Schattenspiele
von Riniell
Kurzbeschreibung
Fortsetzung zu ‚Keine Rose ohne Dorn‘: Der ambitionierte Aufschwung Langollions bleibt nicht lange unbeachtet. Während die Elfenkönigin einen nahenden Verrat wittert, wird am anderen Ende Albenmarks die Sorge um einen engen Freund wach. Bald beginnt ein Spiel zwischen den Mächten von Vorurteilen und Wahrheiten, Vergangenheit und Zukunft, Begierde und Zwietracht, tiefen Ängsten und dunkler Magie, fälschlicher Rechtschaffenheit und dem Verrat aus Liebe.
GeschichteDrama, Fantasy / P16 / Gen
Emerelle
OC (Own Character)
Tiranu
Yulivee
20.12.2015
01.12.2016
50
187.715
3
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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10.09.2016
3.171
Danke an Phae für das super Review!
Der morgendlich zähe Nebel löste langsam seine Finger um den Rosenturm, als die Reisegemeinschaft eintraf. Zwölf Rösser und eine Kutsche tauchten im rauchigen Niederschlag auf, wie die Geister einer lang vergessen Zeit. Die Kutschräder klapperten hell über den Marmor, als das Gespann über den weiten Hof trabte. Über ihnen lag das Schweigen wie ein unsichtbares Leichentuch, während die Rösser unaufhörlich schnaubten und voll der Unruhe über den Stein scharrte. Yulivee fragte sich, ob sie ihre Anspannung fühlten. Die Magierin gab einen kurzen Zug auf die Zügel ihres Pferds, tat einen tiefen Atemzug und blickte mit schwerem Herzen auf die Gestalt auf dem Treppenabsatz über ihr. Ein Elf, der mit unleserlichen Gesichtszügen wartend unter Langollions Banner ausharrte. Blondes Haar glitzerte in der aufsteigenden Sonne.
Am frühen Morgen war die kleine Gemeinschaft am Hafen von der fürstlichen Eskorte empfangen worden, um unter ihrem Schutz die restliche Etappe zum Rosenturm anzutreten. Vier Turmwachen begleiteten ihren Ritt, während ein Bote in die Heilhäuser der Hafenstadt gesandt wurde und ein zweiter auf dem schnellsten Ross in den Fürstensitz voraus ritt, um ihr Kommen anzukündigen. In der Kutsche befand sich die verwundete Fürstin, Naylin beständig und scheinbar unermüdlich an ihrer Seite. Noch immer war Morwenna nicht erwacht, noch immer setzte die Wundheilung nicht ein.
Yulivee hätte geglaubt, erleichtert zu sein, Anarion und nicht Jornowell am Tor des Rosenturms zu erkennen. Ein kleiner Aufschub, eine kleine Schonfrist. Doch in ihrem Herzen breitete sich nur weitere Unruhe aus, die kaum zu bezähmen war. Ihre Knie zitterten, als sie abstieg und Felbions Zügel fahren ließ.
Ein Fanfarenstoß erklang.
Auch Tiranu saß ab und wies die Wachleute mit knappen Worten an, Morwennas Trage hinaufzubringen, während er selbst die Gemeinschaft anführte. Ihm folgten die stille Riana und der überheblich wirkende Silvain. Yulivee hielt sich respektvoll im Hintergrund, während einmal mehr die Frage ihren Verstand kreuzte, wie die beiden zwielichtigen Schnitter es bewerkstelligt hatten, so sehr in Tiranus Vertrauen gezogen zu werden, dass sie quasi nie nicht von seiner Seite wichen. Wie seine Schatten waren sie. Dabei kamen sie ursprünglich als Geleit der Fürstin nach Vascar. Wo andere behaupten würden, die beiden hätten bei ihrer Aufgabe, Morwenna zu schützen, versagt, ließ Tiranu ihnen gegenüber keine Abwertung bemerken.
Silvain schaute auf, direkt zu ihr herüber – wohl schien er ihr Starren bemerkt zu haben. Yulivee schauderte und wandte den Blick hastig in eine andere Richtung. Diese Augen …
Sie waren dunkel, selbst im Licht der verschleierten Sonne. Sie bargen etwas in sich, das die Magierin unweigerlich an Tiranus Blick erinnerte. Es lag etwas Schweres, Unbrechbares darin. Ein Geheimnis.
Yulivee griff nach der Flöte an ihrer Hüfte und dachte an die letzte Nacht zurück. Sie hatte den Sturm bezwungen, die Winde gezähmt. Doch ihre eigenen Emotionen hatte sie nicht kontrollieren können. Sie fühlte Hitze in sich aufsteigen, als sie daran dachte, wie unbedacht sie gewesen war. Ein Kuss. Wie hatte sie das nur erneut geschehen lassen können? Schlimmer, es sogar begonnen zu haben... Sie fühlte keine Scham, nicht einmal Reue. Sollte sie das grämen, sollte sie das beunruhigen? Es war mehr eine flatterhafte Aufgewühltheit, die sich in ihrem Magen ausbreitete. Unangenehm und unruhig. Es half nicht, dass Tiranu und sie seit dem Sturm nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Vielleicht hätte es ihr geholfen, sich und ihre wirren Gedanken zu ordnen. Doch nun schien es, als würden viel bedeutungsschwerere Aufgaben und Taten ihrer beider Handlungen bestimmen, sie weiter auseinander treiben.
Doch seine Worte klangen noch in ihrer Seele wieder und dann, erneut, erinnerte sie sich an seinen Blick. Er sprach ihr sein Vertrauen aus, wirkte dabei aber so streng und voreingenommen, als rechne er fest damit, dies irgendwann zu bereuen. Sie hatte erkannt: Wenigstens dieses eine Mal spielte er nicht, sondern teilte seine wahrhaften Gedanken. Es führte sie in Versuchung, auch ihre Gedanken mitzuteilen – auf die wohl leichtsinnigste Weise, die sie sich nun vorstellen konnte.
Yulivee biss sich auf die Zunge und blickte erneut auf. Dieses Mal jedoch fand ihr Augenmerk Tiranus Rücken. Nicht einmal hatte er sich seit dem Aufbruch von der Sturmjäger am Morgen zu ihr gewandt oder versucht, mit ihr zu sprechen. Er war eigenwillig. Und auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, faszinierte er sie. Diese Erkenntnis war es, die schließlich doch so etwas wie Furcht in ihr wachrief. Sie hatte sich für klüger gehalten, als so blind einige schöne, unschöne und doch wahre Worte derart an sich heranzulassen.
