Das Haus an der Peary Road
von Char0n
Kurzbeschreibung
Der Londoner Lehrer Samuel Allerton erhält 1940 einen Brief von seinem Freund Aaron, der sich auf einer Expedition in Borneo befindet. Der Inhalt und die folgenden Ereignisse eröffnen immer wieder neue, verstörende Fragen... - Eine Hommage an das Werk von H. P. Lovecraft
KurzgeschichteMystery, Horror / P12 / Gen
30.04.2015
30.04.2015
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30.04.2015
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Drei Monate sind nun vergangen, seit ich in das Guy's Hospital eingeliefert wurde. Die behandelnden Ärzte kümmern sich um mich, so gut es in dieser schweren Zeit eben möglich ist. Dennoch vergeht keine Nacht, in der ich nicht vom Schweiß völlig durchnässt erwache und schwer atme. Die Alpträume, die mich plagen sind vielfältiger Natur, aber jedes Mal wenn mein Blick nach dem Erwachen auf das kleine, in Leder gebundene Notizbuch fällt, dass vom Mondlicht erleuchtet auf dem Tisch neben meinem Bett liegt, dann weiß ich, dass sie alle ein und dieselbe Ursache haben. Den Ärzten und Polizisten habe ich bislang nur eine hastig erfundene, wirre Geschichte erzählt, um meine schweren Wunden an den Beinen, den Armen und im Gesicht zu erklären, die mich seither grausam entstellen. Sie haben auch bislang nicht erfahren, woher jene seltsame Substanz stammt, deren Reste sie in meinem Blut fanden oder wie ich zu meinem schweren Trauma kam. Ich habe ihnen bisher die Wahrheit vorenthalten, aus Angst, man würde mir nicht glauben. Ich bin sowieso kurz davor, in ein Irrenhaus gesteckt zu werden. Dieser Bericht soll klarstellen, wie ich in jener kalten Dezembernacht dem Hagel deutscher Bomben entkommen konnte, der über Southwark niederging und wie aus einem respektablen Lehrer ein seelisches Wrack werden konnte, wie ich es heute darstelle.
Ich wurde durch meinen mittlerweile verstorbenen Freund Dr. Aaron Broadwood in diese beunruhigende Angelegenheit verwickelt. Aaron und ich waren seit unserer Studienzeit eng befreundet gewesen. Danach schlugen wir allerdings so unterschiedliche Wege ein, dass wir uns kaum noch zu Gesicht bekamen. Während ich mich in London niederließ, um mein Lehramt zu beginnen, erlaubte ihm sein großzügiges Erbe ohne wirklichen Beruf zu leben und er beteiligte sich oft an wissenschaftlichen Expeditionen in alle Erdteile. Manchmal beneidete ich ihn um diese abenteuerlichen Reisen in die Ferne, die ihn schon auf die Philippinen, ins Herz Afrikas und nach Südamerika geführt hatten.
Während seiner monate-, manchmal jahrelangen Abwesenheit blieben wir nur durch beständigen Briefverkehr in Kontakt. Seine letzte Expedition hatte ihn als Teil eines britisch-amerikanischen Forschungsteams nach Borneo geführt. Drei Tage bevor sein Schiff, die Yorkshire am 7. Juli 1939 in Southampton ablegte, war er nach langer Zeit wieder einmal bei mir zu Besuch. Doch er kam nicht allein. Er brachte den Leiter der Expedition mit, Professor Gibson. Der Professor war ein etwas beleibter Mann um die sechzig, mit einem weißen, weit zurückgegangen Haaransatz. Wenn er lächelte, was er an jenem Nachmittag selten tat und wenn ich ihn bei späteren Gelegenheiten sah, gar nicht mehr, dann entblößte er seine gelben, zerfurchten Pferdezähne. Abgesehen von seinem nicht gerade angenehmen Äußeren und seiner eher mürrischen Stimmung, war es aber ein Genuss mit ihm über die Ziele der Expedition zu diskutieren. So saßen wir an jenem Sommertag stundenlang auf der Terrasse meines kleinen Hauses und ahnten wenig von den katastrophalen Ereignissen, die sich nur allzu bald auf dem Kontinent abspielen würden.
Die Yorkshire legte planmäßig ab und wie schon so oft schickte Aaron mir von jeder Zwischenstation auf ihrer Reise einen Brief. Ende August erreichte mich schließlich eine Nachricht aus Niederländisch-Indien, in der er berichtete, das Schiff hätte in Borneo angelegt und die Expedition mache sich jetzt in den tiefsten, unberührten Dschungel auf. Dies sollte der letzte Brief sein, den ich für lange Zeit von meinem guten Freund erhielt. Kurz darauf brach der Krieg in Europa aus. Dass Deutschland es tatsächlich wieder wagte, einen Konflikt vom Zaun zu brechen, stimmte mich fassungslos. Mein Vater war im Großen Krieg an der Somme umgekommen und dieser Schock aus der Kindheit saß tief. Mit der Zeit vergaß ich Aaron völlig.
Umso überraschter war ich, als ich Mitte 1940 einen Brief erhielt, der in Batavia abgestempelt war. Aaron Broadwood berichtete, dass die Expedition erst vor kurzem von den Vorgängen in Europa erfahren habe. Alle wären geschockt. Einstimmig hätte man beschlossen, die Heimreise anzutreten, um König und Vaterland zu unterstützen. Der Brief war sehr umfangreich, mehrere Seiten, beschrieben in Aarons großer, schnörkeliger Handschrift. Er gab routiniert eine knappe Beschreibung des Ablaufs der Expedition und vor allem ihrer Entdeckungen. Ich schäme mich ein wenig dafür, dass der Bericht, den ich im Folgenden zusammenfasse mich mehr schockierte, als die Zahl der Toten, die die letzte Bombardierung gefordert hatte. Ich besitze diesen Brief leider nicht mehr und kann den genauen Wortlaut daher nicht wiedergeben. Ich werde aber so gut es geht seinen Inhalt beschreiben.
Die ersten Monate verliefen vergleichsweise normal und der wissenschaftliche Wert der Ergebnisse hielt sich in engen Grenzen. Dem Zeitraum September 1939 bis Februar 1940 schenkte Aaron wenig Aufmerksamkeit. Den weitaus größten Anteil an seinem Bericht hatten die Ereignisse, die sich Ende Februar ereignet hatten.
