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Odyssee eines Terminkalenders

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P12 / Gen
Alexy Armin Kim Lysander Viola
06.08.2015
12.11.2015
15
36.717
7
Alle Kapitel
28 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
20.08.2015 2.237
 
Vielen lieben Dank für all die Reviews! Ich hoffe, die Story gefällt euch auch weiterhin. Kritik ist jederzeit willkommen. :)


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Kapitel 3: Dornröschen


Als die Stunde endete, wusste Viola nicht einmal, welches Thema sie behandelt hatten. Sie hatte die ganze Zeit nahezu reglos auf ihrem Stuhl gesessen und geschwitzt. Der Terminkalender, Lina ... Die Probleme häuften sich.

Sie biss die Zähne zusammen und kniff die Augen zu. Was sollte sie bloß tun? Wie sollte sie Lina je wiederfinden? Wie sollte sie Platon den Terminkalender wiedergeben? Jetzt, wo Melody ihr nicht helfen wollte ... Immerhin, wegen Lina konnte sie sich vielleicht tatsächlich an Napoleone wenden. Diese kannte schließlich das kleine Geheimnis und war generell ein wandelnder Detektor für verlorene Gegenstände aller Art und Lysanders Notizbuch im Speziellen. Ja, wegen Lina würde sie ...

"Hey Viola. Gehört das zufällig dir?"

Sie zuckte vor Schreck zusammen und öffnete die Augen. Direkt vor ihr: Lina. Und die Hand, die sie festhielt - Violas Blick schnellte den Arm hinauf - gehörte Platon.

Irgendwo schlug ein Meteorit in die Erde ein. Zumindest kam es Viola so vor, als unerträgliche Hitze ihr Gesicht flutete. Und der Abgrund weigerte sich verbissen, sich aufzutun.

"Der Reaktion nach zu urteilen, tut es das", sagte Platon und seine Zähne erstrahlten in einem unerträglich breiten Grinsen. "Ich hatte mir schon gedacht, dass du der Typ für sowas wärst. Tut mir leid, dass ich es dir nicht gleich gegeben habe, aber ich war mir nicht ganz sicher, ob es wirklich deins ist, wollte es aber auch nicht einfach rumliegen lassen, da es in jeder Klasse Idioten gibt, die dummes Zeug damit anstellen könnten."

Er setzte Lina sanft auf Violas Tisch ab und platzierte sein Gesäß ungefragt daneben. Viola fragte sich indessen, ob sie nicht schon längst den Weltrekord im Erröten geschlagen hatte. Immerhin - und das war ein winzig kleiner Trost - war der Klassenraum völlig leer. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie alle in die Pause gegangen waren. Was irgendwie auch schon wieder ein Armutszeugnis war ...

Sie heftete den Blick auf ihre Zehenspitzen.

"Wir müssen reden", sagte Platon irgendwo über ihr nach einigem Schweigen. "Die Art, wie einige mich angeschaut haben, als ich mich vorhin vorstellen musste ... Ich nehme an, der Inhalt meiner Akte von meiner alten Schule ist bereits bis in die untersten Schichten der Plebs durchgesickert. Hinzu kommt noch die Prügelei mit dem rothaarigen Spasten. Deswegen ... Damit du es weißt: Schreiend Weglaufen bringt nichts. Das Eisessen steht. Auch, wenn es heute wegen dem Nachsitzen wohl nicht klappen wird."

Erst die Bücher, dann Lina ... Und abgesehen davon, dass er sie wohl für einen idiotischen, kindischen Tollpatsch hielt, machte er sich auch noch lustig über sie ... Immer noch dieses Eisessen! Und irgendwie - ein Krampf ging durch ihren Magen - der Verlust der Familie hin oder her: Er machte sich nicht mal die Mühe, seine Taten zu erklären! Hatte Melody also recht und er war tatsächlich gefährlich?

"Ich bin es übrigens gewohnt, dass man mich anschaut, wenn ich mit jemandem rede."

Bevor Viola irgendetwas tun konnte, tauchte eine behandschuhte Hand unter ihrem Kinn auf und drückte es nach oben.

