Odyssee eines Terminkalenders
von Feael Silmarien
Kurzbeschreibung
Ein neuer Schüler macht Sweet Amoris unsicher. - Buchstäblich, denn sein unschöner Ruf eilt ihm voraus. Was für ein Pech für die schüchterne Viola, die ihm seinen Terminkalender wiedergeben muss! Doch nach und nach kommt sie seiner wahren Persönlichkeit auf die Schliche und lernt dabei auch noch, über ihren Schatten zu springen ... --- Widmung: Allen Schüchternen von einer, die nicht mehr so schüchtern ist wie früher.
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P12 / Gen
Alexy
Armin
Kim
Lysander
Viola
06.08.2015
12.11.2015
15
36.717
7
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27.09.2015
3.006
Mit der versprochenen Verspätung geht es nun weiter. Ich hoffe, ihr habt die längere Pause gut überstanden, und wünsche euch nun viel Spaß mit dem achten Kapitel!
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Kapitel 8: Violas moralischer Absturz
Viola schluckte. Sie tat es tatsächlich. - Erst der Einbruch ins Lehrerzimmer und nun das hier: Sie stand vor einem dreistöckigen Haus aus roten Ziegeln, die Straße und Hausnummer stimmten mit der Adresse in Platons Akte überein. Wie tief war sie gesunken ...
In der Hoffnung, dass möglichst wenig Familienmitglieder zu Hause waren, öffnete sie das Gartentor, schlich zur Haustür, duckte sich und huschte zum Fenster daneben - das Küchenfenster, wie sich herausstellte. Da kauerte sie nun, die kleine, schüchterne, ewig errötende Viola und spionierte einen Jungen aus, den sie erst seit zwei Wochen kannte, wobei die letzten Tage gar nicht zählten, weil er ja nicht in der Schule gewesen war. - Und was, wenn jetzt eine seiner Cousinen von der Schule kam und sie sah? Wie blöd war sie eigentlich?!
Ihr Magen verkrampfte sich so sehr, dass ihr fast übel wurde. Ihr Rücken kribbelte und sie fühlte sich, als würde die ganze Welt sie anstarren. Sie war echt das Allerletzte ... Sie hatte Mr. Faraize vorgelogen, ihr wäre schlecht, und weil sie gar nicht gewohnt war zu lügen, war ihr dabei tatsächlich so schlecht geworden, dass Mr. Faraize ihr aufgrund der außerordentlichen und ganz und gar echten Blässe in ihrem Gesicht geraten hatte, nach Hause zu gehen. - Das hatte Viola auch getan. Nur, dass sie eben zu Platon nach Hause gegangen war.
Sie versteckte sich nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit am Fenster, und so allmählich beschlich sie der Verdacht, dass Platon mit seiner Erkältung wahrscheinlich in einem der oberen Stockwerke im Bett lag. Sie Vollidiotin hatte mit dieser Selbstverständlichkeit natürlich nicht gerechnet und hatte keine Ahnung, wie sie sein Zimmer ausfindig machen und dort hineinschauen sollte.
Gerade als sie nun so damit beschäftigt war, sich selbst zu verfluchen, regte sich etwas im Inneren des Hauses und sie zog ihren Kopf blitzschnell ein. Fehlte nur noch, dass sie durch das Fenster gesehen wurde!
Doch zu spät ... Sie war viel zu langsam aus ihren Gedanken erwacht. Am Fenster klapperte es, und als sie aufsah, starrte ihr das linke Auge Platons ins Gesicht.
Violas Wangen nutzten die betretene Stille, um gehörig aufzuglühen.
"Du weißt aber schon, dass du die Türklingel benutzen darfst, oder?", sagte Platon relativ leise und mit einer Stimme, die keine Zweifel an einer verstopften Nase offen ließ.
"I-ich - ja - ich wollte nur nicht - ich wollte nicht stören ..." Etwas sagte ihr, dass sie nicht gerade überzeugend klang.
Platons linker Mundwinkel wanderte nach oben, und sie wusste nicht, ob es am Fieber oder an etwas anderem lag, aber sein Gesicht war gerötet.
Sein Lächeln wurde breiter, als sein Blick kurz zur weißen Küchenuhr wanderte: "Schwänzt du?"
"Nein! Ich meine - ich -"
"Sagen wir einfach, du bist gekommen, um mir die Hausaufgaben vorbeizubringen", grinste er entschuldigend. "Na los, ab zur Tür mit dir."
Wie ferngesteuert erhob sie sich und schritt zu der weißgestrichenen Tür, die sich kurze Zeit später öffnete, um einen sehr unpräsentablen Platon zu offenbaren: in eine dicke Decke gehüllt, darunter ein verschwitztes T-Shirt, eine abgetragene Trainingshose, Pantoffeln, eine geschwollene Nase und verklebte Haarsträhnen.
"Hereinspaziert - aber pass auf, dass du dich nicht ansteckst", sagte er etwas müde.
Viola trat ein und starrte Platon an wie ein verurteilter Verbrecher seinen Henker.
"Tee?", fragte der Henker und zeigte einladend in Richtung Küche.
Viola gehorchte ohne auch nur zu nicken. Die Küche war recht groß, sehr hell, weiß möbliert, äußerst penibel aufgeräumt und mit einem Esstisch für fünf Personen. Sie blieb unschlüssig neben dem Kühlschrank stehen, während Platon den Wasserkocher füllte. Er tat es nur mit seiner Linken; die rechte Hand blieb unter der Decke verborgen.