Die Gruppe unter Professor Gibson gelangte am 25. Februar 1940 in eine Region des Urwaldes, die ihnen seltsam erschien. Zunächst konnte keiner von ihnen objektiv erkennen, was dieses unangenehme Gefühl verursachte, dass sie beschlich, wenn sie ans Weitergehen dachten. Es war so, als läge der Grund dafür genau vor ihrer Nase, aber ihr Blick ginge ganz knapp daran vorbei. Einer der Studenten, für die diese Reise eine ungeheure Ehre bedeutete, sprach schließlich aus, was keiner hatte formulieren können. Es gab in der ganzen Umgebung kein einziges lebendiges Tier. Hier und da lag eine tote Echse oder anderes Kleintier im Gestrüpp, aber nicht einmal die Insekten, die sie begleitet hatten, seit sie den Wald betreten hatten und die Aaron in so vielen Nächten mit ihrem penetranten Summen den Schlaf geraubt hatten, waren zu hören. Als sie verunsichert ihren Marsch fortsetzten und sich dabei dem immer dichter werdenden Pflanzenwerk erwehren mussten, machten sie eine noch schrecklichere Entdeckung. Dort lag an einer Stelle ein Nasenaffe, sein Fell verklebt vom eigenen Blut. Er musste hier seit mehreren Tagen liegen, doch bislang hatte der süßliche Geruch seines verwesenden Körpers noch keine Fliegen angezogen. Zwei tiefe, längliche Wunden klafften im Schädel und auf der linken Brustseite. Es sah so aus, als habe der Angreifer an diesen Stellen zunächst die Haut zusammengedrückt und die entstandene Beule mit ungeheurer Kraft herausgerissen. Die Wunden waren an die zehn Zentimeter lang und am Rand mit einem seltsamen, transparenten Schleim verklebt. Keiner konnte sich erklären, welches Tier dazu imstande war oder welcher Mensch derartig handeln würde.
Professor Gibson war vom Anblick der toten Affen besonders angewidert, aber auch fasziniert. Er bestimmte, dass die Gruppe an dieser Stelle ihr Lager aufschlagen werde, um das Tier in der Nacht genauer zu untersuchen. Unter den Männer machte sich Unmut breit. Die unglaubliche Stille in diesem Bereich des Waldes wirkte erdrückend und der Gedanke, was der Grund für diese Stille war, noch viel erdrückender. Die Abwesenheit jeder Art von tierischen Lebens verhieß nichts gutes.
Man stellte die Zelte auf und Gibson und zwei weitere Studenten machten sich daran, den Nasenaffen zu sezieren. Aaron, der für die erste Wache eingeteilt worden war, fürchtete sich vor der absoluten Stille der Nacht, die ihm noch drückender erschien als die ständige Geräuschkulisse, an die er sich mittlerweile gewöhnt hatte. Zu gern wäre er einige Kilometer nach Süden zurückgegangen, wo die Welt noch in Ordnung war. Die dichten, riesigen Bäume, denen er sich gegenüber sah, hinter denen die Finsternis immer undurchdringlicher wurde und die weit ausladenden Äste über ihm, die nur wenige Mondstrahlen hindurch ließen, vermittelten ihm das Gefühl, hier gefangen zu sein. Und manchmal, wenn er gerade begonnen hatte, sich gedanklich von diesem Ort zu entfernen, gab es eben doch Dinge zu hören. Es waren nur sehr leise Knackgeräusche, ein kurzes, hastiges Rascheln in den Bäumen über ihm und im Gestrüpp am Boden neben ihm. Ein huschender, trippelnder Schatten, den er nur aus dem Augenwinkel wahrnahm.
Bis auf den Professor und seine Gehilfen, hatten sich mittlerweile alle schlafen gelegt. Er hielt es nicht für nötig, sie zu wecken, doch der Gedanke, herauszufinden, welche Tierart hier überlebt haben mochte, ließ ihn nicht in Ruhe. Gegen Mitternacht rief einer der Studenten ihn in das zu einem provisorischen Labor umfunktionierte Zelt Professor Gibsons. Eine schwache Glühbirne spendete flackerndes Licht und erlaubte den Blick auf den ausklappbaren Metalltisch in der Mitte. Darauf lagen die blutigen Überreste des Nasenaffen, zudem einige Gefäße, in denen offensichtlich Proben seiner Körperflüssigkeiten aufbewahrt wurden. Da Aaron hohe Kenntnisse auf dem Gebiet der Biochemie besaß, wollte Professor Gibson ihm unbedingt seine Ergebnisse mitteilen. Bei der Untersuchung des Blutes, dass natürlich längst vertrocknet war, war es gelungen, eine unbekannte Substanz herauszufiltern. Sie war identisch mit jenem schleimigen Sekret, dass man am Rand der Wunden gefunden hatte. Ihre Herkunft war unbekannt. Zum Erstaunen aller Beteiligten war aber weder diese Substanz, die völlig ungiftig erschien, noch der Blutverlust die Todesursache gewesen. Der Affe war schlichtweg verdurstet. Die Autopsie hatte gezeigt, dass zahlreiche wichtige Muskelstränge zerrissen waren. Professor Gibson vermutete, dass dem ein spastischer Anfall von unglaublicher Heftigkeit vorangegangen sein musste. Der Affe hatte sich nicht mehr bewegen und keine Nahrung mehr finden können. Aaron gefielen die toten, vor Angst geweiteten Augen des Tieres nicht. Zu sehr erinnerte der Ausdruck ihn an den eines in Panik schreienden Menschen.
Mein Freund ließ sich die kleinen Reagenzgläser mit den Proben des Sekrets zeigen, musste aber zugeben, das er ratlos war. Die Herkunft und die genaue Wirkung dieser Substanz blieben im Dunkeln. Aaron erzählte derweil seinerseits von seinen Erlebnissen vor dem Zelt und von den Geräuschen, die er gehört hatte. Gibson war sehr interessiert, und so beschlossen sie und einer der Studenten, ein junger Amerikaner namens Rawland, sich sogleich in den Wald aufzumachen und die Verursacher der verdächtigen, beunruhigen Klänge zu finden.
Aaron beschrieb diese Wanderung durch das dichte, finstere Unterholz dieser Insel, die ihre schweißtreibenden, tropischen Temperaturen auch nachts aufrecht erhält, als eines der schrecklichsten Erlebnisse seines Leben. Wiederum lag das hauptsächlich an der absoluten Stille, die sie umgab. Abgesehen von jenen, die sie selber verursachten, war kein anderer Laut zu hören. Bestürzende Fragen beschlichen ihn. Unter anderem die, wohin die vielen Tausend Tiere verschwunden waren, die dieses Gebiet bewohnt hatten mussten. Selbst wenn sie auf die selbe Weise getötet worden waren, wie der gefundene Nasenaffe oder die Echsen, wo waren dann ihre Leichen? Wo war überhaupt irgendeine Spur tierischen Lebens?
Ihre Taschenlampen erhellten den von ineinander verzweigten Wurzeln übersäten Weg vor ihnen und trotzdem wären sie zwischen den dicht beieinander stehenden Bäumen mehrfach fast gestürzt. Nach einigen Minuten begann sich ein unangenehmer Geruch von Verwesung breit zu machen. Der Gestank vergammelnden Fleisches ließ die Luft zwischen den Bäumen dick werden und quälte die Nasen meines Freundes und seiner Begleiter. Professor Gibson flüsterte immer wieder zusammenhanglose Sätze, mehr zu sich selbst als zu den anderen. Laut zu denken war eine Angewohnheit, die er immer zeigte, wenn er aufgeregt war. Dem Studenten Rawland ließ der Gestank die Augen tränen. In diesem Moment begann Aaron wieder die Geräusche zu hören, aber lauter und zahlreicher als zuvor im Lager. Er schwenkte die Lampe hastig in alle Richtungen. Er bedeutete seinen Begleitern, still zu sein. Ein langes Knistern und Rascheln in den Baumkronen. Aaron suchte die Wipfel über sich mit konzentrierten Blicken ab. Plötzlich stieß er einen überraschten Laut aus. Er hatte sich erschrocken und ließ seine Taschenlampe fallen. Die tropische Hitze und der Verwesungsgeruch ließen ihn schwindeln, aber er war sich ziemlich sicher für einen Augenblick am Stamm eines nahen Baumes hängend, irgendein Tier gesehen zu haben.
