Odyssee eines Terminkalenders
von Feael Silmarien
Kurzbeschreibung
Ein neuer Schüler macht Sweet Amoris unsicher. - Buchstäblich, denn sein unschöner Ruf eilt ihm voraus. Was für ein Pech für die schüchterne Viola, die ihm seinen Terminkalender wiedergeben muss! Doch nach und nach kommt sie seiner wahren Persönlichkeit auf die Schliche und lernt dabei auch noch, über ihren Schatten zu springen ... --- Widmung: Allen Schüchternen von einer, die nicht mehr so schüchtern ist wie früher.
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P12 / Gen
Alexy
Armin
Kim
Lysander
Viola
06.08.2015
12.11.2015
15
36.717
7
Alle Kapitel
28 Reviews
28 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
1 Review
08.10.2015
3.788
Ui, jetzt haben wir ja schon das zweite Drittel geschafft! Zur Belohnung für uns alle gibt es unten wieder ein kleines Extra.
Und nun viel Spaß mit dem neuen Kapitel!
-----------------------------------------------------
Kapitel 10: Interview mit einem Phantom (1)
"Also ich glaube, du bist ein bisschen besessen von ihm, Viola", meinte Kim, während sie zusammen in Richtung Schulgebäude gingen. "Und statt ihn auszuspionieren kannst du ihn doch direkt fragen, was du wissen willst, oder?"
Viola fiel jäh in ihr altes Ich zurück und errötete. "A-aber ... Ich kann doch nicht einfach ..."
"Doch, kannst du. Es ist völlig normal, anderen Leuten Fragen zu stellen. Außerdem hast du selbst gesagt, dass er immer nett zu dir ist und ihr euch anscheinend gut versteht. Hey, du hast ihn sogar zu Hause besucht! Eine Art Freunde seid ihr ja schon."
"Und ich muss ihm noch den Terminkalender wiedergeben", entwich es Viola und sie seufzte.
"Terminkalender?!"
Viola errötete wieder. Stimmt ja ... Sie hatte ganz am Anfang beschlossen, Kim nichts davon zu sagen. Aber jetzt, wo sie die Pause damit verbracht hatte, Kim in sämtliche Details ihrer Bekanntschaft mit Platon einzuweihen, machte die Geheimniskrämerei keinen Sinn mehr.
"Er hat bei unserer ersten Begegnung seinen Terminkalender liegen gelassen", erklärte sie tapfer. "Ich wollte ihn zurückgeben, aber ich habe mich nicht getraut ... Da ist ein Foto drin ... Von seiner Familie. Und er vermisst es. Aber selbst als er mir das gesagt hat, habe ich mich nicht getraut. Und jetzt ist es zu spät irgendwie. Es kommt bestimmt blöd, wenn ich jetzt ankomme und sage, dass ich es die ganze Zeit hatte. Er wird bestimmt wütend ..."
"Da ist was dran", sagte Kim nachdenklich. "Aber weißt du, besser so als gar nicht. Platon kennt dich ein bisschen und scheint abgesehen von seinen Eskapaden hier in der Schule doch ein recht netter Typ zu sein. Bestimmt wird er Verständnis haben."
Viola antwortete nicht und starrte nur nachdenklich vor sich hin. Sollte sie? Sollte sie wirklich?
"Ich ... Ich habe einfach nur Angst", murmelte sie schließlich. "Was, wenn er kein Verständnis haben wird? Ich will nicht, dass er wütend auf mich ist. Ich ... Ich ..."
"Du magst ihn?", grinste Kim.
Viola schüttelte den Kopf. "Ich weiß es nicht. Ich ..." Sie stockte. "Habe ich dir erzählt, dass ich mal in Alexy verliebt war? Damals, als er noch ganz neu war."
Kims Augen wurden rund. "Nein, hast du nicht! Du verschweigst mir wirklich viel!"
"Ich glaube, ich habe damals nur Napoleone davon erzählt, und sie hat sich bereiterklärt, mit ihm darüber zu reden", fuhr Viola nickend fort. "Dann hat sich herausgestellt, dass er auf Jungs steht ... Aber darum geht es mir nicht. Die Sache ist, dass es sich damals ganz natürlich angefühlt hat. Alexy ist in jeder Hinsicht ganz nett und süß, und er ist wohl genau der Typ Freund, den sich jedes Mädchen wünscht. Platon hingegen ... Ich bin mir manchmal nicht sicher, was ich von ihm halte. Ich versuche ihn zu verstehen, aber ... Es ist dieses Puzzleteil. Ich glaube, ich brauche es, um wirklich zu verstehen, warum er so ist, wie er ist. Überhaupt was für ein Mensch er ist."
"Tja, da hilft nur fragen", meinte Kim schulterzuckend und ließ Viola zuerst ins Klassenzimmer treten.
---
Nächster Tag, und Platon war immer noch nicht wieder da. Er war schon recht lange krank ... Gab es vielleicht Komplikationen? War er vielleicht im Krankenhaus? Auf der Intensivstation?
Viola saß auf ihrem Stammplatz in der Nähe der Garten-AG, den Rücken gegen einen Baum gelehnt, und versuchte, sich durch wirres Kritzeln abzulenken. Ein kleiner Gedanke am Abend zuvor ... Ein kleiner Gedanke ohne jeglichen Anhaltspunkt - und doch eine schlaflose Nacht. Sie hatte ihn erst vor vier Tagen zu Hause besucht, aber irgendwie fühlte es sich an wie vor vier Wochen.
Es war wirklich lächerlich: Armin hatte erst diesen Morgen erwähnt, dass er mit Platon immer noch regelmäßig spielte, also konnte sein Zustand, wenn man die Sache nüchtern betrachtete, gar nicht so schlimm sein. Und im Hinblick auf die Gerüchte ging es ihm sogar noch besser als ihr: Als Armin beiläufig das Interview mit Kira erwähnt hatte, hatte Platon laut Erzählung nur gemeint, das sei nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass er in den Schlagzeilen einer Schülerzeitung landete. Auf Armins Frage hin, ob Platon Peggy also "verschonen" würde, hatte er nur mit einem gelassenen "Don't feed the troll" eine Eistrollleiche gelootet. Und er hatte recht: Sich von Peggys Artikel provozieren zu lassen würde bedeuten, ihr neuen Stoff zu geben. Viola verstand das und versuchte ebenfalls, auf die Gerüchte nicht zu reagieren.
Vielleicht sollte sie daher sogar dankbar für ihre irrationalen Sorgen sein, denn immerhin lenkten sie sie von den Blicken ihrer Mitschüler ab. Und sie war diesmal tatsächlich dankbar für das feurige Engagement ihrer eingeweihten Freunde, die von Kim irgendwie überzeugt worden waren, sie diesmal nicht mit Fragen zu löchern, sondern sich vielmehr dafür einzusetzen, dass andere es nicht taten. Viola musste sich gestehen, dass sie vorher nie bewusst wahrgenommen hatte, wie die lockere und selbstbewusste Kim sie eigentlich schon immer auf eine eher subtile und fröhliche Art unter ihre Fittiche genommen hatte. Und dass ihre Stupser in Richtung mehr Selbstbewusstsein eigentlich gar nicht so schlimm waren.