Ihre Beine waren schwer, wie in Blei getaucht, als sie die Treppe zum Turm hinauf gingen. Anarion verneigte sich vor Tiranu, der den Wachen bedeutete, voran zu gehen und Morwenna in ihr Gemach zu bringen. Die Fürstin lag blass wie der Tod auf der Liege, eingewickelt in wollenen Decken und einem zotteligen Fell. Sie wirkte klein und zerbrechlich, als sei sie ein Kind, das erschöpft schlief.
Ohne lange Umschweife richtete Tiranu das Wort an den jungen Neffen Jornowells: „Wo ist der Hofmeister?“
Anarion suchte mit verunsichertem Blick Yulivees Aufmerksamkeit. Er schien verstört von dem, was er sah. Morwenna war ihm offenbar nicht unvertraut. Natürlich musste es sich gänzlich seinem Verständnis entziehen, was vorgefallen war. „Was ist nur passiert?!“
Tiranu verschränkte seine Arme voll der Ungeduld: „Ich habe dir eine Frage gestellt, Bursche!“
In Anarions hellen Augen blitzte es und Yulivee sah sich gezwungen, für ihren alten Bekannten einzutreten: „Morwenna geht es den Umständen entsprechend gut. Sie wurde angegriffen, aber sie ist außerhalb der Gefahr. Es werden Heiler aus der Hauptstadt kommen, um für sie zu sorgen. Du musst keine Angst um sie haben…“
„Wo ist Jornowell?“, verlangte Tiranu mit Nachdruck und Anarion erzitterte unter der Strenge in seinem Ton. Der junge Beamte im Dienste der Fürstin von Arkadien öffnete den Mund, zog die Brauen zusammen, schloss den Mund wieder, rang die Hände und hob die Brauen: „Er wird außer sich sein …“
„Das ist mir gleich“, stellte Tiranu nonchalant klar. „Er muss seine Aufgaben erfüllen. In Vascar verlangen dringende politische Aufgaben seine Aufmerksamkeit. Aus dem Norden sind Zeugen auf dem Weg in den Rosenturm und wir müssen uns vorbereiten, um sie gebührend zu empfangen. Also, wo befindet er sich?“
Erneut streifte sie Anarions Blick: „In den Kaminhallen …“
Yulivee nickte: „Ich gehe ihn holen.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, machte sich die Erzmagierin daran, an den beiden Elfen vorbeizugehen. Anarion wollte ihr offenbar folgen und sie wäre dankbar für seine Unterstützung gewesen, doch Tiranu hielt den Beamten zurück. „Es wird reichen, wenn eine Person ihn informiert. Ich … würde es zu schätzen wissen, deine Dienste für ein paar weitere Tage in Anspruch nehmen zu können.“
Ernst war Anarions Gesicht, als Tiranus Bitte erklang. Yulivee hingegen staunte. Setzte der langollische Fürst hier etwa tatsächlich ihren Rat um, jenen, die sich darum verdient machten, sein Vertrauen zu schenken? Es schien unvergessen, mit welcher Detailgenauigkeit Anarion sie damals im Arbeitszimmer des Fürsten mit dem Aufstand in Vascar vertraut gemacht hatte. Sein kompetenter Umgang mit der Situation mochte Eindruck bei Tiranu hinterlassen haben. „Es wäre mir eine Ehre und meine Herrin, Fürstin Valaria, wird darauf bestehen, dass meine Hilfe im Namen von Arkadien weiterhin geboten ist“, entgegnete Jornowells Neffe.
Yulivee schenkte ihm für diese Worte ein knappes Lächeln, wohingegen Tiranu mit keiner Geste seine Anerkennung verriet. „Wir müssen sofort anfangen.“
Anarion nickte: „Ich verstehe … doch du wirst mir gestatten müssen, Valaria über die neue Lage zu informieren. Ich werde sie nicht in Unwissenheit über das Schicksal ihrer Handelspartner lassen können.“
Mit einem Hauch des Wiederwillens gab Tiranu sein Einverständnis und machte sich schließlich daran, an der Seite seiner Offiziere den Turm über den langen, überdachten Vorbau zu betreten.
Anarion verharrte hingegen noch einen Moment lang an ihrer Seite: „Jornowell sorgte sich seit Tagen um Morwenna … die anderen Höflinge begannen, über ihn zu sprechen, als seine Angst die Überhand gewann. Er machte Fehler und wurde nachlässig … so gut es ging, erfüllte ich seine Aufgaben, doch konnte ich nicht seine Angst nehmen. Sag es ihm nicht in der Öffentlichkeit. Er würde sein Gesicht an diesem grausigen Hof verlieren.“
Die Erzmagierin schluckte.
Obilee lauschte in Gedanken versunken der Geschichte, welche sich leichthin von Jornowells Lippen stahl. Dem Weltenwanderer gelang es spielerisch, den kämpferischen Gorgonen in seiner Erzählung Leben einzuhauchen. Mit gefiederten Pfeilen gingen sie seinen Worten nach auf eine magische Jagd, die Jornowell dereinst hatte begleiten dürfen.
Die Elfe fand weniger Gefallen an der Geschichte, als an der Leichtigkeit, die plötzlich wieder in Jornowells Blick lag. Der Hofmeister der Fürsten Langollions schien wenigstens für diese wenigen Momente wieder er selbst zu sein.
Es war noch früh am Morgen. Im Rosenturm ging das Treiben der Höflinge noch träge voran, während sie sich bereits mit dem Weltenwanderer und Vseslin in den Kaminhallen zu einem kleinen Morgenmahl zusammen gefunden hatte. Sie waren weitgehend ungestört im Gesellschaftssaal vor den Gärten des Palasts, in denen die Pracht der berühmten Rosen in anmutigen Granatfarben zu blühen begann. Es war herrlich ruhig, befand die Elfe, und der Ausblick war atemberaubend.
