Schattenspiele
von Riniell
Kurzbeschreibung
Fortsetzung zu ‚Keine Rose ohne Dorn‘: Der ambitionierte Aufschwung Langollions bleibt nicht lange unbeachtet. Während die Elfenkönigin einen nahenden Verrat wittert, wird am anderen Ende Albenmarks die Sorge um einen engen Freund wach. Bald beginnt ein Spiel zwischen den Mächten von Vorurteilen und Wahrheiten, Vergangenheit und Zukunft, Begierde und Zwietracht, tiefen Ängsten und dunkler Magie, fälschlicher Rechtschaffenheit und dem Verrat aus Liebe.
GeschichteDrama, Fantasy / P16 / Gen
Emerelle
OC (Own Character)
Tiranu
Yulivee
20.12.2015
01.12.2016
50
187.715
3
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Dieses Kapitel
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17.09.2016
5.626
Erblasste Farben
„Jornowell?“
Er fühlte eine sanfte Berührung an seiner Schulter. Behutsam drückten fünf Finger ein wenig fester zu, rüttelten den Schlaf von seinen Gliedern.
„Jornowell!“
Träge öffneten sich seine Augen. Die aufgehende Sonne blendete ihn für einen Moment, doch kaum hatte er die Müdigkeit fortgeblinzelt, ruckte sein Kopf in die Höhe. Die Erkenntnis kam wie ein Schlag und er war hellwach.
Wo zuvor noch seidenweiches Lockenhaar seine Wange berührte, stieg nun Eisigkeit in ihm auf. Morwenna hatte sich in seiner Umarmung nicht gerührt. Schluckend zog er seine Arme unter der Gestalt der Elfe hervor und richtete sich auf.
Es waren ein Tag und eine Nacht vergangen, seit die Fürsten in den Rosenturm zurückgekehrt waren. Ein Tag und eine Nacht, in denen er unaufhörlich gegen die erschütterliche Wahrheit rang und sich ihr doch ergab. Ein Tag und eine Nacht, in denen er Morwenna nicht von der Seite gewichen war, bei ihr lag, ungezählte Geschichten in ihr Ohr flüsterte und die Alben anflehte, sie endlich erwachen zu lassen.
Doch die Alben schenkten ihm kein Gehör.
„Jornowell!“, forderte eine Stimme in seinem Rücken. Der Weltenwanderer wandte sich um und nickte seinem Neffen zu. Anarion deutete auf zwei weiß gekleidete Elfendamen, die bei ihm vor der Bettstatt standen. Beide wirkten streng, zurückgenommen und zeitgleich schauten sie mit interessierten Mienen auf Morwenna. Jornowell ahnte, wer sie sein mussten, noch bevor Anarion weitersprach: „Darf ich dir Lavinja und Lysanne vorstellen? Sie sind Heilerinnen im Dienste von Fürstin Valaria und wurden geschickt, um Morwenna in ihrer Genesung beizustehen. Beide haben Erfahrung in …“
„Das haben die Heiler aus der Hauptstadt ebenfalls“, fuhr Jornowell dazwischen und erhob sich aus dem Bett. „Und ihnen ist es auch nicht gelungen zu helfen!“
Mit einigen unwirschen Gesten strich Jornowell sich mit den Fingern durch die wirren Haarsträhnen, um sie zu glätten. Anschließend zog er seine Tunika zurecht und angelte seine Stiefel vom Boden. Anarion heftete sich an seine Fersen, als er dabei war, den Raum zu verlassen. Ein letztes Mal warf er noch einen Blick auf Morwenna in ihrem viel zu groß wirkendem Bett. Ihre Haut war wachsweiß, die Wunde an ihrer freiliegenden Schulter prangte dagegen dunkel auf. Er wollte sie nicht verlassen. Doch die Hoffnung, die beiden Heilerinnen aus Arkadien mochten vielleicht doch eine Wende hervorrufen, ließ ihn ziehen. Sie sollten in aller Ruhe ihrer Arbeit nachgehen können.
Er hatte kaum einen Blick für das Essen, welches im Vorraum auf den niedrigen Tischen vor der gepolsterten Sitzgruppe bereitstand. Vermutlich hatte Abelle es gebracht. Doch Jornowell empfand keinen Appetit.
Als sie auf den Korridoren des Rosenturms ankamen, lehnte Jornowell sich an die gegenüberliegende Wand, das Augenmerk fest auf das Portal zu Morwennas Gemächern gerichtet. Er wollte hier warten, bis die Heilerinnen ihre Untersuchungen beendet hatten. So hielt er es jedes Mal, wenn Naylin oder die anderen langollischen Heiler nach der Fürstin sahen. Er ertrug die Blicke nicht, die sie ihm zuwarfen. Ganz gleich, ob Mitleid, Bedauern oder sogar ein klein wenig Spott in den Augen der Heiler aufflammte, er wollte es nicht sehen.
Anarion räusperte sich. Er stand vor ihm und zeigte eine bedrückte Miene. Deutlich war ihm anzusehen, dass die Situation auch ihm zu schaffen machte, und einmal mehr bewunderte Jornowell den Fleiß und die Loyalität seines Neffen. Er wusste, dass Tiranu den Lehrling in Valarias Diensten für seine Zwecke eingespannt hatte. Er wusste auch, dass Anarion gutmütig genug war, jedem Befehl des Fürstens nachzukommen, war dieser auch noch so fordernd und ruppig formuliert.