"Nun denn ...", seufzte er, als das Wasser zu brodeln anfing. "Deine Miene hat mich überzeugt: Ich werde vorerst mal nicht fragen, woher du meine Adresse kennst. Aber ich denke, ich habe das Recht zu erfahren, was mir die Ehre deines Besuchs beschert."
Es war kaum zu übersehen, dass er sich amüsierte. Und dennoch. Sein Tonfall hatte etwas Scharfes. Ja, in irgendeiner Form war das ein Verhör.
Viola schwieg nur und starrte auf den Boden. - Wie sollte sie das auch ausdrücken? Dass sie mehr von ihm wissen wollte. Dass es sie wahnsinnig machte, dass er schon seit mehreren Tagen nicht mehr zur Schule kam.
"Bist du allein hier?", fragte sie plötzlich statt zu antworten.
"Ja - warum?"
"Nur so ..." Und als er seinen fragenden Blick nicht abwandte: "Du bist eben krank."
"Und?"
"Wenn ich krank werde, dann versucht mein Vater, weniger zu arbeiten, um sich um mich zu kümmern."
Platons Augenbraue wanderte nach oben und sein Auge weitete sich kurz, dann wurde sein Ausdruck plötzlich nahezu unerträglich sanft.
"Ich werde in einigen Monaten siebzehn und kann mich gut um mich selbst kümmern. Aber es ist ganz lieb, was dein Vater macht."
Endlich hob Viola den Blick, schaute aber zur Seite. "Es sind ja nur noch Papa und ich. Wir müssen zusammenhalten."
Das Wasser war fertig, doch Platon überhörte es.
"Was ist mit deiner Mutter?"
"An Krebs gestorben. Vor fünf Jahren", presste Viola hervor.
"Oh. Das tut mir leid."
"Passiert", seufzte sie bitter. "Du hast ja sogar noch mehr verloren."
Platon ließ sich Zeit mit einer Antwort; er wandte sich um, machte sich an der Anrichte zu schaffen, drückte Viola zwei Tassen in die Hände und watschelte mit einer Teekanne ins Wohnzimmer. Viola folgte ihm und staunte über den krassen Gegensatz zur blitzblank geputzten Küche: Decken, Kissen und Kleidungsstücke lagen überall auf dem Sofa und auf dem Boden verstreut, CDs, DVDs und Blu-rays stapelten sich einfach so auf dem Boden, Bücher und Zeitschriften lagen, wo es ihnen gerade passte, und mitten im Raum nistete eine Playstation 4 mit einer Post-it-Notiz: "Pfoten weg von meiner PS4, Platte!! D-:< ~ Caro <3"
... "Platte"?!
"Bitte entschuldige die Unordnung", murmelte Platon. "Die anderen haben's nicht so mit dem Aufräumen, und ich bin grad nicht in der Verfassung dazu. Die Küche ist mein Territorium. Ich bin sozusagen das einzige weiße Schaf in einer Familie von schwarzen Schafen."
"Platte" war sofort wieder vergessen, als ... "mein Territorium"?
"Die anderen dürfen nur zum Essen rein", erklärte Platon, als er ihre Miene sah. "Das ist meine Küche, und ich kann da keine Schmutzfinken gebrauchen. Außer Caro. Wir kochen abwechselnd. Dauert immer eine Ewigkeit, ihre Sauerei wieder wegzubekommen."
"Du kochst?!"
Platon sah sie an, als hätte sie eine sehr dumme Frage gestellt. "Äh ... jaah? Wer soll das denn sonst machen? Caro und ich sind die einzigen, bei denen das Essen nicht anbrennt. Außerdem lenkt Kochen ab, wenn man zu viele Gedanken im Kopf hat. Es entspannt."
Aus irgendeinem Grund errötete Viola mal wieder. "Ich hätte einfach nur nicht gedacht, dass du deine Familie bekochst."
"Klischeedenken, hm?", schnaubte Platon grinsend und pflanzte sich im Schneidersitz aufs Sofa - direkt vor sein Notebook.
Viola stellte die beiden Tassen auf dem Wohnzimmertisch ab, setzte sich in einen Sessel schräg gegenüber von Platon und rötete vor sich hin. Er beteiligte sich an der Erziehung der beiden jüngeren Cousinen, er kochte ... Etwas in ihr war der felsenfesten Überzeugung, dass Platon ein guter Vater wäre. Ein etwas zu strenger sicherlich, einer, der mit eiskalter Konsequenz durchgriff, aber auch einer, der sich seiner Verantwortung bewusst war.
"Ich kann mich nicht mehr erinnern", sagte er plötzlich, und mit einem Schlag fiel ihr auf, dass er ein langes Schweigen unterbrochen hatte.
Sie sah auf.
"Ich weiß nur noch, dass ich ein Marmeladenbrot zum Frühstück hatte", fuhr er etwas heiser fort. "Und dass Tera mich vor dem Badezimmer schubste, damit sie sich als erste die Zähne putzen konnte. Sie konnte mich nie leiden. Ich glaube, das war die typische Eifersucht unter Geschwistern. Dann habe ich mit meinen Autos gespielt. Und dann bin ich aufgewacht, ganz verkabelt, Infusionen, bandagiert und so weiter. Ich dachte, die anderen liegen im Zimmer nebenan, Tera auch ganz verkabelt, Mama, Papa ... Ich war mir ganz sicher, dass sie auch im Krankenhaus lagen, und wollte ganz schnell wieder gesund werden, damit ich zu ihnen konnte. Aber dann kamen Tante und Onkel zu mir und sagten, dass sie alle tot waren. Ganz direkt. Mit vier Jahren wusste ich schon längst, was der Tod ist. Tera hatte es mir einmal erklärt. Sie hatte vor meinen Augen eine Spinne zerquetscht und mir gesagt, dass sie jetzt tot sei. Ich verstand also, dass Mama, Papa und Tera jetzt wie die Spinne waren. Die Ärzte nannten es Verbrennungen und Kohlenstoffmonoxidintoxikation."
