Odyssee eines Terminkalenders
von Feael Silmarien
Kurzbeschreibung
Ein neuer Schüler macht Sweet Amoris unsicher. - Buchstäblich, denn sein unschöner Ruf eilt ihm voraus. Was für ein Pech für die schüchterne Viola, die ihm seinen Terminkalender wiedergeben muss! Doch nach und nach kommt sie seiner wahren Persönlichkeit auf die Schliche und lernt dabei auch noch, über ihren Schatten zu springen ... --- Widmung: Allen Schüchternen von einer, die nicht mehr so schüchtern ist wie früher.
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P12 / Gen
Alexy
Armin
Kim
Lysander
Viola
06.08.2015
12.11.2015
15
36.717
7
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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15.10.2015
3.149
Neuer Donnerstag, neues Kapitel! Viel Spaß mit Teil 2 des "Interviews"!
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Kapitel 11: Interview mit einem Phantom (2)
Viola wusste nicht, wie lange sie nun schweigend nebeneinander auf dem Rasen saßen und die Tatsache ignorierten, dass die Pause schon seit Ewigkeiten vorbei war. Irgendwie kümmerte es sie kein bisschen, dass sie gerade den Unterricht schwänzte. Dazu war ihr Kopf nach Platons langer Geschichte einfach zu beschäftigt. Viele Fragen kreisten darin, und sie wusste beim besten Willen nicht, welche wohl die wichtigste war.
"Frag", sagte Platon mit leicht erschöpfter Stimme und nahm einen Schluck Kaffee.
Viola holte tief Luft, starrte auf ihre Knie und fragte endlich: "Warum hast du dich von Kira getrennt? Wenn du ... Wenn du sie doch so lange ..."
"Wenn ich sie doch so lange verehrt habe?", beendete Platon den Satz. "Tja, es hat sich relativ schnell herausgestellt, dass ich all die Zeit über nicht sie verehrt habe, sondern nur eine Fantasie von ihr." Und als er ihren verwirrten Blick sah, fuhr er fort: "Ich habe in all den Jahren ja nie mit ihr gesprochen. Eigentlich habe ich sie nie wirklich kennengelernt. Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, hat einfach etwas in mir klick! gemacht, und meine Fantasie hat die schönsten Bilder gemalt, Kira wurde zu einem unerreichbaren, nahezu engelhaften Wesen und es war das reinste Paradies. Kurz nachdem ich mit ihr zusammengekommen bin, musste ich aber feststellen, dass sie nur ein sterblicher Mensch ist mit ihren Ecken und Kanten, von denen ich einige akzeptieren konnte, andere wiederum nicht. Kennst du dieses Gefühl, als würdest du aus einem langen Traum aufwachen? Ich finde immer noch, dass sie ein sehr netter Mensch ist, aber als Frau ist sie einfach nicht mein Typ. Charakterlich nicht und auch nicht von den Interessen her. Es gab kaum etwas, worüber wir reden konnten ... Wobei es mir anscheinend viel eher aufgefallen ist als ihr, weil sie doch sehr verdattert war, als ich ihr gesagt habe, dass ich eine Trennung möchte. Habe mich danach wochenlang beschissen gefühlt, weil ich ihr wehgetan habe. Aber was soll's. Das ist nun ein Jahr her, und immerhin weiß ich jetzt, was ich will."
Beim letzten Satz lief Viola mal wieder rot an und wünschte sich, sie könnte damit endlich aufhören. Aber vielleicht war ihr Erröten in dieser Situation auch sehr berechtigt ... Immerhin hielt Platon immer noch ihre Hand und verkündete dazu auch noch, er wüsste, was er wolle. Womit ... Womit hatte sie sich solche Aufmerksamkeit bloß verdient?!
Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, begann Platon plötzlich wieder zu sprechen: "Du erinnerst mich sehr an mich selbst, Viola. Da kann man einfach nicht neutral bleiben. Es gibt Menschen, die hassen Leute, die ihnen allzu sehr ähneln; vor allem, wenn es um schlechte Eigenschaften geht. Und es gibt Menschen, die fühlen sich mit ähnlichen Menschen verbunden. In deinem Fall aber ... Sagen wir, es ist bis zu einem gewissen Grade ein wissenschaftliches Interesse an mir selbst. Es ist irgendwie faszinierend, eine Art früheres Ich zu beobachten. Du bist ein offenes Buch für mich, auch wenn ich mir trotzdem mehr Feedback von deiner Seite wünschen würde. Aus persönlicher Erfahrung weiß ich, dass man bei schüchternen Leuten viel Initiative zeigen muss, aber man hat doch ständig die Sorge zu übertreiben und aufdringlich zu werden. Außerdem ist es sehr ermüdend, für zwei zu reden."
Platon nahm aber auch wirklich kein Blatt vor dem Mund ...
"Du sagtest vorhin ...", murmelte Viola und starrte weiterhin auf ihre Knie. "Wäre es dir lieber, wenn ich mehr reden würde?"
Er senkte seinen Kaffee und runzelte die Stirn.
"Ja und nein. Ich will nicht, dass du dich für irgendjemanden änderst. Ich hasse es, wenn Leute das tun. Aber es ist manchmal wirklich ätzend Monologe zu führen. Man kommt sich vor wie ein Irrer, der mit einer Wand redet."
Viola öffnete kurz den Mund. Eine Wand?! Das ging auch freundlicher ... Aber sie musste sich gestehen, dass er irgendwie recht hatte: Man musste wohl wirklich Nerven haben, wenn man versuchte, mit ihr einen Dialog zu führen.
"Du redest wirklich viel mit mir ...", überwand sie sich zur nächsten Frage. "Alles wegen ... wegen deiner eigenen Vergangenheit? Ich meine ... Wir sind nicht gleich. Ich bin nicht ... aggressiv."