„War es … bei Großvaters Verwundung in den Schattenkriegen genauso? Mutter wollte mir nie davon erzählen und ich war zu jung, ihn selbst zu fragen.“
Lange blickte der Weltenwanderer seinen Neffen einfach nur an. Immer wieder vergaß er, wie jung Anarion wirklich war. Wann war er geboren? Irgendwann zwischen den Schattenkriegen und der Dreikönigsschlacht, in der Alvias ins Mondlicht übergetreten war. Für Anarion und viele andere war Alvias durch sein selbstloses Opfer zum Helden geworden. Mehr noch, da er wenige Jahrzehnte zuvor von einer magisch veränderten Waffe in den Schattenkriegen getroffen worden war und seine Narbe an der Stirn zu einer Art Mahnmal in der Gesellschaft der Elfen wurde.
„Es war ähnlich“, antwortete Jornowell schließlich. „Doch ich kann mich nicht entsinnen, dass er so lange schlief. Jedenfalls scheuchte er schon nach kurzer Zeit wieder seine Dienstmaiden in Elfenlicht herum …“
„Wird Morwenna auch Narben zurückbehalten?“
Jornowell nickte. Die Wundnarben würden Morwenna auf immer begleiten. Noch schlimmer aber waren die Verletzungen ihrer Hände. Wo an der Rechten gleich zwei Finger abgetrennt waren, würde die Linke durch einen tiefen Striemen quer über den Handteller lange Zeit in ihrer Funktionsfähigkeit eingeschränkt sein. Sollte Morwenna sie überhaupt je wieder krümmen können.
Jornowell sank die Wand herab, als seine Knie weich wie zu lange in den Händen geformtes Wachs wurden. Sein Kopf schwirrte vor wirren Gedanken, halbgaren Befürchtungen und unwiderruflichen Tatsachen.
„Sie wird vermutlich kaum noch in der Lage sein, ihre Hände zu benutzen“, brachte er heraus und kämpfte im nächsten Augenblick gegen die Woge des Schmerzes an, welche ihn durch die Wahrheit zu übermannen drohte. Morwenna war eine der begabtesten Heilerinnen der Albenmark. Sie verstand sich auf komplizierte Operationen, auf Geburten …
Sie liebte es zu sticken, dachte Jornowell tränenerstickt.
Anarion verschränkte die Arme und wich seinem Blick aus. „Ich habe die anderen Heiler reden gehört. Sie sagten, dass … Morwenna nicht erwachen wollte.“
Der Weltenwanderer fühlte ein Stich in seinem Herzen, der ihn um ein Haar seines Atems beraubte. Das durfte nicht sein! Nein … Wenn es wirklich so war, dann wäre sein Ausharren und der Kampf der Heiler vergeblich. Wenn Morwenna ziehen wollte, so würden sich nicht nur Gelehrte und Heilkundige dafür aussprechen, sie gehen zu lassen. Er hatte Angst vor diesen Gedanken, blanke Panik. Unter den Elfen wog der Tod nicht so schwer wie etwa bei den Menschen. Mit dem Tod kehrte die Seele zurück in den spirituellen Hort aller Seelenkleider, um auf die Wiedergeburt in eine neue fleischliche Hülle zu warten. Aber Jornowell wollte die Hoffnung nicht fahren lassen, dass Morwenna ihr Leid überwand. Es musste sie nicht schwächen … nicht auf immer. Sie würde nicht ins Dunkel stürzen!
Seit einem Tag und einer Nacht kämpfte er gegen diese abscheulichen Gedanken an. Morwenna würde aufwachen! Sie würde niemals ihre Leidenschaft, ihre Profession, ihre Berufung über ihre Pflichten stellen! Oder aber das Leben, welches sie im Begriff gewesen waren, gemeinsam aufzubauen. Noch hatten sie nicht alle Hindernisse überwunden, die sie voneinander trennten, doch er war so zuversichtlich gewesen …
Er hatte es ihr nie erzählt.
Dass er sie liebte.
Vor Yulivee hatte er es eingestanden, aus Trotz und Abwehr aller unangenehmen Fragen, welche die Magierin hätte stellen können. Doch im Angesicht seiner Fürstin waren ihm jene wertvollen Worte nie über die Lippen gekommen. Es reute ihn unermesslich.
Anarion ließ sich neben ihn auf den Boden sinken, als er keine Antwort erhielt. Für eine lange Zeit saßen sie beinander, schwiegen, warteten auf das Erscheinen der Heilerinnen, warteten auf irgendetwas.
„Stehen sich Morwenna und Tiranu nahe?“, raunte Anarion schließlich in die Stille, als Jornowell schon glaubte, die Müdigkeit würde ihn erneut übermannen. Bei den Alben, er hatte die letzten Nächte durchwacht aus Sorge um seine Geliebte. Der kurze Erschöpfungsschlaf im Morgengrauen hatte ihn nur weiter ausgezehrt, so schien es.
Jornowell zuckte nur mit den Schultern. Ob sich die beiden nahe standen oder nicht, wussten sie vermutlich nicht einmal selbst. Manches Mal sprachen sie wie Fremde miteinander, manches Mal brauchten sie nicht einmal ein Wort oder einen Blick, um sich zu verstehen. Bei seiner Schwester, Jelisse, und ihm selbst war das immer so anders …
„Er war kein einziges Mal hier, um seine Schwester zu besuchen“, bemerkte Anarion treffsicher. „Er berät sich auch nicht mit den Heilern, um eine Entscheidung für das weitere Verfahren mit Morwenna zu treffen.“
„Er hat gewiss viel zu tun“, grollte Jornowell und schluckte den Ärger herunter. Natürlich war Tiranu nicht hier gewesen. Für Verwundete oder Schwaches war im Leben des Fürsten kein Platz, selbst wenn die eigene Schwester das Krankenlager hütete. Es wäre an ihm als ihrem Bruder, Entscheidungen zu fällen. Wie auch immer diese aussehen würden … Vielleicht sollte er froh sein, dass der Fürst keine Beratung zuließ. Bei der Kälte, die den Fürsten umgab, würde es Jornowell nicht wundern, wenn er eine voreilige Entscheidung entgegen aller Hoffnungen treffen würde.