Platon starrte ins Nichts, während er sprach, als würde er eher mit sich selbst reden als mit Viola. Sie saß nur mit angehaltenem Atem da.
"Ich erinnere mich nicht", wiederholte er. "Es müssen höllische Schmerzen gewesen sein, aber ich habe keine Ahnung, wie es sich anfühlt zu brennen. Es ist so, als hätte nicht ich gebrannt, als hätte ich zu dem Zeitpunkt gar nicht existiert, die Wunden waren einfach nur plötzlich da. Sie waren da, und mein Körper war nicht mehr mein Körper. Er war anders, fremd. Die Wunden gehören nicht zu mir. Jemand anderes hat gebrannt. Nicht ich. Das hier", er legte seinen Zeigefinger an seine von Haaren verschleierte rechte Gesichtshälfte, "ist nicht mein Gesicht."
Er senkte den Blick, hob ihn wieder und schaute Viola plötzlich in die Augen. Sie zuckte leicht zusammen. Er lächelte traurig.
"Tante, Onkel, Caro, Wanda und Laura", sagte Platon. "Das ist jetzt meine Familie. Aber es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass es noch etwas davor gab, Mama, Papa, Tera ... Ein Leben vor den Narben. Es war nicht ideal, ja, meine Eltern waren sehr beschäftigt, meine Schwester hasste mich ... Aber sie waren da. Dieses Leben war da." Er seufzte. "Ich bin wohl ein bisschen sentimental. Weißt du, ich habe jahrelang ein Familienfoto mit mir herumgeschleppt. Das letzte Familienfoto vor dem Brand. Ich habe es als Lesezeichen für meinen Terminkalender missbraucht, damit ich die Gesichter immer vor Augen habe und nicht vergesse. Und jetzt, stell dir vor, nach all den Jahren habe ich es doch tatsächlich verloren. Ich verliere sonst nie etwas, vor allem nicht so wichtige Dinge. Vermutlich habe ich es irgendwo an einen gut sichtbaren Ort gelegt und suche immer nur an den weniger sichtbaren. Das passiert Caro ständig. Sie legt ihren Hausschlüssel extra auf die Kommode, damit sie ihn beim Weggehen nicht vergisst, und dann kann sie ihn nicht finden."
Viola wusste genau, dass sie rot war wie eine Tomate. Das Familienfoto bedeutete Platon viel, er erzählte ihr vom Verlust dessen und ahnte nicht, dass sie es hatte. Sie war eine abscheuliche Person! Sie hätte es ihm schon vor zwei Wochen wiedergeben sollen, damals, als sie das Notizbüchlein auf dem Boden gefunden hatte, sie hätte am Lehrerzimmer klopfen sollen, sie hätte ... Sie hasste sich dafür, dass sie sich nicht getraut hatte!
"Du siehst aus, als wolltest du etwas sagen."
Viola machte vor Schreck fast einen Hüpfer.
"Ich -", stammelte sie. "Ja, ich - also ... Tera - das ist ein Spitzname, oder?"
Platon lächelte. "Ja. Ihr vollständiger Name war Terpsichore. Wie die griechische Muse. Durchgeknallt, oder? Ich habe ja gesagt, dass meine Eltern ziemliche Nerds waren."
Viola hörte kaum hin. Wieso?! Wieso hatte sie ihm nicht vom Terminkalender und vom Foto erzählt? WARUM?! Wenn er es doch vermisste ...
"Wie sind wir jetzt eigentlich auf das Thema gekommen?", fragte er plötzlich heiter. "Na ja, egal. Der Tee wird kalt."
Viola ließ es sich nicht zweimal sagen und griff nach ihrer Tasse, um ihre Schuldgefühle mit einem großen Schluck zu ertränken.
---
Die Gründe, sich selbst zu hassen, häuften sich so schnell, dass Viola kaum noch hinterherkam, sich tatsächlich für ihre Taten zu schämen. Sie war nicht nur vor Platons Küchenfenster umhergeschlichen ohne irgendeine Erklärung abzuliefern, sondern sie nutzte seine Krankheit auch noch eiskalt aus. Der Monolog über seine Vergangenheit hatte ihn sichtlich erschöpft, und er hatte nur noch schwach vor sich hin gemurmelt, dass er wegen seiner verstopften Nase im Liegen nicht atmen konnte und die Zeit daher aufrecht sitzend mit YouTube und weniger anspruchsvollen Videospielen verbrachte, und das natürlich in komfortabler Nähe zur Küche. Der weitere Gesprächsverlauf war ein Flickenteppich aus betretener Stille und kurzen Fragen und ebenso kurzen Antworten gewesen. Bis sich der Tee in Violas Blase meldete und sie fragte, ob sie die Toilette benutzen durfte. Wenig später, als sie ihr Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken ansah, fragte sie sich, warum sie nicht schon längst wieder gegangen war. Es war alles doch einfach zu peinlich, und sie beschloss, sofort zu gehen. - Ein Plan, den sie über den Haufen warf, als sie wieder in das Wohnzimmer trat, um sich zu verabschieden, und feststellte, dass Platon auf die Seite gerutscht und eingeschlafen war.