Während sie die am Himmel tanzenden Möwen verfolgte, dachte sie daran, wie leicht es ihr fiel, sich seit den Geschehnissen des Tjuredkriegs treiben zu lassen. In Valemas war ihr bereits aufgefallen, wie wenig sie doch das Leben in Elfenlicht vermisste. Doch die Tage in Langollion zeigten es ihr deutlich: Sie vermisste gar nichts. Ihr Herz schien taub, während ihr der Verstand immer wieder einredete, wie gut die Orte doch waren, an die es sie verschlug. Albenmark war wunderschön in ihren Augen und zugleich trist für das Auge ihres Herzens. Es war ihr gleichgültig, wo sie war. Alles war gleich Grau.
Seit Nuramon fort war – für immer – gab es keinen Grund für sie, noch an irgendetwas festzuhalten. Es gab für sie keinen Grund mehr, jahrelang in Elfenlicht jeden Tag sein Kommen zu erwarten und jeden Tag aufs Neue enttäuscht zu werden. Es gab für sie keinen Grund mehr, irgendwo zu sein.
„Obilee? Hörst du mich!?“
Die Magierin blickte auf und fühlte sich ertappt. Vseslin schaute sie etwas irritiert mit seinem so eigenen spitzbübischen Grinsen an. Wie oft hatte er schon ihren Namen gesagt?!
„Wo bist du nur in deinen Gedanken?“, fragte Jornowell und schenkte ihr ebenfalls ein gütiges Lächeln.
Als sie vor wenigen Tagen von Valemas nach Langollion gereist waren, zeigte sich Jornowell zunächst wenig erfreut über ihre Anwesenheit. Er hatte sich die stummen Vorwürfe kaum anmerken lassen, doch Obilee hatte erkannt, dass Jornowell wohl um die geheimen Vorhaben von Yulivee in Langollion wusste oder sie zumindest in Betracht zog. Er mied penibel jedes Thema, dass sich auch nur im Entferntesten um Morwenna oder Tiranu drehen könnte. Ob er ahnte, dass auch sie eingeweiht war? Jedenfalls ließ er sie seit ihrer Ankunft keinen Moment lang aus den Augen …
„Wir haben uns gerade gefragt, ob du je das Bogenschießen meistern konntest“, stellte Vseslin fest und spielte damit offenbar auf die Gorgonen in Jornowells Erzählung an. Obilee nickte, den Gedanken an einen braungelockten Schützen unterdrückend. Vseslin lächelte: „Könntest du mich diese Kunst lehren?“
Obilee wollte gerade einen möglichst geschickten Weg finden, sich aus dieser Bitte herauszulavieren. Doch ihre Bemühungen wurden jäh unterbrochen, als Jornowell, der ihr gegenüber auf einem Divan saß, aufsprang und zum Portal des Saals in ihrem Rücken blickte. „Yulivee…“, flüsterte er atemlos.
Obilee spürte eine jähe Anspannung in sich aufsteigen. Sie ahnte, was geschehen war. Vseslins freudenstrahlendes Gesicht bestärkte sie nur in ihrer Annahme: Yulivee war von ihrem Besuch in Vascar zurückgekehrt!
Obilee erhob sich und wandte sich um.
Tatsächlich!
Mit ungewohnt kleinen Schritten kam ihnen die Erzmagierin entgegen. Ihr Gewand aus grüner Seide raschelte, doch sonst war kein Geräusch im gesamten Saal zu vernehmen. Ihre Freundin wirkte überrascht, sie und Vseslin zu sehen, ja schockiert. Von Wiedersehensfreude war auf ihrem schmalen Gesicht nichts auszumachen. Obilee fühlte, wie sich Vseslin neben ihr versteifte. Und auch sie bemerkte es: Etwas stimmte nicht.
Was war auf der Reise nach Vascar geschehen? Oder hatte es etwas mit der geheimnisvollen Nachricht zu tun, die Yulivee ihr in Valemas hatte zukommen lassen? Sie hatte ihr über eine verschlüsselte Botschaft mitgeteilt, dass sie sich in die Rosenlabyrinthe gewagt hatte. Erst nach einem langen Zögern war Obilee bereit gewesen, Yulivees eigentliche Mission in Langollion zu gefährden, um sie hier gemeinsam mit Vseslin aufzusuchen. Als sie aber den Rosenturm erreichten, hieß es nur, dass Yulivee wohlbehalten zusammen mit Fürst Tiranu nach Vascar gereist war, wo ein aufkeimender Aufstand der hungernden Bürger für Unruhen sorgte. Auch Morwenna war dort und Jornowell geriet in hellere Aufregung, je länger die Abwesenheit der Fürstin währte. War es ihnen nicht gelungen, den Aufstand zu schlichten?
Erst als Yulivee die kleine Sitzgruppe erreichte, löste sich Jornowell aus seiner Starre: „Wo ist …?“
Mit einem schnellen Seitenblick in Richtung von Obilee und Vseslin räusperte sich die Erzmagierin und wandte sich schließlich an Jornowell: „Wir müssen reden. Unter vier Augen.“
Obilee verstand, während die Sorge in ihr wuchs. Sie ermahnte sich aber zur Geduld und bedeutete Vseslin, mit ihr zu kommen. Der Valer wollte erst protestieren – wahrscheinlich sehnte er sich nach all der Furcht um Yulivee so sehr danach, seine Geliebte in die Arme zu schließen, dass er nicht erkannte, wie ernst diese Situation gerade wirklich wurde. Doch nach einer unwirschen Geste, die Obilee ihm angespannt zuteilwerden ließ, folgte der Gelehrte ihr.
Gemeinsam traten die beiden durch die Halle, die Anspannung wuchs mit jedem Schritt. Als sie durch die großen Fenstertüren hinaus ins Freie gelangten, wagte Obilee einen Blick über die Schulter.
Was sie sah, milderte ihre Unruhe nicht im Geringsten. Durch die Scheiben der Fenster hindurch wirkten Jornowell und Yulivee wie Wesen aus einer anderen Welt. Sie wirkten fremd. Fremd vor Obilee und fremd voreinander. Stets hatte die beiden eine enge Freundschaft verbunden, doch nun schien eine Distanz zwischen sie getreten, die Obilee ängstigte.
Die fahrende Ritterin war nicht so geschockt wie Yulivee darüber gewesen, dass Jornowell sich ausgerechnet Morwenna als Liebste gewählt hatte. Sie wusste, der Geschmack des Weltenwanderers, was Damen anbelangte, war eigen. Sie hatte es seit dem ersten Gerücht, das ihr über die Fürstin und ihm zu Ohren kam, als kurzlebige Laune abgetan.