Zu gut erinnerte er sich an die Zeit, nahe dem Ende der Tjuredkriege, als Tiranu mit einer beinah tödlichen Verwundung darniederlag. Morwenna hatte alles in den Welten daran gesetzt, ihren Bruder zu retten. Tag und Nacht hatte sie bei ihm gewacht, ihm ihre Stärke geliehen, während mehrere hundert weitere Patienten auf ihre Fürsorge warteten. Für diese ungleiche Behandlung hatte Morwenna einmal mehr an ihrem Ruf kratzen müssen. Doch nichts hatte die Heilerin davon abgebracht, an der Seite ihres Bruders die letzte Schlacht vor dem Ende auszuharren.
Anarion nickte: „Gestern Nachmittag ist der Verwalter von Ninar angekommen. Tiranu hat ihn über die Veruntreuung der Barone ausgefragt. Angeblich hat Meryl eine Unsumme an Geldern für die Instandhaltung einiger vorzeitlicher Bauwerke investiert, doch das Geld kam nie in Ninar an. Der Verwalter der Stadt sprach von einem Vermögen. Damit sind die Beweise gegen die Barone beinahe stichfest. Sie werden bald von ihren Rechten und Pflichten Abstand nehmen müssen.“
„Wenn Tiranu die Baronen ihres Amtes beraubt, wird ihre Tochter das Ihrige ebenfalls niederlegen“, stellte Jornowell fest. „Larielle wurde erst im letzten Winter Baronin von Tamonin …“
„Aber …“ Anarion stockte. „Willst du damit etwa andeuten, Tiranu sollte sie nicht absetzen?“
Jornowell hob seine Brauen: „Wenn er das tun sollte, wird es zu Unruhen unter den Würdenträgern kommen. Meryl ist nicht der erste Adlige, der Steuergelder veruntreut, und er wird auch nicht der letzte sein …“
„Aber Tiranu muss durchgreifen“, konterte Anarion und wirkte dabei beinahe entsetzt von Jornowells Worten. „Sonst werden die restlichen Würdenträger weiterhin tun, was ihnen beliebt!“
„Langollion besitzt bereits jetzt viel zu wenige Würdenträger … die Ernennungen im Winter waren nur Tropfen auf glühende Kohlen. Mit der Absetzung eines Barons setzt Tiranu ein Zeichen: Niemand von den übrigen Adligen ist sicher, niemand von ihnen besitzt sein vollkommenes Vertrauen. Es ist ein Risiko, eines, das auch die restlichen Adligen kennen. Wenn sie unverschämt genug sind, könnten sie ihn erpressen. Wenn sie merken, dass sie ihn gemeinsam in der Hand halten, schneidet er sich mit jedem allzu harten Urteil ins eigene Fleisch. Wie gesagt, es ist ein Risiko.“
Jornowell wusste, dass Tiranu – wenn dieser einmal eine Entscheidung getroffen hatte – kaum von seinem Standpunkt abzubringen war. Morwennas Stimme der Vernunft würde nun nichts bewirken und auf ihn, seinen Hofmeister, hatte er ohnehin nie gehört.
„Eines, das er eingehen muss.“ Anarion legte eine bestimmte Miene zur Schau. „Langollion braucht endlich klare Strukturen. Es werden sich neue Barone finden lassen. Bis es so weit ist, werden die Grafen eben mit mehr Arbeit leben müssen.“
„Sie werden gewiss erpicht auf diese Nachricht sein“, schmunzelte Jornowell und bedachte seinen Neffen dabei skeptisch. „Allmählich beginne ich zu glauben, du seist der wesentlich bessere Hofmeister für Tiranu.“
„Pah! Hofmeister sagst du? Ich – und du natürlich – haben doch längst nicht mehr mit den Aufgaben eines gewöhnlichen Hofmeisters zu kämpfen. Wir sollten zu Beratern aufsteigen!“
„Den zusätzlichen Lohn für diese Position kannst du allerdings gleich vergessen…“ Jornowell lachte. „Tiranu ist nicht eben für seine Großmütigkeit bekannt.“
Anarion fiel in das Lachen mit ein und hob die Hände: „Ich sehe das hier ohnehin mehr als Erfahrungsschatz für die Zukunft.“
Jornowell blickte an die stuckverzierte Decke, um sein Grinsen zu verbergen. Er sollte nicht so albern sein! „Du sprichst ‚abschreckendes Beispiel‘ ziemlich merkwürdig aus.“
Darauf verfielen sie wieder in einvernehmliches Schweigen. Jornowell starrte die Tür zu Morwennas Gemächern an, in der Hoffnung, die Heilerinnen würden bald erscheinen. Und zeitgleich hoffte er, sie würden so lange wie möglich an der Seite der Fürstin verweilen.
Er wusste, dass Anarion händeringend nach einer Möglichkeit suchte, ihn wenigstens für einige Augenblicke von dem abzulenken, was hinter diesen Türen geschah. Er stellte sich nicht eben geschickt dabei an, so viel stand fest, aber Jornowell war dankbar für die tröstende Gesellschaft. Und so war er es, der das Gespräch wieder aufgriff.
