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Schattenspiele

von Riniell
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Fantasy / P16 / Gen
Emerelle OC (Own Character) Tiranu Yulivee
20.12.2015
01.12.2016
50
187.715
3
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Dieses Kapitel
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13.08.2016 5.364
 




Ein Schnitt tiefer als ins Fleisch






„Du solltest dir auch eine Rast gönnen ….“

Naylins Stimme verriet, dass die Elfe selbst nicht an die Botschaft ihrer Worte glaubte. Ihre Stimme vibrierte. Die Heilerin kniete im dunklen Schutzmantel der Nacht, das müde Augenmerk war unstet. Vor ihr, auf dem provisorischen Lager aus Unterholz und den dicken Mänteln aus wärmender Wolle, lag Morwenna.

Silvain wagte nur einen kurzen Blick auf die Schützlinge in seinem Rücken. Immer wieder wanderte seine Aufmerksamkeit in die Wälder. Doch niemand fand den Weg in das Lager unter den drei Tannen am Kieselbachlauf. Keine aufständischen Albenkinder, keine goldhaarige Kriegerin …

Der Schnitter strich sich über die schmerzenden Augen. Seine Arme waren müde, fühlten sich sauer und beinahe taub an. Sein Rücken dagegen ächzte bei jeder kleinen Rührung, während die Nachtluft schier feuerheiß und viel zu schwach in seine Lungen trat und wieder ging. Er war am Ende seiner Kräfte.

Zu lange trug er die Fürstin. Abwechselnd auf seinem Rücken und so oft es ging in seinen Armen, ganz so als würde er ein schlafendes Kind ins Bett bringen wollen. Morwenna war zierlich, ja, doch ihr Gewaltmarsch schien kein Ende zu nehmen. Immer wieder pochte Naylin darauf, eine Rast einzulegen. Die Elfe schien Nerven aus gehärtetem Stahl zu besitzen. Ruhig, beinahe stoisch, kontrollierte sie Morwennas Atmung, die behelfsmäßigen Verbände …

Sie schien in einer Art geschäftigen Trance gefangen zu sein. Ihr anfänglicher Schock hatte sich in jenen Momenten gelöst, in denen sie sich voll der taktgebenden, bewussten und ambitionierten Taten der Wundversorgung widmete. Ihr Talent als Heilerin war unbestreitbar groß und ihr fundiertes Wissen war maßgeblich daran beteiligt, dass ihre Lehrmeisterin nun bestmöglich behandelt auf dem Waldlager ruhte.

Silvain wagte nicht, hinabzublicken und konnte zeitgleich nicht den Blick vom leblosen Körper auf dem Moosbett nehmen. Mit jedem Herzschlag verloren sie wertvolle Zeit …

Die Pferde waren ihnen durchgegangen. Seit den Geschehnissen auf der Lichtung … das Schwert, die Schreie – Morwennas Schreie – gab es kein Halten mehr für die scheuen Wesen. Aus den Ställen der Barone stammend, war ihnen die Anwesenheit der drei Elfen unvertraut. Vermutlich waren die Tiere weder in einer Schlacht, noch in solch einer heiklen Situation je anwesend gewesen. Silvain und Naylin fehlte die Zeit, um nach ihnen zu suchen und zugleich mussten sie ohne die Reittiere beinahe die gesamte Nacht hindurch zum Baronensitz wandern.

Silvain wusste, was ihn dort erwartete. Tiranu war nie so etwas wie gnädig oder gar nachsichtig gewesen. Es war nicht schwer festzulegen, bei wem der Fürst die Schuld suchen würde …

Warum er nach seinem Verschwinden nunmehr so plötzlich in Vascar erschien, zu diesem denkbar schlechten Zeitpunkt, konnte er schlichtweg nicht fassen. Alles was er wusste war, dass dies eine Zerreißprobe für seinen Herrn werden würde.

Wie hatte nur soweit kommen können?

Er hatte Morwenna gewarnt. Es war töricht gewesen, so unglaublich töricht. Und unvergleichlich mutig. Es hatte ihm Respekt abgerungen, sie im vollen Bewusstsein der niederen Absichten von Seiten Makas den Aufständischen entgegentreten zu sehen. Entschlossen und zugleich voller Demut. Es war der richtige Pfad gewesen, auch wenn die Albenkinder noch voller Zweifel auf die Geste reagiert hatten. Eine kniende Fürstin war wohl ein Bild, mit dem sie selbst in ihren kühnsten Träumen nicht hätten rechnen können. Wenn nur nicht in jenem Moment der Feuerzauber um die Menge herum verschwunden wäre …

Silvain war sich mehr als sicher, dass Tiranu dies veranlasst hatte und Tiranus Präsenz allein war der Tropfen gewesen, welcher den Sturzbach der Wut und Verzweiflung der Aufständischen zum Überquellen brachte. Der magiebegabte Faun hatte den Fürsten in der Nebelburg ausmachen können – und das Chaos war über die Albenkinder Vascars hereingebrochen.

Ein Moment, es war nur ein Moment. Die Zeit eines einzelnen Herzschlags …

„Wir müssen weiter“, raunte Naylin in die Nacht. Ihr Blick lag im Schatten, als sie zu ihm aufschaute. „Riana wird nicht mehr kommen.“

Silvain schluckte.