Es war, als hätte sich ein Schalter in ihrem Kopf umgelegt. Ohne lange nachzudenken, setzte sie sich sofort wieder in Bewegung, eilte die Treppe hinauf und betrat ein Zimmer im zweiten Stock, das mit seiner Ordnung nur dem "einzigen weißen Schaf in einer Familie von schwarzen Schafen" gehören konnte. Helle Wände und helle Möbel fand sie vor, Glasvitrinen mit einer üppigen Sammlung von Actionfiguren und Statuen von Film-, Videospiel- und Comichelden, viele Figuren, die sie sogar kannte, alles Mögliche von Batman über Lara Croft bis hin zu einer Kreatur, die, wie sie mal gehört hatte, "Creeper" genannt wurde. Im Kontrast dazu befand sich im Regal eine nicht minder üppige Bibliothek an Sachbüchern über - vor allem römische - Geschichte, Klassikern und Katalogen von Kunstausstellungen. Und natürlich konnte Viola nicht der Versuchung widerstehen, zumindest den Ausstellungskatalog der Eremitage in die Hand zu nehmen; schließlich stand der Besuch ihrer relativ weit oben auf ihrer Prioritätenliste, zumal sie bereits den Louvre und den Prado inspiziert hatte. Noch im Eremitage-Katalog blätternd, ortete sie den Computertisch samt großen Lausprechern, einem kleinen Regal mit DVDs und Spielen und einem - obwohl Viola mit digitaler Malerei nur wenig am Hut hatte, konnte sie ihren Speichelfluss nicht unterdrücken ... - War das etwa ein Cintiq?! Platon musste ja ewig dafür gespart haben! Direkt daneben platzierte Pflegeutensilien ließen jedenfalls auf viel Liebe seitens des stolzen Besitzers schließen. Wenn er sich solche Anschaffungen gönnte, war es kein Wunder, dass er so viel arbeitete!
Viola schüttelte kurz den Kopf, um den Anflug von Nerdismus loszuwerden, und richtete ihren Blick auf die andere Seite des Zimmers. Über dem Bett hingen Poster, die verdächtig nach Ölgemälden aussahen, aber aufgrund des verräterischen Weichzeichners im Hintergrund wohl eher digitalen Ursprungs waren. Und "digital" passte auch wesentlich besser zu einer Lara Croft, die den Betrachter mit gezückten Pistolen über den Rand ihrer schwarzen Brillengläser anblickte, und einem Mann mit Kappe, Gesichtsmaske und Smartphone. Viola musterte ein Gemälde nach dem anderen und konnte als fachfremde Betrachterin nicht wirklich erkennen, was sie da anschaute: Zwielichtige Leute in weißen Kapuzen, zwielichtige Leute in schwarzen Kapuzen, zwielichtige Katzen in Kapuzen ... Und der Künstler war definitiv Platon. - Wer sonst würde die Signatur BloodyMaryPlatte setzen, wenn nicht ein Platon Maria, dem offenbar kein eleganterer Nickname eingefallen war?
Als sie sich an Platons Kunst sattgesehen hatte, erinnerte sie sich mit einem Schlag daran, dass sie nicht allzu lange am Ort des Verbrechens verweilen sollte, legte den Katalog auf den Nachttisch neben Anna Karenina und schlich aus dem Zimmer. Plötzlich begannen ihr Herz zu rasen und ihr Bauch zu kribbeln - eine Nervosität, die vorher auf mysteriöse Weise von Neugier unterdrückt worden war. War er vielleicht wieder aufgewacht und hörte sie die Treppe hinabsteigen? Sie konnte nicht anders als noch einmal in das Wohnzimmer zu schielen.
Platon lag immer noch auf der Seite und schlief. Seine Füße hingen vom Sofa, seine rechte Gesichtshälfte war in einem Kissen vergraben. Doch was Viola innehalten ließ, war die Hand. Die rechte Hand, die unter der Decke hervorschaute und nicht in einen Handschuh gehüllt war. Wie gebannt trat Viola näher und kniete neben dem Sofa nieder. Die Haut der Rechten war dunkler als die gesunde und irgendwie auch fleckig. Sie war knittrig und faltig, und Viola konnte nicht recht entscheiden, ob sie zerfressen oder überwuchert aussah. Wie die Hand eines alten Menschen irgendwie, aber sehr unnatürlich, wie etwas, das eigentlich anders sein sollte, ja schon fast wie etwas nicht von dieser Welt, eine merkwürdige Mutation, hässlich und tot wie ein Schrumpfkopf.
Viola saß da und litt an Magenkrämpfen. Weil die Hand ekelhaft war vielleicht, aber viel eher deswegen, weil diese Hand doch tatsächlich lebendig war und zu einem hübschen Körper gehörte. Und irgendwie kam es ihr so vor, als würde sie erst jetzt begreifen, was sie bisher nur in Worten kannte. Diese hässliche, verschrumpelte Hand war eine Erinnerung, ein Beweis, der sich nicht leugnen ließ, eine Tatsache, vor der man nicht weglaufen konnte.
Viola kniete neben der Hand und konnte sich nicht vor dem Gedanken wehren, dass solche Entstellungen im Gesicht wohl noch viel schlimmer aussahen. Und hier war sie, neben einem schlafenden Platon, und nichts würde sie daran hindern, sein Gesicht ein wenig zu drehen, ihm die Haare aus dem Gesicht zu streichen und ...
Nein.
Viola biss die Zähne zusammen und wusste, dass sie es nicht tun sollte und auch nicht wollte. Ein gewisser Rest von ihrem Gewissen war schließlich noch übrig. Und dass Platon offenbar nicht wollte, dass andere sein Gesicht sahen, musste respektiert werden. Was zugegebenermaßen sehr lächerlich wirkte angesichts der Tatsache, dass sie eben sein Zimmer inspiziert hatte.