Doch diese Laune hatte den fröhlichen Lebemann, den sie eigenwilligerweise tief in ihr Herz geschlossen hatte, verändert. So in Aufruhr hatte sie den sonst eher gelassenen Sohn von Alvias noch nie erlebt. Es behagte Obilee nicht unbedingt, ihn so sehr einer Elfe verfallen zu erleben. Bei jeder anderen Elfe hätte sie sich trotz dieser Situation sogar freuen können. Sie wusste, Liebe wirkte außerhalb jeder Kontrolle. Aber ausgerechnet Morwenna?
Sie schien ihn geändert zu haben.
Dies war auch deutlich daran zu erkennen, wie er während des Gesprächs mit Yulivee, in dem er vor allem schwieg und lauschte, immer weiter in sich zusammensank. Einmal fuhr er auf, schüttelte den Kopf. Dann wirkte es, als würde er Yulivee Vorwürfe machen. Obilee konnte die Wut in seiner Stimme nicht hören, doch deutlich in seinem Gesicht sehen. Immer dunkler wurde der Ausdruck in seinen verschiedenfarbigen Augen. Obilee glaubte, Tränen in ihnen schimmern zu sehen.
Für die fahrende Ritterin wurde eines deutlich: Jornowell wusste um den wahren Grund von Yulivees Anwesenheit in Langollion. Und nach allem, was sie über die starken Gefühle des neuen Hofmeisters wusste, musste er denken, seine Vertraute habe ihn verraten.
Als sich der Weltenwanderer von Yulivee abwandte und aus der Halle stürmte, sank auch die Gestalt der Elfe in sich zusammen. Es vergingen einige, sehr lange Momente, in denen die Erzmagierin verloren wirkend bei der Sitzgruppe ausharrte. Dann jedoch begab sie sich endlich in die Richtung der Terrasse, auf der sie warteten.
Vseslin ging seiner Geliebten entgegen, um sie in eine feste Umarmung zu schließen. Ein Schluchzen war zu hören. Yulivees Arme schlangen sich um den drahtigen Leib des Valers, ehe sie kaum verständlich raunte: „Ihr hättet nicht herkommen dürfen!“
Dann, nach einem kurzen Zögern, setzte sie nach: „Ich bin so froh, dass ihr hier seid.“
Der Abend begann, mit schattigen Fingern hinter die Bücherregale, Kandellaber und Wandteppiche zu greifen, als Anarion das letzte Mal für diesen Tag aus dem Studierzimmer trat und sich in die Nacht verabschiedete. Tiranu wog ab, es dem Lehrling gleichzutun. Unruhig saß er an seinem Sekretär und fühlte sich mit jedem Wort, das er schrieb, ausgelaugter. Er hatte am Morgen ein schnelles Bad genommen, um das Salz des Meers von sich zu waschen, und die Garderobe gewechselt. Doch von einem Ankommen konnte bisher nicht die Rede sein.
Es mussten Schreiben aufgesetzt werden. Eines an Cirinth, dessen Berichte über den Fortschritt in Vascar er längst im Rosenturm erwartet hätte. Eines an den Verwalter der Stadt Ninar, durch den die Veruntreuung der Staatsgelder durch die Barone Vascars bezeugt werden könnte. Eines an den Grafen des Nordens, welcher dafür sorgen müsste, dass Meryl und Leandra endgültig ihr Amt niederlegten, und bis zum Tag ihrer Nachfolge ihre Aufgaben übernehmen sollte. Eines an Amana, die heimtückische Verräterin, das sie für einige ungezwungene Gespräche in den Rosenturm lud. Und natürlich eines an Emerelle, die sich die Finger nach diesem Skandal lecken musste.
Jornowells Neffe nahm ihm so viel der Arbeit ab, wie es ihm mit der wenigen Erfahrung mit der langollischen Politik möglich war. Doch selbst bei seiner gelungenen Koordination der aufgeschreckten Schreiber würde es noch eine lange Nacht werden.
Tiranu versuchte, sich zu konzentrieren, ließ Anspannung, Wut und Ärgernis fahren. Leerte seinen Verstand, wie er es vor einem Kampf tun würde. Doch jeder Gedanke, den er hierauf tat, schien sich ins Endlose zu ziehen.
Andere hätten die Arbeit sich selbst überlassen, den unfähigen Schreibern womöglich. Doch nach all den Geschehnissen der letzten Wochen und Monate, wollte es ihm nicht gelingen, die Arbeit aus den Händen zu geben. Er war zu aufgewühlt, zu sehr dem unruhigen Tatendrang verfallen, um sich auszuruhen. Und zu müde, zu abgelenkt, um wirklich bei der Sache zu sein.
Er ließ die Schreibfeder fallen und strich sich ermattet über das Gesicht.
Er sehnte sich nach einem Kampf. Ein Kampf gegen einen würdigen Gegner und für einige Momente gäbe es ein Vergessen. Zu lange schon hatte er sich nicht in den Baracken seiner Schnitter blicken lassen. Es wäre Zeit, wieder das Schwert zu ergreifen. Einen klaren, ungetrübten Gedanken fassen. Auch wenn immer noch unterschwellig eine Stimme murmelte, dass womöglich nicht einmal der Schwertkampf seine Orientierungslosigkeit tilgen könnte. Was blieb dann noch?
Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Ehe er reagieren konnte, schwang die Türe bereits auf. Tiranu schluckte die Worte herunter, die er für den Störenfried auf seinen Lippen bereit hatte. Eine zierliche Elfe betrat das Arbeitszimmer. Ihr Gang war verhaltener, zurückgenommener als gewöhnlich, ihre Gestalt zusammengesunken.
Yulivee hielt gemessenen Abstand, als sie zu stehen kam, und verschränkte in einer unsicheren Geste die Hände vor ihrem Leib. Ihr sonst wacher Blick war abgründig und voll der Schatten. Er fühlte sich an ihren ersten Besuch in diesen Räumlichkeiten zurückerinnert. Damals war sie voll der impulsiven Angriffslust gewesen, hatte ihm die Stirn bieten wollen – nun wirkte sie gebrochen. „Ich komme, um mich zu verabschieden. Ich kehre nach Valemas zurück.“
Tiranu schaute hinunter auf das Schreiben, konnte nicht länger den Blick ihrer dunkelschimmernden Augen ertragen, griff die Feder und räusperte sich: „Leb wohl.“
Einige Augenblicke verstrichen. Dann fiel die Tür beinahe geräuschlos ins Schloss. Yulivee war fort.