Während Aaron sich bückte, um seine Lampe wieder aufzuheben, beleuchtete Rawland mit der seinen die entsprechende Stelle. Er und der Professor waren nicht weniger überrascht, vielmehr entsetzt von dem, was sie sahen. Eine Art von Tier, die es nicht geben durfte. Am Stamm des Baumes hing eine etwa zwanzig Zentimeter breite und fünfundzwanzig Zentimeter lange Spinne von braun-schwarzer Farbe. An ihrem Kopf saßen acht kleine, glänzende Augen und ein Paar überproportional große Mundwerkzeuge. Der Anblick dieses unnatürlich großen Spinnentiers raubte allen Anwesenden den Atem und mir lief, als ich Aarons Beschreibung in seinem Brief las, ein kalter Schauer über den Rücken, der mich den warmen Frühlingstag vergessen ließ.
Randolph Gibson fing sich als erster. In ihm war der Forschergeist sofort erwacht. Der Gedanke daran, eine neuartige, derart revolutionär abweichende Spinnenart zu entdecken, gefiel ihm. Rawland, der noch jung und unerfahren war, reagierte entsetzt angesichts dieser Abnormität und auch Aaron selbst konnte nicht leugnen, dass ihm dieses Wesen unbehaglich war. Während Gibson sich langsam dem Baum näherte, um die Spinne genauer anzusehen, raste diese plötzlich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit am Stamm hinauf und verschwand in der undurchdringlichen Finsternis der Äste.
Entgegen der Einwände von Rawland und Aaron entschied Gibson, weiter zu gehen, in der Hoffnung, weitere Exemplare dieser unbekannten Gattung zu entdecken. In Aarons Kopf jagten derweil die schrecklichsten Gedanken und Ideen einander. Die Mundwerkzeuge, die Zangen dieser Spinnen erinnert ihn in schrecklicher Weise an die Abdrücke, die die Wunden der gefundenen Leichen umgaben.
Während sie weitergingen, nahm der Geruch von Tod und Zersetzung immer mehr zu. Sie näherten sich seiner unbekannten Quelle. Zunächst vereinzelt, dann immer häufiger und schließlich sogar in kleinen Gruppen von drei bis fünf Exemplaren, zeigten sich die Spinnen auf dem Boden und in den Bäumen. Sie ergriffen schnell die Flucht, sodass eine genau Beobachtung nicht möglich war, aber Aaron erschauderte jedes Mal, wenn er eins dieser monströsen Wesen zu Gesicht bekam. Nachdem sie noch eine Weile lang weiter marschiert waren – Aaron drückte sich in diesem Punkt sehr ungenau aus – war es diesmal Gibson selbst, der die nächste Entdeckung machte. Zwischen mehreren Bäumen vor ihnen spannte sich ein riesiges Netz, dass vom Boden bis in die höchsten Wipfel reichte. Es war sehr engmaschig gesponnen und mutete in seiner Symmetrie und fast künstlerischen Ausführung wie ein tödliches Mosaik an. Jeder der weißlichen Fäden war in etwa so dick wie ein Zeigefinger. Das erschütterndste aber war nicht das Netz selbst, sondern dass, was sich in ihm verfangen hatte. Die Quelle des Verwesungsgeruchs. Dutzende kleinerer und größerer Tiere hatten sich in dieser klebrigen Falle verfangen. An den höchsten Stellen des Netzes waren sogar einige Vögel zu erkennen. Unten hingen vor allem kleinere Affen, Schönhörnchen und andere Nagetiere. Viele von ihnen waren von den furchtbaren Bisswunden übersät. Einige waren bereits halb aufgefressen worden, andere waren anscheinend noch nicht lange gefangen. Sie wiesen noch keine Bisswunden auf und zappelten hin und wieder. Sie waren vermutlich am Ende ihrer Kräfte.
Eine der riesigen Spinnen kletterte aus der Dunkelheit von oben das Netz herab und machte sich daran, mit ihren Zangen ein Stück Fleisch aus dem Rücken eines jungen, noch lebendigen Orang-Utans. Der Affe bot seine letzten Kräfte auf, schrie heiser, zuckte, soweit es möglich war, mit allen Gliedmaßen. Doch dann, von einem Moment auf den anderen, erschlaffte sein Körper. Er war nicht tot. Seine Augen hörten auf, sich zu bewegen und sein Atem wurde ruhig. Die Spinne hatte ihre Fänge in der von ihr geschaffenen Wunde vergraben. Sie zog einen Brocken Haut- und Fettgewebe aus dem Körper des Affen und kletterte wieder nach oben.
Die drei Wissenschaftler hatten das Schauspiel gebannt verfolgt. Aaron verfällt an dieser Stelle seines Berichtes in einen Monolog über die grundlegende Grausamkeit der Natur, den ich hier nicht wiedergeben will. Auf vielfaches Bitten seiner Begleiter hin, erklärte Professor Gibson sich nun doch bereit, ins Lager zurückzukehren und die weitere Erforschung der Spinnen auf den nächsten Tag zu verschieben.
In der folgenden Woche gab es für die Expedition kein anderes Thema mehr. Professor Gibson trieb alle in einer Weise zur Arbeit an, die man als hysterisch beschreiben konnte. Es gelang, mehrere Exemplare der Spinnen gefangen zu nehmen, da diese offenbar Respekt vor den ihnen noch unbekannten Menschen hatten. Gibson stellte bei seinen weiteren Untersuchungen des Spinnennetzes fest, dass diese ein unvorstellbar großes Areal des Waldes überziehen mussten. Ein weiteres Vordringen ins innere dieses ungeheuren Netzwerkes, dass den Spinnen offenbar gleichermaßen als Nahrungsquelle wie als Schutzwall diente, war mit den beschränkten technischen Möglichkeiten der Expedition undenkbar. Einen wissenschaftlichen Namen hatte der Professor der neuen Art mit dem Recht des Entdeckers mittlerweile auch verliehen. Er nannte sie Arachnia imperatoris, die Imperatorspinne.
Gibsons Besessenheit von diesen Kreaturen fiel Aaron und einigen seiner Kollegen, darunter vor allem Rawland, besonders auf. Der hagere, alte Mann schlief von Nacht zu Nacht weniger und verließ das Laborzelt nur noch, wenn es darum ging, neue Proben zu sammeln oder zu Essen. Er tötete einige der gefangen Spinnen, untersuchte die Zusammensetzung ihres Giftes. Er kam zu keinem Ergebnis. Das und andere Rückschläge, machten ihn rasend. Aaron schrieb von mehreren, schlimmen Wutausbrüchen, die die Stimmung im Lager an den Rand einer Meuterei trieben.
