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Odyssee eines Terminkalenders

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P12 / Gen
Alexy Armin Kim Lysander Viola
06.08.2015
12.11.2015
15
36.717
7
Alle Kapitel
28 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
01.10.2015 2.145
 
Tja, die Zeit vergeht echt schnell: Wir befinden uns in der zweiten Hälfte der FF. So langsam kommt die Zielgerade in Sicht. Aber bis dahin ist ja noch Zeit. Also wünsche ich euch viel Spaß mit dem neunten Kapitel!


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Kapitel 9: Extrablatt


Viola hatte schon immer ein wenig Schwierigkeiten damit gehabt, faltige Haut zu zeichnen. Bei körperlichen Entstellungen war das sogar noch viel schlimmer. Junge und gesunde Menschen waren das, was man am häufigsten zu sehen bekam - und auch das, was man am häufigsten zeichnete. Viola war da keine Ausnahme.

Ein wenig schämte sie sich schon dafür. Letzten Freitag, als sie völlig verwirrt zu Hause angekommen war, war es ihr zum ersten Mal aufgefallen: Sie hatte noch nie eine Entstellung gezeichnet, keine offen sichtbare zumindest, sondern hatte sich überwiegend an den Kanon der jungen und gesunden Menschen gehalten. Als ob es nur solche Leute gäbe. Als ob ältere Menschen und solche mit unschönen Entstellungen eine irrelevante Minderheit darstellen würden. Dabei waren gerade Falten, Narben und Missbildungen aus zeichentechnischer Sicht die interessanteren Dinge, da sie eine größere Herausforderung darstellten. Viola erinnerte sich noch, wie sie ihre Großeltern portraitiert hatte - ein ziemlicher Unterschied dazu, ihre Freundinnen zu zeichnen.

Nun saß sie da, den Rücken gegen einen Baumstamm gelehnt, und versuchte, die entstellte Hand Platons aus dem Gedächtnis nachzuzeichnen. Doch so recht gelingen wollte ihr das nicht. Es sah so künstlich aus!

"Was ist das denn? Eine Hand?", ertönte plötzlich eine Stimme neben ihr und sie erkannte, dass Kim ihr neugierig über die Schulter schaute.

"Ja. Ich versuche mich an Brandnarben", sagte Viola leise. "Aber ich kriege das einfach nicht hin. Ich kann sowas nicht."

"Ach, was! Du bist die beste Zeichnerin der Schule!"

Viola errötete. Und biss sich kurz auf die Unterlippe. Ob Platon Narben zeichnen konnte? Auf seinen Bildern hatte sie noch keine gesehen. - Nun gut, auf einem Gemälde war ein Ork gewesen mit Narben im Gesicht, doch diese hatten eher dekorativ ausgesehen als wirklich ... ernsthaft. Und ansonsten ... Platon gehörte als digitaler Künstler wohl in eine komplett andere Kategorie als Viola, aber mit den korrekten Proportionen, der richtigen Schattierung und seiner Sorgfalt insgesamt war er durchaus eine harte Konkurrenz.

"Ich bin nichts Besonderes", sagte sie kopfschüttelnd. "Es gibt Dinge, die ich überhaupt nicht zeichnen kann, und ich mache bei jedem Bild Fehler."

"Diese Fehler kannst wirklich nur du sehen", sagte Kim stirnrunzelnd.

Viola schwieg und starrte die misslungene Brandnarbenhand an. Irgendwie bezweifelte sie, dass Platon ihr seine Hand als Referenz hinhalten würde. Mal ganz abgesehen davon, dass sie ihn ja eh nicht fragen würde.

"Wie bist du eigentlich überhaupt auf das Thema Brandnarben gekommen?", fragte Kim. "Soll das vielleicht Platons Hand sein?"

Viola ließ vor Schreck ihren Bleistift fallen und errötete wieder.

"Das stimmt also?" Kim sah plötzlich schmollend aus. "Und du hast mir nichts gesagt? Ich dachte, wir wären Freundinnen!"

Viola errötete noch mehr. "W-was habe ich nicht g-gesagt?"