"Das stimmt. Du richtest deine Aggression nach Innen."
Viola schaute sogar auf vor Erstaunen.
"Du erdrückst dich selbst", erklärte Platon ernst. "Du machst dich klein, unsichtbar, unauffällig. Du unterdrückst dein eigenes Potential, und das in vielerlei Hinsicht. Du lässt dir Chancen entgehen, du kehrst dein Licht unter den Scheffel, du hast Probleme, Komplimente und Hilfe anzunehmen ... Du erlaubst dir nicht zu strahlen wie du eigentlich könntest und zerstörst dich selbst damit. Sogar ..." Plötzlich ließ er ihre Hand los und zupfte an ihrem Kleid. "Sogar äußerlich versteckst du deine Schönheit und spielst Mauerblümchen. Warum immer Grau, Viola? Ja, ich weiß, Grau passt gut zu deinen violetten Haaren, aber das ist nicht die einzige mögliche Kombination." Er scannte sie mit einem fachmännischen Blick. "Die Komplementärfarbe von Violett ist Gelb, also müsste ein gelbes Oberteil deine Haare besonders gut zur Geltung bringen." Er schwieg kurz und setzte dann mit einem Aufleuchten in den Augen hinzu: "Wenigstens bist du bei der Länge deiner Kleider nicht so zurückhaltend."
Dieser Satz wurde begleitet von einem schon fast diabolischen Grinsen und ließ Viola empört aufhicksen.
"Kein Grund, so zu erröten: Du hast sehr schöne Beine, Viola."
Ein zweiter empörter Hickser.
"Was denn? Ich habe Hormone! Und wenn ich ein paar hübscher Beine sehe, dann schaue ich hin!"
Es war mal wieder einer der zahlreichen Momente, in denen Viola nicht so recht wusste, was sie fühlen sollte - zumal sie daran denken musste, wie gerne sie seiner Statur hinterherschmachtete.
"Wenn das geklärt ist ...", begann Platon wieder zu sprechen. "Ich sehe schon, dass du eigentlich wissen wolltest, ob es auch andere Dinge gibt, wegen denen ich Kontakt mit dir gesucht habe ... Das 'wissenschaftliche Interesse an mir selbst' hat dein Ego ein bisschen angekratzt, stimmt's? Aber mach dir keine Sorgen. Ich habe in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft wesentlich mehr über dich erfahren als ich über Kira je wusste. Ob du es glaubst oder nicht: Ich habe von dir gehört noch bevor ich die Schule gewechselt habe." Ein selbstzufriedenes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, als sie ihn halb verwundert und halb erschrocken anstarrte. "Ihr hattet doch einen Tag der offenen Tür, richtig? Ich war zwar nicht da, aber die lokale Presse hat einen Artikel darüber verfasst, und es war die Rede von einem Theaterstück. Es gab dazu ein Foto, und mir als Künstler sind natürlich die schönen Dekorationen ins Auge gesprungen. Da einige Konflikte an meiner alten Schule schon damals einen kritischen Punkt erreicht hatten und bereits vereinbart worden war, dass ich auf die Sweet Amoris wechsele, habe ich Lysander bei Gelegenheit ein wenig ausgefragt und wollte eben auch wissen, wer die Dekorationen gemacht hat. Blöderweise ist mir damals, als wir zusammengestoßen sind, erst im Lehrerzimmer in den Sinn gekommen, dass du wohl die Viola gewesen bist, von der Lysander gesprochen hat."
Errötete sie eigentlich noch? Sie fühlte sich so erschöpft davon, dass die Wahrnehmung ihrer Gesichtstemperatur sich allmählich atrophierte.
"Weitere Fragen?", grinste Platon.
Viola nickte und versuchte, ihren Magen von der Idee abzubringen, angesichts der wichtigsten Frage einen Salto zu schlagen.
"Warum ... Warum bist du so? Warum machst du anderen Leuten Angst? Warum dieses schreckliche Image? Du bist doch gar nicht ... Du bist eigentlich kein schlechter Mensch, und du bist auch kein psychisches Wrack, das bei jeder Kleinigkeit sofort wütend wird. Eigentlich bist du doch ... ziemlich normal."
Platon blinzelte, obwohl er die Frage wahrscheinlich erwartet hatte. Dann zog er seine linke Augenbraue hoch und grinste.
"Merk wir für die Zukunft, Viola, dass 'normal' unter meinesgleichen eine schwere Beleidigung darstellt. Aber sei's drum, dieses eine Mal werde ich nicht wütend. Zu deiner Frage ..." Sein Gesicht wurde jäh wieder ernst. "Bevor ich antworte, muss ich meinerseits fragen, ob ... Als du bei mir zu Hause warst, muss ich wohl eingenickt sein, und weil du dann so plötzlich verschwunden bist ..." Er hielt kurz inne und sah sie streng an. "Hast du dir mein Gesicht angesehen?"
Viola saß da wie vor dem Jüngsten Gericht und wagte kaum zu atmen. Geschweige denn zu antworten.
"Hast du oder hast du nicht?", zischte Platon.
"Nein ...", piepste Viola. "Nur deine Hand. Sie schaute unter der Decke hervor."
Platons Gesicht entspannte sich, er seufzte und hob seine rechte Hand. Mit einem einzigen Ruck hatte er seinen Handschuh ausgezogen und das zerfressene Gebilde entblößt. Eben jenes Gebilde, mit dem er sie am Oberarm packte und hinter sich herzog.
"Die gläsernen Wände sind zwar nicht das Wahre, aber immerhin steht euer Pflanzenzeug davor, und der Schulhof ist eh ausgestorben, also müsste das hier in Ordnung sein", brummte er sich unter die Nase, als sie das Gewächshaus der Garten-AG betraten.