* * *


Schon in ihrer Jugend war sie stets mit der Stimme der Vernunft  an seiner Seite gestanden. Oft hatte sie sich in großer Geduld geübt, die Nachtsicht gehabt. Er wusste dies. Wenn er zu wagemutig wurde, einen Schritt zu weit ging, war stets sie es gewesen, die ihn auffing, seine Fehler ins Reine brachte. Wie viele Male hatte sie seine gebrochenen Knochen gerichtet, seine Wunden geheilt, sein Nichterscheinen auf Festen und Banketten entschuldigt und seine Arbeit abgenommen, wenn er sich einmal mehr viel zu viel aufbürdete …

Mehr als ihren unterschwelligen Spott hatte er dafür nie ertragen müssen. Sie forderte keinen Dank und keine Anerkennung. Sie akzeptierte ihn wie er war. Dass sie darunter litt oder ihm grollte offenbarte sich ihm nicht. Obgleich sie nur um einen Tag älter war als er, strahlte ihre nach innen gerichtete Ruhe und Ausgeglichenheit stets über seine Aura der Unzufriedenheit. In seinem Streben nach mehr – Anerkennung, Ruhm, Akzeptanz, Macht – war sie seine Stütze und sein Kompass. Sie war alles, was ihm von seiner Sippe noch geblieben war, die Einzige, die verstand. Sein Wesen, sein Denken … und zugleich wies sie ihm den Weg, wenn der Ehrgeiz ihn erblinden ließ.

Die Erinnerung an den Tag ihrer Rückkehr aus Elfenlicht streifte ihn. Nach den Schattenkriegen war sie lange das Mündel der Königin gewesen, zur Frau herangereift. Während er in Langollion unter den wachenden Blicken der Anhänger Emerelles zum Fürsten wurde, bildete man seine Zwillingsschwester zur Heilerin aus. Eine Hofdame aus dem Palast der Königin, so hatte er geglaubt, würde nach all den langen Jahren ihrer Abwesenheit in den Rosenturm zurückkehren. Eine Fremde. Nicht ein einziges Mal hatten sie sich in dieser Zeit gesehen, nicht einen einzigen Brief gewechselt. Es war ihnen weder möglich gewesen, gemeinsam um ihre Familie zu trauern, noch die Entwicklung des Anderen zu erleben. So waren sich Heilerin und Krieger nach mehr als elf Jahrzehnten gegenüber getreten.

Wie sehr er sich geirrt hatte.

Nichts in der Seele seiner Schwester hatte sich geändert. Die Königin hatte ihre Fänge nicht dauerhaft in Morwenna halten können. Aus seiner ‚kleinen‘ Schwester war eine Elfe geworden, schön und elegant wie Luana, stark und bestimmt wie Arien, eitel und dickköpfig wie Selin, verschlossen wie Avenir.

Es war ihr schwer gefallen, ihm gegenüber zu treten. Unterschwellig und brodelnd waren in ihrem Herzen neben der Einsamkeit und dem Schmerz leise Vorwürfe entstanden. Natürlich. Während sie in der Fremde so lange einer Herrin dienen sollte, die sie mit jedem Tropfen Blut in ihren Adern hasste, war ihr Bruder zum Erben des Reichs ihrer Mutter ernannt worden. Morwenna hatte nicht wissen können, wie genau die Beginne seiner Herrschaft verlaufen waren. Es hatte lange gedauert, sie für sich zu gewinnen, ihr verhärtetes Herz zu erweichen. Erst dann gab sie sich zufrieden, als er sich bereit erklärte, sein Amt mit ihr zu teilen. In ihrem Namen schwangen fortan dasselbe Recht und dieselbe Macht. Auf ihren Schultern lastete fortan dieselbe Bürde, dieselbe Verantwortung.

Tiranu reute diese Entscheidung erschütterlich, als er die beiden Elfen durch das Tor in den Hof treten sah. Ein mit Edelsteinen besetztes Schwert leuchtete in Naylins Händen im Schein der ersten Sonnenstrahlen im selben Rostrot wie ihr Haar. Ihr Augenmerk streifte Tiranu, doch kaum einen Herzschlag später senkte sich ihr tränenerfüllter Blick. Neben ihr ging Silvain, sein Offizier und Späher, der Vertraute seines Regiments. Tiranu kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass die unergründliche Stumpfheit in seinen Augen das Schlechteste verhieß. Wie in einem Albtraum … nein, wie in jenen sehr realen Momenten in seiner fernen Vergangenheit, fühlte es sich an, nicht auf die zierliche Gestalt in den Armen des Schnitters schauen zu können und doch zu müssen.

Cirinth ordnete neben ihm mit distanzierter Stimme einige harsche Befehle an, die Tiranu nicht verstehen konnte. Wohl nahm er aber die Unruhe in seinem Rücken wahr – wie ein schleichendes Fieber kroch es an ihn heran und konnte ihm mit seiner Pein und Hitze doch nichts anhaben. Er war ganz kühl und gefasst, ruhig, als er die Verbände an den Händen seiner Schwester erblickte. Ein dunkler Rotschimmer lag über den lindfarbenen Stoffbahnen. So unförmig …

Silvain fing seinen Blick auf. Endlich kam Leben in den Fürsten. So behutsam, wie es ihm am Ende seiner Kräfte möglich war, übergab der Späher ihm Morwenna. Ihr Körper war schlaff und doch so unsagbar leicht. Eine Hitze ging von ihr aus, welche die Ruhe in ihm schier zum Wanken brachte.