„Weißt du, was mit dem Schwert geschehen ist, mit dem Morwenna verwundet wurde?“
Anarion schüttelte das Haupt: „Ich glaube, Tiranu hat es zusammen mit einer wuchtigen Korrespondenz nach Elfenlicht gesandt. Emerelle sollte es zerstören.“
Der Weltenwanderer fühlte, wie ein Kloß in seinem Hals wuchs. Es hätte niemals so weit kommen dürfen!
„Darf ich dir noch eine letzte Frage stellen?“
„Nur zu.“
Anarion lehnte sich zu ihm, als er leise ansetzte: „Ich habe mich in den letzten Tagen über viele Dinge gewundert und dabei stets den Mund gehalten. So etwas lernt man, wenn man Valaria dient. Doch eines lässt mich nicht in Frieden: Was hat dich und Yulivee so entzweit? Du wolltest nicht mit ihr reden … niemand wollte mit ihr reden! Außerdem hätte sie das Schwert längst zerstören können, doch offenbar fühlte sie sich … nicht dazu bestimmt. Was ist nur geschehen?“
„Sie hat mich hintergangen“, stellte Jornowell tonlos fest und war dabei überrascht, wie hart seine Stimme plötzlich klang. Und so leise wie Anarion sprach er auch nicht. Von ihm aus konnten alle hören, was er sagte! „Sie hielt mich für das Opfer einer Intrige. Sie versuchte, mich gegen Morwenna und Tiranu aufzuwiegeln und schlimmer: Sie tat es auch mit den Würdenträgern Langollions. Als wir gemeinsam nach Larion ritten, um die Handelsbevollmächtigte für die Holzproduktion zu unterstützen, kam es zu … Auseinandersetzungen. Yulivee hat Amana irgendwelche Fragen gestellt und ich …“
„Amana … die Verwandte der Fürsten?“, echote Anarion da.
„Du kennst sie?“ Jornowell war verwundert. Natürlich war sein Neffe mittlerweile vertraut mit einigen Namen der Oberschicht in Langollion. Doch Amana war eher eine Person mit untergeordnetem Rang in der aktuellen Lage. Wann war ihr Name dem jungen Lehrling begegnet?
Anarion nickte aber nur und so fuhr Jornowell fort: „Anschließend verschwand Yulivee einfach. Vermutlich, um im Untergrund von Langollion zu … schnüffeln. Ich weiß es nicht … Ich weiß nur, dass Tiranu ging, um sie zur Räson zu bringen. Wäre er ihr nicht hinterher gegangen … wenn sie nur nicht diesen albernen Anschuldigungen, die in aller Munde sind, gefolgt wäre. Ich … Morwenna wäre möglicherweise nie … Tiranu wäre an ihrer Stelle gegangen und …“
Seine Stimme brach, als der Kloß in seinem Hals zu groß wurde, um überhaupt ruhig atmen zu können. Es war eine eigenwillige Mischung aus Wut, Trauer und Angst, die ihn zu übermannen drohte.
„Ein merkwürdiger Zufall“, stellte sein Neffe mit belegtem Ton fest. „Es kommt zu einem fragwürdigen … Gespräch mit Amana und anschließend verschwindet Yulivee? Um zu schnüffeln sagst du? Ich habe gestern Früh ein Schreiben aufgesetzt, das ebendiese Amana in den Rosenturm zu weiteren Gesprächen lädt.“
Jornowell hielt die Luft an. Und plötzlich ergab alles einen Sinn. Amana hatte Yulivee die Informationen geliefert, welche die Erzmagierin so überstürzt hatte handeln lassen. Er erinnerte sich, dass Amanas Gatte einst in den Schattenkriegen gefochten hatte, bis er kurz nach deren Beendigung aus ungeklärten Gründen den Freitod wählte. Dieser Gatte war ein Verwandter der Fürsten und …
War das möglich? Er hatte die in sich gekehrte Handelsleiterin gern gewonnen. Sie war eigenwillig, ja, doch wer in ganz Langollion war das nicht? War sie eine Verräterin? Wenn Tiranu hier mit ihr sprechen wollte, dann würde er dies zweifelsohne feststellen. Ganz gleich, wie schwer die Schuld der Elfe wirklich wog.
„Verdammt!“, rief Jornowell aus. „Du hättest mir das gleich sagen müssen!“
Anarion schaute ihn an, als würde er plötzlich ein Geweih tragen. Doch Jornowell fand nicht die Zeit, sich zu erklären. Wenn Yulivee tatsächlich nach Langollion gekommen war, um in der zwielichtigen Vergangenheit der Fürsten zu wühlen, dann wäre Amana eine perfekte Anlaufstelle für Informationen aus den Zeiten der Schattenkriege gewesen. Doch wie war es der Erzmagierin gelungen, die Handelsleiterin zum Reden zu bewegen? Wenn Yulivee sich irgendwelcher fragwürdigen Methoden bedient hatte – bei den Alben, mittlerweile war er bereit, Yulivee alles zuzutrauen! – dann musste er dem auf den Grund gehen. Vielleicht könnte er die Elfe irgendwie entlasten … wenn die Wahrheit der jüngsten Geschehnisse dies zuließ, verstand sich.
Er würde Amana nicht im Stich lassen!
Jornowell sprang auf und eilte an einem völlig perplexen Anarion vorbei.
Über die Gänge, zwei Ebenen des Turms hinab, an den Räumen der Schreiber vorbei, durch den großen Vorraum hindurch, gelang er in das Arbeitszimmer des Fürsten. Er war aufgebracht, bemerkte Jornowell. Seine Hände zitterten und sein Herz pochte wild. Dies war keine gute Grundlage, um mit dem Fürsten zu sprechen. Er hoffte, er könnte sich zusammennehmen.