Sie machte einen tiefen Atemzug. Streckte ihre Hand aus. Berührte Platons Schrumpfkopfhand, die sich warm anfühlte und lebendig. Dann umschloss sie diese Hand und legte sie vorsichtig unter die Decke, stand auf und schlich eilig aus dem Haus.
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Fortsetzung folgt ...
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Kapitel 8: Violas moralischer Absturz
Viola schluckte. Sie tat es tatsächlich. - Erst der Einbruch ins Lehrerzimmer und nun das hier: Sie stand vor einem dreistöckigen Haus aus roten Ziegeln, die Straße und Hausnummer stimmten mit der Adresse in Platons Akte überein. Wie tief war sie gesunken ...
In der Hoffnung, dass möglichst wenig Familienmitglieder zu Hause waren, öffnete sie das Gartentor, schlich zur Haustür, duckte sich und huschte zum Fenster daneben - das Küchenfenster, wie sich herausstellte. Da kauerte sie nun, die kleine, schüchterne, ewig errötende Viola und spionierte einen Jungen aus, den sie erst seit zwei Wochen kannte, wobei die letzten Tage gar nicht zählten, weil er ja nicht in der Schule gewesen war. - Und was, wenn jetzt eine seiner Cousinen von der Schule kam und sie sah? Wie blöd war sie eigentlich?!
Ihr Magen verkrampfte sich so sehr, dass ihr fast übel wurde. Ihr Rücken kribbelte und sie fühlte sich, als würde die ganze Welt sie anstarren. Sie war echt das Allerletzte ... Sie hatte Mr. Faraize vorgelogen, ihr wäre schlecht, und weil sie gar nicht gewohnt war zu lügen, war ihr dabei tatsächlich so schlecht geworden, dass Mr. Faraize ihr aufgrund der außerordentlichen und ganz und gar echten Blässe in ihrem Gesicht geraten hatte, nach Hause zu gehen. - Das hatte Viola auch getan. Nur, dass sie eben zu Platon nach Hause gegangen war.
Sie versteckte sich nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit am Fenster, und so allmählich beschlich sie der Verdacht, dass Platon mit seiner Erkältung wahrscheinlich in einem der oberen Stockwerke im Bett lag. Sie Vollidiotin hatte mit dieser Selbstverständlichkeit natürlich nicht gerechnet und hatte keine Ahnung, wie sie sein Zimmer ausfindig machen und dort hineinschauen sollte.
Gerade als sie nun so damit beschäftigt war, sich selbst zu verfluchen, regte sich etwas im Inneren des Hauses und sie zog ihren Kopf blitzschnell ein. Fehlte nur noch, dass sie durch das Fenster gesehen wurde!
Doch zu spät ... Sie war viel zu langsam aus ihren Gedanken erwacht. Am Fenster klapperte es, und als sie aufsah, starrte ihr das linke Auge Platons ins Gesicht.
Violas Wangen nutzten die betretene Stille, um gehörig aufzuglühen.
"Du weißt aber schon, dass du die Türklingel benutzen darfst, oder?", sagte Platon relativ leise und mit einer Stimme, die keine Zweifel an einer verstopften Nase offen ließ.
"I-ich - ja - ich wollte nur nicht - ich wollte nicht stören ..." Etwas sagte ihr, dass sie nicht gerade überzeugend klang.
Platons linker Mundwinkel wanderte nach oben, und sie wusste nicht, ob es am Fieber oder an etwas anderem lag, aber sein Gesicht war gerötet.
Sein Lächeln wurde breiter, als sein Blick kurz zur weißen Küchenuhr wanderte: "Schwänzt du?"
"Nein! Ich meine - ich -"
"Sagen wir einfach, du bist gekommen, um mir die Hausaufgaben vorbeizubringen", grinste er entschuldigend. "Na los, ab zur Tür mit dir."
Wie ferngesteuert erhob sie sich und schritt zu der weißgestrichenen Tür, die sich kurze Zeit später öffnete, um einen sehr unpräsentablen Platon zu offenbaren: in eine dicke Decke gehüllt, darunter ein verschwitztes T-Shirt, eine abgetragene Trainingshose, Pantoffeln, eine geschwollene Nase und verklebte Haarsträhnen.
"Hereinspaziert - aber pass auf, dass du dich nicht ansteckst", sagte er etwas müde.
Viola trat ein und starrte Platon an wie ein verurteilter Verbrecher seinen Henker.
"Tee?", fragte der Henker und zeigte einladend in Richtung Küche.
Viola gehorchte ohne auch nur zu nicken. Die Küche war recht groß, sehr hell, weiß möbliert, äußerst penibel aufgeräumt und mit einem Esstisch für fünf Personen. Sie blieb unschlüssig neben dem Kühlschrank stehen, während Platon den Wasserkocher füllte. Er tat es nur mit seiner Linken; die rechte Hand blieb unter der Decke verborgen.
"Nun denn ...", seufzte er, als das Wasser zu brodeln anfing. "Deine Miene hat mich überzeugt: Ich werde vorerst mal nicht fragen, woher du meine Adresse kennst. Aber ich denke, ich habe das Recht zu erfahren, was mir die Ehre deines Besuchs beschert."
Es war kaum zu übersehen, dass er sich amüsierte. Und dennoch. Sein Tonfall hatte etwas Scharfes. Ja, in irgendeiner Form war das ein Verhör.