Während Viola sich noch wunderte, was sie hier sollten, stellte er seine Thermoskanne vorsichtig auf einem umgedrehten Eimer ab, knöpfte sich die Jacke auf, und bevor sie begriff, was er da tat, stand er mit freiem Oberkörper und einem hinter die Ohren gestrichenen Haarvorhang vor ihr.
Zum ersten Mal im Leben empfand Viola zwei widersprechende Gefühle gleichzeitig: einerseits ein völlig übermannendes Gefühl des Sabberns und andererseits das des schieren Entsetzens. Sein hübsches Gesicht und seine schöne Statur in all ihrer Pracht, ein langer, leicht femininer Hals, breite Schultern ... und ein zerknitterter, irgendwie unwirklicher Fleck, der sich über seine rechte Gesichtshälfte zog und nur knapp über der Augenbraue, einer losen Ansammlung von einzelnen Härchen, aufhörte; eine gefräßige Spur, sie seinen Hals hinabkroch, sich auf die rechte Hälfte der Brust ergoss und den kompletten Arm verschlang.
"Ich hoffe, dir ist klar, dass man damit hier kein normales Leben führen kann", sagte Platon tonlos. "Zumindest nicht als Kind. Das sah ganz am Anfang sogar noch schlimmer aus. Als ich nach dem Unfall im Krankenhaus lag, wurden mehrere Operationen durchgeführt, und es sollten noch mehr werden, aber ich war durch die Gesamtsituation so verstört, dass mein Psychotherapeut empfohlen hatte, mich fürs Erste in Ruhe zu lassen und die Operationen zu verschieben. Ich sollte zumindest ansatzweise ins normale Leben zurückfinden. Aber dann ... Die Nachricht vom Tod meiner Familie, von der Zerstörung von meinem Zuhause, die ganzen fremden Menschen, die Verletzungen, die Operationen ... Ich entwickelte schlicht und ergreifend eine panische Angst vor Krankenhäusern und Leuten in weißen Kitteln, sodass eine Operation in absehbarer Zeit einfach unmöglich wurde. Es wurde beschlossen, mich erstmal weiterhin in Ruhe zu lassen und mir einen normalen Alltag zu gönnen. Was ganz gut lief, bis ich körperlich in der Lage war, in den Kindergarten zu gehen. Und da hörte die Ruhe auf." Platons Gesicht verfinsterte sich deutlich und er schaute zur Seite. "Kinder sind sehr unsensibel, weißt du? Es verging kaum ein Tag, an dem ich nicht als 'Monster' oder ähnliches beschimpft wurde. Manche machten einen Bogen um mich, als wären meine Verbrennungen eine ansteckende Krankheit. Andere - darunter auch einige Erzieher - glaubten aus irgendeinem Grund, ein Mensch mit einem entstellten Gesicht wäre nicht sehr intelligent. Und dann gab es noch die ganzen Mitfühlenden, die über nichts anderes reden konnten als darüber, wie schlimm meine Narben aussehen und was für ein armer, armer Junge ich sei. Fuck them all.
Als ich in die Grundschule kam, tauchte noch ein fünfter Typus von Arschloch auf. Einer, dem mich zu beleidigen nicht genug war, der sich einen Spaß daraus machte, mich mit seiner Clique zu verfolgen, der alles, was ich tat oder sagte, hämisch kommentierte und in der dritten Klasse sogar handgreiflich wurde. Wenn du glaubst, dass die Lehrer eingegriffen haben, muss ich dich enttäuschen: Sie haben gelassen weggeschaut. Haben ja schließlich genug Probleme in ihrem eigenen Leben, warum sich dann noch mit einem blöden Monsterkind rumplagen? - Und petzen? Nein. Caro lag mir damit ständig in den Ohren, als sie das herausgefunden hat, aber wer nicht schon mal selbst in einer solchen Situation war, der versteht das nicht. Deswegen werde ich es auch nicht weiter ausführen.
Zumal ich das Problem eh selbst gelöst habe. Viele Mobbingopfer mögen wehrlos sein, aber in der dritten Klasse durfte ich feststellen, dass ich wohl nicht zu ihnen gehöre. In meinem Kopf legte sich plötzlich ein Schalter um, und mein Denken wurde auf einmal kühl und nüchtern. Mir war klar, dass ich es nicht allein mit der ganzen Gang aufnehmen konnte, also musste mein Angriff auf den Anführer abzielen. Ich lauerte ihm nach dem Unterricht auf der Toilette auf und ... Na ja, ich erwies mich als stärker. Und hatte in meinem Zustand auch keine Hemmungen. Glaub mir oder nicht, aber ich hatte mich überhaupt nicht unter Kontrolle, obwohl ich auch nicht wirklich in Rage war. Ich wusste genau, was ich tat und warum, ich folgte einem festen Plan; ich wusste auch, dass dieser Plan ungeheuerlich war, aber ich konnte mich nicht zurückhalten. Ich zerschmetterte einen Spiegel und schlug seine rechte Gesichtshälfte dagegen, damit auch er dort Narben hatte. Als ich fertig war, nahm ich mir sogar noch eine Spiegelscherbe mit, die ich ihm später im Beisein seiner ganzen Clique vor die Nase hielt. Der Kerl hat sich fast in die Hose geschissen. Und seitdem traute sich keiner mehr in meine Nähe.