Denn auch wenn Jornowell es vor Anarion nicht aussprechen wollte: Ein kleiner Teil von ihm gab auch Tiranu die Schuld für die Verwundung von Morwenna. Denn wäre dieser nicht ohne ein Wort der Erklärung, seine Pflichten im Stich lassend, so übereilt Yulivee hinterher gelaufen, wäre möglicherweise alles anders gekommen. Stattdessen hatte er ihn, Jornowell, welcher am Hofe eigentlich sein engster Vertrauter sein sollte, durch einen Späher überwachen lassen und war einem Rachefeldzug nachgeilt, der einem Elfen seines Alters nicht eben gut zu Gesichte stand.
Tiranu war allein. Er saß an seinem Sekretär, weit über irgendwelche Korrespondenzen gelehnt. Er blickte nicht auf, als Jornowell hereinstürmte.
„Was hast du mit Amana vor?“, bellte er und stützte die Hände auf das polierte Holz vor Tiranu.
Es kam keine Entgegnung. Verdammt! Natürlich hielt Tiranu ihn für einen Schwätzer, einen kopflosen Lebemann, der ihn nun im Stich ließ, um wie eine verheulte Jungfer am Krankenbett seiner Schwester Zeit zu verplempern. Doch wenigstens eine Antwort wäre er ihm doch schuldig!
„Sie ist eine Freundin!“
Tiranu hielt den Blick auf die Briefe gerichtet, welche seine Feder unablässig auf bleiches Pergament kratzte: „Oh, wenn dem so ist. Ich werde dafür sorgen, dass ihr euch eine Zelle in meinen Verliesen teilen könnt. Getrennte Betten oder …?“
„Was erlaubst du dir?!“, fuhr Jornowell auf. „Ich bin niemand, über den du verfügen kannst, du elender Narr!“
„Du bist mein Untergebener …“, setzte Tiranu an, doch Jornowell grollte durch diese Dreistigkeit nur weiter: „Ich bot meine Dienste an, weil ich dich ob deiner Unfähigkeit bemitleide!“
Tiranu erhob sich langsam aus seinen Stuhl. Der Blick seiner schwarzen Augen war durchdringend, stechend, bedrohlich. „Du kannst nun gehen.“
„Sonst was?!“ Jornowell hob die Brauen. „Entweicht noch mehr heiße Luft deinen Lungen?“
Mit den Bewegungen einer pirschenden Wildkatze umrundete Tiranu seinen Sekretär und kam vor Jornowell zu stehen. Er baute sich nicht auf vor ihm, sondern blieb scheinbar gelassen, als er schneidend kalt und betont ruhig sagte: „Ich würde dich mit eigenen Händen im Hof meines Palasts hängen, würdest du nicht im launenhaften Interesse meiner Schwester liegen …“
Ehe Jornowell etwas erwidern konnte, kam Anarion mit entsetztem Ausdruck durch das Portal. Augenblicklich drückte er sich zwischen Jornowell und Tiranu: „Onkel … bist du verrückt geworden?! Du solltest schlafen … Fürst Tiranu, ich bitte ich … entschuldige ihn. Er hat ewig keine Ruhe bekommen und … die Sorge um deine hohe Schwester. Er wird sich jetzt schlafen legen und dann …“
„Schaff ihn mir aus den Augen!“, unterbrach Tiranu ihn und wandte sich um.
Jornowell wehrte sich gegen den befehlsunterwürfigen Griff seines Neffen, doch seine Glieder waren zu schlaff, um sich gegen Anarion durchsetzen zu können. Erbost rief er: „Tiranu!“
Der Fürst horchte nicht.
„Verdammt, hör mir zu!“ Jornowell drehte sein Handgelenk aus dem Griff seines Neffen. „Wenn du Meryl, Leandra und Amana ihre Ämter entziehst, wird auch Larielle ihnen in die Bedeutungslosigkeit folgen! Es wird zu weiteren Aufständen in deinem Reich kommen – und diesmal nicht im Volk, sondern im Adel. Nur um dich zu provozieren, werden weitere Grafen und Barone Gelder veruntreuen … man wird die Beweise für alle je getätigten Ausgaben der Staatskassen vernichten und Cirinths Arbeit war vergeblich. Es werden weitere Würdenträger ihr Amt niederlegen, da sie das Vertrauen in dich verlieren, oder schlimmer, sie werden dir damit drohen, es zu tun, und Bedingungen stellen.“ Jornowell schnaubte und schüttelte den Kopf über diese Aussichten. Sollte es jemals soweit kommen, wäre Langollion für Tiranu unrettbar verloren. Doch das war noch nicht einmal das schlimmste Szenario, das Jornowell in der Zukunft zu erahnen vermochte. „Was willst du deinem Volk als triftigen Grund für Amanas Absetzung nennen, nachdem es so sehr litt und es ihre Hoffnung in die neuen Würdenträger setzte? Dass sie Beweise gegen dich und deine Taten in den Schattenkriegen aufführte? Wen unter den Hungernden wird das interessieren?! Oder was war es, das Amana Yulivee mitteilte?! Sollte je ans Licht kommen, aus welch egoistischen Gründen du diese Entscheidung zu treffen bereit bist, bist du verloren, du Narr! Amana wird reden, wenn du sie verstößt!“
Der Griff von Anarion wurde lockerer. Wenigstens seinen Neffen hatte er zum Zuhören bewegt.