"Also ich glaube, du bist ein bisschen besessen von ihm", hallten Kims Worte in ihrem Kopf, und sie richtete ihren Blick auf die andere Seite des Schulhofs, wo Kim mit einigen Jungs aus der Parallelklasse Basketball spielte. Das einzige Problem war ... So sehr sie Kim auch mochte ... Manchmal waren ihre und Kims Interessen einfach zu unterschiedlich. So sehr sie Iris auch mochte ... Manchmal brauchte Iris einfach nur jemanden, der auf sie aufpasste. So sehr sie Napoleone auch mochte ... Manchmal legte sie einfach zu viel Energie an den Tag. So sehr sie Melody auch mochte ... Manchmal waren ihre Ansichten unvereinbar. So sehr sie Alexy auch mochte ... Manchmal hatte er viel zu gute Laune.
Das Gefühl von Isolation verfolgte sie schon so lange wie sie zurückdenken konnte.
Warum ... Warum waren ihr ihre vielleicht etwas zu engagierten aber dennoch wundervollen Freunde nicht genug? Warum die rote Wüste? Warum die ständige Schamesröte? Warum der blutige Schmerz? Und warum die Besessenheit?
"Wow! Ich habe schon immer Leute beneidet, die gut traditionell zeichnen können! Ich habe immer Angst das Bild zu versauen, schiebe Panik und versaue es somit erst recht."
Viola ließ fast ihren Block fallen, als die Stimme direkt neben ihrem Ohr ertönte. Und vor allem: Sie spürte den Atem von jemandem, der sich über ihre Schulter beugte. Langsam wandte sie den Kopf und -
"Platon?!"
Da saß er seelenruhig neben ihr im Gras und schlurfte Kaffee aus dem Deckel seiner Thermoskanne.
Viola lief rot an. "Du bist wieder da?! Aber - aber du warst gar nicht in Mathe und Englisch!"
Er grinste. "Tja, ich dachte heute Morgen selbst noch, dass ich zu Hause bleiben würde, aber dann fand ich, dass ich mich gut genug fühle, um wieder zur Schule zu gehen. Zumal es hier jemanden gibt, der nicht ganz unbegründete Gerüchte aushalten muss, weil er sich tatsächlich brennend für meine Wenigkeit interessiert."
Ein Krampf ging durch ihren Körper. Sie kannte diese leichte, unterschwellige Schärfe in seinem Ton bereits. Als er sie gefragt hatte, wieso sie ihn besuchen kam, hatte er genauso geklungen.
"Weißt du, Viola, wenn man fremde Zimmer durchsucht, dann legt man die Dinge wenigstens wieder an ihren Platz", erklärte er beängstigend trocken, als sie nicht antwortete. "Aber es freut mich, dass du dich für die Eremitage interessierst. Kann ich sehr empfehlen."
Der Krampf verstärkte sich. Er wusste es! Sie war aber auch zu dumm ... Warum hatte sie nicht daran gedacht, den Katalog wieder an seinen Platz zurückzulegen? Letztendlich war sie eine Idiotin ...
"Sehr interessant auch, dass du weißt, wo ich wohne", fuhr Platon unbarmherzig fort. "So weit ich weiß, interessieren sich nicht viele dafür, und ich habe auf dieser Schule noch niemandem meine Adresse gegeben. Lysander kennt sie nicht, und Nathaniel und Melody halten sich brav ans Dienstgeheimnis. Du hast sie also definitiv nicht zufällig erfahren."
Es fehlte nur noch eine grelle Lampe, die ihr ins Gesicht strahlte ... Wenn Viola nicht ohnehin schon gesessen hätte, hätten ihre Knie jetzt vor Angst bestimmt nachgegeben. Sie fühlte sich so nackt ...
"Viola, schau mich an, wenn ich mit dir rede," sagte er plötzlich, und die Schärfe in seinem Ton nahm drastisch zu.
Ja, sie traute sich nicht ihn anzusehen, das Gesicht voll von Schamesröte, eine verfluchte rote Wüste ... Und ... "Ich bin es übrigens gewohnt, dass man mich anschaut, wenn ich mit jemandem rede." Das passierte nicht zum ersten Mal.
"Und frag endlich."
Das jähe, seufzende Sanftwerden seiner Stimme ließ sie tatsächlich aufblicken.
"Äh - was?"
"Was immer du willst", grummelte er. "Du willst etwas über mich wissen, aber statt mich einfach zu fragen legst du absurde Spionagehöchstleistungen hin. Ich war zwar selbst mal so wie du, aber wahrscheinlich ist genau das der Grund, wieso mich deine Schüchternheit so nervt: Been there, done that. Ich weiß, dass es in Wirklichkeit von einem übersteigerten Ego herrührt."
...
...
Viola blinzelte. Platon war eindeutig der erste, der sie eines übersteigerten Egoismus bezichtigte. Konnte es sein? Sie, Viola, eine Egoistin? Wenn schon, dann solche Leute wie Amber und Debrah - aber Viola?!
"Was starrst du mich so an?", schnaubte er mit einer paradoxen Mischung aus Sanftheit und Kühle. "Willst du mir etwa verklickern, dass deine Gedanken nicht ständig um dich selbst kreisen? Was andere wohl über dich denken könnten, wie du wohl rüberkommst ... Menschen, die so drauf sind, halten in der Regel sehr wenig von sich selbst. Deswegen wollen sie immer besser wirken als sie glauben zu sein; sie versuchen krampfhaft, jemand anderes zu sein, und versagen dabei kläglich, weil sie eben nicht jemand anderes sind. Sie sehen, wie unfähig sie sind, einen guten Eindruck zu hinterlassen, dass sie bestenfalls putzig und schlimmstenfalls bescheuert oder arrogant rüberkommen, aber nie so, wie sie eigentlich rüberkommen wollen. Statt andere Menschen das denken zu lassen, was sie wollen, versuchen solche Leute, die Meinung der anderen von sich selbst zu manipulieren, weil sie denken, so, wie sie sind, nicht akzeptiert zu werden. Egoisten interessieren sich nicht für die ehrliche Meinung der anderen Menschen. Es interessiert sie nicht, wenn andere sie vielleicht viel lieber mögen, wenn sie sich nicht verstellen. Es interessiert sie nicht, wenn sie jemanden durch ihre Schüchternheit, die oft wie Kälte wirkt, verletzen. Solche Leute haben Angst vor sich selbst, weil sie sich gar nicht kennen und verleugnen."