"Na das mit dir und Platon! Ich dachte erst, das wäre bloß Geschwätz von Peggy, aber ..." Kim stockte, kramte in ihrer Tasche herum und legte eine Ausgabe der Schülerzeitung über Violas Zeichnung. "Das hier ist seit dieser Pause erhältlich", fügte sie hinzu.

Viola war sprachlos. Sie hatte eigentlich erwartet, dass Kim sie auf den Einbruch ins Lehrerzimmer oder sowas ansprechen würde, aber das hier ...

Langsam und wie hypnotisiert nahm sie die Schülerzeitung in die Hände und starrte auf das Cover, auf dem sie und Platon abgebildet waren, dazwischen ein Herz mit einem Fragezeichen drin. Der Titel des Leitartikels lautete: "Und so verliebte sich der Löwe in das Lamm ..." Viola konnte nicht anders, als sofort den Artikel aufzuschlagen:

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In letzter Zeit erreichten unsere Redaktion viele Anfragen, die Öffentlichkeit über unseren geheimnisumwobenen neuen Schüler Platon aufzuklären, und während unsere Chefredakteurin Peggy in den Pausen vergeblich die Schule absuchte, um ihn zu interviewen, kam ein neues Gerücht auf: Hat das Kriminaltalent Platon etwa eine heimliche Liebesbeziehung mit unserer schüchternen Künstlerin Viola? Die beiden sollen von einigen ehemaligen Mitschülern Platons bei einer Umarmung beobachtet worden sein. Was erwartet aber die liebe Viola in einer Beziehung mit unserem hauseigenen Two-Face? Platons Exfreundin Kira gibt Aufschluss!

Peggy: Hallo Kira! Danke für deine Bereitschaft, dein kostbares Wissen mit uns zu teilen!

Kira: Ich freue mich, wenn ich helfen kann.

Peggy: Dann kommen wir doch gleich zur ersten Frage: Wie lange waren du und Platon zusammen?

Kira: Es waren zwei Monate.

Peggy: Das war ja nicht sehr lange. Wieso habt ihr euch getrennt?

Kira: Ich weiß es ehrlich gesagt immer noch nicht so ganz. Er hat von heute auf morgen Schluss gemacht und meinte nur, wir würden einfach nicht zusammenpassen. Der Meinung war ich nie.

Peggy: Er hat dir also das Herz gebrochen?

Kira: Ja, eigentlich schon. Er hat sich zwar sichtlich bemüht, es mir schonend beizubringen, aber sowas tut doch immer weh.

Peggy: Auf jeden Fall! War es das erste Mal, dass er dir wehgetan hat?

Kira: Hm ... ja. Wir hatten zwar hin und wieder Meinungsverschiedenheiten, aber er ist nie ausfällig geworden.

Peggy: So kennen wir ihn ja gar nicht!

Kira: Ja, weil er zu nahestehenden Menschen ganz anders ist als zu anderen. Er kann zwar sehr schroff werden und es ist manchmal sehr schwer, mit ihm einen Kompromiss zu finden, aber er meint es im Prinzip nur gut. Er beteiligt sich an der Erziehung seiner jüngeren Cousinen und hat sich angewöhnt mit Strenge vorzugehen, weil die kleine Laura etwas schwierig ist. Er ist ein bisschen ein Kontrollfreak. Aber das ist eben seine Art Zuneigung zu zeigen. Wenn jemand gemein ist zu Menschen, die er liebt, dann ist er bereit Kehlen durchzunagen!

Peggy: Hängt dieses Kehlendurchnagen denn irgendwie mit den Gerüchten von seiner Gewalttätigkeit zusammen?

Kira: Teilweise. Ich weiß nicht, wie das alles damals, in der Grundschule, angefangen hat, aber als wir zusammen waren, ist er mal auf jemanden losgegangen, der schlecht von seiner Cousine Caroline gesprochen hat. Und einmal hat er einen jüngeren Schüler beschützt, der von einer Gang schikaniert wurde.

Peggy: Dann ist er also ein Held?

Kira: Ich weiß es nicht. Das waren jetzt Fälle, wo ich die Ursachen kenne. Aber ich weiß nicht, wieso unsere halbe Schule ihm aus dem Weg gegangen ist.

