weil er seine Hilfe zwar angeboten hatte, es aber nie dazu gekommen war, sie auch wirklich umzusetzen.

Der Weltenwanderer hörte sich zuerst in den Kammern der Schreiber um, was den Fürsten und sein Gefolge in diesen Tagen umtrieb. So erfuhr er, dass die Zeugen aus dem Norden den Sitz des Fürsten verlassen hatten. Ein Bote war mit ihnen auf die lange Reise gegangen; er trug ein Dekret mit sich, welches die Baronen von Vascar aufforderte, die gesamte Summe der veruntreuten Gelder binnen eines Jahrzehnts aufzutreiben, um damit im ganzen Fürstentum Armen-, Waisenhäuser und Hospitale zu errichten. Die Arbeiten würden umgehend beginnen.

Desweiteren sollten gewaltige Kornspeicher mit den Ernteeinkommen aus Arkadien die Bevölkerung des Nordens durch den Sommer und durch den mit Schrecken erwarteten Winter bringen. Denn die verdorbenen Felder und Äcker der Provinzen waren selbst mit Titel und Geldern nicht mehr zu retten. Es gab ähnliche Entwürfe für andere Regionen in Langollion.

Fürstin Valaria zeigte sich erpicht darauf, dem Inselreich in diesen Belangen der Not unter die Arme zu greifen. Jornowell wunderte sich darüber und auch, dass Tiranu offenbar bereit war, Almosen von Arkadien anzunehmen, war irritierend. Doch das Fürstentum im Süden pflegte schon seit Jahren die Tradition, überschüssige Ernteerträge unter den anderen Fürstentümern zu versteigern, um Gold für jene Familien zu gewinnen, welche in den Tjuredkriegen mit Verlusten zu kämpfen hatten. So hatte Tiranu das Korn diesen Jahres lediglich im Voraus für den von Arkadien festgelegten Mindestsatz erworben – auch unter dem Gesichtspunkt, dass sich die meisten Sippen unter Valarias Führung von ihren Verlusten längst wieder erholt hatten. Es war ein gerechter Handel, der beiden Parteien zugutekam. Die Geste des neuen Zusammenhalts und die Zurschaustellung der neuen Offenheit zählten.

Es brachte die Hoffnung zurück nach Langollion und den Großmut nach Arkadien. Die Fürstin habe in Korrespondenzen wohl von einer ohnehin dringend benötigten Dezimierung allen Überflusses in ihrem Reich geschrieben. Doch Jornowell wusste: Anarion verdiente ein Fest und eine Medaille für seine meisterliche Arbeit.

Zu hören, dass Amana im Rosenturm weilte, und die Gespräche mit ihr in den letzten beiden Tagen von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang währten, erfüllte ihn weniger mit Sorge als mit weiterer Hoffnung. Wenn Tiranu sich so viel Zeit für die Handelsleiterin genommen hatte, dann mochte dies einen guten Grund haben, der weitab von einer Degradierung lag.

Er bat einen vertrauten Schreiber, die Elfe aufzusuchen und sie in seinem Namen zu ihm zu bitten.

Eine gute Stunde später befand sich Jornowell in dem kleinen Gemach, das er offiziell bewohnte, und versuchte vergebens, Ordnung in seinem Refugium zu schaffen. Als es an seiner Tür klopfte – sie stand offen – war er froh, bereits einen Tisch und zwei Stühle von allerlei Tand befreit zu haben.

Amana trug ein weißes, langes Kleid. Ihr blondes Haar war zurückgesteckt, was die spitzen Linien ihres Gesichts nur betonte. Sie sah weder reuevoll, noch demütig aus, als sie unaufgefordert den Raum betrat. Ein angedeutetes, schiefes Lächeln krümmte ihre schmalen Lippen. Auf eigentümliche Weise war ihren Augen anzusehen, dass sie viele Tränen vergossen haben mussten.

„Es überrascht mich, dass du mich sehen möchtest“, erklang ihre zurückgenommene Stimme. „Du siehst nicht so aus, als wolltest du mich verurteilen. Es steht nichts zwischen uns?“

Die stets direkte Offenheit der Handelsleiterin traf Jornowell kalt und warm zugleich.