Anfang März schien dies schon fast unausweichlich, als Gibson urplötzlich ankündigte, man werde die Zelte am nächsten Tag abbrechen und nach Bendjermasin zurückkehren, wo die Yorkshire nach wie vor Anker lag. Er hätte alle Informationen über diese neue Spinnenart gesammelt, die er mit seinen hiesigen Mitteln in Erfahrung bringen konnte. Der nächste Schritt sei die Rückkehr nach Hause, um die wissenschaftliche Arbeit dort unter besseren Bedingungen fortzusetzen. So erfolgte der mehrtägige Marsch auf jene große Hafenstadt im Süden Borneos. Die gesamte Gruppe zeigte sich erleichtert, als man in der ersten Nacht nach dem Aufbruch wieder das beständige Summen aller möglichen Insektenarten wahrnehmen konnte und zahlreiche Vögel und andere Tiere sich bemerkbar machten. Es war, als wären sie aus dem Reich der Toten in jenes der Lebenden zurückgekehrt.
Die Aufgabe, die Imperatorspinnen während der Rückreise aus dem Dschungel zu transportieren und zu versorgen, war zwei Wissenschaftlern Anfang dreißig zugefallen, von denen Aaron nur den einen, Dr. William Crenshaw namentlich nannte. Sie stellten sich im Umgang mit den Tieren sehr ungeschickt an und keiner konnte es ihnen verdenken. Jedes mal, wenn sie einen ihrer zwanzig Zentimeter großen Schützlinge zu Gesicht bekamen, konnten sie ein kurzes Zucken nicht verhindern. Der Anblick war einfach zu unwirklich und erschreckend. Und William Crenshaw war es auch, der am Ende das einzige Todesopfer darstellte, dass die Expedition in den Dschungel Borneos forderte. Doch er kam auf so eigentümliche Weise ums Leben, dass Aaron selbst anzweifelte, ob dies wirklich geschehen war.
Es war der 6. März 1940, drei Tage vor ihrer Ankunft in Benderjermasin. Dr. Crenshaw und sein Kollege, die die Kiste mit dem Dutzend Spinnen auf einem Handwagen transportierten, der im unwegsamen Gelände des Dschungels natürlich nur schwer vorankam, machten sich gegen Abend daran, die Biester zu füttern. Dazu hob Crenshaw, mittlerweile routiniert, den Deckel der Kiste an und ließ mehrere Brocken Fleisch hinein fallen, als völlig unerwartet eine der Spinnen in die Höhe schnellte und sich in seinem Handgelenk verbiss. Seine Schreie müssen kilometerweit zu hören gewesen sein. Seine Kollegen, darunter Aaron, waren natürlich sofort zur Stelle, rissen die Spinne, die sich am wild umher rudernden Arm des schreienden Mannes festgeklammert hatte, herunter und zertraten sie auf dem Boden. Damit war es aber nicht getan. Beim Verbinden der Wunde wurde klar, dass die Spinne ihm etwas von ihrem Sekret eingeflößt hatte.
Die freudige Stimmung über die Heimkehr war an diesem Abend getrübt, denn keiner konnte ahnen, welche Auswirkungen das auf den Körper des Wissenschaftlers haben würde. Crenshaw selbst war verständlicherweise angespannt. Er hatte die Überreste der Tiere gesehen, die ebenfalls von den Spinnen gebissen worden waren. Doch abgesehen von einem leichten Schwindelgefühl, dass aber auch auf den Blutverlust zurückgeführt werden konnte, waren zunächst keine negativen Auswirkungen feststellbar. In dieser Nacht aber, so berichtete Aaron weiter habe, der Verletzte begonnen, im Schlaf zu sprechen. Sogar recht deutlich und artikuliert, was bei einer derartigen Angelegenheit eher untypisch ist. „Nodos, Nodos. Nodos im Herzen, Nodos überall. Nodos, Nodos“, skandierte er in einem leeren, irgendwie entrückt klingenden Tonfall, immer und immer wieder. Die Spinnen in ihrer Kiste, die man vorsorglich noch besser verriegelt hatte, begannen zu rumoren und schlugen gegen die Innenseiten. Das Schlagen und Poltern weckte unangenehme Vorstellungen von Holz, dass der Gewalt nicht mehr widerstand, von Wänden, die Zebrachen und Kisten, die ihren tödlichen Inhalt freigaben.
Nach einiger Zeit, in der Aaron nur gebannt gelauscht hatte, begann Crenshaws Stimme holpriger zu werden. Er atmete schwer und seine Stimme ließ nun ein Gefühl des Ekels vernehmen. Es war, als wären diese Worte, die er da sprach, etwas widerliches, dass man mit aller Mühe aus sich herauszuwürgen versuchte. Das Getöse aus der Kiste erreichte einen vorläufigen Höhepunkt, als Crenshaws Worte sich in einem gequälten Jaulen auflösten und er sich vor Ekel und Angst wild schüttelte. „Nodos, Nodos!“, schrie er noch einmal voller Qual auf, bevor in sich zusammensank. Die Spinnen verhielten sich kurz darauf wieder ruhig. Aaron rief den Arzt aus dem Schlaf, doch dieser konnte, nachdem er den vor Schweiß triefend nassen Körper untersucht hatte, nur den Tod durch einen Herzinfarkt feststellen. Was das rätselhafte Wort Nodos zu bedeuten hatte, wusste niemand zu sagen. Dass einer von ihnen gestorben war, nachdem man den Hauptteil der Reise so gut überstanden hatte, drückte weiter auf das Gemüt der Gruppe, doch man erreichte am 9. März 1940 planmäßig das Ziel. In Bendjermasin erfuhr die Gruppe zum ersten Mal von dem Krieg, der seit einem halben Jahr tobte. Aaron, Rawland und einige andere, die sich im wehrfähigen Alter befanden, beschlossen, sich bei ihrer Rückkehr nach Hause sofort zum Dienst zu melden. Dann wurden die Kisten, die mehrere hundert Pflanzen- und Gesteinsproben enthielten und natürlich die mit den Spinnen auf die Yorkshire geladen und diese lief am 11. März mit Kurs auf Java aus. Im dortigen Batavia angekommen, wurden Vorräte an Bord genommen und Aaron hatte die Gelegenheit, mir diesen Brief zu schicken. Er kündigte an, mir vom nächsten Zwischenstopp auf Mauritius eine weitere Nachricht zu schicken.
Ich las den gesamten Brief mehrfach und immer wieder lief mir bei die Beschreibung der furchtbaren Kreaturen, dieser Imperatorspinnen, wie Gibson sie genannt hatte, ein eisiger Schauer durch den ganzen Körper. Die Tatsache, dass derartige Kreaturen wirklich existierten, war erschütternd und niederschmetternd. Sie bewies wieder einmal, wie wenig wir doch über die Erde wissen, obwohl wir uns einbilden, sie zu kennen und wie viele Geheimnisse sie noch vor uns verborgen hält.
