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Odyssee eines Terminkalenders

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P12 / Gen
Alexy Armin Kim Lysander Viola
06.08.2015
12.11.2015
15
36.717
7
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28 Reviews
Dieses Kapitel
4 Reviews
 
13.08.2015 1.273
 
Vielen Dank an alle, die das erste Kapitel gelesen, reviewt, favorisiert und/oder empfohlen haben! Ihr seid spitze! *gruppenknuddel*


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Kapitel 2: Das Kriminaltalent


Viola stand einige Augenblicke lang wie versteinert da, während der Streit auf dem Schulhof unaufhörlich eskalierte.

"Entschuldige dich!", brüllte Platon in Castiels Ohr.

"Ist doch nicht meine Schuld, wenn du keinen Humor hast!", erwiderte dieser.

"Entschuldige dich, verdammt!"

Mit einem heiseren Knurren packte Platon Castiels Hals und drückte ihn gegen einen Baum.

"Was ist dein Problem, du Spinner?", röchelte Castiel und verpasste seinem Widersacher einen Faustschlag in die Magengrube.

Die Prügelei war anscheinend wirklich ernst ... Endlich erwachte Viola aus ihrer Schockstarre und lief zu der Menge hin, die sich um die beiden gebildet hatte. Dabei steuerte sie zielstrebig auf den alle anderen überragenden weißen Kopf von Lysander zu, denn wo dieser war, war meistens auch Napoleone, und sie wiederum wusste alles, weil sie ständig umherlief und Leute ausfragte.

Und wie sich zeigte, war sie gerade mal wieder in ihrem Element.

"Was ist passiert? Wer ist der Grauhaarige? Und was hat Castiel getan?", löcherte sie Kim mit ihren Fragen, während Platon Castiel im Hintergrund einen Tritt verpasste.

"Na ja, den Grauhaarigen kenne ich nicht", antwortete diese. "Aber anscheinend ist er ein neuer Schüler. Castiel meinte etwas von wegen: 'Na, geht neuerdings Two-Face auf unsere Schule?' Nicht gerade freundlich, aber die Reaktion ist trotzdem übertrieben. Zumal 'Two-Face' gar nicht mal so unzutreffend ist. Ich meine, habt ihr sein Gesicht gesehen? - Oh, hallo Viola!"

Drüben beim Baum drosch Castiel auf Platons Schulter ein ... Viola öffnete schon den Mund, um ihre Freundinnen zu begrüßen, als plötzlich Lysanders Stimme ertönte.

"Platon kann nichts dafür, und er ist sehr empfindlich, wenn es um seine Narben geht", sagte er und zog eine Augenbraue hoch. "Castiel hat da leider sehr unsensibel gehandelt. Solche Sachen sagt man nicht zu jemandem, dem durch einen Unfall das halbe Gesicht entstellt wurde. Außerdem hat Platon bei dem Brand seine Eltern und seine Schwester verloren. Da kann ich es verstehen, dass er so reagiert."

Kim presste ihre Lippen aufeinander und blickte zu Boden. Auch in Violas Magen verkrampfte und wand sich etwas. Dass sie nur seine linke Gesichtshälfte kannte, hatte also einen Grund. Irgendwie hatte sie nicht einmal daran gedacht, sich nach diesem zu fragen. Auch das in den Terminkalender gesteckte Foto machte plötzlich Sinn. Und obwohl Platon offenbar seine entstellte rechte Gesichtshälfte, seine eigebrannte Erinnerung, mit dem Haarvorhang vor Blicken zu schützen versuchte, machte ihm vermutlich der Wind immer wieder einen Strich durch die Rechnung.

Wahrscheinlich hatte die Neuigkeit auch Napoleone erschüttert, denn ihre Stimme klang etwas benommen, als sie fragte: "Du kennst ihn also, Lysander?"

Er nickte. "Weißt du noch, wie ich meine Freunde wegen des Konzerts gefragt habe? Platon ist auch mit ihnen befreundet, daher kenne ich ihn ein bisschen."

"Na ja, gut genug, um seine Familiengeschichte zu kennen."

"Die kennen alle", meinte Lysander schulterzuckend. "Es ist zwar nicht so, dass er sie jedem unter die Nase bindet, aber er macht auch kein Geheimnis daraus. Und er wird eben ständig gefragt, wo er seine Narben herhat. Daher -", sein Ausdruck wurde plötzlich noch ernster, "wäre es besser, wenn ihr ihn nicht darauf ansprechen würdet."

"Natürlich", murmelte Napoleone. "Aber wie auch immer, jemand muss diese Prügelei jetzt stoppen. Wo ist Nathaniel?"

"Ich glaube, der ist hier gar nicht nötig", sagte Kim. Sie deutete auf den Schuleingang, wo sich gerade eine Tür öffnete und eine Gestalt in Rosa offenbarte.

Die Direktorin.