„Und wenn du dich über deine Motive zu Amanas Absetzung ausschweigst, werden es sich alle anderen Handelsbevollmächtigten zweimal überlegen, dir weiterhin zu dienen. Was soll aus dem Abkommen mit Aelburin und ihrem dringend benötigtem Gold werden?! Wem schenken die Zwerge wohl ihr Vertrauen? Dir oder Amana?!“
Anarion ließ endlich die Hände von ihm und auch Tiranu hielt inne. „Glaubst du nicht, Emerelle wartet auf solch eine vortreffliche Gelegenheit?! Du wirst dein Reich ins Chaos stürzen und dich dabei ganz ohne ihr Zutun zugrunde richten. Ich werde nicht zulassen, dass du Morwenna allem beraubst, was ihr noch übrig bleibt. Für was? Falscher Stolz?!“
Noch immer zeigte Tiranu keine Reaktion. Er stand dort, mit dem Rücken zu ihm gewandt und blieb still.
„Was soll er deiner Meinung nach tun?“, fragte Anarion stattdessen, der noch immer nicht von seinem Standpunkt überzeugt schien. „Meryl, Leandra und Amana einfach ungesühnt davon kommen lassen? Sie haben sich – offenbar – des Verrats schuldig gemacht!“
„Ich sage nicht, dass sie vor einer gerechtfertigten Strafe verschont bleiben sollten. Aber ihre Motive sollten genau untersucht werden. Es gibt etliche Gründe, aus denen sie gehandelt haben könnten, wie sie es taten!“ Jornowell verschränkte seine Arme. „Amana ist eine gebrochene Frau, leicht zu beeinflussen. Sie hat eine verschlagene, heimtückische Seite, ja. Aber macht sie das zu einer schlechten Händlerin? Wir alle kennen Yulivee! Wie eine Freundin tritt sie auf, der man alles erzählen kann. Man vergisst die Konsequenzen des Gesagten, vergisst dessen Bedeutung. Amana ist darauf hereingefallen – ebenso wie ich auch.“
„Und die Barone? Steuergelder lassen sich nicht aus leichtgläubigen Gründen veruntreuen.“ Anarion schaute ihn immer noch an, als zweifle er an seinem Verstand. Doch Jornowell wollte nicht einknicken. Das war er Morwenna schuldig.
„Vielleicht wurde das Geld aus Verzweiflung abgezweigt? Vielleicht …“
„Das Schwert“, sagte Tiranu da ungewohnt kleinlaut und deutlich in Gedanken versunken. „Sie haben das Gold genommen, um das Schwert herstellen zu lassen. Es musste ein Vermögen gekostet haben, über dass sie so offensichtlich nicht verfügen. Nur Klingen aus reinem Sternenglanz können mit einem solch machtvollen Zauber belegt werden. Sie hätten das Gold niemals aus eigenen Besitztümern aufbringen können … selbst ihre Burg befindet sich in einem desolaten Zustand …“
„Das Schwert gehörte Meryl und Leandra?“ Anarion horchte auf. „Ich dachte, die Aufständischen hätten es gefunden … was wollten die Barone damit?“
„Ihre Tochter beschützen“, stellte Tiranu mit gebrochenem Ton fest. Diese Erkenntnis schien auch ihm neu. „Eine Schandtat rächen, für die sich ihr Fürst nicht scherte.“
„Larielle erzählte mir von ihrer Entführung, als sie im Winter zu Gast auf dem Rosenturm war“, klärte Jornowell auf. „Eine mächtige Hexe hielt sie gefangen und ließ ihre Mutter erblinden. Haben sie die Hexe mit dem Schwert gerichtet?“
Tiranu nickte.
„Also kein Verrat. Auf keiner Seite.“ Jornowell hob die Brauen. „Lediglich gebrochene Herzen, verletzter Stolz und Verzweiflung. Es wäre nicht so weit gekommen, wenn sie richtig geführt worden wären. Nichts von all dem hätte geschehen müssen! Ein wenig mehr Vertrauen in deine sogenannten Untergebenen wäre angebracht, Fürst.“
Endlich wandte Tiranu sich um.
„Vertrauen?“, fragte er verbittert. „Woher kommt dieser Rat mir nur bekannt vor?“
Jornowell überging diesen Einwand. Viel zu aufgebracht war er noch immer im Innern: „Demütige die Barone ruhig, wenn es dir gefällt. Wie auch immer ihre Strafe ausfällt – du darfst dich nicht darin verlieren.“ Dann räusperte sich der Weltenwanderer verhalten, als ihm klar wurde, dass seine Rolle in diesem Debakel noch nicht beendet war. „Wenn du es wünscht, stehe ich dir zur Seite. Ich habe zu lange meine Pflichten im Stich gelassen. Ich habe dich im Stich gelassen.“
Tiranu zeigte keine Regung, als er sein Angebot schweigend aufnahm. Es dauerte einige Herzschläge, ehe Anarion seinen Blick suchte und ihm ein schwaches Lächeln schenkte. Jornowell schämte sich nun beinahe, diesen Schritt nicht früher getan zu haben. „Und …“, setzte er noch ruhiger als zuvor nach, „du solltest Morwenna besuchen. Sie braucht ihren Bruder und seine Liebe. Ohne dich steht sie das nicht durch.“
Tiranu senkte den Blick. Er nickte.
* * *
Zurück in Valemas zu sein, brachte nicht das, was sie erhofft hatte. All die Farben, die lebendige Lautstärke, das pulsierende Treiben, der überschwängliche Prunk – nichts konnte überdecken, was sich in ihrem Herzen auftat.
Selten hatte sie sich so einsam gefühlt. Zu Anfang hatte sie sich gezwungen, aus ihrem Palast hinaus auf die wimmelnden Straßen zu gehen. Doch das bunte Leben wollte ihr nicht bekommen. Es fühlte sich besser an, wenn sie hinter den kühlen, türkisausgeschmückten Fassaden ihres Refugiums weilte.
