Odyssee eines Terminkalenders
von Feael Silmarien
Kurzbeschreibung
Ein neuer Schüler macht Sweet Amoris unsicher. - Buchstäblich, denn sein unschöner Ruf eilt ihm voraus. Was für ein Pech für die schüchterne Viola, die ihm seinen Terminkalender wiedergeben muss! Doch nach und nach kommt sie seiner wahren Persönlichkeit auf die Schliche und lernt dabei auch noch, über ihren Schatten zu springen ... --- Widmung: Allen Schüchternen von einer, die nicht mehr so schüchtern ist wie früher.
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P12 / Gen
Alexy
Armin
Kim
Lysander
Viola
06.08.2015
12.11.2015
15
36.717
7
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Dieses Kapitel
1 Review
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05.11.2015
2.370
So, wir sind fast so weit: Das vorletzte Kapitel ist da und nächste Woche ist es dann leider vorbei. Aber erstmal hoffe ich, dass Kapitel 14 euch ebenso gut gefällt wie seine Vorgänger!
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Kapitel 14: Das Erwachen
War das Paranoia oder Wirklichkeit? Viola hatte das Gefühl, alle würden sie anstarren. Platons Griff um ihre Hand wurde fester, als sie über den Schulhof schritten, sie in Komplementärfarben, er mit seinen Narben. Sie schluckte. Es war bestimmt das Ende.
Doch das Ende wovon? Verbissen zwang sie sich weiterzugehen, Schritt für Schritt, und suchte mit dem Blick nach ihren Freunden, während ihr Herz klopfte wie verrückt. Bestimmt gingen die Blicke ihrer Mitschüler gerade wie Laser durch sie, scannten sie, zerschnitten sie, ließen kein heiles Stück an ihr übrig. Der 'point of no return' war überschritten. Sie hatte es getan. Jetzt war alles nur noch der Gnade Gottes überlassen.
"W-wow, Viola, was ...", war die erste gestotterte Reaktion, die sie zu hören bekam. Sie fand nie heraus, von wem sie gekommen war.
"Viola?! Bist du das wirklich?"
"Moooooment ... Du bist doch nicht etwa Viola, oder?"
Begleitet wurden die Ausrufe von einem nervösen Getuschel, bei dem bemerkenswert oft Platons Name fiel. Traute sich niemand, ihn auf seine Narben anzusprechen? Vorsichtig riskierte sie einen Blick zu ihm und merkte, dass sich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet hatten.
"Sie starren", presste er hervor. "Sie stehen da und starren."
"Sie müssen sich an uns noch gewöhnen", flüsterte sie beschwichtigend.
"An mich werden sie sich nie gewöhnen."
Viola antwortete nicht, sondern drückte nur seine Hand, während sie zusammen tapfer auf die Tür zuschritten. Wo waren bloß ...
"Es ist endlich passiert!!"
Napoleones Auftauchen bemerkte Viola vor allem durch eine jähe Luftknappheit, als ihr Brustkorb in einer festen Umarmung zerquetscht wurde.
"Lass dich ansehen!" So schnell wie Napoleone über Viola hergefallen war, so schnell ließ sie sie nun auch wieder los, um sie von Kopf bis Fuß zu mustern. "Sehr ungewohnt, aber - wow! Ist das deine Arbeit, Platon? ... Äh, Platon? - Oh!" Sie verstummte jäh, als ihr Blick auf Platons rechte Gesichtshälfte und auf seinen Arm fiel. "Du ... hast deinen Stil auch geändert."
Platon funkelte sie nur düster an.
"Das ... geschah nicht ganz freiwillig", sprang Viola für ihn ein. "Ich dachte nur, dass er ... Na ja ..." Sie errötete und verstummte.
"Ich würde ja sagen, der Killerblick passt zu den Narben sehr gut!", tauchte nun auch Kim an Napoleones Seite auf und kümmerte sich wenig um die noch killerhaftere Tönung, die Platons Ausdruck annahm. "Aber du, Viola, siehst wirklich sehr verändert aus! Toll, dich so farbenfroh zu sehen! Und wenn ich nichts gegen die Schminke sage, dann will das etwas heißen!"
"Platon hat sich Mühe gegeben ...", murmelte Viola mit einem zaghaften Blick zu ihrem Freund, dessen Miene sich immerhin für diesen kurzen Moment aufhellte.
"Was? Platon hat dich geschminkt?!", rief Napoleone.
