Tekkai
von Ace Kaiser
Kurzbeschreibung
(Der Autor hat keine Kurzbeschreibung zu dieser Geschichte verfasst.)
GeschichteFantasy / P12 / Gen
17.03.2015
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Die kleine Taverne lag am Rande von Darshu, einem der fünf Fürstentümer des unabhängigen Königreichs Logdov. Damit lag sie genau am Dreiländereck mit Darassu und Kemalan, den beiden größten Staaten in diesem Teil der Welt. Eines war sicher zu sagen: Die Männer aus Darshu wussten, dass die Darassuaner und die Kemalaner absolute Idioten waren. Komischerweise aber dachten das auch die Darassuaner über Kemalaner und Darshuaner. Und was die Kemalaner dachten, braucht nicht näher erörtert zu werden. Glücklicherweise hielten sich die Konflikte im Dreiländereck in Grenzen. Es gab nur alle vier bis fünf Jahre einen militärischen Überfall, Krieg zwischen Fürsten, oder den Anexxionsversuch von ein, zwei Grenzstädten, sodass berühmte Grenzstädte wie Alaturian so oft die Flagge wechselten, dass man behauptete, die entsprechenden Flaggen und die dazugehörigen Gouverneure würden sich schon freiwillig ablösen, je nachdem, wem die Armee gehörte, die die Übergabe der Stadt forderte. Ansonsten war die Gegend ruhig, weil genau hier vier wichtige Handelswege verliefen. Und Handel, da waren sich alle drei Länder einig, Handel war extrem wichtig und sollte so wenig wie irgend möglich gestört werden. Darum florierte die kleine Taverne auch. So wie der Rest der kleinen Stadt, die nur aus Tavernen, Gaststätten und Hotels zu bestehen schien.
Die Taverne hieß „Zum gebrochenen Rad“, weil vor Urzeiten mal ein waschechter König hier Radbruch an seinem Wagen erlitten und notgedrungen bis zum Ende der Reparatur in dieser Taverne gebechert hatte, bis der Arzt gekommen war. Sein Leibarzt, um genau zu sein, der verhinderte, dass besagter König sich zu Tode soff. Nun, für dieses Mal. Jedenfalls bezahlte der König mit einem Abdruck seines Siegelrings, der fortan das Logo der Kneipe wurde und Steuerfreiheit garantierte. Bis ein Nachfolger anders entschied. Hatte bisher aber keiner getan.
Jedenfalls war sie seither sowas wie die erste Adresse am Ort. Und sie verteidigte diesen Ruf erbittert. Das Geheimrezept dazu war eine Horde unerbittlicher Türsteher, die richtige Mischung aus populären Gästen, zwielichtigen Gästen, anerkannten und besungenen Helden, sowie einem Haufen weiterer Leute, die ordentlich Geld daließen, um mit ihrem Geld die Taverne zu finanzieren.
So war es auch nicht verwunderlich, dass der schwertbewehrte Hüne, der Einlass begehrte, von den Türstehern ohne zu zögern eingelassen wurde, roch er doch bereits von weitem nach „Held“. Nicht so vorteilhaft denkende Zeitgenossen hätten eher von „Schweiß, abgestanden, mehrere Tage alt, dazu Pferd – viiiiel Pferd“ gesprochen, aber es war nun mal das Zerbrochene Rad.
Als der Mann seinen Mantel löste, das Breitschwert samt Scheide von der Hüfte nahm und an einem Tisch Platz nahm, der sehr plötzlich sehr endgültig frei geworden war, ruhten bereits die meisten Augen auf ihm. Andere Helden versuchten ihn einzuordnen. Das zwielichtige Gesindel versuchte zu erkennen, ob er eine Gefahr für sie war, und der normale Gast erhoffte sich von ihm ein Ereignis. Irgendein Ereignis. Hauptsache nicht langweilig. Und die eine oder andere Frau, durchaus nicht nur Dirnen und Schankmaiden, betrachtete den Burschen mit dem Hintergedanken für die eigenen Möglichkeiten. Finanziell, materiell, sexuell, das Übliche eben. Aber, wie alle anderen, beobachteten sie erst einmal. Denn schlecht gelaunten Helden war man nicht gerne ausgeliefert, und bei diesem Burschen konnte mal nicht erkennen, was er war. Noch nicht.
„Bier.“ Das Wort stand im Raum. Es war gesprochen worden mit einer klaren Tenorstimme, die für das mächtige Kreuz des Mannes ein wenig zu hell wirkte. Sofort eilte eine Schankdame herbei und servierte ihm einen Krug vom Besten, was das Zerbrochene Rad hatte. Das war nicht besonders viel, zugegeben, aber zumindest war dieses hier nicht gepanscht.