„Bitte, sei mir willkommen!“ Er räusperte sich und bot ihr den Platz an seiner Seite des Tischs an. „Ich habe keinen Grund, dir zu grämen. Um ehrlich zu sein, habe ich von den jüngsten Ereignissen recht wenig Ahnung.“

Die Elfe setzte sich ihm gegenüber und hob eine Braue: „Du wurdest nicht ins Vertrauen gezogen?“

Ein Kopfschütteln: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich es überhaupt wissen möchte.“

„Dann bist du klüger als ich“, entgegnete Amana und lenkte den Blick ins Unbestimmte. „Ich wagte mich einen Schritt zu weit.“

„Dennoch brachte Tiranu dich nicht in sein Verließ …“

„Nein.“ Amana hob die Schultern. „Irgendwer scheint ihn auf die Idee gebracht zu haben, dass eine sehnsuchtszerfressene, im Herzen verdunkelte Elfe keine Bedrohung für die Geschäfte des Holzhandels darstellt. Er sprach mit mir über die Arbeit in Larion, die Zwerge … plötzlich schien ihn nicht mehr zu scheren, was vorgefallen war.“

Jornowell legte überrascht den Kopf schief. Solch eine Reaktion hätte er nie und nimmer erwartet! Was war nur in den Fürsten gefahren? „Hast du es dabei bewenden lassen?“

Amana schüttelte den Kopf: „Irgendwann konnte ich mich nicht mehr an diese Verschwiegenheit klammern – halb erleichtert, halb verunsichert –  und sprach selbst das Gespräch mit Yulivee an. Ich erzählte, was ich ihr sagte, warum ich es ihr sagte … Er schien nur darauf gewartet zu haben. Ich sprach von meiner Wut, meiner Enttäuschung … ich bin mir nicht sicher, doch ich glaube, ich habe ihn sogar von Angesicht zu Angesicht diskreditiert und insultiert. Er blieb ruhig, hörte sich alles an, während ich mir dessen bewusst war, dass ich mich sehenden Auges in den Abgrund stürze.“

„Was hat er getan?“

„Er fragte mich, woher mein Wissen stammte.“ Die Handelsleiterin schien noch immer mitgenommen von dem Gespräch mit Tiranu zu sein. „Ich erzählte ihm von Luanas Tagebuch, das Marveen noch in seinem Tod bei sich trug. Anschließend ließ er mich schwören, dass ich nie wieder jemanden davon erzählen würde. Doch er nutzte keine Magie, mir diesen Schwur abzunehmen, um mich an meine Worte zu binden. Er wirkte weder vertrauensselig, noch so, als schiene es ihm gleichgültig, wer noch von den Geheimnissen seiner Schwester erfahren könnte. Und doch ließ er mich nur diesen Schwur ablegen. Dann entließ er mich, um mich am folgenden Tag für die Besprechung des nächsten Geschäftsjahrs vorzuladen.“

Jornowell war ehrlich verwundert. Nicht nur, dass Tiranu so freimütig war, von einer Maßregelung oder gar einer Bestrafung abzusehen. Auch, dass plötzlich dieser Name auftauchte … Morwenna hatte ihm, Jornowell, seinerzeit unter Tränen gebeichtet, dass Luana erst von ihrer Mutter verstoßen und dann unter mysteriösen Umständen verstorben war. Was hatte Marveen, Amanas Gatte, damit zu tun? Und: „Welches Tagebuch?“

Es war merkwürdig, wie skeptisch Amana sich plötzlich zeigte. Für einige Momente musterte sie ihn völlig entgeistert, ehe sie den Finger hob, um auf sein ungemachtes Bett zu zeigen: „Ich persönlich kenne nur eines. Und das liegt dort…“

Jornowell folgte ihrem Fingerzeig und erstarrte. Das kleine Büchlein, welches er vor wenigen Wochen nach seiner Ankunft aus Larion aus seiner Reisetasche bugsiert hatte, lag völlig verloren auf dem Laken. Er wusste weder, woher es stammte, noch wie es ausgerechnet in seinen Besitz gekommen war. Keine Lettern standen auf den vergilbten Seiten, kein Hinweis auf den Eigentümer des Buchs. Morwenna hatte es ihm während eines Gesprächs aus den Händen genommen, unbedacht auf den Tisch gelegt, um seine Aufmerksamkeit wieder für sich zu gewinnen. Und gerade hatte er es ohne weitere Gedanken vom Tisch auf das Bett verfrachtet. „Wie bitte?!“

Eine fragende Braue wanderte nach oben: „Tiranu fragte mich, was aus dem Buch geworden war. Ich antwortete ihm, dass ich es Yulivee gab und keine Ahnung hätte, was sie letztlich damit angestellte. Wenn ich gewusst hätte, dass du es hast, dann …“

Jornowell erhob sich, ging herüber zum Bett und nahm mit spitzen Fingern das Buch, welches dort lag. Der Einband war aus weichem Leder, das bereits einige Risse aufwies. Die Seiten waren ausgefranst und dennoch – es wirkte auf ganz eigene Weise wertvoll und schön. Nun, da er wusste, was es symbolisierte und wem es einst gehört hatte …