"Platon hat dich geschminkt?!", wiederholte die Stimme von Alexy, der sich im nächsten Moment ebenfalls in ihr Blickfeld schob.
"Er hat auch die Kleidung ausgesucht ..."
"Du bist mit ihm shoppen gegangen? Ohne mich?"
"Das war doch ein Date, Alexy", meinte Napoleone und tätschelte seine Schulter.
"Trotzdem bin ich neidisch ..."
"Wir können irgendwann ja alle zusammen shoppen gehen!"
"Ja, und wir nehmen Kim mit!"
"Lasst mich da bloß raus!", rief Kim mit einem Ausdruck, als hätte man ihr etwas Unanständiges vorgeschlagen.
Doch bevor sie die Flucht ergreifen konnte, hielt Napoleone sie am Arm fest und grinste: "Also ich würde ja sagen, Alexy braucht vielleicht auch mal ein anderes Opfer als Armin!"
"Kim soll an meiner Stelle mit Alexy einkaufen gehen? Ich bin dafür!"
Mit einem Mal war Armin hinter Kim gespawnt und hielt sie mit einem verschwörerischen Lächeln an den Handgelenken fest.
"Hey, das ist nicht lustig! Lasst mich los!"
Mit einem kräftigen Ruck befreite sich Kim von der vermeintlichen Übermacht Napoleones und Armins und ging einige Schritte auf Sicherheitsabstand. Da alle Augen nun auf sie gerichtet waren, nutzte Viola den Moment für einen weiteren Blick zu Platon.
"Siehst du? Es ist doch alles nicht so schlimm ...", flüsterte sie, ein wenig überrascht über ihre eigenen Worte. "Alle wissen doch schon längst von deinen Verbrennungen, und nach einer kurzen Gewöhnungsphase legt sich die Aufmerksamkeit wieder."
Platons Miene verdüsterte sich nur wieder und er schüttelte den Kopf, sagte jedoch nichts.
"Platon ...", unternahm Viola einen letzten Beruhigungsversuch. Konnte denn nichts getan werden?!
"Da bist du ja!"
Bevor Viola sich eine neue Strategie überlegen konnte, rauschte plötzlich etwas Rosafarbenes an ihr vorbei und braute sich vor Platon auf. Und dieses Etwas hatte eine äußerst unheilvolle Aura ... Eine Aura, die ihre Freunde sofort verstummen ließ.
"Das ist ungeheuerlich!", dröhnte das Stimmwerk der Direktorin nun in voller Lautstärke los. "Seit du da bist, gibt es nur Ärger! Und da rede ich nicht einmal von deinem Computer und deinem Verhalten im Unterricht! Ständig streitest du dich mit deinen Mitschülern, bedrohst sie, ständig hörte ich Klagen über dich, und jetzt fängst du nicht nur an zu schwänzen, sondern ziehst auch andere mit hinein!"
Viola schluckte. Konnte die Direktorin denn nicht sehen, dass Platon ... Hatte er vor ihrer Tirade lediglich "nur" einen Killerklick gehabt, so lief er nun rot an, seine Augen verengten sich und die Hand, die Viola hielt, bebte leicht. Man konnte ihn doch nicht ... Nicht jetzt, nicht in diesem Moment ...
"Zu dir komme ich auch noch, Viola", zischte die Direktorin, als sie einen glühenden Blick in ihre Richtung schleuderte. "Dass du schwänzt, hätte ich dir nie zugetraut! Wie konntest du dich nur darauf einlassen?! Aber zuerst zu Platon: Dein früherer Schulleiter hat mich zwar gewarnt, aber einen so gewissenlosen Schüler habe noch nie erlebt! Du bist ja noch schlimmer als Castiel! Ich werde deine Erziehungsberechtigten in die Schule bestellen, und dann werden wir beraten, ob es wirklich gut ist, wenn du an dieser Schule bleibst! Bis dahin kannst du dir ja mal Gedanken über dein Verhalten machen!"
"Und was ist mit Ihrem Verhalten, Frau Direktorin?", ertönte nun das leise Knurren Platons. "Mit welchem Recht schreien Sie mich an? Halten Sie sich denn etwa an Regeln? Wer hat Ihnen eigentlich erlaubt, Ihren Köter in die Schule zu bringen? Und wenn ich so höre, dass Sie Ihre Schüler das schlecht erzogene Vieh wieder einfangen lassen ... Das ist Machtmissbrauch, wissen Sie? Los, schmeißen Sie mich ruhig von der Schule! Ich habe eh keine Lust mehr, hier meine Zeit zu verschwenden!"