Tiranu wusste, die Zeit wirkte gegen seine Schwester. Auch wenn er nur einen viel zu kleinen Überblick über ihren Zustand gewinnen konnte, so alarmierten ihn seine Sinne doch zur Eile. Die Ruhe in seinen Gliedern lag doch eisern über ihm. Sie half ihm, das Geschehene nicht an sich heran zu lassen. Er durfte in diesem Moment nicht an all die Verluste denken, welche er bereits durchlebte. Durfte nicht daran denken, wie Cirinth – welcher gerade vor ihn trat, um ihn den Weg in die Gemächer Morwennas zu weisen – ihm jene Nachricht vom Tod seiner anderen älteren Schwester mit dem Dunkelhaar berichtete. Er durfte nicht daran denken, dass Morwenna alles war, was ihm im Leben noch an Helligkeit blieb.

Der Weg durch die Burg war lang und schien in die schiere Endlosigkeit zu führen. Tiranu wagte keinen Blick hinab auf den Körper in seinen Armen. Noch erlaubte er sich zu fragen, wie schlimm es wirklich um seine Schwester stand.

Erst als die Räumlichkeiten erreicht waren, fühlte Tiranu die Schwere der Situation. Zwei Diener schafften Verbandsmaterial, Tinkturen, Nadel, Faden, Wasser und Tücher heran und deckten das Lager Morwennas ab. Vor den Fenstern der Gemächer tanzten die Möwen in der Brise des morgendlichen Meers. Ihre Schreie hallten in der Ferne wider, als Tiranu seine Schwester auf das Lager bettete.

Naylin war kaum einen Herzschlag später an der Seite der Fürstin und hob eine ihrer Hände an sich heran, um die einstmals grünen Stoffbahnen von der verklebten Haut zu ziehen. Erst jetzt begriff Tiranu, was an dieser Begebenheit so falsch war: Weshalb waren die Wunden seiner Schwester nicht längst geschlossen? Naylin war eine begabte Heilerin, das hatte Morwenna oft genug beiläufig in Gesprächen erwähnt. Warum hatte sie nicht längst den Blutfluss gestoppt, um die Kräfte seiner Schwester zu schonen?

Tiranus Hände krampften sich ohne jedwede Kontrolle zu Fäusten zusammen. Seine Gedanken sirrten, als ein schrecklicher Verdacht quälend langsam die Überhand seines Denkens gewann.

Naylin schmiss die Stoffstreifen auf den Boden und offenbarte die Hände seiner Schwester. An ihrer Rechten prangten beinahe schwarze, scharf geschnittene Linien auf den Fingern knapp über den untersten Knöcheln. Dort waren der Ringfinder und sein kleineres Nebenstück kaum noch als lebendes Fleisch zu erkennen. Nur geschwollene Glieder, dunkel und unförmig, führten sich unnatürlich verkrümmt an den Handtellern fort. Auf ihrer Linken zog sich dagegen ein violettfarbener Striemen über den gesamten inneren Handteller. Tiranu sah Muskeln und helle, weißschimmernde Knochen unter dem angetrockneten Blut.

Als Naylin die linke Schulter seiner Schwester freilegte, zeigte sich die Fortführung der Verletzung: Ein klaffender, ausfransender Schnitt verlief vom Schlüsselbein bis über den oberen Arm, knapp unter dem Schultergelenk. Die Haut um die Wunden war alarmierend blass, fast durchscheinend, während dunkle Wundränder das Gewebe unmittelbar an den unsauberen Kerben umgab.

Ein einzelner Schwerthieb. Morwenna musste völlig wehrlos und ohne jedwede Vorbereitung auf den Schlag ihre Schulter schützend vor ihr Haupt gezogen haben, nachdem ihre Hände keine Abwehr mehr versprachen. Es war kein gezielter Schnitt, sondern fahrig und bar jeder Kontrolle vollführt. Doch eine Heilerin, die Naylins Begabung besaß, hätte diese Wunden zu schließen vermocht. Tiranu wusste dies und zweifelte nicht daran. Wenn da nicht diese Verfärbungen wären, die Schweißperlen auf ihrer Haut …

Tiranu hatte dies bereits gesehen. Mehr als nur einmal. Nur bisher war niemals seine Sippe es gewesen, gegen die eine solche Verletzung geführt wurde. Im Gegenteil …

Suchend blickte er sich nach dem Schwert um, das Naylin gerade noch so krampfhaft umklammert hatte. Weshalb hatte sie es mit sich geführt? Ein Relikt der Vorzeit, grob und wenig elegant. Nur das Gold im Heft, gesprenkelt mit Rubinsplittern, ließ es wertvoll anmuten. Es lag auf einem Beistelltisch vor der Fensterfront. Der Fürst reckte die Finger danach, obgleich er genau wusste, was ihn erwartete. Ein sengender Schmerz, tief begraben unter dem kühlen Stahlblatt der Klinge, ließ ihn zurückschrecken. Das verborgene Geheimnis dieser Waffe mochte Jahrhunderte alt sein. Seit den Schattenkriegen war es unter bitteren Strafen verboten, solche Klingen überhaupt noch im Besitz zu haben. Woher stammte es? Ein Bauer könnte nie und nimmer ein Schwert erwerben, das offenbar aus reinem Sternenglanz bestand. Das Metall war so selten in der Albenmark, lediglich auf den höchsten Gipfeln abgeschiedener Gebirge zu finden, dass nur Adlige eine solch prächtige Waffe anfertigen lassen konnten…