Das war sozusagen der Anfang meiner glorreichen Karriere. Ich habe ja bereits erwähnt, dass ich mir die Haare lang wachsen ließ, um meine rechte Gesichtshälfte zu verbergen, und außerdem begann ich, Rollkragen, Handschuh und lange Ärmel zu tragen. Vom Unfall in meiner Kindheit wussten alle, dazu kursierten noch Gerüchte aus meiner Grundschulzeit und einige Male habe ich meinem Image noch nachgeholfen. Wenn man so eine Gestalt ist wie ich, muss man einfach nur am richtigen Ort zur richtigen Zeit die richtigen Worte sagen, und schon machen sich die hirnlosen Idioten in die Hosen. Aber am Gymnasium gab es auch schon einige etwas reifere Leute, die sich von den Gerüchten nicht einschüchtern ließen und mich auch nicht als Feind ansahen, sodass ich mit denen ein ganz normales Verhältnis hatte. Dadurch, dass man meine Narben nicht mehr sah, haben die Leute sie nicht mehr angestarrt, und ich musste auch nicht mehr dieses bescheuerte Pseudomitleid über mich ergehen lassen. Wegen meinem Image wurde ich zwar als ziemlich ... exzentrisch wahrgenommen, aber ich war in der Lage, ein mehr oder weniger normales Leben zu führen. Wie gesagt, ich hatte sogar eine Art Fanclub unter den Mädchen."
Er schnaubte halb bitter und halb selbstzufrieden und schenkte Viola ein trockenes Lächeln. Diese ließ ihren Blick nachdenklich umherschweifen, bis er an ihren Walderdbeeren hängen blieb. Eigentlich passen sie schlecht in eine rote Wüste, dachte sie plötzlich. Sie waren niedlich und süß, aber sie würden das Wüstenklima kaum aushalten. Eine Selbstlüge also.
Sie seufzte und schaute aus irgendeinem Grund hinunter auf ihren Zeichenblock. Tatsächlich war ihre wirre Kritzelei eine Steinwüste geworden, so leer und trocken wie sie selbst, so still wie sie selbst, so peinlich wie sie selbst. Es tat weh, aber Platon hatte recht. Sie mochte keine Aufmerksamkeit, sie redete nicht gerne vor vielen Leuten, sie konnte keine Komplimente annehmen, weil sie sich selbst nicht mochte. Wer präsentiert sich denn schon gern der Öffentlichkeit, wenn er meint, dass es an ihm nichts Präsentables gibt?
Auch Platon war in einer Wüste aufgewachsen. Isoliert, in einem Körper, den er nicht akzeptierte, in einer Umgebung, die ihm einredete, er sei kaum etwas wert, und was dabei herausgekommen war, war ein Kaktus, ausdauernd und stachelig, ein erhobener Mittelfinger in der leeren Wüstenlandschaft.
"Wir sind unterschiedlich", sagte sie plötzlich und griff ein früheres Thema wieder auf. "Selbst wenn du sagst, ich würde meine Aggressionen nach Innen richten ... Im Gegensatz zu mir hast du einen Grund, so zu sein, wie du bist."
Platon schüttelte den Kopf. "Jeder hat einen Grund zu sein, wie er ist."
"Nein. Ich war schon immer so."
"Ich weiß nicht, ob ich richtig liege, aber ich habe eine Theorie dazu", sagte Platon und hob den Blick zur Glasdecke. "Schüchterne Menschen haben meist ein sehr reiches Innenleben. Man sagt nicht umsonst: Stille Wasser sind tief. Ich weiß nicht, ob schüchterne Menschen deswegen immer so auf sich selbst fixiert sind, weil sie so stark empfinden, oder ob sie deswegen so stark empfinden, weil sie so selbstfixiert sind. Aber ich glaube, da gibt es einen Zusammenhang. Alle schüchternen Menschen, die ich kenne, schlucken sehr viel und tragen es jahrelang mit sich herum, sodass sich in ihrem Inneren mit der Zeit eine ziemliche Last ansammelt. Deswegen haben sie eine solche Angst vor weiteren Verletzungen: Weil die Last sonst unerträglich wird."
Viola sah ihn an und fühlte, passend zu seinen Worten, eine Bleikugel in ihrer Brust.
"Du trägst deine Lasten aber nicht mehr mit dir herum", murmelte sie. "Du sprichst darüber. Gerade jetzt."
Wieder schüttelte er den Kopf. "Nur mit dir. Weil ich weiß, dass du es wissen willst und mir sonst hinterherspionieren wirst. Und weil ich irgendwie auch selbst will, dass du es weißt, da schüchterne Menschen meistens auftauen, wenn man sich ihnen mehr öffnet. Außerdem habe ich bisher mit niemandem über meine Theorien zur Schüchternheit gesprochen und du machst den Eindruck, eine passende Gesprächspartnerin zu sein. Also irgendwie auch wieder wissenschaftliches Interesse." Er grinste sie schelmisch an.
Viola seufzte und lächelte traurig, musste aber gleich im nächsten Augenblick stutzen. Hätte sie in diesem Moment nicht einen neuen Weltrekord im Erröten aufstellen müssen? Aber irgendwie ... Sie hatte nun schon mehrere sehr persönliche Gespräche mit Platon gehabt und ... Gewöhnte sie sich langsam an ihn? War es das "Auftauen", von dem er eben gesprochen hatte?
"Ich glaube, wir sollten in den Klassenraum gehen", sagte Platon plötzlich mit einem Blick aufs Handy. "Wir schwänzen schon seit fast einer Stunde."
Jetzt kam die Röte! Viola schaute unwillkürlich zum Schulgebäude und fühlte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Schon erstaunlich, dass dieser Umstand ihr noch vor einer Sekunde völlig egal gewesen war ...
Sie nickte, machte aber keine Anstalten, das Gewächshaus zu verlassen. Etwas ... etwas pochte in ihrer Brust. Die Bleikugel wollte hinaus, ihre Rippen durchbrechen, diesen Moment nutzen; in erster Linie für sie selbst.