---
Platon hatte bereits das Schulgelände verlassen, als das Schweigen von Kim unterbrochen wurde: "Also das hätte sich wirklich nicht mal Castiel getraut."
Dann wieder Stille und ein vorsichtiges Schielen zur Schulleiterin. Die Tatsache, dass sie nichts sagte, war noch gruseliger als wenn sie geschrien hätte. Offenbar hatte Platon einen Nerv getroffen ... Dass er ein besonderes Talent dafür hatte, wusste Viola ja nur zu gut.
"Solche Unverschämtheit!", kam es brodelnd aus der Kehle der Direktorin hervorgekrochen.
"Bitte, Frau Direktorin!" Viola wusste selbst nicht ganz, was sie da tat, als sie zu ihr herumwirbelte und auf sie laut einzureden begann. "Bestrafen Sie Platon nicht! Dass wir geschwänzt haben - er hat mir geholfen! Sie haben meinem Vater am Tag der offenen Tür doch selbst gesagt, dass ich viel zu zurückhaltend bin! Platon hilft mir, mich zu ändern, und - und das mit dem Schwänzen ist einfach so passiert! Lassen Sie uns beide nachsitzen, aber schicken Sie ihn bitte nicht von der Schule! Die anderen Sachen - es hat alles einen Grund! Er ist ständig an seinem Computer, aber er muss arbeiten! Haben Sie gesehen, wie viel Kaffee er trinkt? Er spricht nicht darüber, er braucht das Geld, weil er auch noch drei Cousinen hat, für die seine Tante und sein Onkel sorgen müssen. Bestimmt will er ihnen nicht zur Last fallen und sich trotzdem hin und wieder etwas gönnen. Außerdem hat er zu Hause sehr viel Verantwortung, sodass er dort wohl nicht viel zum Arbeiten kommt, außer wenn alle schlafen. Und was seine Probleme mit den anderen Schülern betrifft, so hält er die anderen bewusst auf Abstand, weil er früher wegen seiner Narben gemobbt wurde! Er wurde als 'Monster' beschimpft, verfolgt und sogar körperlich angegriffen! Die Lehrer haben weggeschaut, und er hat das Problem nur mit roher Gewalt lösen können! Bitte, Frau Schulleiterin, das müssen Sie verstehen! Seine Mitschüler einzuschüchtern und Streit anzufangen ist zwar nicht die beste Lösung, aber es hat ihm nie jemand gezeigt, wie es anders geht. Es ist nicht nur seine Schuld, sondern auch die seiner früheren Mitschüler und Lehrer! Und überhaupt von Leuten. - Es ist ja nicht nur das Mobbing, sondern dass ihn die Menschen auf seine Narben reduzieren und er das vermeiden möchte! Er - er ist eigentlich sehr nett und fürsorglich, wenn auch manchmal auf eine etwas brutale Weise. Und er ist wirklich sehr intelligent und ich weiß nicht, wo ich jetzt ohne ihn wäre! Er ist ein Idiot, dass er sich so aufführt, aber er will sich doch nur selbst schützen! Er hat Angst! Und hätte sein Wechsel auf unsere Schule nicht auch eine neue Chance sein sollen? Wir hätten ihm die Akzeptanz geben sollen, die er sonst nirgendwo bekommen hat. Da können Sie ihn doch nicht einfach - einfach von der Schule werfen!"
Sie atmete erstmal durch. Hatte sie gerade tatsächlich das alles gesagt?
"Platon wird doch noch nicht von der Schule verwiesen", sagte die Direktorin, und ihre Stimme war überraschend ruhig, obwohl ihre hochgezogenen Brauen höchste Verwunderung ausdrückten. Aber offenbar hatte Violas lange Rede ihr Zeit gegeben, sich wieder halbwegs zu beruhigen. "Wir wollten erstmal nur darüber reden. Aber wo hast du eigentlich diese ganzen Informationen her?"
"Er hat mir viel von sich erzählt ...", schluckte Viola. Stand sie tatsächlich da und klärte die Schulleiterin über Platons Vergangenheit auf, während die ganze Schule zusah?