Naylin legte ihre Hände auf die verstümmelte Hand seiner Schwester. „Ich bin machtlos. Meine Kraft reicht nicht, um die Wunden zu schließen. Die Finger waren abgetrennt … die Adern und Muskelstränge wollen sich nicht wieder mit dem lebenden Gewebe verbinden. Sie sterben bereits ab…“

„Es muss irgendetwas geben, das du tun kannst“, beschwor sie Tiranu. „Oder ein anderer Heiler?!“ Ein leerer Blick traf ihn. Naylin schüttelte das Haupt: „Ich habe keine Erfahrungen mit solchen Verwundungen. Ich bin zu jung. Und der Heiler auf der Burg … er beendete seine Ausbildung gerade einmal vor einem Jahrzehnt.“

„Holt ihn“, herrschte Tiranu die Diener an. Als sie den Raum verließen, befanden sich nur noch Silvain, Naylin und Morwenna mit ihm im Raum.

Der Fürst wandte sich seinem obersten Offizier zu: „Was ist geschehen? Wie konnte dies passieren!? Sie stand unter deinem Schutz!“ Seine Rage war hinter seinen Worten zu erahnen, auch wenn in seiner Stimme die aufgezwungene Ruhe schwang, die Silvain wohl allzu leicht als Warnung verstand. Er wollte keine Ausflüchte und Erklärungsversuche!

Silvain straffte die Schultern, atmete tief ein und ließ die starre Haltung wieder fahren: „Morwenna begab sich hinter den Feuerwall, um mit den Rebellen zu verhandeln … Maka und Filan forderten, dass Riana und ich blieben, wo wir waren. Sie wollten nur mit ihr sprechen. Morwenna folgte ihren Aufforderungen und befahl uns, hinter dem Feuer zu verharren. Dabei war ihr klar, dass sich Maka vorerst kaum auf ein klärendes Gespräch einlassen würde. Alle hatten sich dort versammelt, weit mehr als hundert aufständische Albenkinder, um ihren Unmut an ihr auszulassen. Sie beschimpften und demütigten sie... Morwenna wollte zu ihnen durchdringen, doch kein Versprechen und kein Schwur brachten sie zum Einlenken. Schließlich bekniete sie Maka … für einen Moment schien er tatsächlich gewillt, ihr Gehör zu schenken, auch wenn die restlichen Bauern ihrer Tugend keinen Glauben schenkten. Als aber der Feuerwall plötzlich brach und sich auflöste … Die Panik griff rasend schnell um sich. Morwenna versuchte, die Albenkinder zu beruhigen, und dann …“

„Filan ist ein Windsänger“, fuhr Naylin fort. „Ich fand es selbst erst heraus, als sich die Menge in den Steilhängen zusammenfand und der Magier seinen Vogel zur Burg schickte. Über die ganze Zeit hinweg vermuteten sie eine Falle … sie wollten mir nicht glauben, dass Morwenna mich lediglich geschickt hatte, um ein Gespräch zwischen ihr und Maka zu bewirken. Maka war überzeugt von einem Hinterhalt. Bei den Alben, er dachte, er könnte den Adel zu einem Fehler verleiten, der Tiranu die Krone kosten würde. Er hat es regelrecht provoziert. Doch dann … dann … ich denke, er hat Morwenna geglaubt. Ihr wirklich geglaubt. Er wollte einlenken. Seine Mimik, seine Gestik … ich kenne ihn und wusste, dass er einen Schritt auf sie zumachen wollte in diesem Moment, auch wenn die anderen Aufständischen wenig Vertrauen zeigten. Als Filan dann dich in der Nebelburg durch die Augen seines Adlers erblickte, da gab es kein Halten mehr … Maka zog sein Schwert und schleuderte es Morwenna entgegen. Es war eine Kurzschlussreaktion, ein Fehler … Ich kenne ihn. Er ist …“

Tiranu fiel es schwer, an sich zu halten: „Willst du ihn etwa verteidigen?“

Die Heilerin schüttelte erneut das Haupt und senkte den Blick. Ihre Stirn lag in Falten. Tatsächlich schien sie so etwas wie Mitgefühl oder Verständnis für die Anführer des Aufstands entwickelt zu haben. Doch schwieg sie ihm gegenüber.

„Du hast sie allein gehen lassen!“, fuhr er herum. Silvain biss die Lippen aufeinander und hielt beharrlich den Mund. Feiglinge! „Wo ist Riana?“ Wenigstens von der blonden Kriegerin seines Regiments hätte er mehr Vernunft und Pflichtbewusstsein erwartet. Silvain war schon immer impulsiv und heißblütig gewesen – unberechenbar. In der Schlacht hatte er damit ein ums andere Mal einen entscheidenden Vorteil für seine Schnitter errungen, doch die politischen Feinheiten waren dem Elfen fremd. Ganz anders die Offizierin aus dem Adelsstand seines Reichs. Kalkül und Entschlossenheit waren das, was sie ausmachte. Sie diente seiner Sippe schon lange.