"Schon besser." Platon lächelte. Ein sonderbares, ernstes Lächeln. "Ist es etwa wegen dem Stofftier? Wegen meinem Image brauchst du nämlich keine Angst zu haben. Es ist genauso verlogen wie es wahr ist. Solange du mich nicht provozierst, wird auch nichts passieren. Sag das aber bloß nicht weiter. Ich brauche dieses Image noch." Sein linker Mundwinkel wanderte spöttisch nach oben und er schnaubte.

"Was dein Schaf angeht", fuhr er fort, als sein Gesicht wieder ernst wurde, "so ist es kein Grund, sich zu schämen. Wenn jemand ein Problem damit haben sollte, mach einfach das hier -"

Ohne jede Vorwarnung nahm er ihre Hand und knickte ihre Finger ein: alle bis auf den Mittelfinger. Und ... Irgendwie war ihre Sehnsucht nach einem Abgrund für einen Moment wie weggeblasen, als sie ihren - ja, tatsächlich - Stinkefinger anstarrte.

"Glaub mir, diese Geste schont Nerven", grinste Platon und ließ ihre Hand los. "Also gut einprägen, verstanden? Und regelmäßig üben - am besten jeden Morgen nach dem Aufstehen."

Machte er sich lustig über sie oder meinte er das ernst? Und was bedeutete eigentlich, was er vorhin gesagt hatte: "Es ist genauso verlogen wie es wahr ist"? Warum grinste er sie so an? Und überhaupt ... Viola spürte, wie sie schon wieder rot anlief.

"Dein Gesicht glüht ja so, dass man damit glatt den Schulkeller beleuchten könnte", meinte Platon, und sein Grinsen weitete sich. "Um ehrlich zu sein, würde ich es gerne mal auch in Vanilla sehen."

"Tut - tut mir leid ...", hauchte Viola und war selbst überrascht.

"Sie spricht!", rief Platon händeringend. Und dann, plötzlich, zog er wieder seinen linken Mundwinkel hoch und verpasste ihr einen sonderbaren Blick von oben nach unten. "Ich bin ja glatt versucht ... Aber nein. Du explodierst mir sonst noch, du kleiner Hexenkessel. Du solltest mal dein Gesicht kühlen gehen."

Und mit diesen Worten ... Als Platon aufsprang, spürte sie, wie sich eine Hand auf ihren Kopf herabsenkte und ihre Haare durchwuschelte. Dann entfernte er sich. Blieb im Türrahmen aber noch einmal stehen.

"Gibt es in dieser Schule eigentlich irgendwo einen Kaffeeautomaten?"

"I-ich glaube, nicht", stammelte Viola mit einem immer noch hochroten Gesicht.

Er seufzte. "Das ist schlecht ..."

Und weg war er. Viola blieb allein mit Lina, der Hitze in ihrem Gesicht und ihrem vor lauter Gedanken berstenden Kopf. Was zum Kuckuck wollte er?! Bestimmt hielt er sie für eine Idiotin, machte sich über sie lustig ... Aber ... Wie ernst meinte er es eigentlich mit dem Eisessen? Es gab Momente, da glaubte Viola, dass sein Grinsen freundlich gemeint war. Und gleichzeitig sprach er sehr abfällig von anderen Menschen. Was hatte es mit diesem Jungen auf sich?

Doch bevor sie darüber weitergrübeln konnte, kam ihr ein neuer, vernichtender Gedanke: Es wäre eigentlich eine perfekte Gelegenheit gewesen, ihm das Büchlein wiederzugeben ...

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"Ich soll dem Neuen also seinen Terminkalender geben?", wiederholte Alexy stirnrunzelnd.

Viola nickte.

"Warum machst du es denn nicht selbst?"

"Weil ... weil ..." Sie errötete schon wieder.

"Ist es wegen dem, was alle über ihn sagen?"

Sie schüttelte den Kopf. "Nein ... Er - er hat gesagt, dass ich keine Angst zu haben brauche."

Etwas änderte sich in Alexys Ausdruck, und irgendwie machte es Viola Sorgen, dass sie es nicht deuten konnte.

"Du hast mit ihm also gesprochen? Dann hättest du ihm den Kalender doch geben können ..."

"Ja, aber ..." Violas Stimme zitterte. - Warum? Normalerweise fiel es ihr doch so leicht, mit Alexy zu reden ...