Peggy: Das hat vielleicht verschiedene Gründe. Man erzählt sich zum Beispiel, dass er das Kaninchen einer Mitschülerin gegessen haben soll!

Kira: Haha, nein, das stimmt nicht. Er war nur sozusagen zur falschen Zeit am falschen Ort mit der falschen Sache beschäftigt. Wir wollten am Wochenende zusammen kochen, und er hat in der Pause Rezepte für Kaninchenfleisch gegooglet. Lisas Kaninchen ist am selben Tag verschwunden, und einige Vollidioten haben da wohl ihre Schlüsse gezogen. Lisa selbst hat die Schuld nie bei Platon gesehen, und außerdem wurde das Kaninchen ein paar Tage später wiedergefunden.

Peggy: Dann war es das wohl für diesen Mythos. Viele unserer Leser werden sicherlich erleichtert oder enttäuscht sein. Aber nun wollen viele an unserer Schule gerne wissen, was da zwischen ihm und unserer Viola läuft. Weißt du da etwas? Die Zeugen gehen auf deine Schule.

Kira: Ich habe Gerüchte gehört, dass er eine neue Freundin haben soll, aber als ich ihn über Skype angeschrieben habe, meinte er, das stimmt nicht.

Peggy: Ihr habt noch Kontakt?

Kira: Ja, hin und wieder mal.

Peggy: Und meinst du, er hat dir die Wahrheit gesagt?

Kira: Keine Ahnung. Es heißt ja, die beiden hätten sich umarmt, und bei Platon bedeutet es schon viel, wenn er mit jemandem auch nur redet.

Peggy: Du hältst es also für möglich, dass da was läuft?

Kira: Ich habe keine Ahnung! Warum fragst du denn nicht die beiden?

Peggy: Nun, Platon war die letzten paar Tage krank, und eine Freundin hat mir abgeraten, Viola zu interviewen.

Kira: Und deswegen fragst du an einer anderen Schule nach? Es geht doch um zwei Schüler eurer Schule!

Peggy: Ja, das ist klar. Ich fand es bloß interessant, das Ganze aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Aber mal angenommen, Platon und Viola sind tatsächlich zusammen. Welchen Rat würdest du deiner Nachfolgerin geben?

Kira: Wie meinst du das?

Peggy: Nun ja, Platon ist eben ziemlich ... speziell.

Kira: Aber er ist immer noch ein ganz normaler Mensch! Mein einziger "spezieller" Rat wäre daher, ihn nicht als "speziell" anzusehen. Und jetzt entschuldige bitte, ich muss noch Hausaufgaben machen.

Peggy: Äh, ja, danke für das Interview!

Wie ihr seht, musste das Interview aus Zeitgründen abgebrochen werden, und Peggy konnte keine Fragen zu Platons Verbrennungen und seiner Familiengeschichte stellen. Für die Fortsetzung des Interviews konnte leider auch noch kein Termin vereinbart werden, doch unsere Reporter forschen tüchtig weiter und freuen sich darauf, den Schülern von Sweet Amoris demnächst neue Geheimnisse enthüllen zu können!

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"Peggy scheint keinen guten Eindruck auf Kira gemacht zu haben!", meinte Kim, als Viola fertiggelesen hatte.

"Das liegt an ihren gemeinen Fragen", erwiderte Viola mit erstickter Stimme. "Kira hat verstanden, was Peggy eigentlich wollte, und wollte da nicht mehr mitmachen. Ich würde ihr auch kein Interview geben wollen."

"Dann war es also richtig von mir, sie von dieser Idee abzubringen?"

Viola starrte Kim an. "Du warst das? Du bist die Freundin, die nicht wollte, dass Peggy mich interviewt?"

"Ja", sagte Kim etwas finster. "Obwohl ich noch überlegt habe, ob es nicht besser wäre, wenn du diesen Gerüchten in einem Interview ein Ende bereiten würdest. Aber anscheinend ist da doch was dran."