Die Direktorin schien einige Augenblicke nachzudenken, sagte aber schließlich: "Platon wird nicht der Schule verwiesen, aber ein Gespräch mit seinen Erziehungsberechtigten wird trotzdem stattfinden. Das Problem können wir nicht einfach ignorieren. Danke, dass du mir das alles erzählt hast. Aber nachsitzen musst du trotzdem."
Viola nickte nur und sah zu, wie die Direktorin sich umdrehte und wieder ins Gebäude ging. Es fühlte sich ein wenig an, als würde sie aus einem Traum erwachen ...
"Ich hatte ja keine Ahnung ...", murmelte Kim.
"Ich auch nicht", sagte Napoleone. "Ich glaube, jeder hat irgendwie geahnt, dass da etwas schiefgelaufen ist, aber dass es direkt Mobbing war und er wohl immer noch Angst hat ..."
"Krass", meldete sich nun auch Armin.
Alexy nickte. "Immerhin wird er nicht von der Schule geworfen."
Viola blickte ihn an und merkte, dass sie seinen Optimismus nicht teilen konnte. Denn natürlich war Platon ein Idiot - vor allem einer mit Temperament. Und ein Idiot mit Temperament machte Dummheiten.
"Ich glaube, Platon will wirklich nicht mehr auf unsere Schule gehen", hauchte sie.
"Meinst du?", stutzte Napoleone. "Denkst du nicht, er würde lieber bei dir bleiben? Vor allem jetzt, wo du so ... Du bist wirklich kaum wiederzuerkennen! Du kommst in auffälliger Kleidung, widersprichst der Schulleiterin und wirkst generell viel selbstbewusster. Wenn er dir so geholfen hat, wird er dich wohl auch sehr mögen und nicht auf eine andere Schule gehen wollen als du!"
"Das ..." Viola stockte kurz. Stimmte es, was Napoleone sagte? "Ich glaube nicht, dass ich selbstbewusster geworden bin. Noch nicht. Ich glaube, ich ... Es passiert einfach so viel, dass ich irgendwie nicht daran denke, dass ich eigentlich schüchtern bin ... Ich meine, er hilft mir sehr, aber ich brauche noch Zeit und ... Also ..."
Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. Es half tatsächlich.
"Sagt Mr. Faraize, dass ich etwas Wichtiges zu erledigen habe", sagte sie entschieden, als sie sich zum Ausgang drehte und losrannte.
---
Platon hatte einen ziemlichen Vorsprung, das wusste sie. Aber er war heute zu Fuß da, und sie kannte den Weg. So schnell wie sie nur konnte manövrierte sie zwischen den anderen Fußgängern und achtete nicht auf die verärgerten Ausrufe hinter ihrem Rücken. Sie rannte am Café vorbei, am Park, dann durchs Stadtzentrum, ihr Herz klopfte und ein Schmerz in ihrer Seite ließ sie wissen, was für eine lange Strecke sie bereits gelaufen war. Wo war der Kerl bloß? Sie musste ihn doch schon längst eingeholt haben ...
"Platon!", rief sie, als sie endlich einen bekannten Hinterkopf erblickte. "Platon, warte! Hey! Ich habe mit der Direktorin geredet! Du wirst nicht der Schule verwiesen! Ich habe alles erklärt!"
"DU HAST WAS?!"
Ein jäher Schmerz in ihrem linken Arm, ihr Rücken und Hinterkopf, die gegen eine Wand schlugen, und Platons weit aufgerissene Augen vor ihrem Gesicht.
Viola schluckte. "I-ich habe alles erklärt ...", wiederholte sie. "Die Direktorin scheint jetzt Verständnis zu haben, und ich glaube, von den Schülern wird auch niemand mehr dumme Kommentare machen ..."
"Sag' bloß, du hast direkt auf dem Schulhof ..." Für eine Sekunde schien Platon die Stimme wegzubleiben. "DU HAST MICH VOR DER GANZEN SCHULE BLOßGESTELLT?!"
"Nicht bloßgestellt", piepste Viola und merkte, dass ihre Stimme zitterte. "Nur ... erklärt. Damit die Direktorin dich nicht von der Schule wirft. Ich hatte ja solche Angst ..."