Platon war gerade dabei sein Rollkragenshirt aufzuheben, als sie ihn, unerwartet für sich selbst, am Arm packte, gegen die Gewächshauswand drückte und sich seinem Gesicht näherte. Während ihr Körper zu beben begann, hallten in ihrem Kopf die Worte von Napoleone: "Er hat genau die richtige Größe für dich: kein Zwerg, aber immer noch klein genug, damit du dir nicht den Hals verrenken musst, um ihn zu küssen!" Wie wahr, wie wahr ...
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Fortsetzung folgt ...
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Kapitel 11: Interview mit einem Phantom (2)
Viola wusste nicht, wie lange sie nun schweigend nebeneinander auf dem Rasen saßen und die Tatsache ignorierten, dass die Pause schon seit Ewigkeiten vorbei war. Irgendwie kümmerte es sie kein bisschen, dass sie gerade den Unterricht schwänzte. Dazu war ihr Kopf nach Platons langer Geschichte einfach zu beschäftigt. Viele Fragen kreisten darin, und sie wusste beim besten Willen nicht, welche wohl die wichtigste war.
"Frag", sagte Platon mit leicht erschöpfter Stimme und nahm einen Schluck Kaffee.
Viola holte tief Luft, starrte auf ihre Knie und fragte endlich: "Warum hast du dich von Kira getrennt? Wenn du ... Wenn du sie doch so lange ..."
"Wenn ich sie doch so lange verehrt habe?", beendete Platon den Satz. "Tja, es hat sich relativ schnell herausgestellt, dass ich all die Zeit über nicht sie verehrt habe, sondern nur eine Fantasie von ihr." Und als er ihren verwirrten Blick sah, fuhr er fort: "Ich habe in all den Jahren ja nie mit ihr gesprochen. Eigentlich habe ich sie nie wirklich kennengelernt. Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, hat einfach etwas in mir klick! gemacht, und meine Fantasie hat die schönsten Bilder gemalt, Kira wurde zu einem unerreichbaren, nahezu engelhaften Wesen und es war das reinste Paradies. Kurz nachdem ich mit ihr zusammengekommen bin, musste ich aber feststellen, dass sie nur ein sterblicher Mensch ist mit ihren Ecken und Kanten, von denen ich einige akzeptieren konnte, andere wiederum nicht. Kennst du dieses Gefühl, als würdest du aus einem langen Traum aufwachen? Ich finde immer noch, dass sie ein sehr netter Mensch ist, aber als Frau ist sie einfach nicht mein Typ. Charakterlich nicht und auch nicht von den Interessen her. Es gab kaum etwas, worüber wir reden konnten ... Wobei es mir anscheinend viel eher aufgefallen ist als ihr, weil sie doch sehr verdattert war, als ich ihr gesagt habe, dass ich eine Trennung möchte. Habe mich danach wochenlang beschissen gefühlt, weil ich ihr wehgetan habe. Aber was soll's. Das ist nun ein Jahr her, und immerhin weiß ich jetzt, was ich will."
Beim letzten Satz lief Viola mal wieder rot an und wünschte sich, sie könnte damit endlich aufhören. Aber vielleicht war ihr Erröten in dieser Situation auch sehr berechtigt ... Immerhin hielt Platon immer noch ihre Hand und verkündete dazu auch noch, er wüsste, was er wolle. Womit ... Womit hatte sie sich solche Aufmerksamkeit bloß verdient?!
Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, begann Platon plötzlich wieder zu sprechen: "Du erinnerst mich sehr an mich selbst, Viola. Da kann man einfach nicht neutral bleiben. Es gibt Menschen, die hassen Leute, die ihnen allzu sehr ähneln; vor allem, wenn es um schlechte Eigenschaften geht. Und es gibt Menschen, die fühlen sich mit ähnlichen Menschen verbunden. In deinem Fall aber ... Sagen wir, es ist bis zu einem gewissen Grade ein wissenschaftliches Interesse an mir selbst. Es ist irgendwie faszinierend, eine Art früheres Ich zu beobachten. Du bist ein offenes Buch für mich, auch wenn ich mir trotzdem mehr Feedback von deiner Seite wünschen würde. Aus persönlicher Erfahrung weiß ich, dass man bei schüchternen Leuten viel Initiative zeigen muss, aber man hat doch ständig die Sorge zu übertreiben und aufdringlich zu werden. Außerdem ist es sehr ermüdend, für zwei zu reden."
Platon nahm aber auch wirklich kein Blatt vor dem Mund ...
"Du sagtest vorhin ...", murmelte Viola und starrte weiterhin auf ihre Knie. "Wäre es dir lieber, wenn ich mehr reden würde?"
Er senkte seinen Kaffee und runzelte die Stirn.
"Ja und nein. Ich will nicht, dass du dich für irgendjemanden änderst. Ich hasse es, wenn Leute das tun. Aber es ist manchmal wirklich ätzend Monologe zu führen. Man kommt sich vor wie ein Irrer, der mit einer Wand redet."
Viola öffnete kurz den Mund. Eine Wand?! Das ging auch freundlicher ... Aber sie musste sich gestehen, dass er irgendwie recht hatte: Man musste wohl wirklich Nerven haben, wenn man versuchte, mit ihr einen Dialog zu führen.
"Du redest wirklich viel mit mir ...", überwand sie sich zur nächsten Frage. "Alles wegen ... wegen deiner eigenen Vergangenheit? Ich meine ... Wir sind nicht gleich. Ich bin nicht ... aggressiv."
"Das stimmt. Du richtest deine Aggression nach Innen."
Viola schaute sogar auf vor Erstaunen.