Ein dunkler Schimmer in den Augen
Der morgendlich zähe Nebel löste langsam seine Finger um den Rosenturm, als die Reisegemeinschaft eintraf. Zwölf Rösser und eine Kutsche tauchten im rauchigen Niederschlag auf, wie die Geister einer lang vergessen Zeit. Die Kutschräder klapperten hell über den Marmor, als das Gespann über den weiten Hof trabte. Über ihnen lag das Schweigen wie ein unsichtbares Leichentuch, während die Rösser unaufhörlich schnaubten und voll der Unruhe über den Stein scharrte. Yulivee fragte sich, ob sie ihre Anspannung fühlten. Die Magierin gab einen kurzen Zug auf die Zügel ihres Pferds, tat einen tiefen Atemzug und blickte mit schwerem Herzen auf die Gestalt auf dem Treppenabsatz über ihr. Ein Elf, der mit unleserlichen Gesichtszügen wartend unter Langollions Banner ausharrte. Blondes Haar glitzerte in der aufsteigenden Sonne.
Am frühen Morgen war die kleine Gemeinschaft am Hafen von der fürstlichen Eskorte empfangen worden, um unter ihrem Schutz die restliche Etappe zum Rosenturm anzutreten. Vier Turmwachen begleiteten ihren Ritt, während ein Bote in die Heilhäuser der Hafenstadt gesandt wurde und ein zweiter auf dem schnellsten Ross in den Fürstensitz voraus ritt, um ihr Kommen anzukündigen. In der Kutsche befand sich die verwundete Fürstin, Naylin beständig und scheinbar unermüdlich an ihrer Seite. Noch immer war Morwenna nicht erwacht, noch immer setzte die Wundheilung nicht ein.
Yulivee hätte geglaubt, erleichtert zu sein, Anarion und nicht Jornowell am Tor des Rosenturms zu erkennen. Ein kleiner Aufschub, eine kleine Schonfrist. Doch in ihrem Herzen breitete sich nur weitere Unruhe aus, die kaum zu bezähmen war. Ihre Knie zitterten, als sie abstieg und Felbions Zügel fahren ließ.
Ein Fanfarenstoß erklang.
Auch Tiranu saß ab und wies die Wachleute mit knappen Worten an, Morwennas Trage hinaufzubringen, während er selbst die Gemeinschaft anführte. Ihm folgten die stille Riana und der überheblich wirkende Silvain. Yulivee hielt sich respektvoll im Hintergrund, während einmal mehr die Frage ihren Verstand kreuzte, wie die beiden zwielichtigen Schnitter es bewerkstelligt hatten, so sehr in Tiranus Vertrauen gezogen zu werden, dass sie quasi nie nicht von seiner Seite wichen. Wie seine Schatten waren sie. Dabei kamen sie ursprünglich als Geleit der Fürstin nach Vascar. Wo andere behaupten würden, die beiden hätten bei ihrer Aufgabe, Morwenna zu schützen, versagt, ließ Tiranu ihnen gegenüber keine Abwertung bemerken.
Silvain schaute auf, direkt zu ihr herüber – wohl schien er ihr Starren bemerkt zu haben. Yulivee schauderte und wandte den Blick hastig in eine andere Richtung. Diese Augen …
Sie waren dunkel, selbst im Licht der verschleierten Sonne. Sie bargen etwas in sich, das die Magierin unweigerlich an Tiranus Blick erinnerte. Es lag etwas Schweres, Unbrechbares darin. Ein Geheimnis.
Yulivee griff nach der Flöte an ihrer Hüfte und dachte an die letzte Nacht zurück. Sie hatte den Sturm bezwungen, die Winde gezähmt. Doch ihre eigenen Emotionen hatte sie nicht kontrollieren können. Sie fühlte Hitze in sich aufsteigen, als sie daran dachte, wie unbedacht sie gewesen war. Ein Kuss. Wie hatte sie das nur erneut geschehen lassen können? Schlimmer, es sogar begonnen zu haben... Sie fühlte keine Scham, nicht einmal Reue. Sollte sie das grämen, sollte sie das beunruhigen? Es war mehr eine flatterhafte Aufgewühltheit, die sich in ihrem Magen ausbreitete. Unangenehm und unruhig. Es half nicht, dass Tiranu und sie seit dem Sturm nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Vielleicht hätte es ihr geholfen, sich und ihre wirren Gedanken zu ordnen. Doch nun schien es, als würden viel bedeutungsschwerere Aufgaben und Taten ihrer beider Handlungen bestimmen, sie weiter auseinander treiben.
Doch seine Worte klangen noch in ihrer Seele wieder und dann, erneut, erinnerte sie sich an seinen Blick. Er sprach ihr sein Vertrauen aus, wirkte dabei aber so streng und voreingenommen, als rechne er fest damit, dies irgendwann zu bereuen. Sie hatte erkannt: Wenigstens dieses eine Mal spielte er nicht, sondern teilte seine wahrhaften Gedanken. Es führte sie in Versuchung, auch ihre Gedanken mitzuteilen – auf die wohl leichtsinnigste Weise, die sie sich nun vorstellen konnte.
Yulivee biss sich auf die Zunge und blickte erneut auf. Dieses Mal jedoch fand ihr Augenmerk Tiranus Rücken. Nicht einmal hatte er sich seit dem Aufbruch von der Sturmjäger am Morgen zu ihr gewandt oder versucht, mit ihr zu sprechen. Er war eigenwillig. Und auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, faszinierte er sie. Diese Erkenntnis war es, die schließlich doch so etwas wie Furcht in ihr wachrief. Sie hatte sich für klüger gehalten, als so blind einige schöne, unschöne und doch wahre Worte derart an sich heranzulassen.