Nein. Es war kein Speer, der Viola zu durchbohren schien. Es war ein Drucklufthammer, der ihren Brustkorb zerschmetterte, die Splitter ihrer Rippen umherfliegen ließ und ihr Herz zu einem blutigen Brei zerstampfte. Platon hatte sie zusammengeschlagen mit bloßen Worten.
Etwas in ihrem Magen wand sich, etwas stieg auf, ein Kloß, ein Piepser. Noch ein bisschen mehr und ... Platon hasste sie. Er war nett gewesen, aber nun hasste er sie, und es war ihre Schuld, sie hatte alles verdorben, weil sie nicht den Mut gehabt hatte zu tun, was sie hätte tun müssen, sie war der letzte Vollidiot und ja, vielleicht auch eine Egoistin.
Sie hasste sich.
Sie hasste sich, und das war der Beweis, dass er recht hatte. Sie hasste sich, weil sie doof rübergekommen war, weil Platon nun schlecht von ihr dachte, weil ihr nicht egal war, was andere über sie dachten, und weil sie unfähig war, sich selbst zu akzeptieren.
Sie wünschte sich, sie könnte weinen, schreien, den Selbsthass herauslassen, doch sie starrte nur vor sich hin, leblos, unfähig, sich auch nur zu rühren.
"Sag mal, hast du vergessen, was ich dir beigebracht habe?", hörte sie Platon wieder seufzen und spürte, wie er einfach ihre Hand nahm und den bereits bekannten Stinkefinger formte. "Die richtige Antwort lautet: 'Fuck you!' Nicht wörtlich natürlich, aber von der Einstellung her. 'Wenn ich schüchtern bin, dann bin ich halt so, und du kannst dich verpissen, wenn du willst, dass ich aufhöre, ich selbst zu sein.' Verstehst du? Die anderen haben dir nichts dreinzureden. Auch ich nicht."
"A-aber ...", stammelte Viola, völlig überfordert mit der Entscheidung, ob sie erschrocken, beschämt oder verwirrt sein sollte.
"Was?", schnaubte Platon. "Wenn du sagen willst, dass es paradox ist, dann stimmt das. Seine Schüchternheit wird man nur dadurch los, dass man sie als festen Teil seiner Persönlichkeit akzeptiert und nicht verurteilt. Man erkennt sein wahres Ich an, wird also seiner selbst bewusst, und das nennt man dann Selbstbewusstsein. Krampfhaft versuchen, Selbstbewusstsein zu zeigen, weil andere es von einem verlangen, macht die Situation nur schlimmer. Denn man ändert nichts am Problem und lügt sich dazu auch noch selbst an. Wie gesagt, ich weiß, wovon ich rede."
Seiner Stimmführung nach wollte er weiterreden, zögerte jedoch. Als Viola sich endlich traute, ihm wieder ins Gesicht zu sehen, sah sie einen rötlichen Schein auf seinen Wangen.
"Ich weiß nicht, ob du davon gehört hast, aber ich hatte mal eine Freundin", sagte er schließlich leise. "Zwei Monate hat das Ganze gedauert. Aber die Beziehung mit Kira ist trotzdem bis heute mein persönlicher Triumph. Davor hatte ich eine unglaubliche Angst, mit anderen Leuten zu reden, wenn es keinen besonderen Grund dafür gab. Besonders Mädchen gegenüber. Aber dann war da Kira ... Ich kannte sie schon seit der vierten Klasse. Sie war neu auf der Schule, kam ins Klassenzimmer, unsicher, ängstlich und wunderschön. Sie wusste nicht, wo sie sich hinsetzen sollte, sie kannte niemanden und traute sich nicht, jemanden anzusprechen. Eigentlich wäre es meine Chance gewesen, und ich hasste mich dafür, dass ich damals gekniffen habe. Von der Klasse wurde sie gut aufgenommen und fand schon bald Freunde, und natürlich wurde ihr erzählt, dass sie lieber einen Bogen um mich machen sollte. Und ich habe mich kaum getraut, sie auch nur zu grüßen, wurde knallrot und alles, was so dazugehört. Dass meine Verliebtheit niemandem aufgefallen ist, verdanke ich wohl meinem insgesamt sehr ungesprächigen Wesen.
Schon krass, oder?" Er schnaubte wieder. "Ich war erst neun oder zehn, als ich sie zum ersten Mal getroffen habe, aber diese heimliche Schwärmerei hielt Jahre. In Klasse acht hatte sie dann ihren ersten Freund ... Ich denke, du willst nicht wissen, wie ich Wände hochgelaufen bin vor Frust. Zumal ich da auch mein persönliches Versagen sah, weil ich mich in all den Jahren nie getraut habe mit ihr zu reden. Aber meine Chance kam, auch wenn ich sie erst jetzt im Nachhinein so bezeichne. Damals war ich einfach nur wütend, weil der Typ urplötzlich mit einer anderen zusammen war, ohne mit ihr vorher Schluss gemacht zu haben. Sie hat sehr gelitten, heulte sogar mitten im Unterricht, und meinem Verständnis nach hat er ihre Ehre verletzt, indem er sie so einfach betrogen und ausgetauscht hat. Ich habe mich zwar nicht getraut mit ihr zu reden, aber Leuten gegenüber aggressiv sein - das konnte ich. Und ich habe davor jahrelang Handball im Verein gespielt, und du weißt sicherlich, wie schnell da teilweise die Pässe sind. Nachdem er mich nun ignoriert hat, als ich ihm gesagt habe, was er für ein Arsch er ist ... Also wenn man als Junge so einen Handball volle Pulle in gewisse Gegenden bekommt, tut das weh." Ein schiefes Grinsen huschte über seine Lippen, und für einen Augenblick schien er diese lange zurückliegende Genugtuung zu genießen.
"Von außen sah es natürlich wie ein Unfall aus", fuhr er fort, "aber anscheinend hatten ein paar Leute etwas zu viel von unserem Gespräch davor mitbekommen, weil es wenig später Gerüchte gab, ich hätte den Ball mit Absicht geworfen, um Kira zu rächen. Besonders unter den Mädchen war diese Theorie beliebt. Wie ich später - viel später - durch Caro erfahren habe, gab es wohl so einige Mädchen, die mich irgendwie 'interessant' fanden wegen 'mysteriöser Bad Boy mit schlimmer Vergangenheit' und so. Außerdem war ich damals ohnehin eine nur schwer übersehbare Gestalt. Seit ich in der Dritten erstmals gewalttätig geworden bin, hatte ich meine Haare nicht mehr geschnitten, sodass sie fünf Jahre später länger waren als die der meisten Mädchen. Dazu noch schwarz gefärbt, jede Menge Make-up, überall Nieten ... Der rothaarige Spast hätte sich in die Hosen gemacht, wenn er mich damals getroffen hätte." Er zeigte wieder ein böses, selbstzufriedenes Lächeln. "Wenn du willst, zeige ich dir bei Gelegenheit ein Foto. Aber was ich sagen will: Laut Caro neigen bescheuerte Extravaganzen ganz besonders dazu, einen weiblichen Fanclub anzuziehen. Und Kira war, wie sich herausstellte, keine Ausnahme. Aber damals wusste ich das nicht. Nur, dass sie irgendwann einen anderen Freund haben würde, wenn ich nicht endlich meinen lahmen Arsch hochhievte und sie ansprach. Also sprach ich sie an.