"Du erdrückst dich selbst", erklärte Platon ernst. "Du machst dich klein, unsichtbar, unauffällig. Du unterdrückst dein eigenes Potential, und das in vielerlei Hinsicht. Du lässt dir Chancen entgehen, du kehrst dein Licht unter den Scheffel, du hast Probleme, Komplimente und Hilfe anzunehmen ... Du erlaubst dir nicht zu strahlen wie du eigentlich könntest und zerstörst dich selbst damit. Sogar ..." Plötzlich ließ er ihre Hand los und zupfte an ihrem Kleid. "Sogar äußerlich versteckst du deine Schönheit und spielst Mauerblümchen. Warum immer Grau, Viola? Ja, ich weiß, Grau passt gut zu deinen violetten Haaren, aber das ist nicht die einzige mögliche Kombination." Er scannte sie mit einem fachmännischen Blick. "Die Komplementärfarbe von Violett ist Gelb, also müsste ein gelbes Oberteil deine Haare besonders gut zur Geltung bringen." Er schwieg kurz und setzte dann mit einem Aufleuchten in den Augen hinzu: "Wenigstens bist du bei der Länge deiner Kleider nicht so zurückhaltend."
Dieser Satz wurde begleitet von einem schon fast diabolischen Grinsen und ließ Viola empört aufhicksen.
"Kein Grund, so zu erröten: Du hast sehr schöne Beine, Viola."
Ein zweiter empörter Hickser.
"Was denn? Ich habe Hormone! Und wenn ich ein paar hübscher Beine sehe, dann schaue ich hin!"
Es war mal wieder einer der zahlreichen Momente, in denen Viola nicht so recht wusste, was sie fühlen sollte - zumal sie daran denken musste, wie gerne sie seiner Statur hinterherschmachtete.
"Wenn das geklärt ist ...", begann Platon wieder zu sprechen. "Ich sehe schon, dass du eigentlich wissen wolltest, ob es auch andere Dinge gibt, wegen denen ich Kontakt mit dir gesucht habe ... Das 'wissenschaftliche Interesse an mir selbst' hat dein Ego ein bisschen angekratzt, stimmt's? Aber mach dir keine Sorgen. Ich habe in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft wesentlich mehr über dich erfahren als ich über Kira je wusste. Ob du es glaubst oder nicht: Ich habe von dir gehört noch bevor ich die Schule gewechselt habe." Ein selbstzufriedenes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, als sie ihn halb verwundert und halb erschrocken anstarrte. "Ihr hattet doch einen Tag der offenen Tür, richtig? Ich war zwar nicht da, aber die lokale Presse hat einen Artikel darüber verfasst, und es war die Rede von einem Theaterstück. Es gab dazu ein Foto, und mir als Künstler sind natürlich die schönen Dekorationen ins Auge gesprungen. Da einige Konflikte an meiner alten Schule schon damals einen kritischen Punkt erreicht hatten und bereits vereinbart worden war, dass ich auf die Sweet Amoris wechsele, habe ich Lysander bei Gelegenheit ein wenig ausgefragt und wollte eben auch wissen, wer die Dekorationen gemacht hat. Blöderweise ist mir damals, als wir zusammengestoßen sind, erst im Lehrerzimmer in den Sinn gekommen, dass du wohl die Viola gewesen bist, von der Lysander gesprochen hat."
Errötete sie eigentlich noch? Sie fühlte sich so erschöpft davon, dass die Wahrnehmung ihrer Gesichtstemperatur sich allmählich atrophierte.
"Weitere Fragen?", grinste Platon.
Viola nickte und versuchte, ihren Magen von der Idee abzubringen, angesichts der wichtigsten Frage einen Salto zu schlagen.
"Warum ... Warum bist du so? Warum machst du anderen Leuten Angst? Warum dieses schreckliche Image? Du bist doch gar nicht ... Du bist eigentlich kein schlechter Mensch, und du bist auch kein psychisches Wrack, das bei jeder Kleinigkeit sofort wütend wird. Eigentlich bist du doch ... ziemlich normal."
Platon blinzelte, obwohl er die Frage wahrscheinlich erwartet hatte. Dann zog er seine linke Augenbraue hoch und grinste.
"Merk wir für die Zukunft, Viola, dass 'normal' unter meinesgleichen eine schwere Beleidigung darstellt. Aber sei's drum, dieses eine Mal werde ich nicht wütend. Zu deiner Frage ..." Sein Gesicht wurde jäh wieder ernst. "Bevor ich antworte, muss ich meinerseits fragen, ob ... Als du bei mir zu Hause warst, muss ich wohl eingenickt sein, und weil du dann so plötzlich verschwunden bist ..." Er hielt kurz inne und sah sie streng an. "Hast du dir mein Gesicht angesehen?"
Viola saß da wie vor dem Jüngsten Gericht und wagte kaum zu atmen. Geschweige denn zu antworten.
"Hast du oder hast du nicht?", zischte Platon.
"Nein ...", piepste Viola. "Nur deine Hand. Sie schaute unter der Decke hervor."
Platons Gesicht entspannte sich, er seufzte und hob seine rechte Hand. Mit einem einzigen Ruck hatte er seinen Handschuh ausgezogen und das zerfressene Gebilde entblößt. Eben jenes Gebilde, mit dem er sie am Oberarm packte und hinter sich herzog.
"Die gläsernen Wände sind zwar nicht das Wahre, aber immerhin steht euer Pflanzenzeug davor, und der Schulhof ist eh ausgestorben, also müsste das hier in Ordnung sein", brummte er sich unter die Nase, als sie das Gewächshaus der Garten-AG betraten.
Während Viola sich noch wunderte, was sie hier sollten, stellte er seine Thermoskanne vorsichtig auf einem umgedrehten Eimer ab, knöpfte sich die Jacke auf, und bevor sie begriff, was er da tat, stand er mit freiem Oberkörper und einem hinter die Ohren gestrichenen Haarvorhang vor ihr.