"Angst?", schnaubte Platon. "Wer hat dich darum gebeten, Viola? Wer hat dir das Recht gegeben ... Denkst du, ich habe mich dir geöffnet, damit du mein Innenleben der ganzen Schule ausplauderst?!" Sein Ausdruck, vor wenigen Augenblicken noch rasend, nahm allmählich gefährlich ruhige Züge an. "Weißt du, wie man sowas nennt? Verrat! Du hast mich hintergangen, Viola. Ich kann nicht glauben, mich in dir so geirrt zu haben ..."
Er ließ sie los und presste die Lippen aneinander, nahm einen tiefen Atemzug, schluckte etwas runter.
"Geh' mir aus den Augen. Ich will dich nie wiedersehen."
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Fortsetzung folgt ...
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Kapitel 14: Das Erwachen
War das Paranoia oder Wirklichkeit? Viola hatte das Gefühl, alle würden sie anstarren. Platons Griff um ihre Hand wurde fester, als sie über den Schulhof schritten, sie in Komplementärfarben, er mit seinen Narben. Sie schluckte. Es war bestimmt das Ende.
Doch das Ende wovon? Verbissen zwang sie sich weiterzugehen, Schritt für Schritt, und suchte mit dem Blick nach ihren Freunden, während ihr Herz klopfte wie verrückt. Bestimmt gingen die Blicke ihrer Mitschüler gerade wie Laser durch sie, scannten sie, zerschnitten sie, ließen kein heiles Stück an ihr übrig. Der 'point of no return' war überschritten. Sie hatte es getan. Jetzt war alles nur noch der Gnade Gottes überlassen.
"W-wow, Viola, was ...", war die erste gestotterte Reaktion, die sie zu hören bekam. Sie fand nie heraus, von wem sie gekommen war.
"Viola?! Bist du das wirklich?"
"Moooooment ... Du bist doch nicht etwa Viola, oder?"
Begleitet wurden die Ausrufe von einem nervösen Getuschel, bei dem bemerkenswert oft Platons Name fiel. Traute sich niemand, ihn auf seine Narben anzusprechen? Vorsichtig riskierte sie einen Blick zu ihm und merkte, dass sich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet hatten.
"Sie starren", presste er hervor. "Sie stehen da und starren."
"Sie müssen sich an uns noch gewöhnen", flüsterte sie beschwichtigend.
"An mich werden sie sich nie gewöhnen."
Viola antwortete nicht, sondern drückte nur seine Hand, während sie zusammen tapfer auf die Tür zuschritten. Wo waren bloß ...
"Es ist endlich passiert!!"
Napoleones Auftauchen bemerkte Viola vor allem durch eine jähe Luftknappheit, als ihr Brustkorb in einer festen Umarmung zerquetscht wurde.
"Lass dich ansehen!" So schnell wie Napoleone über Viola hergefallen war, so schnell ließ sie sie nun auch wieder los, um sie von Kopf bis Fuß zu mustern. "Sehr ungewohnt, aber - wow! Ist das deine Arbeit, Platon? ... Äh, Platon? - Oh!" Sie verstummte jäh, als ihr Blick auf Platons rechte Gesichtshälfte und auf seinen Arm fiel. "Du ... hast deinen Stil auch geändert."
Platon funkelte sie nur düster an.
"Das ... geschah nicht ganz freiwillig", sprang Viola für ihn ein. "Ich dachte nur, dass er ... Na ja ..." Sie errötete und verstummte.
"Ich würde ja sagen, der Killerblick passt zu den Narben sehr gut!", tauchte nun auch Kim an Napoleones Seite auf und kümmerte sich wenig um die noch killerhaftere Tönung, die Platons Ausdruck annahm. "Aber du, Viola, siehst wirklich sehr verändert aus! Toll, dich so farbenfroh zu sehen! Und wenn ich nichts gegen die Schminke sage, dann will das etwas heißen!"
"Platon hat sich Mühe gegeben ...", murmelte Viola mit einem zaghaften Blick zu ihrem Freund, dessen Miene sich immerhin für diesen kurzen Moment aufhellte.
"Was? Platon hat dich geschminkt?!", rief Napoleone.
"Platon hat dich geschminkt?!", wiederholte die Stimme von Alexy, der sich im nächsten Moment ebenfalls in ihr Blickfeld schob.
"Er hat auch die Kleidung ausgesucht ..."
"Du bist mit ihm shoppen gegangen? Ohne mich?"
"Das war doch ein Date, Alexy", meinte Napoleone und tätschelte seine Schulter.
"Trotzdem bin ich neidisch ..."
"Wir können irgendwann ja alle zusammen shoppen gehen!"