Ich sagte mir, dass eh alles besser sei als sie weiterhin heimlich anzuschmachten und zuzusehen, wie sie sich in jemand anderen verliebt. Dass ich nicht mit mir weiterleben könne, wenn ich mich nicht endlich traute. Dass ich es um jeden Preis tun müsse, auch wenn es eine Totalblamage bedeutete. Dass ich nicht darüber nachdenken solle, ob ich bescheuert rüberkomme, denn bescheuert rüberkommen würde ich auf jeden Fall, denn ich war eben schüchtern, ich hatte Angst, und man würde es auf jeden Fall sehen. Ich hasste mich damals für meine eigene Passivität, und als ich mir Tag für Tag vornahm ihr meine Gefühle zu gestehen und Tag für Tag versagte, ging es mir irgendwann tatsächlich nicht mehr darum, dass sie meine Gefühle erwiderte, sondern es wurde zum Selbstzweck. Als ich es letztendlich schaffte, tat ich es in erster Linie für mich selbst. Aus Prinzip. Weil ich mich sonst für immer gehasst hätte. Weil ich sonst tatsächlich der Idiot wäre, als der ich rüberkommen würde. Deswegen ... Nicht nachdenken. Ich war irgendwann so frustriert, dass ich einfach frontal auf sie zugegangen bin, weil ich mir gesagt habe: 'Jetzt oder nie. Wenn du sie jetzt nicht fragst, dann bist du nichts wert und erhängst dich gefälligst.' Also hab ich's einfach getan. Ohne nachzudenken, wie genau ich das anstellen soll. Ich wollte eben leben." Platon schnaubte halb amüsiert, halb bitter.
"Es muss in dem Moment ein ziemlicher Anblick gewesen sein. Der böse, böse Platon, von Kopf bis Fuß in Schwarz, mit Nieten und Pentagrammen, angeblich ein Verehrer Satans und Menschenfresser, stammelt hilflos vor sich hin, verliert die Stimme, verdreht Wörter, und das im Beisein von Kiras gesamtem Rudel von Freundinnen, weil ihr Mädchen bis auf wenige Ausnahmen ja nie alleine anzutreffen seid und euren Verehrern damit das Leben zur Hölle macht." Er schmunzelte. "Bevor ich eine Antwort erhalten habe, bin ich weggelaufen und habe fieberhaft überlegt, ob ich vom Schuldach springen oder mich im Klo ertränken sollte. Letztendlich endete der Schultag damit, dass ich die restlichen Stunden geschwänzt habe. Zu Hause habe ich trotz viel Rotz intensiv nachgedacht, ob ich mich nach dem Vorfall überhaupt noch in der Schule blicken lassen konnte. Aber dann ... Erstens hatte ich keine andere Wahl wegen Schulpflicht und so. Nicht zur Schule zu gehen ging nur durch Suizid, und eigentlich, tief in meinem Inneren, wollte ich ja leben. Zweitens hatte ich mich nach all den Jahren endlich getraut und irgendwie, wieder irgendwo tief in meinem Inneren, war ich schon stolz auf mich. Und drittens ... Wenn mich alle für einen Vollidioten hielten und mich auslachten, dann sollten sie doch. Ich hatte schon lange kein gutes Image mehr, mit Alleinsein konnte ich gut leben, und außerdem ... Wer die Gefühle anderer nicht respektiert, jemanden wegen eines Liebesgeständnisses auslacht, ist das Letzte, und auf den Respekt solcher Leute kann man getrost verzichten. Wenn denen an meiner Tat etwas nicht passte, dann konnten sie mich mal.
An dem Abend wurde mir auch klar, dass ich Kira die ganzen Jahre über verleugnet habe. Ich stand nicht zu meinen Gefühlen ihr gegenüber. Das war respektlos. Schließlich kann man niemanden respektieren, wenn man sich selbst nicht respektiert.
Aber nun denn. Als ich am nächsten Tag zur Schule kam, durfte ich feststellen, dass so ziemlich jeder von dem Vorfall wusste. Wie gesagt, ich war damals eine nur schwer übersehbare Gestalt, und durch die Kombination dessen mit all den Gerüchten über mich war ich durchaus etwas wie eine lokale Berühmtheit. Somit interessierte mein Liebesgeständnis so gut wie jeden. Aber gerade in dem Moment, als der Gedanke, sich auf dem Schulklo zu ertränken, wieder verlockend wurde, kamen zwei von Kiras Freundinnen, schwärmten mir vor, wie 'süüüüüüüüüüß' ich doch sei und dass Kira wegen der Geschichte mit dem Handball eh schon ein Auge auf mich geworfen habe; sie habe sich zwar nie getraut es jemandem zu gestehen, aber ihre Freundinnen hätten das bemerkt. Dann wurde ich zu Kira gezerrt, und die Freundinnen haben ein Liebesgeständnis aus ihr herausgequetscht. Ich glaube, ich habe damals etwa eine Woche gebraucht, um zu kapieren, was da eigentlich passiert ist."
Viola saß regungslos da und hörte zu, wie Platon dahinplätscherte. Und einige Dinge ... kamen ihr sehr bekannt vor. Die Angst, die Scham ... Aber - Viola errötete - wie schaffte er es eigentlich, so ehrlich und offen über seine Gefühle und seine Vergangenheit zu reden? Hatte Armin nicht gemeint, Jungs wären bei so persönlichen Dingen weniger gesprächig? Platon redete zwar nur über ein vergangenes Problem, aber ... "Aber du scheinst bisher die einzige zu sein, mit der er sich unterhalten möchte ..." Alexys scharfe Beobachtung. Konnte es also wirklich sein, dass er Viola irgendwie ... mochte? Und hatte er seit der Geschichte mit Kira überhaupt keine Hemmungen mehr? Aber dann ... "Es interessiert sie nicht, wenn sie jemanden durch ihre Schüchternheit, die oft wie Kälte wirkt, verletzen." Hatte er sich selbst gemeint? Musste er sich jetzt gerade wieder überwinden und war einfach bereits geübt darin, sich nichts anmerken zu lassen? Er wollte, dass sie etwas über ihn wusste, es war nun schon das zweite Mal, dass er ihr persönliche Dinge aus seiner Vergangenheit erzählte, und er wollte, dass sie ihn fragte, was sie wissen wollte. Und er hatte ihre Hand seit dem Stinkefinger nicht losgelassen ...
-----------------------------------------------------
Fortsetzung folgt ...