Zum ersten Mal im Leben empfand Viola zwei widersprechende Gefühle gleichzeitig: einerseits ein völlig übermannendes Gefühl des Sabberns und andererseits das des schieren Entsetzens. Sein hübsches Gesicht und seine schöne Statur in all ihrer Pracht, ein langer, leicht femininer Hals, breite Schultern ... und ein zerknitterter, irgendwie unwirklicher Fleck, der sich über seine rechte Gesichtshälfte zog und nur knapp über der Augenbraue, einer losen Ansammlung von einzelnen Härchen, aufhörte; eine gefräßige Spur, sie seinen Hals hinabkroch, sich auf die rechte Hälfte der Brust ergoss und den kompletten Arm verschlang.
"Ich hoffe, dir ist klar, dass man damit hier kein normales Leben führen kann", sagte Platon tonlos. "Zumindest nicht als Kind. Das sah ganz am Anfang sogar noch schlimmer aus. Als ich nach dem Unfall im Krankenhaus lag, wurden mehrere Operationen durchgeführt, und es sollten noch mehr werden, aber ich war durch die Gesamtsituation so verstört, dass mein Psychotherapeut empfohlen hatte, mich fürs Erste in Ruhe zu lassen und die Operationen zu verschieben. Ich sollte zumindest ansatzweise ins normale Leben zurückfinden. Aber dann ... Die Nachricht vom Tod meiner Familie, von der Zerstörung von meinem Zuhause, die ganzen fremden Menschen, die Verletzungen, die Operationen ... Ich entwickelte schlicht und ergreifend eine panische Angst vor Krankenhäusern und Leuten in weißen Kitteln, sodass eine Operation in absehbarer Zeit einfach unmöglich wurde. Es wurde beschlossen, mich erstmal weiterhin in Ruhe zu lassen und mir einen normalen Alltag zu gönnen. Was ganz gut lief, bis ich körperlich in der Lage war, in den Kindergarten zu gehen. Und da hörte die Ruhe auf." Platons Gesicht verfinsterte sich deutlich und er schaute zur Seite. "Kinder sind sehr unsensibel, weißt du? Es verging kaum ein Tag, an dem ich nicht als 'Monster' oder ähnliches beschimpft wurde. Manche machten einen Bogen um mich, als wären meine Verbrennungen eine ansteckende Krankheit. Andere - darunter auch einige Erzieher - glaubten aus irgendeinem Grund, ein Mensch mit einem entstellten Gesicht wäre nicht sehr intelligent. Und dann gab es noch die ganzen Mitfühlenden, die über nichts anderes reden konnten als darüber, wie schlimm meine Narben aussehen und was für ein armer, armer Junge ich sei. Fuck them all.
Als ich in die Grundschule kam, tauchte noch ein fünfter Typus von Arschloch auf. Einer, dem mich zu beleidigen nicht genug war, der sich einen Spaß daraus machte, mich mit seiner Clique zu verfolgen, der alles, was ich tat oder sagte, hämisch kommentierte und in der dritten Klasse sogar handgreiflich wurde. Wenn du glaubst, dass die Lehrer eingegriffen haben, muss ich dich enttäuschen: Sie haben gelassen weggeschaut. Haben ja schließlich genug Probleme in ihrem eigenen Leben, warum sich dann noch mit einem blöden Monsterkind rumplagen? - Und petzen? Nein. Caro lag mir damit ständig in den Ohren, als sie das herausgefunden hat, aber wer nicht schon mal selbst in einer solchen Situation war, der versteht das nicht. Deswegen werde ich es auch nicht weiter ausführen.
Zumal ich das Problem eh selbst gelöst habe. Viele Mobbingopfer mögen wehrlos sein, aber in der dritten Klasse durfte ich feststellen, dass ich wohl nicht zu ihnen gehöre. In meinem Kopf legte sich plötzlich ein Schalter um, und mein Denken wurde auf einmal kühl und nüchtern. Mir war klar, dass ich es nicht allein mit der ganzen Gang aufnehmen konnte, also musste mein Angriff auf den Anführer abzielen. Ich lauerte ihm nach dem Unterricht auf der Toilette auf und ... Na ja, ich erwies mich als stärker. Und hatte in meinem Zustand auch keine Hemmungen. Glaub mir oder nicht, aber ich hatte mich überhaupt nicht unter Kontrolle, obwohl ich auch nicht wirklich in Rage war. Ich wusste genau, was ich tat und warum, ich folgte einem festen Plan; ich wusste auch, dass dieser Plan ungeheuerlich war, aber ich konnte mich nicht zurückhalten. Ich zerschmetterte einen Spiegel und schlug seine rechte Gesichtshälfte dagegen, damit auch er dort Narben hatte. Als ich fertig war, nahm ich mir sogar noch eine Spiegelscherbe mit, die ich ihm später im Beisein seiner ganzen Clique vor die Nase hielt. Der Kerl hat sich fast in die Hose geschissen. Und seitdem traute sich keiner mehr in meine Nähe.
Das war sozusagen der Anfang meiner glorreichen Karriere. Ich habe ja bereits erwähnt, dass ich mir die Haare lang wachsen ließ, um meine rechte Gesichtshälfte zu verbergen, und außerdem begann ich, Rollkragen, Handschuh und lange Ärmel zu tragen. Vom Unfall in meiner Kindheit wussten alle, dazu kursierten noch Gerüchte aus meiner Grundschulzeit und einige Male habe ich meinem Image noch nachgeholfen. Wenn man so eine Gestalt ist wie ich, muss man einfach nur am richtigen Ort zur richtigen Zeit die richtigen Worte sagen, und schon machen sich die hirnlosen Idioten in die Hosen. Aber am Gymnasium gab es auch schon einige etwas reifere Leute, die sich von den Gerüchten nicht einschüchtern ließen und mich auch nicht als Feind ansahen, sodass ich mit denen ein ganz normales Verhältnis hatte. Dadurch, dass man meine Narben nicht mehr sah, haben die Leute sie nicht mehr angestarrt, und ich musste auch nicht mehr dieses bescheuerte Pseudomitleid über mich ergehen lassen. Wegen meinem Image wurde ich zwar als ziemlich ... exzentrisch wahrgenommen, aber ich war in der Lage, ein mehr oder weniger normales Leben zu führen. Wie gesagt, ich hatte sogar eine Art Fanclub unter den Mädchen."