Viola schwieg nur und starrte auf den Boden. - Wie sollte sie das auch ausdrücken? Dass sie mehr von ihm wissen wollte. Dass es sie wahnsinnig machte, dass er schon seit mehreren Tagen nicht mehr zur Schule kam.
"Bist du allein hier?", fragte sie plötzlich statt zu antworten.
"Ja - warum?"
"Nur so ..." Und als er seinen fragenden Blick nicht abwandte: "Du bist eben krank."
"Und?"
"Wenn ich krank werde, dann versucht mein Vater, weniger zu arbeiten, um sich um mich zu kümmern."
Platons Augenbraue wanderte nach oben und sein Auge weitete sich kurz, dann wurde sein Ausdruck plötzlich nahezu unerträglich sanft.
"Ich werde in einigen Monaten siebzehn und kann mich gut um mich selbst kümmern. Aber es ist ganz lieb, was dein Vater macht."
Endlich hob Viola den Blick, schaute aber zur Seite. "Es sind ja nur noch Papa und ich. Wir müssen zusammenhalten."
Das Wasser war fertig, doch Platon überhörte es.
"Was ist mit deiner Mutter?"
"An Krebs gestorben. Vor fünf Jahren", presste Viola hervor.
"Oh. Das tut mir leid."
"Passiert", seufzte sie bitter. "Du hast ja sogar noch mehr verloren."
Platon ließ sich Zeit mit einer Antwort; er wandte sich um, machte sich an der Anrichte zu schaffen, drückte Viola zwei Tassen in die Hände und watschelte mit einer Teekanne ins Wohnzimmer. Viola folgte ihm und staunte über den krassen Gegensatz zur blitzblank geputzten Küche: Decken, Kissen und Kleidungsstücke lagen überall auf dem Sofa und auf dem Boden verstreut, CDs, DVDs und Blu-rays stapelten sich einfach so auf dem Boden, Bücher und Zeitschriften lagen, wo es ihnen gerade passte, und mitten im Raum nistete eine Playstation 4 mit einer Post-it-Notiz: "Pfoten weg von meiner PS4, Platte!! D-:< ~ Caro <3"
... "Platte"?!
"Bitte entschuldige die Unordnung", murmelte Platon. "Die anderen haben's nicht so mit dem Aufräumen, und ich bin grad nicht in der Verfassung dazu. Die Küche ist mein Territorium. Ich bin sozusagen das einzige weiße Schaf in einer Familie von schwarzen Schafen."
"Platte" war sofort wieder vergessen, als ... "mein Territorium"?
"Die anderen dürfen nur zum Essen rein", erklärte Platon, als er ihre Miene sah. "Das ist meine Küche, und ich kann da keine Schmutzfinken gebrauchen. Außer Caro. Wir kochen abwechselnd. Dauert immer eine Ewigkeit, ihre Sauerei wieder wegzubekommen."
"Du kochst?!"
Platon sah sie an, als hätte sie eine sehr dumme Frage gestellt. "Äh ... jaah? Wer soll das denn sonst machen? Caro und ich sind die einzigen, bei denen das Essen nicht anbrennt. Außerdem lenkt Kochen ab, wenn man zu viele Gedanken im Kopf hat. Es entspannt."
Aus irgendeinem Grund errötete Viola mal wieder. "Ich hätte einfach nur nicht gedacht, dass du deine Familie bekochst."
"Klischeedenken, hm?", schnaubte Platon grinsend und pflanzte sich im Schneidersitz aufs Sofa - direkt vor sein Notebook.
Viola stellte die beiden Tassen auf dem Wohnzimmertisch ab, setzte sich in einen Sessel schräg gegenüber von Platon und rötete vor sich hin. Er beteiligte sich an der Erziehung der beiden jüngeren Cousinen, er kochte ... Etwas in ihr war der felsenfesten Überzeugung, dass Platon ein guter Vater wäre. Ein etwas zu strenger sicherlich, einer, der mit eiskalter Konsequenz durchgriff, aber auch einer, der sich seiner Verantwortung bewusst war.
"Ich kann mich nicht mehr erinnern", sagte er plötzlich, und mit einem Schlag fiel ihr auf, dass er ein langes Schweigen unterbrochen hatte.
Sie sah auf.
"Ich weiß nur noch, dass ich ein Marmeladenbrot zum Frühstück hatte", fuhr er etwas heiser fort. "Und dass Tera mich vor dem Badezimmer schubste, damit sie sich als erste die Zähne putzen konnte. Sie konnte mich nie leiden. Ich glaube, das war die typische Eifersucht unter Geschwistern. Dann habe ich mit meinen Autos gespielt. Und dann bin ich aufgewacht, ganz verkabelt, Infusionen, bandagiert und so weiter. Ich dachte, die anderen liegen im Zimmer nebenan, Tera auch ganz verkabelt, Mama, Papa ... Ich war mir ganz sicher, dass sie auch im Krankenhaus lagen, und wollte ganz schnell wieder gesund werden, damit ich zu ihnen konnte. Aber dann kamen Tante und Onkel zu mir und sagten, dass sie alle tot waren. Ganz direkt. Mit vier Jahren wusste ich schon längst, was der Tod ist. Tera hatte es mir einmal erklärt. Sie hatte vor meinen Augen eine Spinne zerquetscht und mir gesagt, dass sie jetzt tot sei. Ich verstand also, dass Mama, Papa und Tera jetzt wie die Spinne waren. Die Ärzte nannten es Verbrennungen und Kohlenstoffmonoxidintoxikation."
Platon starrte ins Nichts, während er sprach, als würde er eher mit sich selbst reden als mit Viola. Sie saß nur mit angehaltenem Atem da.