---
+++ EXTRA +++
In diesem Kapitel hat Platon ja von seiner gar nicht weit zurückliegenden Vergangenheit als Goth erzählt. Es ist davon auszugehen, dass er sein Versprechen einlöst und Viola irgendwann ein Foto zeigt, aber da es nichts zur Story beiträgt, passiert das nicht in dieser FF. Der Anblick soll euch aber trotzdem nicht vorenthalten sein. Deswegen gibt es dieses Mal einen Platon im Goth-Mode:
http://orig01.deviantart.net/ac33/f/2015/280/2/e/oc__platon__goth_mode__by_feaelsilmarien-d9c8rf8.jpg
Und nun viel Spaß mit dem neuen Kapitel!
-----------------------------------------------------
Kapitel 10: Interview mit einem Phantom (1)
"Also ich glaube, du bist ein bisschen besessen von ihm, Viola", meinte Kim, während sie zusammen in Richtung Schulgebäude gingen. "Und statt ihn auszuspionieren kannst du ihn doch direkt fragen, was du wissen willst, oder?"
Viola fiel jäh in ihr altes Ich zurück und errötete. "A-aber ... Ich kann doch nicht einfach ..."
"Doch, kannst du. Es ist völlig normal, anderen Leuten Fragen zu stellen. Außerdem hast du selbst gesagt, dass er immer nett zu dir ist und ihr euch anscheinend gut versteht. Hey, du hast ihn sogar zu Hause besucht! Eine Art Freunde seid ihr ja schon."
"Und ich muss ihm noch den Terminkalender wiedergeben", entwich es Viola und sie seufzte.
"Terminkalender?!"
Viola errötete wieder. Stimmt ja ... Sie hatte ganz am Anfang beschlossen, Kim nichts davon zu sagen. Aber jetzt, wo sie die Pause damit verbracht hatte, Kim in sämtliche Details ihrer Bekanntschaft mit Platon einzuweihen, machte die Geheimniskrämerei keinen Sinn mehr.
"Er hat bei unserer ersten Begegnung seinen Terminkalender liegen gelassen", erklärte sie tapfer. "Ich wollte ihn zurückgeben, aber ich habe mich nicht getraut ... Da ist ein Foto drin ... Von seiner Familie. Und er vermisst es. Aber selbst als er mir das gesagt hat, habe ich mich nicht getraut. Und jetzt ist es zu spät irgendwie. Es kommt bestimmt blöd, wenn ich jetzt ankomme und sage, dass ich es die ganze Zeit hatte. Er wird bestimmt wütend ..."
"Da ist was dran", sagte Kim nachdenklich. "Aber weißt du, besser so als gar nicht. Platon kennt dich ein bisschen und scheint abgesehen von seinen Eskapaden hier in der Schule doch ein recht netter Typ zu sein. Bestimmt wird er Verständnis haben."
Viola antwortete nicht und starrte nur nachdenklich vor sich hin. Sollte sie? Sollte sie wirklich?
"Ich ... Ich habe einfach nur Angst", murmelte sie schließlich. "Was, wenn er kein Verständnis haben wird? Ich will nicht, dass er wütend auf mich ist. Ich ... Ich ..."
"Du magst ihn?", grinste Kim.
Viola schüttelte den Kopf. "Ich weiß es nicht. Ich ..." Sie stockte. "Habe ich dir erzählt, dass ich mal in Alexy verliebt war? Damals, als er noch ganz neu war."
Kims Augen wurden rund. "Nein, hast du nicht! Du verschweigst mir wirklich viel!"
"Ich glaube, ich habe damals nur Napoleone davon erzählt, und sie hat sich bereiterklärt, mit ihm darüber zu reden", fuhr Viola nickend fort. "Dann hat sich herausgestellt, dass er auf Jungs steht ... Aber darum geht es mir nicht. Die Sache ist, dass es sich damals ganz natürlich angefühlt hat. Alexy ist in jeder Hinsicht ganz nett und süß, und er ist wohl genau der Typ Freund, den sich jedes Mädchen wünscht. Platon hingegen ... Ich bin mir manchmal nicht sicher, was ich von ihm halte. Ich versuche ihn zu verstehen, aber ... Es ist dieses Puzzleteil. Ich glaube, ich brauche es, um wirklich zu verstehen, warum er so ist, wie er ist. Überhaupt was für ein Mensch er ist."
"Tja, da hilft nur fragen", meinte Kim schulterzuckend und ließ Viola zuerst ins Klassenzimmer treten.
---
Nächster Tag, und Platon war immer noch nicht wieder da. Er war schon recht lange krank ... Gab es vielleicht Komplikationen? War er vielleicht im Krankenhaus? Auf der Intensivstation?
Viola saß auf ihrem Stammplatz in der Nähe der Garten-AG, den Rücken gegen einen Baum gelehnt, und versuchte, sich durch wirres Kritzeln abzulenken. Ein kleiner Gedanke am Abend zuvor ... Ein kleiner Gedanke ohne jeglichen Anhaltspunkt - und doch eine schlaflose Nacht. Sie hatte ihn erst vor vier Tagen zu Hause besucht, aber irgendwie fühlte es sich an wie vor vier Wochen.
Es war wirklich lächerlich: Armin hatte erst diesen Morgen erwähnt, dass er mit Platon immer noch regelmäßig spielte, also konnte sein Zustand, wenn man die Sache nüchtern betrachtete, gar nicht so schlimm sein. Und im Hinblick auf die Gerüchte ging es ihm sogar noch besser als ihr: Als Armin beiläufig das Interview mit Kira erwähnt hatte, hatte Platon laut Erzählung nur gemeint, das sei nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass er in den Schlagzeilen einer Schülerzeitung landete. Auf Armins Frage hin, ob Platon Peggy also "verschonen" würde, hatte er nur mit einem gelassenen "Don't feed the troll" eine Eistrollleiche gelootet. Und er hatte recht: Sich von Peggys Artikel provozieren zu lassen würde bedeuten, ihr neuen Stoff zu geben. Viola verstand das und versuchte ebenfalls, auf die Gerüchte nicht zu reagieren.
Vielleicht sollte sie daher sogar dankbar für ihre irrationalen Sorgen sein, denn immerhin lenkten sie sie von den Blicken ihrer Mitschüler ab. Und sie war diesmal tatsächlich dankbar für das feurige Engagement ihrer eingeweihten Freunde, die von Kim irgendwie überzeugt worden waren, sie diesmal nicht mit Fragen zu löchern, sondern sich vielmehr dafür einzusetzen, dass andere es nicht taten. Viola musste sich gestehen, dass sie vorher nie bewusst wahrgenommen hatte, wie die lockere und selbstbewusste Kim sie eigentlich schon immer auf eine eher subtile und fröhliche Art unter ihre Fittiche genommen hatte. Und dass ihre Stupser in Richtung mehr Selbstbewusstsein eigentlich gar nicht so schlimm waren.