Im Hofgarten ihres Palasts zirpten die Zikaden. Unter flackernden Laternen und schattenwerfenden Olivenbäumen saß sie in Gedanken gesunken, die Beine fest an sich gezogen, die Arme um die Knie geschlungen. Ein Versteck in einem dürren Blumenbeet, eine Abschottung vor der erdrückenden Realität.
Wie lange sie hier schon saß, konnte sie nicht sagen. Doch die Gedankengänge, welche sich wild und windend immer tiefer in ihren Kopf gruben, wollten nicht abbrechen.
Yulivee dachte an Jornowell. Vor zwei Tagen erst war sie von Langollion aufgebrochen, doch es fühlte sich an, als hätte sie ihren langjährigen Freund schon vor Ewigkeiten verabschiedet. Er war so kühl, so abweisend gewesen. Keine Erklärung hatte er hören wollen. Sie wollte es ihm nicht verübeln. Nach all der Angst, die kalt in seinen Augen geglommen hatte, war sie nicht überrascht gewesen, dass er sofort die Nähe seiner Liebsten aufsuchte. Dabei hatte er ruhiger auf die Schreckensnachricht reagiert, als sie zunächst vermutet hatte.
Doch hätte sie erwartet – gehofft –, dass der Weltenwanderer nach allem doch das Herz fand, ihr zu schreiben. Aber dem war nicht so. Kein Sterbenswort erreichte sie aus Langollion. Es versetzte ihr einen Stich, der unaufhörlich peinigte. Dass Tiranu sich in Schweigen hüllte, hatte sie dagegen fast vermutet. Wenn das ihre Strafe sein sollte, dann wäre es ihr lieber gewesen, von ihnen angeschrien und mit Vorhaltungen überhäuft zu werden. So fühlte sie sich abgeschieden, isoliert von den Geschehnissen in Langollion, von denen sie so viele selbst zu verantworten hatte. Nicht zu wissen, ob Morwenna schon erwacht oder der Adel von Vascar bereits entmachtet war, setzte ihr zu. Daneben gab es noch so viel mehr, dass sie an sich heran ließ und bekümmerte. Das Schicksal von Amana, der Handelsleiterin, der sie ihren Schutz versprach. Das Schicksal all jener Albenkinder, die noch immer in Langollion hungerten und sich in ihrer Verzweiflung sogar gegen ihre Herren aufgelehnt hatten.
Immer wieder sagte sie sich, dass sie mehr hätte tun können. Die Schuldgefühle wollten nicht abklingen.
Die Erzmagierin wusste, sie tat es erneut. So wie sie sich ihre Familie selbst wählte, weil sie nie eine eigene gehabt hatte, an die sie sich zu erinnern vermochte, so füllte sie die Leere in ihrem Herzen mit der Wärme von anderen. Doch nichts vermochte, die wohlverhüllte Einsamkeit wirklich auszulöschen. Und so spielte sie es vor, die Freude und das Licht in ihrem Leben. Sie ging scheinbar ihren eigenen Weg, losgelöst von der Meinung und der Liebe von anderen, wo es eigentlich mitnichten so war. So entging sie den vielen, vielen Fragen nach ihrem Wohlbefinden und ihrem grausigen Schicksal. Dieses Mal aber wandte sich das Blatt gegen sie – es war keine Wärme, die ihre Seele besetzte, sondern ein reines Chaos. Sie musste damit aufhören, das Schicksal anderer Albenkinder höher anzusetzen als das Ihrige! Sie musste eine Grenze ziehen, sonst würde sie sich nur selbst verlieren und damit war niemandem geholfen, im Gegenteil.
Die Erzmagierin fluchte, als ihr klar wurde, dass sie nicht wusste, wie sie das anstellen konnte. Tiranu hatte recht behalten, als er ihr vorwarf, in einer Traumwelt zu leben.
Sie hatte so viel erreicht und bewerkstelligt mit diesem Traum der Ideale. Doch darüber hinaus hatte sie vergessen zu leben, zu irren und Konsequenzen zu tragen.
„Yulivee?!“
Eine samtene Stimme hallte durch den Hof und Yulivee schrak heftig aus ihren Gedanken auf. Vseslin. Der wohl einzige Elf, an den sie sich festklammern und dabei vergessen konnte, wie sich so etwas wie Trauer oder Einsamkeit anfühlte.
Er war perfekt.
„Yulivee?“
Der Gelehrte betrat den Hof und ganz offensichtlich suchte er nach ihr. Sie waren heute Abend verabredet gewesen, erinnerte sie sich. Doch zeitgleich merkte sie, dass ihre Beine unbeweglich wie massive Steinblöcke waren und der Widerwille, nun aus ihrem Versteck zu kriechen, in ihr aufflammte. Sie wollte ihn nicht sehen. Es war unerträglich für sie, in seine Augen zu blicken.
Sie hatte ihn hintergangen.
Sie vergrub ihren Kopf zwischen den Knien, hörte Vseslin noch ein, zwei weitere Male rufen, ehe eine zweite Stimme gegen die Zikadenpfiffe erklang.
Obilee!
Die Elfe grüßte den Gelehrten, wie sie es mit einem alten Freund getan hätte. Es tat Yulivee gut zu wissen, dass die beiden sich so prächtig miteinander verstanden. Neugierig schaute sie auf und blickte hinaus aus ihrem Olivzweigversteck.
„Suchst du Yulivee?“, erhob die fahrende Ritterin verwundert die Stimme.