Zu meiner Überraschung war das nächste, was ich von Aaron erfuhr jedoch ein weiterer Brief von ihm, sondern ein Artikel, der in der folgenden Woche in der Sun erschien. Es war nur eine vergleichsweise kleine Randnotiz, aber der Inhalt dieser Nachricht änderte mein Leben für immer. Sie berichtete, wie die Yorkshire, durch einen Sturm beschädigt, in Port Louis auf Mauritius einlief und vom Tod zweier Mitglieder der Expedition. Wie Professor Gibson verlauten ließ, hätten sich beide während des Sturms an Deck befunden, um eine undichte Luke zu versiegeln, als das Schiff von einer schweren Welle überspült worden war und beide Männer über Bord gerissen wurden. Für mich brach eine Welt zusammen, als mein Auge die Namen der Vermissten erfasste. Sie hießen Adrian Rawland und Dr. Aaron Broadwood.
Ich wurde durch meinen mittlerweile verstorbenen Freund Dr. Aaron Broadwood in diese beunruhigende Angelegenheit verwickelt. Aaron und ich waren seit unserer Studienzeit eng befreundet gewesen. Danach schlugen wir allerdings so unterschiedliche Wege ein, dass wir uns kaum noch zu Gesicht bekamen. Während ich mich in London niederließ, um mein Lehramt zu beginnen, erlaubte ihm sein großzügiges Erbe ohne wirklichen Beruf zu leben und er beteiligte sich oft an wissenschaftlichen Expeditionen in alle Erdteile. Manchmal beneidete ich ihn um diese abenteuerlichen Reisen in die Ferne, die ihn schon auf die Philippinen, ins Herz Afrikas und nach Südamerika geführt hatten.
Während seiner monate-, manchmal jahrelangen Abwesenheit blieben wir nur durch beständigen Briefverkehr in Kontakt. Seine letzte Expedition hatte ihn als Teil eines britisch-amerikanischen Forschungsteams nach Borneo geführt. Drei Tage bevor sein Schiff, die Yorkshire am 7. Juli 1939 in Southampton ablegte, war er nach langer Zeit wieder einmal bei mir zu Besuch. Doch er kam nicht allein. Er brachte den Leiter der Expedition mit, Professor Gibson. Der Professor war ein etwas beleibter Mann um die sechzig, mit einem weißen, weit zurückgegangen Haaransatz. Wenn er lächelte, was er an jenem Nachmittag selten tat und wenn ich ihn bei späteren Gelegenheiten sah, gar nicht mehr, dann entblößte er seine gelben, zerfurchten Pferdezähne. Abgesehen von seinem nicht gerade angenehmen Äußeren und seiner eher mürrischen Stimmung, war es aber ein Genuss mit ihm über die Ziele der Expedition zu diskutieren. So saßen wir an jenem Sommertag stundenlang auf der Terrasse meines kleinen Hauses und ahnten wenig von den katastrophalen Ereignissen, die sich nur allzu bald auf dem Kontinent abspielen würden.
Die Yorkshire legte planmäßig ab und wie schon so oft schickte Aaron mir von jeder Zwischenstation auf ihrer Reise einen Brief. Ende August erreichte mich schließlich eine Nachricht aus Niederländisch-Indien, in der er berichtete, das Schiff hätte in Borneo angelegt und die Expedition mache sich jetzt in den tiefsten, unberührten Dschungel auf. Dies sollte der letzte Brief sein, den ich für lange Zeit von meinem guten Freund erhielt. Kurz darauf brach der Krieg in Europa aus. Dass Deutschland es tatsächlich wieder wagte, einen Konflikt vom Zaun zu brechen, stimmte mich fassungslos. Mein Vater war im Großen Krieg an der Somme umgekommen und dieser Schock aus der Kindheit saß tief. Mit der Zeit vergaß ich Aaron völlig.
Umso überraschter war ich, als ich Mitte 1940 einen Brief erhielt, der in Batavia abgestempelt war. Aaron Broadwood berichtete, dass die Expedition erst vor kurzem von den Vorgängen in Europa erfahren habe. Alle wären geschockt. Einstimmig hätte man beschlossen, die Heimreise anzutreten, um König und Vaterland zu unterstützen. Der Brief war sehr umfangreich, mehrere Seiten, beschrieben in Aarons großer, schnörkeliger Handschrift. Er gab routiniert eine knappe Beschreibung des Ablaufs der Expedition und vor allem ihrer Entdeckungen. Ich schäme mich ein wenig dafür, dass der Bericht, den ich im Folgenden zusammenfasse mich mehr schockierte, als die Zahl der Toten, die die letzte Bombardierung gefordert hatte. Ich besitze diesen Brief leider nicht mehr und kann den genauen Wortlaut daher nicht wiedergeben. Ich werde aber so gut es geht seinen Inhalt beschreiben.
Die ersten Monate verliefen vergleichsweise normal und der wissenschaftliche Wert der Ergebnisse hielt sich in engen Grenzen. Dem Zeitraum September 1939 bis Februar 1940 schenkte Aaron wenig Aufmerksamkeit. Den weitaus größten Anteil an seinem Bericht hatten die Ereignisse, die sich Ende Februar ereignet hatten.
Die Gruppe unter Professor Gibson gelangte am 25. Februar 1940 in eine Region des Urwaldes, die ihnen seltsam erschien. Zunächst konnte keiner von ihnen objektiv erkennen, was dieses unangenehme Gefühl verursachte, dass sie beschlich, wenn sie ans Weitergehen dachten. Es war so, als läge der Grund dafür genau vor ihrer Nase, aber ihr Blick ginge ganz knapp daran vorbei. Einer der Studenten, für die diese Reise eine ungeheure Ehre bedeutete, sprach schließlich aus, was keiner hatte formulieren können. Es gab in der ganzen Umgebung kein einziges lebendiges Tier. Hier und da lag eine tote Echse oder anderes Kleintier im Gestrüpp, aber nicht einmal die Insekten, die sie begleitet hatten, seit sie den Wald betreten hatten und die Aaron in so vielen Nächten mit ihrem penetranten Summen den Schlaf geraubt hatten, waren zu hören. Als sie verunsichert ihren Marsch fortsetzten und sich dabei dem immer dichter werdenden Pflanzenwerk erwehren mussten, machten sie eine noch schrecklichere Entdeckung. Dort lag an einer Stelle ein Nasenaffe, sein Fell verklebt vom eigenen Blut. Er musste hier seit mehreren Tagen liegen, doch bislang hatte der süßliche Geruch seines verwesenden Körpers noch keine Fliegen angezogen. Zwei tiefe, längliche Wunden klafften im Schädel und auf der linken Brustseite. Es sah so aus, als habe der Angreifer an diesen Stellen zunächst die Haut zusammengedrückt und die entstandene Beule mit ungeheurer Kraft herausgerissen. Die Wunden waren an die zehn Zentimeter lang und am Rand mit einem seltsamen, transparenten Schleim verklebt. Keiner konnte sich erklären, welches Tier dazu imstande war oder welcher Mensch derartig handeln würde.