„Als ich sie zuletzt gesehen habe, jagte sie Maka durch …“

„Er lebt?!“ Tiranu war fassungslos. War er denn nur von Unfähigen umgeben?

Silvan aber zog die Brauen zusammen: „Vermutlich nicht mehr, wenn sie ihn gefasst hat ... Ich kann mir nicht ausmalen, warum sie solange fort ist…“

Die beiden Diener kamen mit einem Elfen herein, der sich andeutungsweise vor Tiranu verneigte, bevor er mit ernster Miene an Naylins Seite trat. Es dauerte einige Momente, in denen er die Wunden auf Morwennas Körper musterte, ehe er ihren Arm griff, um mit seinen magischen Sinnen nach deren Ausmaßen zu tasten: „Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen. Ich dachte bisher, dass keine solche Waffe mehr in Albenmark existiert! Der Zauber ist stark und sehr alt! Er schwächt sie mit jedem Moment, der verstreicht. Ich vermag ihr Fieber zu lindern, doch … ihre Finger… ihr Körper stößt sie ab. Es übersteigt meine Fähigkeiten und mein Wissen bei Weitem.“

Tiranu spürte eine Kälte in sich aufwallen, die seinen Puls verlangsamte, seine Muskeln verhärtete und seine Atmung zu lähmen versuchte. Mit Zauber belegte Klingen waren gefürchtete Waffen in den Zeiten der Schattenkriege gewesen. Nach dem Tode Alathaias waren sie durch die Befehle der Königin auf immer aus der Albenmark gebannt worden. Nur die legendären Helden Nuramon und Farodin trugen nach diesen Tagen noch ein Schwert, das eine magische Ader besaß. Mit ihnen hatten sie den letzten Devanthar getötet, ehe die Welten voneinander getrennt wurden.

Eine Ahnung beschlich ihn. Eine solche Waffe fand seinen Weg nicht zufällig in die Hände eines Rebellen in Vascar. „Naylin, dieses Schwert…“ Er griff nach dem Heft der Klinge und verdrängte alle Gedanken an das, was durch dieses Metall angerichtet worden war. „Wie lange trug Maka es bereits?“

„Ich … ich habe es zum ersten Mal am Abend vor der Zusammenkunft gesehen“, antwortete die Heilerin ohne jeden Zweifel in der Stimme. Tiranu nickte und warf einen schnellen Blick auf den anderen Elfen an der Bettstatt seiner Schwester: „Tut für sie, was ihr könnt.“

Naylin war sichtbar am Ende ihrer Kräfte, doch nickte sie ohne ein Zögern und auch der Heiler willigte widerstrebend ein: „Es wird ein langer Tag, mein Fürst. Ich bezweifle, dass selbst Naylin und ich gemeinsam…“

„Sie ist stark. Sie wird es überstehen!“

„Ihre Hand …“

Tiranu zog die Brauen zusammen, wohl wissend, dass die Absolution, welche von ihm durch diese Andeutung erwartet wurde, nur ein bestätigendes Wort für die ohnehin unausweichliche Realität war. Ein Nicken, das übersehen werden könnte, wenn es nicht so gebannt erwartet würde.

Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten verließ er den Raum, um in den weitläufigen Gängen Meryl und sein bedauernswertes Gefolge vorzufinden. Cirinth und Yulivee standen etwas abseits und unterhielten sich leise, was sich brennend wie ein Dolch in seinem Rücken anfühlte.

Der Baron begegnete ihm wie stets mit Zurückhaltung. Ein Fingerzeig und die Höflinge um ihn herum waren fort. Der helle Blick Meryls streifte für einen langen Moment das Schwert in seiner Hand und Tiranu war fast so, als würde ein verräterisches Blitzen in den Augen aufleuchten. Er räusperte sich: „Mein Fürst, es erschüttert mich, was diese Barbaren an deiner Schwester begingen. Ich werde meine Wachen mit der Suche nach ihnen beauftragen, wenn du es möchtest. Du hast mein Wort, dass …“

Ein seichtes Lächeln, welches wenig mit Wohlwollen zu tun hatte, schlich sich auf Tiranus Gesicht: „Das wird nicht nötig sein. Ich nehme an, dass sich weitere Hilfspakete zur Armenspeisung auf dem Weg nach Vascar befinden?“

Mit irritierter Miene nickte Meryl: „Deine Schwester ordnete dies an, lange bevor sie überhaupt hier eintraf. Doch die Feuerwälle machten es den Boten der Fürstin unmöglich, weiter ins Landesinnere zu dringen.“

„Dies ist nun hinfällig. Ich möchte, dass die Pakete die Dörfer erreichen. Kümmere dich unverzüglich darum.“

„Jawohl, mein Fürst!“ Schon wollte sich Meryl umwenden, um seinen Befehlen nachzukommen.