Er schnaubte halb bitter und halb selbstzufrieden und schenkte Viola ein trockenes Lächeln. Diese ließ ihren Blick nachdenklich umherschweifen, bis er an ihren Walderdbeeren hängen blieb. Eigentlich passen sie schlecht in eine rote Wüste, dachte sie plötzlich. Sie waren niedlich und süß, aber sie würden das Wüstenklima kaum aushalten. Eine Selbstlüge also.
Sie seufzte und schaute aus irgendeinem Grund hinunter auf ihren Zeichenblock. Tatsächlich war ihre wirre Kritzelei eine Steinwüste geworden, so leer und trocken wie sie selbst, so still wie sie selbst, so peinlich wie sie selbst. Es tat weh, aber Platon hatte recht. Sie mochte keine Aufmerksamkeit, sie redete nicht gerne vor vielen Leuten, sie konnte keine Komplimente annehmen, weil sie sich selbst nicht mochte. Wer präsentiert sich denn schon gern der Öffentlichkeit, wenn er meint, dass es an ihm nichts Präsentables gibt?
Auch Platon war in einer Wüste aufgewachsen. Isoliert, in einem Körper, den er nicht akzeptierte, in einer Umgebung, die ihm einredete, er sei kaum etwas wert, und was dabei herausgekommen war, war ein Kaktus, ausdauernd und stachelig, ein erhobener Mittelfinger in der leeren Wüstenlandschaft.
"Wir sind unterschiedlich", sagte sie plötzlich und griff ein früheres Thema wieder auf. "Selbst wenn du sagst, ich würde meine Aggressionen nach Innen richten ... Im Gegensatz zu mir hast du einen Grund, so zu sein, wie du bist."
Platon schüttelte den Kopf. "Jeder hat einen Grund zu sein, wie er ist."
"Nein. Ich war schon immer so."
"Ich weiß nicht, ob ich richtig liege, aber ich habe eine Theorie dazu", sagte Platon und hob den Blick zur Glasdecke. "Schüchterne Menschen haben meist ein sehr reiches Innenleben. Man sagt nicht umsonst: Stille Wasser sind tief. Ich weiß nicht, ob schüchterne Menschen deswegen immer so auf sich selbst fixiert sind, weil sie so stark empfinden, oder ob sie deswegen so stark empfinden, weil sie so selbstfixiert sind. Aber ich glaube, da gibt es einen Zusammenhang. Alle schüchternen Menschen, die ich kenne, schlucken sehr viel und tragen es jahrelang mit sich herum, sodass sich in ihrem Inneren mit der Zeit eine ziemliche Last ansammelt. Deswegen haben sie eine solche Angst vor weiteren Verletzungen: Weil die Last sonst unerträglich wird."
Viola sah ihn an und fühlte, passend zu seinen Worten, eine Bleikugel in ihrer Brust.
"Du trägst deine Lasten aber nicht mehr mit dir herum", murmelte sie. "Du sprichst darüber. Gerade jetzt."
Wieder schüttelte er den Kopf. "Nur mit dir. Weil ich weiß, dass du es wissen willst und mir sonst hinterherspionieren wirst. Und weil ich irgendwie auch selbst will, dass du es weißt, da schüchterne Menschen meistens auftauen, wenn man sich ihnen mehr öffnet. Außerdem habe ich bisher mit niemandem über meine Theorien zur Schüchternheit gesprochen und du machst den Eindruck, eine passende Gesprächspartnerin zu sein. Also irgendwie auch wieder wissenschaftliches Interesse." Er grinste sie schelmisch an.
Viola seufzte und lächelte traurig, musste aber gleich im nächsten Augenblick stutzen. Hätte sie in diesem Moment nicht einen neuen Weltrekord im Erröten aufstellen müssen? Aber irgendwie ... Sie hatte nun schon mehrere sehr persönliche Gespräche mit Platon gehabt und ... Gewöhnte sie sich langsam an ihn? War es das "Auftauen", von dem er eben gesprochen hatte?
"Ich glaube, wir sollten in den Klassenraum gehen", sagte Platon plötzlich mit einem Blick aufs Handy. "Wir schwänzen schon seit fast einer Stunde."
Jetzt kam die Röte! Viola schaute unwillkürlich zum Schulgebäude und fühlte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Schon erstaunlich, dass dieser Umstand ihr noch vor einer Sekunde völlig egal gewesen war ...
Sie nickte, machte aber keine Anstalten, das Gewächshaus zu verlassen. Etwas ... etwas pochte in ihrer Brust. Die Bleikugel wollte hinaus, ihre Rippen durchbrechen, diesen Moment nutzen; in erster Linie für sie selbst.
Platon war gerade dabei sein Rollkragenshirt aufzuheben, als sie ihn, unerwartet für sich selbst, am Arm packte, gegen die Gewächshauswand drückte und sich seinem Gesicht näherte. Während ihr Körper zu beben begann, hallten in ihrem Kopf die Worte von Napoleone: "Er hat genau die richtige Größe für dich: kein Zwerg, aber immer noch klein genug, damit du dir nicht den Hals verrenken musst, um ihn zu küssen!" Wie wahr, wie wahr ...
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Fortsetzung folgt ...