Professor Gibson war vom Anblick der toten Affen besonders angewidert, aber auch fasziniert. Er bestimmte, dass die Gruppe an dieser Stelle ihr Lager aufschlagen werde, um das Tier in der Nacht genauer zu untersuchen. Unter den Männer machte sich Unmut breit. Die unglaubliche Stille in diesem Bereich des Waldes wirkte erdrückend und der Gedanke, was der Grund für diese Stille war, noch viel erdrückender. Die Abwesenheit jeder Art von tierischen Lebens verhieß nichts gutes.
Man stellte die Zelte auf und Gibson und zwei weitere Studenten machten sich daran, den Nasenaffen zu sezieren. Aaron, der für die erste Wache eingeteilt worden war, fürchtete sich vor der absoluten Stille der Nacht, die ihm noch drückender erschien als die ständige Geräuschkulisse, an die er sich mittlerweile gewöhnt hatte. Zu gern wäre er einige Kilometer nach Süden zurückgegangen, wo die Welt noch in Ordnung war. Die dichten, riesigen Bäume, denen er sich gegenüber sah, hinter denen die Finsternis immer undurchdringlicher wurde und die weit ausladenden Äste über ihm, die nur wenige Mondstrahlen hindurch ließen, vermittelten ihm das Gefühl, hier gefangen zu sein. Und manchmal, wenn er gerade begonnen hatte, sich gedanklich von diesem Ort zu entfernen, gab es eben doch Dinge zu hören. Es waren nur sehr leise Knackgeräusche, ein kurzes, hastiges Rascheln in den Bäumen über ihm und im Gestrüpp am Boden neben ihm. Ein huschender, trippelnder Schatten, den er nur aus dem Augenwinkel wahrnahm.
Bis auf den Professor und seine Gehilfen, hatten sich mittlerweile alle schlafen gelegt. Er hielt es nicht für nötig, sie zu wecken, doch der Gedanke, herauszufinden, welche Tierart hier überlebt haben mochte, ließ ihn nicht in Ruhe. Gegen Mitternacht rief einer der Studenten ihn in das zu einem provisorischen Labor umfunktionierte Zelt Professor Gibsons. Eine schwache Glühbirne spendete flackerndes Licht und erlaubte den Blick auf den ausklappbaren Metalltisch in der Mitte. Darauf lagen die blutigen Überreste des Nasenaffen, zudem einige Gefäße, in denen offensichtlich Proben seiner Körperflüssigkeiten aufbewahrt wurden. Da Aaron hohe Kenntnisse auf dem Gebiet der Biochemie besaß, wollte Professor Gibson ihm unbedingt seine Ergebnisse mitteilen. Bei der Untersuchung des Blutes, dass natürlich längst vertrocknet war, war es gelungen, eine unbekannte Substanz herauszufiltern. Sie war identisch mit jenem schleimigen Sekret, dass man am Rand der Wunden gefunden hatte. Ihre Herkunft war unbekannt. Zum Erstaunen aller Beteiligten war aber weder diese Substanz, die völlig ungiftig erschien, noch der Blutverlust die Todesursache gewesen. Der Affe war schlichtweg verdurstet. Die Autopsie hatte gezeigt, dass zahlreiche wichtige Muskelstränge zerrissen waren. Professor Gibson vermutete, dass dem ein spastischer Anfall von unglaublicher Heftigkeit vorangegangen sein musste. Der Affe hatte sich nicht mehr bewegen und keine Nahrung mehr finden können. Aaron gefielen die toten, vor Angst geweiteten Augen des Tieres nicht. Zu sehr erinnerte der Ausdruck ihn an den eines in Panik schreienden Menschen.
Mein Freund ließ sich die kleinen Reagenzgläser mit den Proben des Sekrets zeigen, musste aber zugeben, das er ratlos war. Die Herkunft und die genaue Wirkung dieser Substanz blieben im Dunkeln. Aaron erzählte derweil seinerseits von seinen Erlebnissen vor dem Zelt und von den Geräuschen, die er gehört hatte. Gibson war sehr interessiert, und so beschlossen sie und einer der Studenten, ein junger Amerikaner namens Rawland, sich sogleich in den Wald aufzumachen und die Verursacher der verdächtigen, beunruhigen Klänge zu finden.
Aaron beschrieb diese Wanderung durch das dichte, finstere Unterholz dieser Insel, die ihre schweißtreibenden, tropischen Temperaturen auch nachts aufrecht erhält, als eines der schrecklichsten Erlebnisse seines Leben. Wiederum lag das hauptsächlich an der absoluten Stille, die sie umgab. Abgesehen von jenen, die sie selber verursachten, war kein anderer Laut zu hören. Bestürzende Fragen beschlichen ihn. Unter anderem die, wohin die vielen Tausend Tiere verschwunden waren, die dieses Gebiet bewohnt hatten mussten. Selbst wenn sie auf die selbe Weise getötet worden waren, wie der gefundene Nasenaffe oder die Echsen, wo waren dann ihre Leichen? Wo war überhaupt irgendeine Spur tierischen Lebens?
Ihre Taschenlampen erhellten den von ineinander verzweigten Wurzeln übersäten Weg vor ihnen und trotzdem wären sie zwischen den dicht beieinander stehenden Bäumen mehrfach fast gestürzt. Nach einigen Minuten begann sich ein unangenehmer Geruch von Verwesung breit zu machen. Der Gestank vergammelnden Fleisches ließ die Luft zwischen den Bäumen dick werden und quälte die Nasen meines Freundes und seiner Begleiter. Professor Gibson flüsterte immer wieder zusammenhanglose Sätze, mehr zu sich selbst als zu den anderen. Laut zu denken war eine Angewohnheit, die er immer zeigte, wenn er aufgeregt war. Dem Studenten Rawland ließ der Gestank die Augen tränen. In diesem Moment begann Aaron wieder die Geräusche zu hören, aber lauter und zahlreicher als zuvor im Lager. Er schwenkte die Lampe hastig in alle Richtungen. Er bedeutete seinen Begleitern, still zu sein. Ein langes Knistern und Rascheln in den Baumkronen. Aaron suchte die Wipfel über sich mit konzentrierten Blicken ab. Plötzlich stieß er einen überraschten Laut aus. Er hatte sich erschrocken und ließ seine Taschenlampe fallen. Die tropische Hitze und der Verwesungsgeruch ließen ihn schwindeln, aber er war sich ziemlich sicher für einen Augenblick am Stamm eines nahen Baumes hängend, irgendein Tier gesehen zu haben.