Tiranu jedoch hielt ihn mit einem durchdringenden Räuspern zurück: „Baron, dieses Schwert ist die Waffe, die gegen meine Schwester geführt wurde … eine beeindruckende Anfertigung. Reiner Sternenglanz, das Heft mit Gold und Rubinen veredelt, der Schliff und die Balance der Klinge sind perfekt … Erstaunlich, dass ein einfacher Großbauer im Besitz eines solch kostbaren Objekts gekommen ist, findest du nicht? Oh, und dieser Zauber erst, der darum gewoben wurde… alt und machtvoll. So alt wie die Knochen in den Verliesen deiner Burg, nehme ich an?“

Während die Miene des Barons steif und undurchdringlich wurde, kam Yulivee an die beiden Adligen heran. „Eine verzauberte Klinge?“, hauchte sie ungläubig. „Ich dachte, die letzten Waffen dieser Art verließen mit Farodin und Nuramon die Albenmark.“

„So dachte ich auch“, entgegnete Tiranu und ließ den Baron dabei nicht aus den Augen. „Wenn ich mich recht entsinne, so steht es ganz explizit in meinem Reich unter Strafe, eine solche Klinge überhaupt nur zu besitzen. Nun frage ich mich, wie ausgerechnet Maka sie gegen meine Schwester führen konnte.“

Meryl schluckte. „Diese Waffe … sie … ich ließ sie vor so vielen Jahrzehnten anfertigen, um mit ihrer Macht die Meereshexe zu töten von deren Schandtaten ich euch in den Wasserzwingern berichtete. Als meine Tochter vor wenigen Wochen zur Baronin von Tamonin ernannt wurde, wollte ich ihr dieses Schwert als Geschenk überbringen lassen. Ein Geschenk, das lediglich zu ihrem Schutze gedacht war. Ein Symbol dafür, dass ich und ihre Mutter ihr immer beistehen werden, ganz gleich, wie weit fort sie ist. Maka muss den Handelszug, der das Schwert nach Tamonin bringen sollte, überfallen haben …“

Tiranus Linke spannte sich um das Heft, als sich Meryls Worte in sein Innerstes schlichen. Wusste der Baron tatsächlich nichts von diesem folgenschweren Überfall? Eine solche Kostbarkeit würde man gewiss nicht völlig unbewacht auf eine Reise schicken! Er dachte an die bleichen Knochen der Nixe in den gefluteten Kerkern des Barons. Meryl würde sich sicherlich gut neben seiner Erzfeindin machen …

„Du hast dich nicht nur den Befehlen der Königin wiedersetzt, sondern auch den meinen“, grollte Tiranu mit mühsam unterdrückter Wut. „Nur dank deiner Unfähigkeit ist dieser Aufstand überhaupt entstanden und durch dein Unvermögen ist meine Schwester geschunden und entstellt!“ Yulivee japste bei seinen letzten Worten nach Luft, doch Tiranu schenkte ihr keine Erklärung oder etwa einen bestätigenden Blick. Die Elfe verharrte wie vom Donner gerührt an Meryls Seite. „Jeder beliebige Schoßhund würde deinen Platz besser ausfüllen können!“

Der Fürst wandte sich dem Elfen zu, dessen Anwesenheit am Hof des Barons einem gewagten Befehl geschuldet war. Es war Jornowells Idee gewesen, ihn an die Adelshöfe Langollions zu schicken. Vordergründig, um die Grafen und Barone bei den Aufgaben in ihren krisengebeutelten Ländereien unter die Arme greifen. Was der ausgebildete Rechnungsmeister aber in Wahrheit vollbrachte, war die geheime Kontrolle der Gold- und Wertanlagen des Adels. Schon lange war der Verdacht laut geworden, dass korrupte Barone und Grafen die ohnehin schwache Wirtschaft Langollions für sich nutzten, um Profit zu schlagen. Dass Cirinth ausgerechnet in Vascar mit seiner geheimen Arbeit begann, war keinesfalls ein Zufall. Mochte sich der unleidige Anhänger der Königin letztlich doch als wertvoll erweisen?

„Was hast du herausgefunden?“, verlangte er von seinem abgesetzten Hofmeister zu wissen. „Konntest du Beweise gegen ihn ans Licht bringen?“

Meryl zeigte endlich etwas wie eine Regung in seinem glatten Gesicht. Er schien erschüttert von der Offenbarung. Tiranu wusste, dass er hier ebenso gut einen Fehler begehen konnte. Offen vor den Augen mehrerer Zeugen das Misstrauen an seinem Adel kundzutun war leichtsinnig. Er könnte innerhalb weniger Tage, wenn diese Nachricht ihre Runde machte, das Vertrauen all der verbleibenden Aristokratenhäuser Langollions verlieren. Und nicht nur das: Sollte sich der Verdacht gegen Meryl für bloße Spekulation herausstellen und keine Beweise für die Veruntreuung von Staatsgeldern existieren, so verlor er hier zusätzlich sein Gesicht. Aber sein Instinkt riet ihm, eben diesen Weg zu gehen. Gerade und offen.