Ihre Beine waren schwer, wie in Blei getaucht, als sie die Treppe zum Turm hinauf gingen. Anarion verneigte sich vor Tiranu, der den Wachen bedeutete, voran zu gehen und Morwenna in ihr Gemach zu bringen. Die Fürstin lag blass wie der Tod auf der Liege, eingewickelt in wollenen Decken und einem zotteligen Fell. Sie wirkte klein und zerbrechlich, als sei sie ein Kind, das erschöpft schlief.
Ohne lange Umschweife richtete Tiranu das Wort an den jungen Neffen Jornowells: „Wo ist der Hofmeister?“
Anarion suchte mit verunsichertem Blick Yulivees Aufmerksamkeit. Er schien verstört von dem, was er sah. Morwenna war ihm offenbar nicht unvertraut. Natürlich musste es sich gänzlich seinem Verständnis entziehen, was vorgefallen war. „Was ist nur passiert?!“
Tiranu verschränkte seine Arme voll der Ungeduld: „Ich habe dir eine Frage gestellt, Bursche!“
In Anarions hellen Augen blitzte es und Yulivee sah sich gezwungen, für ihren alten Bekannten einzutreten: „Morwenna geht es den Umständen entsprechend gut. Sie wurde angegriffen, aber sie ist außerhalb der Gefahr. Es werden Heiler aus der Hauptstadt kommen, um für sie zu sorgen. Du musst keine Angst um sie haben…“
„Wo ist Jornowell?“, verlangte Tiranu mit Nachdruck und Anarion erzitterte unter der Strenge in seinem Ton. Der junge Beamte im Dienste der Fürstin von Arkadien öffnete den Mund, zog die Brauen zusammen, schloss den Mund wieder, rang die Hände und hob die Brauen: „Er wird außer sich sein …“
„Das ist mir gleich“, stellte Tiranu nonchalant klar. „Er muss seine Aufgaben erfüllen. In Vascar verlangen dringende politische Aufgaben seine Aufmerksamkeit. Aus dem Norden sind Zeugen auf dem Weg in den Rosenturm und wir müssen uns vorbereiten, um sie gebührend zu empfangen. Also, wo befindet er sich?“
Erneut streifte sie Anarions Blick: „In den Kaminhallen …“
Yulivee nickte: „Ich gehe ihn holen.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, machte sich die Erzmagierin daran, an den beiden Elfen vorbeizugehen. Anarion wollte ihr offenbar folgen und sie wäre dankbar für seine Unterstützung gewesen, doch Tiranu hielt den Beamten zurück. „Es wird reichen, wenn eine Person ihn informiert. Ich … würde es zu schätzen wissen, deine Dienste für ein paar weitere Tage in Anspruch nehmen zu können.“
Ernst war Anarions Gesicht, als Tiranus Bitte erklang. Yulivee hingegen staunte. Setzte der langollische Fürst hier etwa tatsächlich ihren Rat um, jenen, die sich darum verdient machten, sein Vertrauen zu schenken? Es schien unvergessen, mit welcher Detailgenauigkeit Anarion sie damals im Arbeitszimmer des Fürsten mit dem Aufstand in Vascar vertraut gemacht hatte. Sein kompetenter Umgang mit der Situation mochte Eindruck bei Tiranu hinterlassen haben. „Es wäre mir eine Ehre und meine Herrin, Fürstin Valaria, wird darauf bestehen, dass meine Hilfe im Namen von Arkadien weiterhin geboten ist“, entgegnete Jornowells Neffe.
Yulivee schenkte ihm für diese Worte ein knappes Lächeln, wohingegen Tiranu mit keiner Geste seine Anerkennung verriet. „Wir müssen sofort anfangen.“
Anarion nickte: „Ich verstehe … doch du wirst mir gestatten müssen, Valaria über die neue Lage zu informieren. Ich werde sie nicht in Unwissenheit über das Schicksal ihrer Handelspartner lassen können.“
Mit einem Hauch des Wiederwillens gab Tiranu sein Einverständnis und machte sich schließlich daran, an der Seite seiner Offiziere den Turm über den langen, überdachten Vorbau zu betreten.
Anarion verharrte hingegen noch einen Moment lang an ihrer Seite: „Jornowell sorgte sich seit Tagen um Morwenna … die anderen Höflinge begannen, über ihn zu sprechen, als seine Angst die Überhand gewann. Er machte Fehler und wurde nachlässig … so gut es ging, erfüllte ich seine Aufgaben, doch konnte ich nicht seine Angst nehmen. Sag es ihm nicht in der Öffentlichkeit. Er würde sein Gesicht an diesem grausigen Hof verlieren.“
Die Erzmagierin schluckte.
* * *
Obilee lauschte in Gedanken versunken der Geschichte, welche sich leichthin von Jornowells Lippen stahl. Dem Weltenwanderer gelang es spielerisch, den kämpferischen Gorgonen in seiner Erzählung Leben einzuhauchen. Mit gefiederten Pfeilen gingen sie seinen Worten nach auf eine magische Jagd, die Jornowell dereinst hatte begleiten dürfen.
Die Elfe fand weniger Gefallen an der Geschichte, als an der Leichtigkeit, die plötzlich wieder in Jornowells Blick lag. Der Hofmeister der Fürsten Langollions schien wenigstens für diese wenigen Momente wieder er selbst zu sein.
Es war noch früh am Morgen. Im Rosenturm ging das Treiben der Höflinge noch träge voran, während sie sich bereits mit dem Weltenwanderer und Vseslin in den Kaminhallen zu einem kleinen Morgenmahl zusammen gefunden hatte. Sie waren weitgehend ungestört im Gesellschaftssaal vor den Gärten des Palasts, in denen die Pracht der berühmten Rosen in anmutigen Granatfarben zu blühen begann. Es war herrlich ruhig, befand die Elfe, und der Ausblick war atemberaubend.
Während sie die am Himmel tanzenden Möwen verfolgte, dachte sie daran, wie leicht es ihr fiel, sich seit den Geschehnissen des Tjuredkriegs treiben zu lassen. In Valemas war ihr bereits aufgefallen, wie wenig sie doch das Leben in Elfenlicht vermisste. Doch die Tage in Langollion zeigten es ihr deutlich: Sie vermisste gar nichts. Ihr Herz schien taub, während ihr der Verstand immer wieder einredete, wie gut die Orte doch waren, an die es sie verschlug. Albenmark war wunderschön in ihren Augen und zugleich trist für das Auge ihres Herzens. Es war ihr gleichgültig, wo sie war. Alles war gleich Grau.