„Dies ist Luanas Tagebuch?“, hinterfragte er. „Was hat sie mit Yulivees Verschwinden zu tun?“

Auch Amana erhob sich: „Mein Schwur … ich werde nicht mehr darüber sprechen.“

„Die Seiten sind leer … nicht ein Buchstabe.“ Er drehte das Büchlein in den Händen, als untersuchte er ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. „Yulivee hat es mir wohl in die Tasche gelegt. Sie muss es mit einem Zauber belegt haben. Es ist unlesbar geworden.“

Er fragte sich, von welchem Wissen Amana gesprochen hatte. War dies die Spur, welche Yulivee so lange in Langollion beschäftigte? Hatte sich Tiranu deshalb an ihre Fersen geheftet?

Jornowell fühlte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte: „Versprich mir, dass du vorsichtig sein wirst. Tiranu mag sich ändern wollen, aber das heißt noch lange nicht, dass er es auch wirklich tut. Und Morwenna … Es tut mir leid, was mit ihr geschah, aber … Versprich mir einfach, dass du vorsichtig sein wirst und deine Liebe nicht zu bedingungslos ist.“

Eine Warnung schwang in diesen Worten mit, die Jornowell nachdenklich stimmte. Noch immer blieb ihm verschlossen, was genau in den Wochen von Yulivees Verschwinden geschehen war. Doch allmählich begann er zu begreifen, dass die Elfe noch tiefer in der Vergangenheit der Fürsten gegraben hatte, als er zunächst annehmen konnte.

„Du solltest das Buch Tiranu geben.“

Amanas Abschied war verhalten wie stets und lange grübelte Jornowell über ihre Worte, die letzten Geschehnisse und den Fürst Langollions nach. Er kam zu keinem Ergebnis, das ihn befriedigte. Es schien, dass er sich mehr und mehr in Gedankenmustern verstrickte, die einfach keinen Sinn ergaben. Bis zum Abend saß er in seiner Kammer, starrte auf das Büchlein und entschied schließlich, dass er von allein nie auf des Rätsels Lösung kommen könnte.

So machte er sich erneut in den Flügel des Palastes auf, in dem Tiranus Arbeitszimmer lag. Doch dieses Mal ging er an den Räumen der Schreiber vorbei und wählte den direkten Weg in die Amtsstube. In seiner Hand ruhte das kleine Buch. Wie würde Tiranu wohl darauf reagieren?

Der Raum war verwaist.

Jornowell hätte wenigstens Anarion hier erwartet, der unermüdlich Dekrete und Korrespondenzen aufsetzte oder kontrollierte.

Etwas enttäuscht ging der Hofmeister herüber zum Sekretär. Die Abendsonne schickte einige letzte Strahlen herein und erhellte die fein säuberlich sortierten Pergamentstapel in einem edel anmutenden Zimtton. Jornowell zögerte, ehe er aus einem Impuls heraus das Buch auf den Schreibplatz legte.

Amana hatte Recht, wenn sie sagte, er sollte auf der Hut sein.

Er wusste genau, in welche Familie er hier gekommen war. Er wusste genau um den schlechten Ruf, die finsteren Geheimnisse, die zwielichtigen Gerüchte, die unausgegorenen Halbwahrheiten …

Er hatte Morwenna stets versichert, sie trotz alledem zu wollen. An ihrer Seite zu sein. Er hatte ihr geschworen, sie niemals unter Druck zu setzen, was die Wahrheit über ihre Vergangenheit anging. Sie musste nicht darüber sprechen. Es wäre falsch gewesen, etwas von ihr zu erzwingen.

Und ebenso falsch war es, Tiranu mit diesem Beweismittel unter Druck zu setzen. Oder gar eine emotionale Überschwangsreaktion heraufzubeschwören. Natürlich würde er gerne wissen, was in dem Büchlein stand. Lieber jetzt als gleich. Doch dieses Geheimnis würde wohl vorerst eines bleiben.

Gerade als Jornowell sich umwenden wollte, fiel ihm ein blauer Schimmer auf dem Sekretär ins Auge. Ungläubig schaute er auf einen nachlässig gefalteten Brief, von dem ein einprägsames Wachssiegel prangte. Der Brief lag halb verborgen unter einer mit Entwürfen gefüllten Kladde und war doch deutlich auszumachen.