Vseslin klang irritiert: „Ist das nicht offensichtlich?“ Er schnaubte. „Sie geht mir aus dem Weg. Wir waren verabredet, gestern Abend, heute Abend … Wenn sie mich nicht sehen möchte, dann soll sie mir es gefälligst ins Gesicht sagen!“
Obilee legte den Kopf schief, wie sie es stets tat, wenn sie log: „Yulivee hat eine dringliche Nachricht aus den Reihen des Rats bekommen. Sie musste aufbrechen und bat mich, ihr Nichterscheinen zu entschuldigen.“
Yulivee fiel ein Stein vom Herzen. Innerlich danke sie ihrer Freundin tausendfach, deren Gespür einmal mehr für sich sprach. In ihrem Gemütszustand wäre es ihr unmöglich, nun mit Vseslin zu sprechen. Sie war sich sicher, er würde ihr den Verrat in den Augen ablesen können. Das Letzte, was sie wollte, war, ihn zu verletzen. Und zeitgleich fühlte sie sich elend in dem Wissen, dies längst getan zu haben.
Der junge Gelehrte nickte, allerdings erkannte Yulivee, dass er Obilee kein Wort glaubte. „Sag ihr, dass ich morgen Früh wieder hier bin.“
Mit diesen Worten machte sich der Valer auf, den Hof zu verlassen. Das Licht der Laternen offenbarte eindeutig, wie verständnislos er war.
Erst als Vseslin verschwunden war, kam Leben in Obilee. Der Kopf ihrer Freundin ruckte herum, der Blick ihrer grünen Augen stach direkt in Yulivees Richtung. Sie hatte die ganze Zeit über gewusst, dass sie unter den Bäumen hockte und lauschte.
Die Erzmagierin wurde rot. Schon als sie noch klein gewesen war, war es Obilee stets gelungen, sie mit geradezu unglaubwürdiger Treffsicherheit in Elfenlicht aufzuspüren. Als die fahrende Ritterin am großen Beet mit den Olivenbäumen zu stehen kam, legte sie eine Hand an einen hervorragenden Ast und lehnte sich zu ihr herunter. In ihrem Gesicht war Ratlosigkeit zu erkennen, aber auch Sorge.
Yulivee blickte auf und fühlte sich erneut wie ein kleines Kind unter dem schweren Blick ihrer Vertrauten.
„Du wirst mir erzählen müssen, was wirklich in Langollion geschah“, forderte die Ältere.
Doch Yulivee konnte nur den Blick abwenden. Natürlich hatte sie Vseslin und Obilee nach ihrer Ankunft im Rosenturm alles berichtet, was in den Labyrinthen und in Vascar geschehen war. Nur die prekären Stellen hatte sie ausgespart. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie den ganzen Morgen, den Mittag hinweg bis zum Abend durch die Gärten des Rosenturms gewandelt waren und Yulivee mit kühlem Gemüt über die Geschehnisse berichtete. Sie hatte sich absichtlich Zeit gelassen, in der Hoffnung, Tiranu oder Jornowell würden noch einmal auf sie zukommen oder nach ihr schicken lassen. Als bis zum Abend nichts Dergleichen geschehen war, beschloss Yulivee zu gehen. Der Abschied von Tiranu war dabei so niederschmetternd gewesen, dass sie es gar nicht erst wagte, noch einmal vor Jornowell zu treten.
Als sie keine Antwort hervorbringen konnte, duckte sich Obilee unter den Ästen hinweg und gesellte sich seufzend zu ihrer Freundin. „Weißt du“, begann sie, als sie sich neben ihr niederließ und die Arme um Yulivees Schultern schlang, „eigentlich dachte ich, die Zeiten, in denen du dich unter Büschen verbirgst, um den Unmut des Adels zu entgehen, seien vorbei.“
Yulivee spürte, wie Obilee die Schläfe auf ihr Haar legte und schmunzelte dabei leicht. Tatsächlich war sie oft nach einem gelungenen – oder misslungenen – Streich gezwungen gewesen, sich in den Gärten Elfenlichts auf diese Weise zu verbergen, um einer völlig überzogenen Strafe zu entgehen. Es war stets Obilee gewesen, die auch nach dem größten Schabernack zu ihr gehalten hatte.
„Was ist nur los mit dir?“
Yulivee sog tief die Luft ein und zog ein kleinwenig Stärke aus der warmen Umarmung. Ihr Herz rebellierte gegen die plötzliche Enge in ihrer Brust. Ihr Mund war trocken, als hätte sie Asche gegessen, während ihre Hände feucht und kalt zugleich waren. Völlig irrationalerweise dachte sie an jenen Kriegsrat in Vahan Calyd zurück, an dem Tiranu ihr vor aller Augen mit einer unmissverständlichen Geste gedroht hatte. Er hatte angedeutet, mit einer Hand jene Falrach-Figur zu zertrümmern, die Yulivees Position als Erzmagierin darstellte. Ihr war, als würde sich jene Situation nun wiederholen. Nur war es dieses Mal keine Figur aus Stein, die Tiranu in der Hand hielt.
Schließlich wollten die Worte hinaus, mit denen sie schon zu lange kämpfte: „Ich glaube, ich habe mich verliebt ...“ Die Luft entwich ihren Lungen, schwer und zäh wie jeder Ton, der sich von ihrem Mund stahl. „In ihn.“
Zuerst sagte Obilee nichts und rührte sich kein Bisschen. Als jedoch sieben Herzschläge verstrichen waren, versteifte sich ihre Freundin und Yulivee merkte, wie sie den Atem anhielt. Allerdings wollte noch immer kein Laut über ihre Lippen kommen und die Erzmagierin war dankbar dafür.
Obilee würde immer zu ihr halten, ganz gleich, welche Dummheit sie beging.
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Ich danke euch fürs Lesen und ganz besondere Grüße wie immer an meine liebe Reviewerin Phae und an Flammendo für die vielen Mails!
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