"Ja, und wir nehmen Kim mit!"
"Lasst mich da bloß raus!", rief Kim mit einem Ausdruck, als hätte man ihr etwas Unanständiges vorgeschlagen.
Doch bevor sie die Flucht ergreifen konnte, hielt Napoleone sie am Arm fest und grinste: "Also ich würde ja sagen, Alexy braucht vielleicht auch mal ein anderes Opfer als Armin!"
"Kim soll an meiner Stelle mit Alexy einkaufen gehen? Ich bin dafür!"
Mit einem Mal war Armin hinter Kim gespawnt und hielt sie mit einem verschwörerischen Lächeln an den Handgelenken fest.
"Hey, das ist nicht lustig! Lasst mich los!"
Mit einem kräftigen Ruck befreite sich Kim von der vermeintlichen Übermacht Napoleones und Armins und ging einige Schritte auf Sicherheitsabstand. Da alle Augen nun auf sie gerichtet waren, nutzte Viola den Moment für einen weiteren Blick zu Platon.
"Siehst du? Es ist doch alles nicht so schlimm ...", flüsterte sie, ein wenig überrascht über ihre eigenen Worte. "Alle wissen doch schon längst von deinen Verbrennungen, und nach einer kurzen Gewöhnungsphase legt sich die Aufmerksamkeit wieder."
Platons Miene verdüsterte sich nur wieder und er schüttelte den Kopf, sagte jedoch nichts.
"Platon ...", unternahm Viola einen letzten Beruhigungsversuch. Konnte denn nichts getan werden?!
"Da bist du ja!"
Bevor Viola sich eine neue Strategie überlegen konnte, rauschte plötzlich etwas Rosafarbenes an ihr vorbei und braute sich vor Platon auf. Und dieses Etwas hatte eine äußerst unheilvolle Aura ... Eine Aura, die ihre Freunde sofort verstummen ließ.
"Das ist ungeheuerlich!", dröhnte das Stimmwerk der Direktorin nun in voller Lautstärke los. "Seit du da bist, gibt es nur Ärger! Und da rede ich nicht einmal von deinem Computer und deinem Verhalten im Unterricht! Ständig streitest du dich mit deinen Mitschülern, bedrohst sie, ständig hörte ich Klagen über dich, und jetzt fängst du nicht nur an zu schwänzen, sondern ziehst auch andere mit hinein!"
Viola schluckte. Konnte die Direktorin denn nicht sehen, dass Platon ... Hatte er vor ihrer Tirade lediglich "nur" einen Killerklick gehabt, so lief er nun rot an, seine Augen verengten sich und die Hand, die Viola hielt, bebte leicht. Man konnte ihn doch nicht ... Nicht jetzt, nicht in diesem Moment ...
"Zu dir komme ich auch noch, Viola", zischte die Direktorin, als sie einen glühenden Blick in ihre Richtung schleuderte. "Dass du schwänzt, hätte ich dir nie zugetraut! Wie konntest du dich nur darauf einlassen?! Aber zuerst zu Platon: Dein früherer Schulleiter hat mich zwar gewarnt, aber einen so gewissenlosen Schüler habe noch nie erlebt! Du bist ja noch schlimmer als Castiel! Ich werde deine Erziehungsberechtigten in die Schule bestellen, und dann werden wir beraten, ob es wirklich gut ist, wenn du an dieser Schule bleibst! Bis dahin kannst du dir ja mal Gedanken über dein Verhalten machen!"
"Und was ist mit Ihrem Verhalten, Frau Direktorin?", ertönte nun das leise Knurren Platons. "Mit welchem Recht schreien Sie mich an? Halten Sie sich denn etwa an Regeln? Wer hat Ihnen eigentlich erlaubt, Ihren Köter in die Schule zu bringen? Und wenn ich so höre, dass Sie Ihre Schüler das schlecht erzogene Vieh wieder einfangen lassen ... Das ist Machtmissbrauch, wissen Sie? Los, schmeißen Sie mich ruhig von der Schule! Ich habe eh keine Lust mehr, hier meine Zeit zu verschwenden!"
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Platon hatte bereits das Schulgelände verlassen, als das Schweigen von Kim unterbrochen wurde: "Also das hätte sich wirklich nicht mal Castiel getraut."