Kurzentschlossen griff Jornowell nach dem Schriftstück und stellte fest, sich nicht geirrt zu haben. Das blaue Siegelwachs war unvergleichlich kostbar und selten. Es war nicht etwa gefärbt, sondern natürlichen Ursprungs und Jornowell wohlbekannt. Es stammte von einer seltenen Bienenart, welche sich beinahe ausschließlich von der winzigen Himmelblüte ernährte. Diese wuchs im Schatten von Kakteen in der Wüste um Valemas. Das blaue Wachs allein wäre schon Hinweis genug gewesen, doch die Prägung darin tilgte jeden Zweifel. Eine Flöte, umgeben von kleinen Punkten, welche sich bei genauer Betrachtung als Noten entpuppten. Oft genug hatte er dieses Siegel gesehen, um zu wissen, wen es repräsentierte.

Yulivee.

Er hob den Blick. Was verleitete Yulivee dazu, einen Brief an Tiranu zu schicken? Er dachte daran zurück, mit welch verbissener Inbrunst seine Freundin ihn in Larion vor Tiranu und Morwenna gewarnt hatte. Sie hatte ihn überzeugen wollen, sich von ihnen fernzuhalten. Dann diese Sache mit Amana …

Das auffällige Siegel war ungebrochen. Ebenso jene auf den beiden anderen Briefen, die er unter der Kladde fand und eindeutig auch aus Valemas stammten. Jornowell war sprachlos. Er fand keine einleuchtende Erklärung für diesen eigentümlichen, offenbar einseitigen Briefwechsel.

Yulivee verachtete Tiranu …

Oder etwa nicht?

Er hatte sie kurz vor der Abreise nach Vascar zusammen erlebt. Sie waren hier im Amtszimmer des Fürsten erschienen und hörten sich gemeinsam das an, was Anarion ihnen über die Unruhen im Norden zu berichten hatte. Nicht einen Moment lang hatte Yulivee gezögert, Tiranu gegen dessen Willen auf die Reise dorthin zu begleiten. Schon damals war ihm aufgefallen, wie leicht es der Elfe gelungen war, Tiranu in die Schranken zu weisen und ihn von ihren Vorstellungen zu überzeugen.

Was auch immer diese Erkenntnis für Yulivee bedeutete, Tiranu schien nicht eben angetan von den Versuchen der Magierin, Kontakt mit ihm aufzubauen. Der Fürst hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Briefe zu öffnen.

Ein Räuspern erklang in seinem Rücken und Jornowell erstarrte. Tiranu trat an seine Seite und schaute ihn ohne eine Emotion im Blick an. „Falls dich interessiert, was darin steht: Sie warnt mich davor, dass sie mich in Kürze an Emerelle verraten wird.“

Jornowell zog die Brauen zusammen. Die Ruhe, mit der Tiranu dies sagte, ließ ihn erschauern. Ganz reflexartig verschränkte er die Arme und hob das Kinn: „Yulivee ist keine Verräterin. Du hast diese Briefe ja nicht einmal gelesen …“

„Das brauche ich nicht, um es zu wissen …“, stellte der Fürst lakonisch fest. „Hat Yulivee nicht auch dich hintergangen!?“

„Sie hatte ihre Gründe“, beschwor er und schüttelte das Haupt. „Eines Tages werde ich diese erfahren.“ Er griff nach dem Büchlein, welches er soeben zurückgelassen hatte, und streckte es ihm unwirsch entgegen. „Dies ist Luanas Tagebuch. Yulivee überließ es mir. Jedoch verhinderte sie, dass ich oder sonstwer lesen könnte, was darin verfasst ist. Warum hätte sie dies tun sollen, wenn sie ach so willkürlich oder verräterisch ist? Wenn sie mit allen Mitteln versuchen wollte, mich von euch fernzuhalten, hätte sie mir längst offenbart, was sie herausgefunden hat. Das tat sie aber nicht.“

Tiranu spannte seinen Kiefer so sehr an, dass die feinen Linien seines Gesichts einen strengen Zug annahmen. Er nahm das Buch entgegen, öffnete es und biss die Lippen zusammen, als er zu merken schien, dass auch für ihn nichts als leere Pergamentseiten zu erkennen waren. Er räusperte sich erneut, doch ehe wohl weitere giftige Worte seine Lippen verlassen konnten, kam ein Wirbel aus weißen Gewändern und hellem Haar zur Portaltür hereingeweht.

Jornowell erkannte eine der Heilerinnen aus Arkadien, die unter seinem erstaunten und Tiranus abwartenden Blick einen tiefen Knicks vollführte. Sie schien etwas außer Atem, doch ihre Stimme war klar und eindringlich als sie sprach: „Fürst, deine Schwester … sie ist erwacht.“



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