"Also ich glaube, du bist ein bisschen besessen von ihm", hallten Kims Worte in ihrem Kopf, und sie richtete ihren Blick auf die andere Seite des Schulhofs, wo Kim mit einigen Jungs aus der Parallelklasse Basketball spielte. Das einzige Problem war ... So sehr sie Kim auch mochte ... Manchmal waren ihre und Kims Interessen einfach zu unterschiedlich. So sehr sie Iris auch mochte ... Manchmal brauchte Iris einfach nur jemanden, der auf sie aufpasste. So sehr sie Napoleone auch mochte ... Manchmal legte sie einfach zu viel Energie an den Tag. So sehr sie Melody auch mochte ... Manchmal waren ihre Ansichten unvereinbar. So sehr sie Alexy auch mochte ... Manchmal hatte er viel zu gute Laune.
Das Gefühl von Isolation verfolgte sie schon so lange wie sie zurückdenken konnte.
Warum ... Warum waren ihr ihre vielleicht etwas zu engagierten aber dennoch wundervollen Freunde nicht genug? Warum die rote Wüste? Warum die ständige Schamesröte? Warum der blutige Schmerz? Und warum die Besessenheit?
"Wow! Ich habe schon immer Leute beneidet, die gut traditionell zeichnen können! Ich habe immer Angst das Bild zu versauen, schiebe Panik und versaue es somit erst recht."
Viola ließ fast ihren Block fallen, als die Stimme direkt neben ihrem Ohr ertönte. Und vor allem: Sie spürte den Atem von jemandem, der sich über ihre Schulter beugte. Langsam wandte sie den Kopf und -
"Platon?!"
Da saß er seelenruhig neben ihr im Gras und schlurfte Kaffee aus dem Deckel seiner Thermoskanne.
Viola lief rot an. "Du bist wieder da?! Aber - aber du warst gar nicht in Mathe und Englisch!"
Er grinste. "Tja, ich dachte heute Morgen selbst noch, dass ich zu Hause bleiben würde, aber dann fand ich, dass ich mich gut genug fühle, um wieder zur Schule zu gehen. Zumal es hier jemanden gibt, der nicht ganz unbegründete Gerüchte aushalten muss, weil er sich tatsächlich brennend für meine Wenigkeit interessiert."
Ein Krampf ging durch ihren Körper. Sie kannte diese leichte, unterschwellige Schärfe in seinem Ton bereits. Als er sie gefragt hatte, wieso sie ihn besuchen kam, hatte er genauso geklungen.
"Weißt du, Viola, wenn man fremde Zimmer durchsucht, dann legt man die Dinge wenigstens wieder an ihren Platz", erklärte er beängstigend trocken, als sie nicht antwortete. "Aber es freut mich, dass du dich für die Eremitage interessierst. Kann ich sehr empfehlen."
Der Krampf verstärkte sich. Er wusste es! Sie war aber auch zu dumm ... Warum hatte sie nicht daran gedacht, den Katalog wieder an seinen Platz zurückzulegen? Letztendlich war sie eine Idiotin ...
"Sehr interessant auch, dass du weißt, wo ich wohne", fuhr Platon unbarmherzig fort. "So weit ich weiß, interessieren sich nicht viele dafür, und ich habe auf dieser Schule noch niemandem meine Adresse gegeben. Lysander kennt sie nicht, und Nathaniel und Melody halten sich brav ans Dienstgeheimnis. Du hast sie also definitiv nicht zufällig erfahren."
Es fehlte nur noch eine grelle Lampe, die ihr ins Gesicht strahlte ... Wenn Viola nicht ohnehin schon gesessen hätte, hätten ihre Knie jetzt vor Angst bestimmt nachgegeben. Sie fühlte sich so nackt ...
"Viola, schau mich an, wenn ich mit dir rede," sagte er plötzlich, und die Schärfe in seinem Ton nahm drastisch zu.
Ja, sie traute sich nicht ihn anzusehen, das Gesicht voll von Schamesröte, eine verfluchte rote Wüste ... Und ... "Ich bin es übrigens gewohnt, dass man mich anschaut, wenn ich mit jemandem rede." Das passierte nicht zum ersten Mal.
"Und frag endlich."
Das jähe, seufzende Sanftwerden seiner Stimme ließ sie tatsächlich aufblicken.
"Äh - was?"
"Was immer du willst", grummelte er. "Du willst etwas über mich wissen, aber statt mich einfach zu fragen legst du absurde Spionagehöchstleistungen hin. Ich war zwar selbst mal so wie du, aber wahrscheinlich ist genau das der Grund, wieso mich deine Schüchternheit so nervt: Been there, done that. Ich weiß, dass es in Wirklichkeit von einem übersteigerten Ego herrührt."
...
...
Viola blinzelte. Platon war eindeutig der erste, der sie eines übersteigerten Egoismus bezichtigte. Konnte es sein? Sie, Viola, eine Egoistin? Wenn schon, dann solche Leute wie Amber und Debrah - aber Viola?!
"Was starrst du mich so an?", schnaubte er mit einer paradoxen Mischung aus Sanftheit und Kühle. "Willst du mir etwa verklickern, dass deine Gedanken nicht ständig um dich selbst kreisen? Was andere wohl über dich denken könnten, wie du wohl rüberkommst ... Menschen, die so drauf sind, halten in der Regel sehr wenig von sich selbst. Deswegen wollen sie immer besser wirken als sie glauben zu sein; sie versuchen krampfhaft, jemand anderes zu sein, und versagen dabei kläglich, weil sie eben nicht jemand anderes sind. Sie sehen, wie unfähig sie sind, einen guten Eindruck zu hinterlassen, dass sie bestenfalls putzig und schlimmstenfalls bescheuert oder arrogant rüberkommen, aber nie so, wie sie eigentlich rüberkommen wollen. Statt andere Menschen das denken zu lassen, was sie wollen, versuchen solche Leute, die Meinung der anderen von sich selbst zu manipulieren, weil sie denken, so, wie sie sind, nicht akzeptiert zu werden. Egoisten interessieren sich nicht für die ehrliche Meinung der anderen Menschen. Es interessiert sie nicht, wenn andere sie vielleicht viel lieber mögen, wenn sie sich nicht verstellen. Es interessiert sie nicht, wenn sie jemanden durch ihre Schüchternheit, die oft wie Kälte wirkt, verletzen. Solche Leute haben Angst vor sich selbst, weil sie sich gar nicht kennen und verleugnen."
Nein. Es war kein Speer, der Viola zu durchbohren schien. Es war ein Drucklufthammer, der ihren Brustkorb zerschmetterte, die Splitter ihrer Rippen umherfliegen ließ und ihr Herz zu einem blutigen Brei zerstampfte. Platon hatte sie zusammengeschlagen mit bloßen Worten.
Etwas in ihrem Magen wand sich, etwas stieg auf, ein Kloß, ein Piepser. Noch ein bisschen mehr und ... Platon hasste sie. Er war nett gewesen, aber nun hasste er sie, und es war ihre Schuld, sie hatte alles verdorben, weil sie nicht den Mut gehabt hatte zu tun, was sie hätte tun müssen, sie war der letzte Vollidiot und ja, vielleicht auch eine Egoistin.