Seit Nuramon fort war – für immer – gab es keinen Grund für sie, noch an irgendetwas festzuhalten. Es gab für sie keinen Grund mehr, jahrelang in Elfenlicht jeden Tag sein Kommen zu erwarten und jeden Tag aufs Neue enttäuscht zu werden. Es gab für sie keinen Grund mehr, irgendwo zu sein.
„Obilee? Hörst du mich!?“
Die Magierin blickte auf und fühlte sich ertappt. Vseslin schaute sie etwas irritiert mit seinem so eigenen spitzbübischen Grinsen an. Wie oft hatte er schon ihren Namen gesagt?!
„Wo bist du nur in deinen Gedanken?“, fragte Jornowell und schenkte ihr ebenfalls ein gütiges Lächeln.
Als sie vor wenigen Tagen von Valemas nach Langollion gereist waren, zeigte sich Jornowell zunächst wenig erfreut über ihre Anwesenheit. Er hatte sich die stummen Vorwürfe kaum anmerken lassen, doch Obilee hatte erkannt, dass Jornowell wohl um die geheimen Vorhaben von Yulivee in Langollion wusste oder sie zumindest in Betracht zog. Er mied penibel jedes Thema, dass sich auch nur im Entferntesten um Morwenna oder Tiranu drehen könnte. Ob er ahnte, dass auch sie eingeweiht war? Jedenfalls ließ er sie seit ihrer Ankunft keinen Moment lang aus den Augen …
„Wir haben uns gerade gefragt, ob du je das Bogenschießen meistern konntest“, stellte Vseslin fest und spielte damit offenbar auf die Gorgonen in Jornowells Erzählung an. Obilee nickte, den Gedanken an einen braungelockten Schützen unterdrückend. Vseslin lächelte: „Könntest du mich diese Kunst lehren?“
Obilee wollte gerade einen möglichst geschickten Weg finden, sich aus dieser Bitte herauszulavieren. Doch ihre Bemühungen wurden jäh unterbrochen, als Jornowell, der ihr gegenüber auf einem Divan saß, aufsprang und zum Portal des Saals in ihrem Rücken blickte. „Yulivee…“, flüsterte er atemlos.
Obilee spürte eine jähe Anspannung in sich aufsteigen. Sie ahnte, was geschehen war. Vseslins freudenstrahlendes Gesicht bestärkte sie nur in ihrer Annahme: Yulivee war von ihrem Besuch in Vascar zurückgekehrt!
Obilee erhob sich und wandte sich um.
Tatsächlich!
Mit ungewohnt kleinen Schritten kam ihnen die Erzmagierin entgegen. Ihr Gewand aus grüner Seide raschelte, doch sonst war kein Geräusch im gesamten Saal zu vernehmen. Ihre Freundin wirkte überrascht, sie und Vseslin zu sehen, ja schockiert. Von Wiedersehensfreude war auf ihrem schmalen Gesicht nichts auszumachen. Obilee fühlte, wie sich Vseslin neben ihr versteifte. Und auch sie bemerkte es: Etwas stimmte nicht.
Was war auf der Reise nach Vascar geschehen? Oder hatte es etwas mit der geheimnisvollen Nachricht zu tun, die Yulivee ihr in Valemas hatte zukommen lassen? Sie hatte ihr über eine verschlüsselte Botschaft mitgeteilt, dass sie sich in die Rosenlabyrinthe gewagt hatte. Erst nach einem langen Zögern war Obilee bereit gewesen, Yulivees eigentliche Mission in Langollion zu gefährden, um sie hier gemeinsam mit Vseslin aufzusuchen. Als sie aber den Rosenturm erreichten, hieß es nur, dass Yulivee wohlbehalten zusammen mit Fürst Tiranu nach Vascar gereist war, wo ein aufkeimender Aufstand der hungernden Bürger für Unruhen sorgte. Auch Morwenna war dort und Jornowell geriet in hellere Aufregung, je länger die Abwesenheit der Fürstin währte. War es ihnen nicht gelungen, den Aufstand zu schlichten?
Erst als Yulivee die kleine Sitzgruppe erreichte, löste sich Jornowell aus seiner Starre: „Wo ist …?“
Mit einem schnellen Seitenblick in Richtung von Obilee und Vseslin räusperte sich die Erzmagierin und wandte sich schließlich an Jornowell: „Wir müssen reden. Unter vier Augen.“
Obilee verstand, während die Sorge in ihr wuchs. Sie ermahnte sich aber zur Geduld und bedeutete Vseslin, mit ihr zu kommen. Der Valer wollte erst protestieren – wahrscheinlich sehnte er sich nach all der Furcht um Yulivee so sehr danach, seine Geliebte in die Arme zu schließen, dass er nicht erkannte, wie ernst diese Situation gerade wirklich wurde. Doch nach einer unwirschen Geste, die Obilee ihm angespannt zuteilwerden ließ, folgte der Gelehrte ihr.
Gemeinsam traten die beiden durch die Halle, die Anspannung wuchs mit jedem Schritt. Als sie durch die großen Fenstertüren hinaus ins Freie gelangten, wagte Obilee einen Blick über die Schulter.
Was sie sah, milderte ihre Unruhe nicht im Geringsten. Durch die Scheiben der Fenster hindurch wirkten Jornowell und Yulivee wie Wesen aus einer anderen Welt. Sie wirkten fremd. Fremd vor Obilee und fremd voreinander. Stets hatte die beiden eine enge Freundschaft verbunden, doch nun schien eine Distanz zwischen sie getreten, die Obilee ängstigte.
Die fahrende Ritterin war nicht so geschockt wie Yulivee darüber gewesen, dass Jornowell sich ausgerechnet Morwenna als Liebste gewählt hatte. Sie wusste, der Geschmack des Weltenwanderers, was Damen anbelangte, war eigen. Sie hatte es seit dem ersten Gerücht, das ihr über die Fürstin und ihm zu Ohren kam, als kurzlebige Laune abgetan.