"Ich erinnere mich nicht", wiederholte er. "Es müssen höllische Schmerzen gewesen sein, aber ich habe keine Ahnung, wie es sich anfühlt zu brennen. Es ist so, als hätte nicht ich gebrannt, als hätte ich zu dem Zeitpunkt gar nicht existiert, die Wunden waren einfach nur plötzlich da. Sie waren da, und mein Körper war nicht mehr mein Körper. Er war anders, fremd. Die Wunden gehören nicht zu mir. Jemand anderes hat gebrannt. Nicht ich. Das hier", er legte seinen Zeigefinger an seine von Haaren verschleierte rechte Gesichtshälfte, "ist nicht mein Gesicht."
Er senkte den Blick, hob ihn wieder und schaute Viola plötzlich in die Augen. Sie zuckte leicht zusammen. Er lächelte traurig.
"Tante, Onkel, Caro, Wanda und Laura", sagte Platon. "Das ist jetzt meine Familie. Aber es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass es noch etwas davor gab, Mama, Papa, Tera ... Ein Leben vor den Narben. Es war nicht ideal, ja, meine Eltern waren sehr beschäftigt, meine Schwester hasste mich ... Aber sie waren da. Dieses Leben war da." Er seufzte. "Ich bin wohl ein bisschen sentimental. Weißt du, ich habe jahrelang ein Familienfoto mit mir herumgeschleppt. Das letzte Familienfoto vor dem Brand. Ich habe es als Lesezeichen für meinen Terminkalender missbraucht, damit ich die Gesichter immer vor Augen habe und nicht vergesse. Und jetzt, stell dir vor, nach all den Jahren habe ich es doch tatsächlich verloren. Ich verliere sonst nie etwas, vor allem nicht so wichtige Dinge. Vermutlich habe ich es irgendwo an einen gut sichtbaren Ort gelegt und suche immer nur an den weniger sichtbaren. Das passiert Caro ständig. Sie legt ihren Hausschlüssel extra auf die Kommode, damit sie ihn beim Weggehen nicht vergisst, und dann kann sie ihn nicht finden."
Viola wusste genau, dass sie rot war wie eine Tomate. Das Familienfoto bedeutete Platon viel, er erzählte ihr vom Verlust dessen und ahnte nicht, dass sie es hatte. Sie war eine abscheuliche Person! Sie hätte es ihm schon vor zwei Wochen wiedergeben sollen, damals, als sie das Notizbüchlein auf dem Boden gefunden hatte, sie hätte am Lehrerzimmer klopfen sollen, sie hätte ... Sie hasste sich dafür, dass sie sich nicht getraut hatte!
"Du siehst aus, als wolltest du etwas sagen."
Viola machte vor Schreck fast einen Hüpfer.
"Ich -", stammelte sie. "Ja, ich - also ... Tera - das ist ein Spitzname, oder?"
Platon lächelte. "Ja. Ihr vollständiger Name war Terpsichore. Wie die griechische Muse. Durchgeknallt, oder? Ich habe ja gesagt, dass meine Eltern ziemliche Nerds waren."
Viola hörte kaum hin. Wieso?! Wieso hatte sie ihm nicht vom Terminkalender und vom Foto erzählt? WARUM?! Wenn er es doch vermisste ...
"Wie sind wir jetzt eigentlich auf das Thema gekommen?", fragte er plötzlich heiter. "Na ja, egal. Der Tee wird kalt."
Viola ließ es sich nicht zweimal sagen und griff nach ihrer Tasse, um ihre Schuldgefühle mit einem großen Schluck zu ertränken.
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Die Gründe, sich selbst zu hassen, häuften sich so schnell, dass Viola kaum noch hinterherkam, sich tatsächlich für ihre Taten zu schämen. Sie war nicht nur vor Platons Küchenfenster umhergeschlichen ohne irgendeine Erklärung abzuliefern, sondern sie nutzte seine Krankheit auch noch eiskalt aus. Der Monolog über seine Vergangenheit hatte ihn sichtlich erschöpft, und er hatte nur noch schwach vor sich hin gemurmelt, dass er wegen seiner verstopften Nase im Liegen nicht atmen konnte und die Zeit daher aufrecht sitzend mit YouTube und weniger anspruchsvollen Videospielen verbrachte, und das natürlich in komfortabler Nähe zur Küche. Der weitere Gesprächsverlauf war ein Flickenteppich aus betretener Stille und kurzen Fragen und ebenso kurzen Antworten gewesen. Bis sich der Tee in Violas Blase meldete und sie fragte, ob sie die Toilette benutzen durfte. Wenig später, als sie ihr Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken ansah, fragte sie sich, warum sie nicht schon längst wieder gegangen war. Es war alles doch einfach zu peinlich, und sie beschloss, sofort zu gehen. - Ein Plan, den sie über den Haufen warf, als sie wieder in das Wohnzimmer trat, um sich zu verabschieden, und feststellte, dass Platon auf die Seite gerutscht und eingeschlafen war.