"Hm?" Alexy wartete.

"Ich habe mich nicht getraut ..."

"Dann warst es also nicht du, die ihn angesprochen hat? Ich weiß zwar, dass du nur selten jemanden ansprichst, aber ich habe bisher auch noch nicht gesehen, dass er versucht hätte, jemanden kennenzulernen."

"Wir - ähm - haben uns schon gestern kennengelernt."

Alexys Miene änderte sich weiterhin, und nun erkannte Viola, dass es eine gaaanz besondere Art von Neugierde war.

"Du hast dich also mit ihm angefreundet?"

"N-nein, wir kennen uns kaum!"

"Aber du scheinst bisher die einzige zu sein, mit der er sich unterhalten möchte, und er hat dir sogar gesagt, dass du dich vor ihm nicht zu fürchten brauchst! Ich weiß nicht, was es mit seiner Akte auf sich hat, aber dir gegenüber scheint er nett zu sein. Du bist ihm wohl sehr sympathisch!"

Der zweite Meteorit für diesen Tag ...

"N-nein, bestimmt nicht!", piepste sie und wedelte ungewohnt hektisch mit den Armen. "Er ... Er macht sich doch nur lustig über mich mit dem Eisessen und so ..."

"Eisessen? Ihr seid also verabredet?" Alexys Neugierde näherte sich einem sehr kritischen Punkt ...

"Nein! Ja! Nein! Also ..."

Alexys Gesicht erstrahlte in einem breiten Grinsen. "Er mag dich definitiv! Du solltest ihm den Kalender wiedergeben, das wird ihn freuen!"

"Aber ... aber ..."

Alexy legte ihr sanft den Arm um die Schultern. "Möchtest du mir nicht alles ganz von Anfang an erzählen?"

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Es war irgendwie so ein Tag, an dem sie die Welt um sich überhaupt nicht mehr wahrnahm. Es war die letzte Stunde für heute, Mr. Faraize stand vorne und redete etwas, doch in ihren Ohren war es nur ein monotones Rauschen ohne jegliche Bedeutung. Warum war Alexy nur so gut im Überreden?! Er machte sich nicht viel aus den Gerüchten über Platon, da doch die Geschichte mit Napoleone und Debrah alle gelehrt haben sollte, nicht vorschnell zu urteilen, und so hatte er Viola dazu gebracht, dass sie versprochen hatte, bis Unterrichtsschluss den Kalender zurückzugeben. Doch es war so gekommen, wie es hatte kommen müssen: Zuerst hatten sie und Alexy ihn nicht finden können, und als sie ihre Mitschüler nach ihm fragten, erfuhren sie, dass er offenbar die Schule nach Kaffee durchkämmte. Angeblich hatte er sogar versucht, Peggy zu überreden, ihm beim Einbruch ins Lehrerzimmer zu helfen. Nachdem er die Suche aufgegeben hatte, war er hingegen sehr leicht zu finden: Er saß in der hintersten Ecke und missbrauchte seinen Laptop als Kopfkissen.

Als Viola sich in der Pause vor dieser letzten Stunde ihm am ganzen Leib zitternd genähert hatte, stand sie lange da und lauschte seinen tiefen, steten Atemzügen. Er war doch tatsächlich im Tiefschaf! Doch statt ihn anzustupsen stand sie nur da, den Blick auf die langen Wimpern und die leicht geöffneten Lippen geheftet, wie er so halb dalag, ruhig, harmlos und sogar ein bisschen verletzlich. Sie erklärte Alexy, dass es unhöflich gewesen wäre, ihn zu wecken, worauf er nur mit misstrauisch hochgezogenen Augenbrauen reagierte.

Und nun hatte sie also nur noch diese eine letzte Chance ... Sie schluckte. Es gab diesmal also kein Entkommen ...

"Junger Mann! Schlafen muss man nachts!"

Viola zuckte zusammen, als die Stimmte von Mr. Faraize sie aus ihren Gedanken riss. Fast den ganzen Tag lang hatte kein Lehrer Platons Tiefschlaf bemerkt, und jetzt, kurz vor Unterrichtsende ...