Doch diese Laune hatte den fröhlichen Lebemann, den sie eigenwilligerweise tief in ihr Herz geschlossen hatte, verändert. So in Aufruhr hatte sie den sonst eher gelassenen Sohn von Alvias noch nie erlebt. Es behagte Obilee nicht unbedingt, ihn so sehr einer Elfe verfallen zu erleben. Bei jeder anderen Elfe hätte sie sich trotz dieser Situation sogar freuen können. Sie wusste, Liebe wirkte außerhalb jeder Kontrolle. Aber ausgerechnet Morwenna?
Sie schien ihn geändert zu haben.
Dies war auch deutlich daran zu erkennen, wie er während des Gesprächs mit Yulivee, in dem er vor allem schwieg und lauschte, immer weiter in sich zusammensank. Einmal fuhr er auf, schüttelte den Kopf. Dann wirkte es, als würde er Yulivee Vorwürfe machen. Obilee konnte die Wut in seiner Stimme nicht hören, doch deutlich in seinem Gesicht sehen. Immer dunkler wurde der Ausdruck in seinen verschiedenfarbigen Augen. Obilee glaubte, Tränen in ihnen schimmern zu sehen.
Für die fahrende Ritterin wurde eines deutlich: Jornowell wusste um den wahren Grund von Yulivees Anwesenheit in Langollion. Und nach allem, was sie über die starken Gefühle des neuen Hofmeisters wusste, musste er denken, seine Vertraute habe ihn verraten.
Als sich der Weltenwanderer von Yulivee abwandte und aus der Halle stürmte, sank auch die Gestalt der Elfe in sich zusammen. Es vergingen einige, sehr lange Momente, in denen die Erzmagierin verloren wirkend bei der Sitzgruppe ausharrte. Dann jedoch begab sie sich endlich in die Richtung der Terrasse, auf der sie warteten.
Vseslin ging seiner Geliebten entgegen, um sie in eine feste Umarmung zu schließen. Ein Schluchzen war zu hören. Yulivees Arme schlangen sich um den drahtigen Leib des Valers, ehe sie kaum verständlich raunte: „Ihr hättet nicht herkommen dürfen!“
Dann, nach einem kurzen Zögern, setzte sie nach: „Ich bin so froh, dass ihr hier seid.“
* * *
Der Abend begann, mit schattigen Fingern hinter die Bücherregale, Kandellaber und Wandteppiche zu greifen, als Anarion das letzte Mal für diesen Tag aus dem Studierzimmer trat und sich in die Nacht verabschiedete. Tiranu wog ab, es dem Lehrling gleichzutun. Unruhig saß er an seinem Sekretär und fühlte sich mit jedem Wort, das er schrieb, ausgelaugter. Er hatte am Morgen ein schnelles Bad genommen, um das Salz des Meers von sich zu waschen, und die Garderobe gewechselt. Doch von einem Ankommen konnte bisher nicht die Rede sein.
Es mussten Schreiben aufgesetzt werden. Eines an Cirinth, dessen Berichte über den Fortschritt in Vascar er längst im Rosenturm erwartet hätte. Eines an den Verwalter der Stadt Ninar, durch den die Veruntreuung der Staatsgelder durch die Barone Vascars bezeugt werden könnte. Eines an den Grafen des Nordens, welcher dafür sorgen müsste, dass Meryl und Leandra endgültig ihr Amt niederlegten, und bis zum Tag ihrer Nachfolge ihre Aufgaben übernehmen sollte. Eines an Amana, die heimtückische Verräterin, das sie für einige ungezwungene Gespräche in den Rosenturm lud. Und natürlich eines an Emerelle, die sich die Finger nach diesem Skandal lecken musste.
Jornowells Neffe nahm ihm so viel der Arbeit ab, wie es ihm mit der wenigen Erfahrung mit der langollischen Politik möglich war. Doch selbst bei seiner gelungenen Koordination der aufgeschreckten Schreiber würde es noch eine lange Nacht werden.
Tiranu versuchte, sich zu konzentrieren, ließ Anspannung, Wut und Ärgernis fahren. Leerte seinen Verstand, wie er es vor einem Kampf tun würde. Doch jeder Gedanke, den er hierauf tat, schien sich ins Endlose zu ziehen.
Andere hätten die Arbeit sich selbst überlassen, den unfähigen Schreibern womöglich. Doch nach all den Geschehnissen der letzten Wochen und Monate, wollte es ihm nicht gelingen, die Arbeit aus den Händen zu geben. Er war zu aufgewühlt, zu sehr dem unruhigen Tatendrang verfallen, um sich auszuruhen. Und zu müde, zu abgelenkt, um wirklich bei der Sache zu sein.
Er ließ die Schreibfeder fallen und strich sich ermattet über das Gesicht.
Er sehnte sich nach einem Kampf. Ein Kampf gegen einen würdigen Gegner und für einige Momente gäbe es ein Vergessen. Zu lange schon hatte er sich nicht in den Baracken seiner Schnitter blicken lassen. Es wäre Zeit, wieder das Schwert zu ergreifen. Einen klaren, ungetrübten Gedanken fassen. Auch wenn immer noch unterschwellig eine Stimme murmelte, dass womöglich nicht einmal der Schwertkampf seine Orientierungslosigkeit tilgen könnte. Was blieb dann noch?
Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Ehe er reagieren konnte, schwang die Türe bereits auf. Tiranu schluckte die Worte herunter, die er für den Störenfried auf seinen Lippen bereit hatte. Eine zierliche Elfe betrat das Arbeitszimmer. Ihr Gang war verhaltener, zurückgenommener als gewöhnlich, ihre Gestalt zusammengesunken.
Yulivee hielt gemessenen Abstand, als sie zu stehen kam, und verschränkte in einer unsicheren Geste die Hände vor ihrem Leib. Ihr sonst wacher Blick war abgründig und voll der Schatten. Er fühlte sich an ihren ersten Besuch in diesen Räumlichkeiten zurückerinnert. Damals war sie voll der impulsiven Angriffslust gewesen, hatte ihm die Stirn bieten wollen – nun wirkte sie gebrochen. „Ich komme, um mich zu verabschieden. Ich kehre nach Valemas zurück.“
Tiranu schaute hinunter auf das Schreiben, konnte nicht länger den Blick ihrer dunkelschimmernden Augen ertragen, griff die Feder und räusperte sich: „Leb wohl.“
Einige Augenblicke verstrichen. Dann fiel die Tür beinahe geräuschlos ins Schloss. Yulivee war fort.