Dann wieder Stille und ein vorsichtiges Schielen zur Schulleiterin. Die Tatsache, dass sie nichts sagte, war noch gruseliger als wenn sie geschrien hätte. Offenbar hatte Platon einen Nerv getroffen ... Dass er ein besonderes Talent dafür hatte, wusste Viola ja nur zu gut.
"Solche Unverschämtheit!", kam es brodelnd aus der Kehle der Direktorin hervorgekrochen.
"Bitte, Frau Direktorin!" Viola wusste selbst nicht ganz, was sie da tat, als sie zu ihr herumwirbelte und auf sie laut einzureden begann. "Bestrafen Sie Platon nicht! Dass wir geschwänzt haben - er hat mir geholfen! Sie haben meinem Vater am Tag der offenen Tür doch selbst gesagt, dass ich viel zu zurückhaltend bin! Platon hilft mir, mich zu ändern, und - und das mit dem Schwänzen ist einfach so passiert! Lassen Sie uns beide nachsitzen, aber schicken Sie ihn bitte nicht von der Schule! Die anderen Sachen - es hat alles einen Grund! Er ist ständig an seinem Computer, aber er muss arbeiten! Haben Sie gesehen, wie viel Kaffee er trinkt? Er spricht nicht darüber, er braucht das Geld, weil er auch noch drei Cousinen hat, für die seine Tante und sein Onkel sorgen müssen. Bestimmt will er ihnen nicht zur Last fallen und sich trotzdem hin und wieder etwas gönnen. Außerdem hat er zu Hause sehr viel Verantwortung, sodass er dort wohl nicht viel zum Arbeiten kommt, außer wenn alle schlafen. Und was seine Probleme mit den anderen Schülern betrifft, so hält er die anderen bewusst auf Abstand, weil er früher wegen seiner Narben gemobbt wurde! Er wurde als 'Monster' beschimpft, verfolgt und sogar körperlich angegriffen! Die Lehrer haben weggeschaut, und er hat das Problem nur mit roher Gewalt lösen können! Bitte, Frau Schulleiterin, das müssen Sie verstehen! Seine Mitschüler einzuschüchtern und Streit anzufangen ist zwar nicht die beste Lösung, aber es hat ihm nie jemand gezeigt, wie es anders geht. Es ist nicht nur seine Schuld, sondern auch die seiner früheren Mitschüler und Lehrer! Und überhaupt von Leuten. - Es ist ja nicht nur das Mobbing, sondern dass ihn die Menschen auf seine Narben reduzieren und er das vermeiden möchte! Er - er ist eigentlich sehr nett und fürsorglich, wenn auch manchmal auf eine etwas brutale Weise. Und er ist wirklich sehr intelligent und ich weiß nicht, wo ich jetzt ohne ihn wäre! Er ist ein Idiot, dass er sich so aufführt, aber er will sich doch nur selbst schützen! Er hat Angst! Und hätte sein Wechsel auf unsere Schule nicht auch eine neue Chance sein sollen? Wir hätten ihm die Akzeptanz geben sollen, die er sonst nirgendwo bekommen hat. Da können Sie ihn doch nicht einfach - einfach von der Schule werfen!"
Sie atmete erstmal durch. Hatte sie gerade tatsächlich das alles gesagt?
"Platon wird doch noch nicht von der Schule verwiesen", sagte die Direktorin, und ihre Stimme war überraschend ruhig, obwohl ihre hochgezogenen Brauen höchste Verwunderung ausdrückten. Aber offenbar hatte Violas lange Rede ihr Zeit gegeben, sich wieder halbwegs zu beruhigen. "Wir wollten erstmal nur darüber reden. Aber wo hast du eigentlich diese ganzen Informationen her?"
"Er hat mir viel von sich erzählt ...", schluckte Viola. Stand sie tatsächlich da und klärte die Schulleiterin über Platons Vergangenheit auf, während die ganze Schule zusah?
Die Direktorin schien einige Augenblicke nachzudenken, sagte aber schließlich: "Platon wird nicht der Schule verwiesen, aber ein Gespräch mit seinen Erziehungsberechtigten wird trotzdem stattfinden. Das Problem können wir nicht einfach ignorieren. Danke, dass du mir das alles erzählt hast. Aber nachsitzen musst du trotzdem."
Viola nickte nur und sah zu, wie die Direktorin sich umdrehte und wieder ins Gebäude ging. Es fühlte sich ein wenig an, als würde sie aus einem Traum erwachen ...