Während Aaron sich bückte, um seine Lampe wieder aufzuheben, beleuchtete Rawland mit der seinen die entsprechende Stelle. Er und der Professor waren nicht weniger überrascht, vielmehr entsetzt von dem, was sie sahen. Eine Art von Tier, die es nicht geben durfte. Am Stamm des Baumes hing eine etwa zwanzig Zentimeter breite und fünfundzwanzig Zentimeter lange Spinne von braun-schwarzer Farbe. An ihrem Kopf saßen acht kleine, glänzende Augen und ein Paar überproportional große Mundwerkzeuge. Der Anblick dieses unnatürlich großen Spinnentiers raubte allen Anwesenden den Atem und mir lief, als ich Aarons Beschreibung in seinem Brief las, ein kalter Schauer über den Rücken, der mich den warmen Frühlingstag vergessen ließ.
Randolph Gibson fing sich als erster. In ihm war der Forschergeist sofort erwacht. Der Gedanke daran, eine neuartige, derart revolutionär abweichende Spinnenart zu entdecken, gefiel ihm. Rawland, der noch jung und unerfahren war, reagierte entsetzt angesichts dieser Abnormität und auch Aaron selbst konnte nicht leugnen, dass ihm dieses Wesen unbehaglich war. Während Gibson sich langsam dem Baum näherte, um die Spinne genauer anzusehen, raste diese plötzlich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit am Stamm hinauf und verschwand in der undurchdringlichen Finsternis der Äste.
Entgegen der Einwände von Rawland und Aaron entschied Gibson, weiter zu gehen, in der Hoffnung, weitere Exemplare dieser unbekannten Gattung zu entdecken. In Aarons Kopf jagten derweil die schrecklichsten Gedanken und Ideen einander. Die Mundwerkzeuge, die Zangen dieser Spinnen erinnert ihn in schrecklicher Weise an die Abdrücke, die die Wunden der gefundenen Leichen umgaben.
Während sie weitergingen, nahm der Geruch von Tod und Zersetzung immer mehr zu. Sie näherten sich seiner unbekannten Quelle. Zunächst vereinzelt, dann immer häufiger und schließlich sogar in kleinen Gruppen von drei bis fünf Exemplaren, zeigten sich die Spinnen auf dem Boden und in den Bäumen. Sie ergriffen schnell die Flucht, sodass eine genau Beobachtung nicht möglich war, aber Aaron erschauderte jedes Mal, wenn er eins dieser monströsen Wesen zu Gesicht bekam. Nachdem sie noch eine Weile lang weiter marschiert waren – Aaron drückte sich in diesem Punkt sehr ungenau aus – war es diesmal Gibson selbst, der die nächste Entdeckung machte. Zwischen mehreren Bäumen vor ihnen spannte sich ein riesiges Netz, dass vom Boden bis in die höchsten Wipfel reichte. Es war sehr engmaschig gesponnen und mutete in seiner Symmetrie und fast künstlerischen Ausführung wie ein tödliches Mosaik an. Jeder der weißlichen Fäden war in etwa so dick wie ein Zeigefinger. Das erschütterndste aber war nicht das Netz selbst, sondern dass, was sich in ihm verfangen hatte. Die Quelle des Verwesungsgeruchs. Dutzende kleinerer und größerer Tiere hatten sich in dieser klebrigen Falle verfangen. An den höchsten Stellen des Netzes waren sogar einige Vögel zu erkennen. Unten hingen vor allem kleinere Affen, Schönhörnchen und andere Nagetiere. Viele von ihnen waren von den furchtbaren Bisswunden übersät. Einige waren bereits halb aufgefressen worden, andere waren anscheinend noch nicht lange gefangen. Sie wiesen noch keine Bisswunden auf und zappelten hin und wieder. Sie waren vermutlich am Ende ihrer Kräfte.
Eine der riesigen Spinnen kletterte aus der Dunkelheit von oben das Netz herab und machte sich daran, mit ihren Zangen ein Stück Fleisch aus dem Rücken eines jungen, noch lebendigen Orang-Utans. Der Affe bot seine letzten Kräfte auf, schrie heiser, zuckte, soweit es möglich war, mit allen Gliedmaßen. Doch dann, von einem Moment auf den anderen, erschlaffte sein Körper. Er war nicht tot. Seine Augen hörten auf, sich zu bewegen und sein Atem wurde ruhig. Die Spinne hatte ihre Fänge in der von ihr geschaffenen Wunde vergraben. Sie zog einen Brocken Haut- und Fettgewebe aus dem Körper des Affen und kletterte wieder nach oben.
Die drei Wissenschaftler hatten das Schauspiel gebannt verfolgt. Aaron verfällt an dieser Stelle seines Berichtes in einen Monolog über die grundlegende Grausamkeit der Natur, den ich hier nicht wiedergeben will. Auf vielfaches Bitten seiner Begleiter hin, erklärte Professor Gibson sich nun doch bereit, ins Lager zurückzukehren und die weitere Erforschung der Spinnen auf den nächsten Tag zu verschieben.
In der folgenden Woche gab es für die Expedition kein anderes Thema mehr. Professor Gibson trieb alle in einer Weise zur Arbeit an, die man als hysterisch beschreiben konnte. Es gelang, mehrere Exemplare der Spinnen gefangen zu nehmen, da diese offenbar Respekt vor den ihnen noch unbekannten Menschen hatten. Gibson stellte bei seinen weiteren Untersuchungen des Spinnennetzes fest, dass diese ein unvorstellbar großes Areal des Waldes überziehen mussten. Ein weiteres Vordringen ins innere dieses ungeheuren Netzwerkes, dass den Spinnen offenbar gleichermaßen als Nahrungsquelle wie als Schutzwall diente, war mit den beschränkten technischen Möglichkeiten der Expedition undenkbar. Einen wissenschaftlichen Namen hatte der Professor der neuen Art mit dem Recht des Entdeckers mittlerweile auch verliehen. Er nannte sie Arachnia imperatoris, die Imperatorspinne.
Gibsons Besessenheit von diesen Kreaturen fiel Aaron und einigen seiner Kollegen, darunter vor allem Rawland, besonders auf. Der hagere, alte Mann schlief von Nacht zu Nacht weniger und verließ das Laborzelt nur noch, wenn es darum ging, neue Proben zu sammeln oder zu Essen. Er tötete einige der gefangen Spinnen, untersuchte die Zusammensetzung ihres Giftes. Er kam zu keinem Ergebnis. Das und andere Rückschläge, machten ihn rasend. Aaron schrieb von mehreren, schlimmen Wutausbrüchen, die die Stimmung im Lager an den Rand einer Meuterei trieben.
Anfang März schien dies schon fast unausweichlich, als Gibson urplötzlich ankündigte, man werde die Zelte am nächsten Tag abbrechen und nach Bendjermasin zurückkehren, wo die Yorkshire nach wie vor Anker lag. Er hätte alle Informationen über diese neue Spinnenart gesammelt, die er mit seinen hiesigen Mitteln in Erfahrung bringen konnte. Der nächste Schritt sei die Rückkehr nach Hause, um die wissenschaftliche Arbeit dort unter besseren Bedingungen fortzusetzen. So erfolgte der mehrtägige Marsch auf jene große Hafenstadt im Süden Borneos. Die gesamte Gruppe zeigte sich erleichtert, als man in der ersten Nacht nach dem Aufbruch wieder das beständige Summen aller möglichen Insektenarten wahrnehmen konnte und zahlreiche Vögel und andere Tiere sich bemerkbar machten. Es war, als wären sie aus dem Reich der Toten in jenes der Lebenden zurückgekehrt.