Es war, als hätte sich ein Schalter in ihrem Kopf umgelegt. Ohne lange nachzudenken, setzte sie sich sofort wieder in Bewegung, eilte die Treppe hinauf und betrat ein Zimmer im zweiten Stock, das mit seiner Ordnung nur dem "einzigen weißen Schaf in einer Familie von schwarzen Schafen" gehören konnte. Helle Wände und helle Möbel fand sie vor, Glasvitrinen mit einer üppigen Sammlung von Actionfiguren und Statuen von Film-, Videospiel- und Comichelden, viele Figuren, die sie sogar kannte, alles Mögliche von Batman über Lara Croft bis hin zu einer Kreatur, die, wie sie mal gehört hatte, "Creeper" genannt wurde. Im Kontrast dazu befand sich im Regal eine nicht minder üppige Bibliothek an Sachbüchern über - vor allem römische - Geschichte, Klassikern und Katalogen von Kunstausstellungen. Und natürlich konnte Viola nicht der Versuchung widerstehen, zumindest den Ausstellungskatalog der Eremitage in die Hand zu nehmen; schließlich stand der Besuch ihrer relativ weit oben auf ihrer Prioritätenliste, zumal sie bereits den Louvre und den Prado inspiziert hatte. Noch im Eremitage-Katalog blätternd, ortete sie den Computertisch samt großen Lausprechern, einem kleinen Regal mit DVDs und Spielen und einem - obwohl Viola mit digitaler Malerei nur wenig am Hut hatte, konnte sie ihren Speichelfluss nicht unterdrücken ... - War das etwa ein Cintiq?! Platon musste ja ewig dafür gespart haben! Direkt daneben platzierte Pflegeutensilien ließen jedenfalls auf viel Liebe seitens des stolzen Besitzers schließen. Wenn er sich solche Anschaffungen gönnte, war es kein Wunder, dass er so viel arbeitete!
Viola schüttelte kurz den Kopf, um den Anflug von Nerdismus loszuwerden, und richtete ihren Blick auf die andere Seite des Zimmers. Über dem Bett hingen Poster, die verdächtig nach Ölgemälden aussahen, aber aufgrund des verräterischen Weichzeichners im Hintergrund wohl eher digitalen Ursprungs waren. Und "digital" passte auch wesentlich besser zu einer Lara Croft, die den Betrachter mit gezückten Pistolen über den Rand ihrer schwarzen Brillengläser anblickte, und einem Mann mit Kappe, Gesichtsmaske und Smartphone. Viola musterte ein Gemälde nach dem anderen und konnte als fachfremde Betrachterin nicht wirklich erkennen, was sie da anschaute: Zwielichtige Leute in weißen Kapuzen, zwielichtige Leute in schwarzen Kapuzen, zwielichtige Katzen in Kapuzen ... Und der Künstler war definitiv Platon. - Wer sonst würde die Signatur BloodyMaryPlatte setzen, wenn nicht ein Platon Maria, dem offenbar kein eleganterer Nickname eingefallen war?
Als sie sich an Platons Kunst sattgesehen hatte, erinnerte sie sich mit einem Schlag daran, dass sie nicht allzu lange am Ort des Verbrechens verweilen sollte, legte den Katalog auf den Nachttisch neben Anna Karenina und schlich aus dem Zimmer. Plötzlich begannen ihr Herz zu rasen und ihr Bauch zu kribbeln - eine Nervosität, die vorher auf mysteriöse Weise von Neugier unterdrückt worden war. War er vielleicht wieder aufgewacht und hörte sie die Treppe hinabsteigen? Sie konnte nicht anders als noch einmal in das Wohnzimmer zu schielen.
Platon lag immer noch auf der Seite und schlief. Seine Füße hingen vom Sofa, seine rechte Gesichtshälfte war in einem Kissen vergraben. Doch was Viola innehalten ließ, war die Hand. Die rechte Hand, die unter der Decke hervorschaute und nicht in einen Handschuh gehüllt war. Wie gebannt trat Viola näher und kniete neben dem Sofa nieder. Die Haut der Rechten war dunkler als die gesunde und irgendwie auch fleckig. Sie war knittrig und faltig, und Viola konnte nicht recht entscheiden, ob sie zerfressen oder überwuchert aussah. Wie die Hand eines alten Menschen irgendwie, aber sehr unnatürlich, wie etwas, das eigentlich anders sein sollte, ja schon fast wie etwas nicht von dieser Welt, eine merkwürdige Mutation, hässlich und tot wie ein Schrumpfkopf.
Viola saß da und litt an Magenkrämpfen. Weil die Hand ekelhaft war vielleicht, aber viel eher deswegen, weil diese Hand doch tatsächlich lebendig war und zu einem hübschen Körper gehörte. Und irgendwie kam es ihr so vor, als würde sie erst jetzt begreifen, was sie bisher nur in Worten kannte. Diese hässliche, verschrumpelte Hand war eine Erinnerung, ein Beweis, der sich nicht leugnen ließ, eine Tatsache, vor der man nicht weglaufen konnte.
Viola kniete neben der Hand und konnte sich nicht vor dem Gedanken wehren, dass solche Entstellungen im Gesicht wohl noch viel schlimmer aussahen. Und hier war sie, neben einem schlafenden Platon, und nichts würde sie daran hindern, sein Gesicht ein wenig zu drehen, ihm die Haare aus dem Gesicht zu streichen und ...
Nein.
Viola biss die Zähne zusammen und wusste, dass sie es nicht tun sollte und auch nicht wollte. Ein gewisser Rest von ihrem Gewissen war schließlich noch übrig. Und dass Platon offenbar nicht wollte, dass andere sein Gesicht sahen, musste respektiert werden. Was zugegebenermaßen sehr lächerlich wirkte angesichts der Tatsache, dass sie eben sein Zimmer inspiziert hatte.
Sie machte einen tiefen Atemzug. Streckte ihre Hand aus. Berührte Platons Schrumpfkopfhand, die sich warm anfühlte und lebendig. Dann umschloss sie diese Hand und legte sie vorsichtig unter die Decke, stand auf und schlich eilig aus dem Haus.
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Fortsetzung folgt ...