"Ich hatte ja keine Ahnung ...", murmelte Kim.
"Ich auch nicht", sagte Napoleone. "Ich glaube, jeder hat irgendwie geahnt, dass da etwas schiefgelaufen ist, aber dass es direkt Mobbing war und er wohl immer noch Angst hat ..."
"Krass", meldete sich nun auch Armin.
Alexy nickte. "Immerhin wird er nicht von der Schule geworfen."
Viola blickte ihn an und merkte, dass sie seinen Optimismus nicht teilen konnte. Denn natürlich war Platon ein Idiot - vor allem einer mit Temperament. Und ein Idiot mit Temperament machte Dummheiten.
"Ich glaube, Platon will wirklich nicht mehr auf unsere Schule gehen", hauchte sie.
"Meinst du?", stutzte Napoleone. "Denkst du nicht, er würde lieber bei dir bleiben? Vor allem jetzt, wo du so ... Du bist wirklich kaum wiederzuerkennen! Du kommst in auffälliger Kleidung, widersprichst der Schulleiterin und wirkst generell viel selbstbewusster. Wenn er dir so geholfen hat, wird er dich wohl auch sehr mögen und nicht auf eine andere Schule gehen wollen als du!"
"Das ..." Viola stockte kurz. Stimmte es, was Napoleone sagte? "Ich glaube nicht, dass ich selbstbewusster geworden bin. Noch nicht. Ich glaube, ich ... Es passiert einfach so viel, dass ich irgendwie nicht daran denke, dass ich eigentlich schüchtern bin ... Ich meine, er hilft mir sehr, aber ich brauche noch Zeit und ... Also ..."
Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. Es half tatsächlich.
"Sagt Mr. Faraize, dass ich etwas Wichtiges zu erledigen habe", sagte sie entschieden, als sie sich zum Ausgang drehte und losrannte.
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Platon hatte einen ziemlichen Vorsprung, das wusste sie. Aber er war heute zu Fuß da, und sie kannte den Weg. So schnell wie sie nur konnte manövrierte sie zwischen den anderen Fußgängern und achtete nicht auf die verärgerten Ausrufe hinter ihrem Rücken. Sie rannte am Café vorbei, am Park, dann durchs Stadtzentrum, ihr Herz klopfte und ein Schmerz in ihrer Seite ließ sie wissen, was für eine lange Strecke sie bereits gelaufen war. Wo war der Kerl bloß? Sie musste ihn doch schon längst eingeholt haben ...
"Platon!", rief sie, als sie endlich einen bekannten Hinterkopf erblickte. "Platon, warte! Hey! Ich habe mit der Direktorin geredet! Du wirst nicht der Schule verwiesen! Ich habe alles erklärt!"
"DU HAST WAS?!"
Ein jäher Schmerz in ihrem linken Arm, ihr Rücken und Hinterkopf, die gegen eine Wand schlugen, und Platons weit aufgerissene Augen vor ihrem Gesicht.
Viola schluckte. "I-ich habe alles erklärt ...", wiederholte sie. "Die Direktorin scheint jetzt Verständnis zu haben, und ich glaube, von den Schülern wird auch niemand mehr dumme Kommentare machen ..."
"Sag' bloß, du hast direkt auf dem Schulhof ..." Für eine Sekunde schien Platon die Stimme wegzubleiben. "DU HAST MICH VOR DER GANZEN SCHULE BLOßGESTELLT?!"
"Nicht bloßgestellt", piepste Viola und merkte, dass ihre Stimme zitterte. "Nur ... erklärt. Damit die Direktorin dich nicht von der Schule wirft. Ich hatte ja solche Angst ..."
"Angst?", schnaubte Platon. "Wer hat dich darum gebeten, Viola? Wer hat dir das Recht gegeben ... Denkst du, ich habe mich dir geöffnet, damit du mein Innenleben der ganzen Schule ausplauderst?!" Sein Ausdruck, vor wenigen Augenblicken noch rasend, nahm allmählich gefährlich ruhige Züge an. "Weißt du, wie man sowas nennt? Verrat! Du hast mich hintergangen, Viola. Ich kann nicht glauben, mich in dir so geirrt zu haben ..."
Er ließ sie los und presste die Lippen aneinander, nahm einen tiefen Atemzug, schluckte etwas runter.
"Geh' mir aus den Augen. Ich will dich nie wiedersehen."
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Fortsetzung folgt ...