Cirinth hob seine blonden Brauen: „Tatsächlich gibt es Ungereimtheiten in den Unterlagen der Baronie. In der Vergangenheit kam es oftmals zu horrenden Ausgaben für gewisse Instandhaltungsarbeiten in den Städten Vascars, die so aber nie ausgeführt wurden. Ich befinde mich schon seit längerem in einer Korrespondenz mit dem Verwalter der Stadt Ninar, der mir ebendies bestätigen kann. Noch liegt allerdings nichts Handfestes vor.“

Nun war alle Farbe aus dem Gesicht des Barons gewichen. Er schwieg, doch seine Augen verrieten Tiranu die Wahrheit. Trotz des langen Zweifels an der Aufrichtigkeit dieses Elfen fiel es dem Fürsten schwer, nicht so etwas wie Enttäuschung in sich aufwallen zu fühlen. Die Erkenntnis kam zu spät für sein Volk und zu spät für Morwenna. „Verschwinde aus meinen Augen! Ich will dich nicht mehr antreffen, ehe du mir die Nachricht überbringen kannst, dass die Nahrung und die Hilfsmittel endlich die Dörfer erreicht haben!“

Meryl nickte gequält, ehe er sich knapp verbeugte und sich zum Gehen umwandte. Lange blickte Tiranu ihm nach, ehe er das Wort erneut an Cirinth richtete: „Bring diesen Verwalter in den Rosenturm. Jornowell und sein Neffe sollen sich darum kümmern, dass die Beweise gegen Meryl möglichst bald ans Licht kommen. Ich werde nicht zulassen, dass dieser Narr auch nur einen Tag länger als nötig das Zepter des Barons hält. Dann schicke Nachricht in den Hafen Vascars. Kapitän Delyn wartet mit seiner Karavelle auf mein Zeichen zur Rückkehr in die Hauptstadt. Mache alles bereit für den Aufbruch meiner Schwester.“ Tiranu spannte seine Kiefer an, als er den nächsten Befehl wie rauen Sand über seine Zunge brachte: „Schreibe außerdem einen Bericht an Emerelle. Sie soll von allem erfahren, was hier geschah.“

Cirinth nickte und Gutheißen leuchtete in seinem hageren Gesicht auf. Das erste Mal in ihrer unseligen Bekanntschaft. Eine Verbeugung und er tat es dem Baron nach, um seine Aufgaben zu erfüllen.

Als er aus dem Korridor verschwunden war, trat Yulivee vor ihn. In ihren dunklen Augen zeigte sich ehrliches Mitgefühl, das Tiranu zugleich in Erstaunen versetzte wie es ihm beinahe beklemmend unangenehm war. Sie wollte die Hand nach ihm ausstrecken, doch verharrte in der Bewegung, nur um ihren Arm zurückzuziehen. Etwas gequält stahlen sich nur zwei Worte über ihre Lippen: „Deine Schwester?“

Tausend Gedanken strömten auf ihn ein, doch keiner von ihnen mochte als Entgegnung für ihre Frage taugen. So blieb ihm nur, den Blick in eine unbestimmte Richtung zu lenken und die Stille klingen zu lassen.

„Gibt es irgendetwas, das ich tun kann?“

Geh, wollte er sagen. Wohlwissend, dass ihr Angebot wahrhaftig und keinesfalls heuchlerisch wie das von Meryl war. Tiranu konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Yulivee hier war. Dass die Magierin ihn in dieser Position sah. Als er in ihr Gesicht blickte, war da aber keine Häme oder Genugtuung zu erkennen. Ihr braunes Haar schimmerte wie poliertes Holz im Schein des Lichts, das zu den Fenstern hereindrang. Einige Strähnen lagen in feinen Zöpfen auf ihrem wirren Haupthaar auf, Perlen versteckten sich in dem filigranen Flechtwerk. Ihre ungewöhnliche Kleidung in den prächtigen Schattierungen von weichem Waldmoos mochte die einer Fürstin sein, wenn da nicht die Falten einer langen Reise und vieler durchgewachter Nächte gewesen wären. Niemals würde diese Elfe auch nur einen Gedanken daran verschwenden, perfekt und ohne Makel auf ihre Umwelt zu wirken. Jeden Fehler trug sie wie einen Schild. Ihre Leichtigkeit war ihre Rüstung, ihr Lächeln ihre Waffe. Doch in diesem Moment galt ihre unbeirrte Sorge ihm. Sie profilierte sich nicht daran, ihn geschwächt zu sehen. Sie profilierte sich an nichts.

Tiranu wusste, dass sie unter ihren Gewändern den Albenstein trug. Jenes machtvolle Artefakt, das bereits in den Labyrinthen zur Waffe gegen Samuc geworden war, könnte auch jetzt seinem Reich beistehen. Yulivee war keine Heilerin, doch ihre Kräfte konnten Morwenna die Linderung schenken, zu der Naylin und der Heiler aus der Nebelburg nicht fähig waren.

„Morwenna wurde von einem mit Magie verfluchten Schwert getroffen“, raunte er, ungewohnt leise, fast erstickt. Seine Kehle brannte, als hätte er Gift geschluckt. „Du … der Albenstein…“ Er sog tief die kühle Luft ein und glaubte dabei, dass nichts von ihr wirklich seine Lungen erreichte. Ein Gefühl, so nahe an der Hilflosigkeit eines Ertrinkenden. Er hasste es und konnte sich zugleich nicht davon lösen. So zwang er sich zur Ruhe: „Bitte…“

Yulivee strich ihre Gewänder glatt und nickte. Er war ihr dankbar, dass sie kein weiteres Wort verlor, als sie sich mit einem letzten erkundenden Blick in das Gemach seiner Schwester begab. Erst als sie aus seinem Gesichtsfeld verschwunden war, entließ Tiranu die Luft aus seiner Kehle. Ermattet strich er sich über die Augen und wagte noch immer nicht, das Geschehene an sich heran zu lassen.