Die Aufgabe, die Imperatorspinnen während der Rückreise aus dem Dschungel zu transportieren und zu versorgen, war zwei Wissenschaftlern Anfang dreißig zugefallen, von denen Aaron nur den einen, Dr. William Crenshaw namentlich nannte. Sie stellten sich im Umgang mit den Tieren sehr ungeschickt an und keiner konnte es ihnen verdenken. Jedes mal, wenn sie einen ihrer zwanzig Zentimeter großen Schützlinge zu Gesicht bekamen, konnten sie ein kurzes Zucken nicht verhindern. Der Anblick war einfach zu unwirklich und erschreckend. Und William Crenshaw war es auch, der am Ende das einzige Todesopfer darstellte, dass die Expedition in den Dschungel Borneos forderte. Doch er kam auf so eigentümliche Weise ums Leben, dass Aaron selbst anzweifelte, ob dies wirklich geschehen war.
Es war der 6. März 1940, drei Tage vor ihrer Ankunft in Benderjermasin. Dr. Crenshaw und sein Kollege, die die Kiste mit dem Dutzend Spinnen auf einem Handwagen transportierten, der im unwegsamen Gelände des Dschungels natürlich nur schwer vorankam, machten sich gegen Abend daran, die Biester zu füttern. Dazu hob Crenshaw, mittlerweile routiniert, den Deckel der Kiste an und ließ mehrere Brocken Fleisch hinein fallen, als völlig unerwartet eine der Spinnen in die Höhe schnellte und sich in seinem Handgelenk verbiss. Seine Schreie müssen kilometerweit zu hören gewesen sein. Seine Kollegen, darunter Aaron, waren natürlich sofort zur Stelle, rissen die Spinne, die sich am wild umher rudernden Arm des schreienden Mannes festgeklammert hatte, herunter und zertraten sie auf dem Boden. Damit war es aber nicht getan. Beim Verbinden der Wunde wurde klar, dass die Spinne ihm etwas von ihrem Sekret eingeflößt hatte.
Die freudige Stimmung über die Heimkehr war an diesem Abend getrübt, denn keiner konnte ahnen, welche Auswirkungen das auf den Körper des Wissenschaftlers haben würde. Crenshaw selbst war verständlicherweise angespannt. Er hatte die Überreste der Tiere gesehen, die ebenfalls von den Spinnen gebissen worden waren. Doch abgesehen von einem leichten Schwindelgefühl, dass aber auch auf den Blutverlust zurückgeführt werden konnte, waren zunächst keine negativen Auswirkungen feststellbar. In dieser Nacht aber, so berichtete Aaron weiter habe, der Verletzte begonnen, im Schlaf zu sprechen. Sogar recht deutlich und artikuliert, was bei einer derartigen Angelegenheit eher untypisch ist. „Nodos, Nodos. Nodos im Herzen, Nodos überall. Nodos, Nodos“, skandierte er in einem leeren, irgendwie entrückt klingenden Tonfall, immer und immer wieder. Die Spinnen in ihrer Kiste, die man vorsorglich noch besser verriegelt hatte, begannen zu rumoren und schlugen gegen die Innenseiten. Das Schlagen und Poltern weckte unangenehme Vorstellungen von Holz, dass der Gewalt nicht mehr widerstand, von Wänden, die Zebrachen und Kisten, die ihren tödlichen Inhalt freigaben.
Nach einiger Zeit, in der Aaron nur gebannt gelauscht hatte, begann Crenshaws Stimme holpriger zu werden. Er atmete schwer und seine Stimme ließ nun ein Gefühl des Ekels vernehmen. Es war, als wären diese Worte, die er da sprach, etwas widerliches, dass man mit aller Mühe aus sich herauszuwürgen versuchte. Das Getöse aus der Kiste erreichte einen vorläufigen Höhepunkt, als Crenshaws Worte sich in einem gequälten Jaulen auflösten und er sich vor Ekel und Angst wild schüttelte. „Nodos, Nodos!“, schrie er noch einmal voller Qual auf, bevor in sich zusammensank. Die Spinnen verhielten sich kurz darauf wieder ruhig. Aaron rief den Arzt aus dem Schlaf, doch dieser konnte, nachdem er den vor Schweiß triefend nassen Körper untersucht hatte, nur den Tod durch einen Herzinfarkt feststellen. Was das rätselhafte Wort Nodos zu bedeuten hatte, wusste niemand zu sagen. Dass einer von ihnen gestorben war, nachdem man den Hauptteil der Reise so gut überstanden hatte, drückte weiter auf das Gemüt der Gruppe, doch man erreichte am 9. März 1940 planmäßig das Ziel. In Bendjermasin erfuhr die Gruppe zum ersten Mal von dem Krieg, der seit einem halben Jahr tobte. Aaron, Rawland und einige andere, die sich im wehrfähigen Alter befanden, beschlossen, sich bei ihrer Rückkehr nach Hause sofort zum Dienst zu melden. Dann wurden die Kisten, die mehrere hundert Pflanzen- und Gesteinsproben enthielten und natürlich die mit den Spinnen auf die Yorkshire geladen und diese lief am 11. März mit Kurs auf Java aus. Im dortigen Batavia angekommen, wurden Vorräte an Bord genommen und Aaron hatte die Gelegenheit, mir diesen Brief zu schicken. Er kündigte an, mir vom nächsten Zwischenstopp auf Mauritius eine weitere Nachricht zu schicken.
Ich las den gesamten Brief mehrfach und immer wieder lief mir bei die Beschreibung der furchtbaren Kreaturen, dieser Imperatorspinnen, wie Gibson sie genannt hatte, ein eisiger Schauer durch den ganzen Körper. Die Tatsache, dass derartige Kreaturen wirklich existierten, war erschütternd und niederschmetternd. Sie bewies wieder einmal, wie wenig wir doch über die Erde wissen, obwohl wir uns einbilden, sie zu kennen und wie viele Geheimnisse sie noch vor uns verborgen hält.
Zu meiner Überraschung war das nächste, was ich von Aaron erfuhr jedoch ein weiterer Brief von ihm, sondern ein Artikel, der in der folgenden Woche in der Sun erschien. Es war nur eine vergleichsweise kleine Randnotiz, aber der Inhalt dieser Nachricht änderte mein Leben für immer. Sie berichtete, wie die Yorkshire, durch einen Sturm beschädigt, in Port Louis auf Mauritius einlief und vom Tod zweier Mitglieder der Expedition. Wie Professor Gibson verlauten ließ, hätten sich beide während des Sturms an Deck befunden, um eine undichte Luke zu versiegeln, als das Schiff von einer schweren Welle überspült worden war und beide Männer über Bord gerissen wurden. Für mich brach eine Welt zusammen, als mein Auge die Namen der Vermissten erfasste. Sie hießen Adrian Rawland und Dr. Aaron Broadwood.