Kim, Napoleone, Viola und sogar Lysander schluckten und legten sich schon mal vorsorglich die Hände an die Ohren. Und das Geschrei ließ tatsächlich nicht lange auf sich warten.

"Was ist hier eigentlich los?!", brüllte die Direktorin und übertönte mit ihrer Stimme sogar die beiden Streithähne. "Du schon wieder, Castiel! Und Platon! Kaum bist du auf dieser Schule, schon machst du Ärger! Nachsitzen! Alle beide! Und einen Tadel bekommt ihr auch!"

Platon und Castiel, die beim Erklingen ihrer Stimme mit zu Berge stehenden Haaren erstarrt waren, ließen langsam voneinander ab und blickten finster drein. Wenn auch eher wegen ihrer jaulenden Gehörgänge als wegen der Strafe, denn Nachsitzen schien keinen von beiden sonderlich zu beeindrucken.

"Und jetzt ab ins Klassenzimmer!", kommandierte die Direktorin ein bisschen ruhiger. Aber wirklich nur ein winzig kleines bisschen.

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Violas schweißnasse Finger krallten sich in das dunkelgrüne Kunstleder des Terminkalenders. Was sollte sie nur tun? Melody war noch nicht im Klassenzimmer, aber dafür Platon, der einen Tisch in der hintersten Ecke okkupiert hatte und immer noch ganz böse mit seinem linken Auge funkelte. Es waren ... Es waren bloß fünf Meter. Fünf Meter!!

Viola kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Das konnte sie auf keinen Fall selbst machen! Sie musste auf Melody warten. Also tief durchatmen ... Die Hand in die Tasche stecken und das Plüschtier streicheln ...

Sie erstarrte. Das Plüschtier. Das Schaf. Es war nicht an seinem Platz. Konnte es ... In ihrer Brust verkrampfte sich etwas ... Konnte es sein, dass es beim Herausnehmen der Bücher herausgefallen war? Ihre Augen huschten panisch über den Boden. Doch nichts. Gar nichts. Sie hatte zwischendurch den Raum verlassen, und bestimmt hatte jemand es in ihrer Abwesenheit aufgehoben und mitgenommen.

Ihr Herz schmerzte, so sehr raste es. Lina war weg.

"Alles in Ordnung, Viola?"

Sie schreckte auf und stellte fest, dass sie in das besorgte Gesicht von Melody blickte. Viola errötete. Da war sie, Melody, doch ... Viola biss die Zähne zusammen und versuchte, ihre Panik herunterzuschlucken. Melody brauchte nicht von Lina zu wissen.

"Ich - ähm ... Es ist nichts!", stammelte Viola. "Aber ... Aber wenn es in Ordnung für dich wäre, würde ich dich gern um etwas bitten ..."

Melodys Miene entspannte sich.

"Ja natürlich! Jederzeit!"

"Könntest ... könntest du das hier", sie hielt das Büchlein hoch, "Platon, dem Neuen, geben? Er hat es verloren und ... Ich traue mich nicht, es ihm selbst wiederzugeben."

Aus irgendeinem Grund blickte Melody zur Seite und biss sich auf die Lippe.

"Könntest ... könntest du das bitte für mich tun?", wiederholte Viola.

"Ich ..." Kleine Schweißperlen bildeten sich auf Melodys Stirn. "Ich verstehe, warum du dich nicht traust, es ihm selbst zu geben. Ich hatte gestern mit seinen Anmeldeunterlagen zu tun, und seine Akte aus der alten Schule ... Also ... Ich glaube, er ist kriminell. Und dann hat er heute Morgen auch noch eine Prügelei mit Castiel angezettelt. Ich - ich würde ihm lieber aus dem Weg gehen. Tut mir leid ..."

Ohne noch etwas zu sagen, wandte sie sich ab und eilte zu ihrem Platz. Viola starrte ihr bestürzt hinterher. Und hörte Gespräche. Prügelei, der Neue, Castiel, Nachsitzen, Tadel. Alle sprachen davon. Wussten denn mittlerweile schon alle Bescheid?! Dabei war es doch erst zehn Minuten her! Außerdem war er doch nur ... Sein Gesicht, seine Familie ...

Und ... was hatte es mit der Akte auf sich? Viola riskierte einen verstohlenen Blick in Platons Richtung. Dieser hatte mittlerweile einen Laptop hervorgezaubert und tippte emsig darauf herum. Seine sichtbare Gesichtshälfte war auf einmal so ruhig und entspannt, als wäre nichts geschehen. Ein hoher Wangenknochen, ein kluges, graues Auge, eine gerade Nase ... und etwas zu lange Wimpern für einen Jungen. Ganz ... ganz hübsch eigentlich.

Bei diesem Gedanken zuckte sie zusammen und blickte wieder auf das Büchlein. Das hatte gerade noch gefehlt! Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, dass Lina weg war und sie ihm immer noch den Terminkalender wiedergeben musste!


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Fortsetzung folgt ...
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