Mit dumpfen Gedanken, die ihr Wirken nicht einmal im Geringsten entfalten konnten, schritt er herüber an die Fensterfront, welche die Gänge wie eine riesige Galerie wirken ließ, und lenkte den Blick über die Bucht. Er war verraten worden, von seinem Adel und seinem Volk. Scheinbar alles wollte ihm aus den Händen gleiten.

Morwenna …

Ausgerechnet sie fing diesen Schlag ab, der eigentlich ihm hätte gelten sollen. Sie war eine Heilerin. Ihre Hände waren das, was es ihr erlaubte, ihre leidenschaftlich verfolgte Profession auszuüben. Neben ihren magischen Fertigkeiten vollbrachte sie so viel mit der Stärke und der Gewandtheit ihrer Finger … Schnitte vernähen, krankes Fleisch abtrennen, Wunden verbinden, Organe abtasten, Knochenbrüche richten, Krämpfe ausmassieren, Glieder strecken, Kinder in die Welt holen …

Bisher war Morwenna nicht erwacht. Ob dies an der Macht des Zaubers lag oder aber … seine Schwester floh vor der Realität, verbarg sich vor der Erkenntnis, die sie längst getroffen hatte. Getroffen, tiefer als jeder Hieb, den Tiranu bisher je hatte einstecken müssen.

Er wusste, wie sehr Morwenna es liebte, in vielen Stunden der Zurückgezogenheit Harfe zu spielen oder zu sticken. Selbst die Bettlaken und Seidenkissen in seinen Gemächern des Rosenturms hatte sie mit aufwendigen Stichen verziert …

Jemand trat neben ihn. Tiranu öffnete mit kalter Ruhe die Flügelfenster. Sofort blies der Wind des Nordmeers mit brachialer Macht in den Korridor und trug jedes Wort von Silvains Lippen. Nur Tiranu vermochte sie zu vernehmen: „Riana ist immer noch in den Wäldern …“

„Und?“

Silvain warf ihm einen Blick aus finsteren Augen zu: „Du gestehst den Aufsässigen Hilfspakete zu und lässt sie im selben Atemzug von ihr verfolgen?“

„Meine Gnade gilt für die Unseligen, die sich dem Aufstand anschlossen. Nicht für die Anführer. Maka und Filan werden für das büßen, was sie taten. Riana weiß, was sie tun muss.“

„Ich werde Yulivee bitten, Riana mit einem Suchzauber aufzuspüren“, flüsterte Silvain. „Ich werde ihr beistehen.“

Der Fürst zog die Stirn kraus. Er wusste, welches Band die beiden Offiziere seiner Schnitter verband. Von Anfang an hatte er geahnt, dass ihre Liebe zu Problemen führen könnte. Offenbar musste Silvain daran erinnert werden, wem seine Treue galt. Er schoss dem Krieger einen warnenden Blick zu: „Yulivee wird nichts davon erfahren! Kein einziges Wort!“

„Dann werde ich sie auf eigene Faust suchen!“, zischte sein Gegenüber. „Wenn sie wirklich hinter dem Magier her ist, könnte sie in Schwierigkeiten geraten…“

„Du hast schon genug angerichtet“, fuhr Tiranu auf. „Riana kommt gut allein zurecht.“

Silvain kniff seine Lippen zusammen, ehe er erneut aufbrauste: „Hast du dir das damals auch gedacht, als du ihr aus purem Egoismus das Herz gebrochen hast? Was, wenn auch sie verwundet wird? Oder wenn Emerelle herausfindet, was sie in deinem Namen tat? Sie wird es wie einen Unfall oder eine Selbstrichtung aussehen lassen … natürlich. Aber was, wenn sie auffliegt? Sie wird die Konsequenzen tragen. Für dich.“

„Ich werde nichts mehr davon hören!“ Tiranus Ton war schneidend kalt geworden. „Tu was du nicht lassen kannst, aber mit meinem Wohlwollen brauchst du nicht mehr zu rechnen!“

Ein zynisch-trauerndes Lächeln bog Silvains Lippen: „Wohlwollen war nie das, was ich von dir wollte … Fürst.“

Der Schnitter wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten oder eine Respektsbekundung zu zeigen, ab und ließ Tiranu mit seinen finsteren Gedanken allein.

Der Tag hatte gerade erst begonnen.

   

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Das dürfte gehaltvoll für euch gewesen sein. Der Input ist mächtig, ich weiß, aber hier, genau an diesem Kreuzweg, zeigt sich nun endlich wie komplex die Handlung bereits bei Keine Rose ohne Dorn aufgezogen wurde. Und ich hätte es nie und nimmer über mich gebracht, diese Geschehnisse auf zwei oder mehrere Kapitel aufzuteilen. Allerdings muss ich euch auch gestehen, dass dies noch lange nicht das Ende der Fahnenstange ist. Ich hoffe, euch hat das Geschriebene gefallen!

Ich freue mich auf eure Rückmeldung, also haut in die Tasten!

Liebe Grüße

Riniell
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