Als Platon nicht reagierte, lehnte sich Armin, der am nächsten zu ihm saß, hinüber und rüttelte ihn an der Schulter. Der graue Kopf regte sich tatsächlich. Langsam und geistig noch in einer Paralleldimension, hob Platon sein verschlafenes linkes Auge. Einige Leute kicherten, aber die meisten bissen krampfhaft die Zähne zusammen, um diesen Impuls zu unterdrücken. Immerhin waren im Laufe des Tages noch mehr Details aus seiner Vergangenheit aufgetaucht.

"Im Unterricht zu schlafen ist nicht unbedingt die feine Art", sagte Mr. Faraize mit echtem Bedauern. "Das bedeutet leider Nachsitzen ..."

"Habe ich schon", grummelte Platon mit einem Blick, der noch immer ins Reich der Träume gerichtet war, und verstand offenbar selbst nicht ganz, was er da redete. "Denken Sie sich etwas anderes aus."

Noch mehr Gekicher und Zähnekrampfen.

"Dann ... dann ... Wenn dich der Unterricht nicht interessiert, musst du draußen warten, bis die Stunde um ist."

Ohne etwas zu sagen, stand Platon auf und watschelte durch den Raum und zur Tür hinaus, während Viola ihm mit leicht geöffnetem Mund hinterherstarrte. Schon am ersten Tag ein Tadel, Nachsitzen und ein Verweis aus dem Klassenzimmer - und das schien ihm nicht im Geringsten etwas auszumachen! Sie warf Alexy einen fragenden Blick zu, doch sein Grinsen sagte ihr, dass sich an ihrem Plan nichts änderte.

Sie seufzte und konnte es kaum aushalten, bis die Stunde endete. Das Warten war ja fast noch schlimmer als die Sache selbst! Sie konnte sich kaum entscheiden, ob die Zeit langsamer oder schneller laufen sollte. Ihre Finger zitterten und ihre Handflächen schwitzten. Was, wenn sie ihn nach dem Unterricht nicht mehr treffen würde? Sie würde dem Moment der Wahrheit zwar entgehen, aber eigentlich nur auf Zeit ...

Irgendwann ... Ja, irgendwann, nach einer Ewigkeit, endete die Stunde und Alexy kam auf sie zu, damit sie gemeinsam nach Platon suchen konnten. Er konnte nicht weit sein, da seine Sachen ja immer noch im Klassenraum waren. Und tatsächlich, kaum waren sie hinausgetreten, sahen sie ihn: Er saß auf dem Boden, den Rücken gegen die Schließfächer gelehnt, und schlief. Die halb verdutzten, halb amüsierten Blicke seiner Mitschüler schienen ihm dabei herzlich egal zu sein.

"Jetzt musst du ihn aber wecken", sagte Alexy. "Es ist Unterrichtsschluss und er hat Nachsitzen, also muss er so oder so aufwachen."

Viola nickte und holte tief Luft. Trat zu Platon, hockte sich hin. Streckte ihren Zeigefinger aus. Tippte gegen seine Schulter einmal ... zweimal ... Noch einmal - und er schreckte auf.

"Na das ist wenigstens ein angenehmer Anblick!", nuschelte er verschlafen. "Wenn man in der Schule einnickt, weiß man nie, was man sehen wird, wenn man aufwacht!"

Viola errötete und warf Alexy einen hilfesuchenden Blick zu. Er machte nur eine Geste, sie solle fortfahren.

"Ich - ähm ...", murmelte sie.

"Ja?", lächelte er.

"Junger Mann! Komm nicht zu spät zum Nachsitzen!"

Viola erstarrte und blickte zu Mr. Boris, der gekommen war, um Mr. Faraize im Klassenraum abzulösen.

Platon rollte mit seinem Auge. "Ich komme!", rief er und sagte dann, wieder an Viola gewandt: "Tut mir leid ... Könnten wir vielleicht morgen reden? Wie du siehst, bin ich gerade ziemlich ... ausgebucht."

Während Viola vergeblich versuchte, irgendwelche Laute hervorzubringen, stand er vorsichtig auf und schlurfte, sich mit der Hand an der Wand abstützend, zurück ins Klassenzimmer.


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Fortsetzung folgt ...
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