Sie hasste sich.
Sie hasste sich, und das war der Beweis, dass er recht hatte. Sie hasste sich, weil sie doof rübergekommen war, weil Platon nun schlecht von ihr dachte, weil ihr nicht egal war, was andere über sie dachten, und weil sie unfähig war, sich selbst zu akzeptieren.
Sie wünschte sich, sie könnte weinen, schreien, den Selbsthass herauslassen, doch sie starrte nur vor sich hin, leblos, unfähig, sich auch nur zu rühren.
"Sag mal, hast du vergessen, was ich dir beigebracht habe?", hörte sie Platon wieder seufzen und spürte, wie er einfach ihre Hand nahm und den bereits bekannten Stinkefinger formte. "Die richtige Antwort lautet: 'Fuck you!' Nicht wörtlich natürlich, aber von der Einstellung her. 'Wenn ich schüchtern bin, dann bin ich halt so, und du kannst dich verpissen, wenn du willst, dass ich aufhöre, ich selbst zu sein.' Verstehst du? Die anderen haben dir nichts dreinzureden. Auch ich nicht."
"A-aber ...", stammelte Viola, völlig überfordert mit der Entscheidung, ob sie erschrocken, beschämt oder verwirrt sein sollte.
"Was?", schnaubte Platon. "Wenn du sagen willst, dass es paradox ist, dann stimmt das. Seine Schüchternheit wird man nur dadurch los, dass man sie als festen Teil seiner Persönlichkeit akzeptiert und nicht verurteilt. Man erkennt sein wahres Ich an, wird also seiner selbst bewusst, und das nennt man dann Selbstbewusstsein. Krampfhaft versuchen, Selbstbewusstsein zu zeigen, weil andere es von einem verlangen, macht die Situation nur schlimmer. Denn man ändert nichts am Problem und lügt sich dazu auch noch selbst an. Wie gesagt, ich weiß, wovon ich rede."
Seiner Stimmführung nach wollte er weiterreden, zögerte jedoch. Als Viola sich endlich traute, ihm wieder ins Gesicht zu sehen, sah sie einen rötlichen Schein auf seinen Wangen.
"Ich weiß nicht, ob du davon gehört hast, aber ich hatte mal eine Freundin", sagte er schließlich leise. "Zwei Monate hat das Ganze gedauert. Aber die Beziehung mit Kira ist trotzdem bis heute mein persönlicher Triumph. Davor hatte ich eine unglaubliche Angst, mit anderen Leuten zu reden, wenn es keinen besonderen Grund dafür gab. Besonders Mädchen gegenüber. Aber dann war da Kira ... Ich kannte sie schon seit der vierten Klasse. Sie war neu auf der Schule, kam ins Klassenzimmer, unsicher, ängstlich und wunderschön. Sie wusste nicht, wo sie sich hinsetzen sollte, sie kannte niemanden und traute sich nicht, jemanden anzusprechen. Eigentlich wäre es meine Chance gewesen, und ich hasste mich dafür, dass ich damals gekniffen habe. Von der Klasse wurde sie gut aufgenommen und fand schon bald Freunde, und natürlich wurde ihr erzählt, dass sie lieber einen Bogen um mich machen sollte. Und ich habe mich kaum getraut, sie auch nur zu grüßen, wurde knallrot und alles, was so dazugehört. Dass meine Verliebtheit niemandem aufgefallen ist, verdanke ich wohl meinem insgesamt sehr ungesprächigen Wesen.
Schon krass, oder?" Er schnaubte wieder. "Ich war erst neun oder zehn, als ich sie zum ersten Mal getroffen habe, aber diese heimliche Schwärmerei hielt Jahre. In Klasse acht hatte sie dann ihren ersten Freund ... Ich denke, du willst nicht wissen, wie ich Wände hochgelaufen bin vor Frust. Zumal ich da auch mein persönliches Versagen sah, weil ich mich in all den Jahren nie getraut habe mit ihr zu reden. Aber meine Chance kam, auch wenn ich sie erst jetzt im Nachhinein so bezeichne. Damals war ich einfach nur wütend, weil der Typ urplötzlich mit einer anderen zusammen war, ohne mit ihr vorher Schluss gemacht zu haben. Sie hat sehr gelitten, heulte sogar mitten im Unterricht, und meinem Verständnis nach hat er ihre Ehre verletzt, indem er sie so einfach betrogen und ausgetauscht hat. Ich habe mich zwar nicht getraut mit ihr zu reden, aber Leuten gegenüber aggressiv sein - das konnte ich. Und ich habe davor jahrelang Handball im Verein gespielt, und du weißt sicherlich, wie schnell da teilweise die Pässe sind. Nachdem er mich nun ignoriert hat, als ich ihm gesagt habe, was er für ein Arsch er ist ... Also wenn man als Junge so einen Handball volle Pulle in gewisse Gegenden bekommt, tut das weh." Ein schiefes Grinsen huschte über seine Lippen, und für einen Augenblick schien er diese lange zurückliegende Genugtuung zu genießen.
"Von außen sah es natürlich wie ein Unfall aus", fuhr er fort, "aber anscheinend hatten ein paar Leute etwas zu viel von unserem Gespräch davor mitbekommen, weil es wenig später Gerüchte gab, ich hätte den Ball mit Absicht geworfen, um Kira zu rächen. Besonders unter den Mädchen war diese Theorie beliebt. Wie ich später - viel später - durch Caro erfahren habe, gab es wohl so einige Mädchen, die mich irgendwie 'interessant' fanden wegen 'mysteriöser Bad Boy mit schlimmer Vergangenheit' und so. Außerdem war ich damals ohnehin eine nur schwer übersehbare Gestalt. Seit ich in der Dritten erstmals gewalttätig geworden bin, hatte ich meine Haare nicht mehr geschnitten, sodass sie fünf Jahre später länger waren als die der meisten Mädchen. Dazu noch schwarz gefärbt, jede Menge Make-up, überall Nieten ... Der rothaarige Spast hätte sich in die Hosen gemacht, wenn er mich damals getroffen hätte." Er zeigte wieder ein böses, selbstzufriedenes Lächeln. "Wenn du willst, zeige ich dir bei Gelegenheit ein Foto. Aber was ich sagen will: Laut Caro neigen bescheuerte Extravaganzen ganz besonders dazu, einen weiblichen Fanclub anzuziehen. Und Kira war, wie sich herausstellte, keine Ausnahme. Aber damals wusste ich das nicht. Nur, dass sie irgendwann einen anderen Freund haben würde, wenn ich nicht endlich meinen lahmen Arsch hochhievte und sie ansprach. Also sprach ich sie an.