Viola senkte ihren Blick und spürte, wie ihr Magen eine Rebellion ankündigte. Der kalte Schauer, der ihr über den Rücken lief, war der felsenfesten Ansicht, dass alle Schüler von Sweet Amoris ihr verstohlene Blicke zuwarfen. Vielleicht wäre es tatsächlich besser gewesen, mit Peggy zu reden, denn vielleicht hätte es eine Publikation dieser Gerüchte verhindert. Andererseits hätte Peggy ihr bestimmt viele andere Informationen aus der Nase gezogen und einen viel bloßstellenderen Artikel verfasst. Egal, wie man man es drehte und wendete, sie würde den Gerüchten nicht entkommen. Und lieber solche Gerüchte als ein peinliches Interview. Sie konnte sich wohl glücklich schätzen, den Schutzengel Kim auf ihrer Seite zu haben. Einen Schutzengel, dem sie die Wahrheit schuldete.

"Platon und ich ... Irgendwie ... Ich glaube, wir verstehen uns." Sie errötete und versuchte krampfhaft, Kims skeptisch erhobene Augenbrauen zu übersehen. "Das heißt ... Ich weiß es nicht. Er war immer nett zu mir, obwohl ich zuerst dachte, er hält mich für eine Idiotin. Und dann ..."

"Was war dann?", hakte Kim nach, und ihr schmollender Mund begann, in einem Schmunzeln zu zerfließen.

"Also ... Napoleone hat davon erfahren und will mich jetzt mit ihm zusammenbringen. Sie hat sogar einen Einbruch ins Lehrerzimmer organisiert, um an seine Akte zu kommen." Etwas in ihrem Kopf hatte klick! gemacht, ihr Magen hatte seine Rebellion plötzlich abgeblasen und nun sprudelte sie hemmungslos vor sich hin. Etwas wollte raus, raus, raus, die ganzen Gedanken, Gefühle und Eindrücke der letzten Zeit. Außerdem war Kim ihre beste Freundin und würde bestimmt sensibel reagieren. "Letzten Freitag habe ich Mr. Faraize angelogen. In Wirklichkeit habe ich Platon besucht, weil ich mehr wissen wollte, und habe sein Zimmer durchsucht. Und ... Na ja. Es tut mir leid, dass ich dir nichts gesagt habe, aber ich wusste lange Zeit auch nicht, was ich dir hätte sagen sollen."

Als sie wieder aufsah, begegnete sie einer Kim, deren Gesicht pures Entsetzen wiederspiegelte.

"V-Viola ... Was ist mit dir?", stammelte sie. "Du erzählst mir plötzlich solche Dinge ohne zu stottern, hast einen Lehrer angelogen, die Schule geschwänzt und einen Jungen ausspioniert! Woher kennst du überhaupt seine Adresse?"

"Aus seiner Akte. Napoleone hat mich ins Lehrerzimmer mitgenommen, und jetzt habe ich eine Kopie davon. Deswegen war in dem Interview nicht wirklich viel Neues für mich. Außer dass Platon schon mal eine Freundin hatte. Ich frage mich, warum er so plötzlich Schluss gemacht hat. Sie scheint nett zu sein. Aber er scheint auch nicht jemand zu sein, der einfach so seine Freundin sitzen lässt. Er hängt sehr an den Menschen, die ihm nahe sind, selbst wenn er sich kaum noch an sie erinnert. Wusstest du, dass er eine Amnesie hat? Er kann sich an den Brand nicht mehr erinnern, das hat er mir selbst gesagt. Es ist, als ob ... Es gibt diese Sache mit seinem Verhalten, dass er nach außen hin so aggressiv ist und sein Gesicht versteckt, aber ... Es ist wie ein fehlendes Puzzleteil, ohne das das Gesamtbild nur wenig Sinn macht."

Sie sprudelte dahin und vergaß völlig, dass sie mitten auf dem Schulhof war, mit einem anderen Menschen redete und eigentlich schüchtern stammeln müsste. Die Gedanken plätscherten aus ihr heraus, und die arme Kim war hilflos ihrem Schock überlassen: "Wer bist du und was hast du mit Viola gemacht?!"


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Fortsetzung folgt ...
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