Ich sagte mir, dass eh alles besser sei als sie weiterhin heimlich anzuschmachten und zuzusehen, wie sie sich in jemand anderen verliebt. Dass ich nicht mit mir weiterleben könne, wenn ich mich nicht endlich traute. Dass ich es um jeden Preis tun müsse, auch wenn es eine Totalblamage bedeutete. Dass ich nicht darüber nachdenken solle, ob ich bescheuert rüberkomme, denn bescheuert rüberkommen würde ich auf jeden Fall, denn ich war eben schüchtern, ich hatte Angst, und man würde es auf jeden Fall sehen. Ich hasste mich damals für meine eigene Passivität, und als ich mir Tag für Tag vornahm ihr meine Gefühle zu gestehen und Tag für Tag versagte, ging es mir irgendwann tatsächlich nicht mehr darum, dass sie meine Gefühle erwiderte, sondern es wurde zum Selbstzweck. Als ich es letztendlich schaffte, tat ich es in erster Linie für mich selbst. Aus Prinzip. Weil ich mich sonst für immer gehasst hätte. Weil ich sonst tatsächlich der Idiot wäre, als der ich rüberkommen würde. Deswegen ... Nicht nachdenken. Ich war irgendwann so frustriert, dass ich einfach frontal auf sie zugegangen bin, weil ich mir gesagt habe: 'Jetzt oder nie. Wenn du sie jetzt nicht fragst, dann bist du nichts wert und erhängst dich gefälligst.' Also hab ich's einfach getan. Ohne nachzudenken, wie genau ich das anstellen soll. Ich wollte eben leben." Platon schnaubte halb amüsiert, halb bitter.
"Es muss in dem Moment ein ziemlicher Anblick gewesen sein. Der böse, böse Platon, von Kopf bis Fuß in Schwarz, mit Nieten und Pentagrammen, angeblich ein Verehrer Satans und Menschenfresser, stammelt hilflos vor sich hin, verliert die Stimme, verdreht Wörter, und das im Beisein von Kiras gesamtem Rudel von Freundinnen, weil ihr Mädchen bis auf wenige Ausnahmen ja nie alleine anzutreffen seid und euren Verehrern damit das Leben zur Hölle macht." Er schmunzelte. "Bevor ich eine Antwort erhalten habe, bin ich weggelaufen und habe fieberhaft überlegt, ob ich vom Schuldach springen oder mich im Klo ertränken sollte. Letztendlich endete der Schultag damit, dass ich die restlichen Stunden geschwänzt habe. Zu Hause habe ich trotz viel Rotz intensiv nachgedacht, ob ich mich nach dem Vorfall überhaupt noch in der Schule blicken lassen konnte. Aber dann ... Erstens hatte ich keine andere Wahl wegen Schulpflicht und so. Nicht zur Schule zu gehen ging nur durch Suizid, und eigentlich, tief in meinem Inneren, wollte ich ja leben. Zweitens hatte ich mich nach all den Jahren endlich getraut und irgendwie, wieder irgendwo tief in meinem Inneren, war ich schon stolz auf mich. Und drittens ... Wenn mich alle für einen Vollidioten hielten und mich auslachten, dann sollten sie doch. Ich hatte schon lange kein gutes Image mehr, mit Alleinsein konnte ich gut leben, und außerdem ... Wer die Gefühle anderer nicht respektiert, jemanden wegen eines Liebesgeständnisses auslacht, ist das Letzte, und auf den Respekt solcher Leute kann man getrost verzichten. Wenn denen an meiner Tat etwas nicht passte, dann konnten sie mich mal.
An dem Abend wurde mir auch klar, dass ich Kira die ganzen Jahre über verleugnet habe. Ich stand nicht zu meinen Gefühlen ihr gegenüber. Das war respektlos. Schließlich kann man niemanden respektieren, wenn man sich selbst nicht respektiert.
Aber nun denn. Als ich am nächsten Tag zur Schule kam, durfte ich feststellen, dass so ziemlich jeder von dem Vorfall wusste. Wie gesagt, ich war damals eine nur schwer übersehbare Gestalt, und durch die Kombination dessen mit all den Gerüchten über mich war ich durchaus etwas wie eine lokale Berühmtheit. Somit interessierte mein Liebesgeständnis so gut wie jeden. Aber gerade in dem Moment, als der Gedanke, sich auf dem Schulklo zu ertränken, wieder verlockend wurde, kamen zwei von Kiras Freundinnen, schwärmten mir vor, wie 'süüüüüüüüüüß' ich doch sei und dass Kira wegen der Geschichte mit dem Handball eh schon ein Auge auf mich geworfen habe; sie habe sich zwar nie getraut es jemandem zu gestehen, aber ihre Freundinnen hätten das bemerkt. Dann wurde ich zu Kira gezerrt, und die Freundinnen haben ein Liebesgeständnis aus ihr herausgequetscht. Ich glaube, ich habe damals etwa eine Woche gebraucht, um zu kapieren, was da eigentlich passiert ist."
Viola saß regungslos da und hörte zu, wie Platon dahinplätscherte. Und einige Dinge ... kamen ihr sehr bekannt vor. Die Angst, die Scham ... Aber - Viola errötete - wie schaffte er es eigentlich, so ehrlich und offen über seine Gefühle und seine Vergangenheit zu reden? Hatte Armin nicht gemeint, Jungs wären bei so persönlichen Dingen weniger gesprächig? Platon redete zwar nur über ein vergangenes Problem, aber ... "Aber du scheinst bisher die einzige zu sein, mit der er sich unterhalten möchte ..." Alexys scharfe Beobachtung. Konnte es also wirklich sein, dass er Viola irgendwie ... mochte? Und hatte er seit der Geschichte mit Kira überhaupt keine Hemmungen mehr? Aber dann ... "Es interessiert sie nicht, wenn sie jemanden durch ihre Schüchternheit, die oft wie Kälte wirkt, verletzen." Hatte er sich selbst gemeint? Musste er sich jetzt gerade wieder überwinden und war einfach bereits geübt darin, sich nichts anmerken zu lassen? Er wollte, dass sie etwas über ihn wusste, es war nun schon das zweite Mal, dass er ihr persönliche Dinge aus seiner Vergangenheit erzählte, und er wollte, dass sie ihn fragte, was sie wissen wollte. Und er hatte ihre Hand seit dem Stinkefinger nicht losgelassen ...
-----------------------------------------------------
Fortsetzung folgt ...
---
+++ EXTRA +++
In diesem Kapitel hat Platon ja von seiner gar nicht weit zurückliegenden Vergangenheit als Goth erzählt. Es ist davon auszugehen, dass er sein Versprechen einlöst und Viola irgendwann ein Foto zeigt, aber da es nichts zur Story beiträgt, passiert das nicht in dieser FF. Der Anblick soll euch aber trotzdem nicht vorenthalten sein. Deswegen gibt es dieses Mal einen Platon im Goth-Mode:
http://orig01.deviantart.net/ac33/f/2015/280/2/e/oc__platon__goth_mode__by_feaelsilmarien-d9c8rf8.jpg