„Brot.“ Auch dies wurde ihm gebracht, und diesmal zückte der Mann seine Börse, die gut gefüllt war, entnahm ihr einen Silberling und bezahlte damit. „Für den Abend. Der Rest ist für dich.“
Zwei Sätze am Stück, fehlerlos gesprochen und richtig betont. Die Menge hielt den Atem an. Einerseits, weil das Silberstück eine mehr als großzügige Bezahlung war, selbst wenn der Bursche ein Fass Bier auszutrinken gedachte, und andererseits, weil dieser Held ein Held von Bildung war. Hätte er hier und sofort angefangen, Papier und Schreibwerkzeug hervorzukramen, um seine Korrespondenz zu erledigen, die versammelte Abendgesellschaft hätte einen Kulturschock erlitten.
„Käse“, sagte er, diesmal wieder einsilbig und wortfaul. Auch das wurde ihm serviert, und mit einem Messer aus seinem Gürtel teilte er Brot und Käse, legte es aufeinander und begann bedächtig zu essen. Ohne laut zu schmatzen. Das konnte am alten Brot liegen, oder am viel zu scharfen, da überreifen Käse, da war es immer gut, vorsichtig zu kauen. Aber ohne zu schmatzen? Die Menge witterte einen handfesten Skandal. Hatten sie hier vielleicht einen Königssohn vor sich? Was nicht so ungewöhnlich war, wegen Handelsweg und so.
„Musik“, klang seine Stimme erneut auf. Als er das Geforderte nicht sofort bekam, griff er wieder nach seinem Beutel, zerrte einen Dieb, der gerade danach hatte greifen wollen, gleich mit hervor, griff hinein und warf den Spielleuten ein paar Kupferstücke zu. Kurz nachdem er dem wagemutigen Langfinger seine Faust aufs Nasenbein geschlagen hatte. Etwas knirschte, und es war sicher nicht die Faust.
Die Spielleute, Lauten und Trommeln, unterstützt von zwei Flöten, ehrlich gesagt die beste Combo im Ort und eigentlich ständig ausgebucht, nahm das Geld dankbar an und begann mit einem Klassiker: Was hat die Magd unterm Rock?
Der Hüne winkte ab, und die Spielleute verstummten, bevor die Menge mitgröhlen konnte. „Nicht das. Spielt „Königssohn, du Narr“.“
Dies ließ die Menge aufraunen. Majestätsbeleidigung. Wie überaus interessant. Ein Spottlied. Jeder kannte es, jeder mochte es – außer, du warst König. Deshalb war es verboten, außer in verschworenen Kreisen, oder wenn richtig gut dafür bezahlt wurde. Die Bezahlung des Hünen war wohl gut genug, denn die Combo setzte an und spielte das Lied. Und bereits beim ersten Takt war die Menge so richtig drin. Es war ein wirklich, wirklich populäres Lied.
Der Hüne indes trank das Bier in langen Zügen, orderte nach, aß Käse auf Brot mit vollen Backen – zum Entsetzen der Menge immer noch ohne jeden Schmatzlaut – und klopfte im Takt der Musik auf den Tisch. Es war offensichtlich, dass er sich über das Lied amüsierte. An der Stelle, an der der Königssohn vor den Drachen trat, ausgestattet mit dem teuren Mantel des Zauberers, der angeblich feuersicher machte, und auf die harte Tour lernen musste, dass er betrogen worden war, lachte er zufrieden auf und sang den Rest der Strophe mit. Und dies mit einer Stimme, für die mancher Minnesänger gerne gemordet hätte.
Dann verstummte die Musik, und erwartungsvolle Blicke richteten sich auf den Hünen. Was nun? Wie ging es weiter? Was hatte er noch zu bieten? Die Spannung stieg kontinuierlich an.
„Nein“, wehrte der Hüne ab, die Blicke spürend.
Stille, weiterhin.
„Nein!“, sagte er wesentlich bestimmter. „Spielt!“, rief er den Spielleuten zu, aber sie setzten nicht an.
„Uff“, machte er. „Na gut.“
Was zum Jubel der Anwesenden führte. Tische wurden verrückt, Stühle getragen, neues Bier serviert, und jeder bemühte sich, dem Helden so nahe wie möglich zu kommen, in der Erwartung, dass etwas Besonderes geschehen würde. Nur was würde er tun? Singen? Tanzen? Musizieren?
„Ich möchte eine Geschichte erzählen“, sagte er schließlich, als die ersten Händler schon versuchten, die Spannung im Raum einzufangen, einzutüten und zu verkaufen. „Eine Geschichte über einen Mann, der erst alles verlor, dann alles verlor und schließlich alles verlor.“
Aufgeregtes Raunen erklang. Geschichten, das war noch besser als das, was der Ausrufer einmal am Tag über das Geschehen in der Welt verkündete. Geschichten, das hatte was. Und gute Geschichten machten eine weite Runde. Aber selbst dem Dümmsten – in diesem Fall einem Schankknecht – war aufgefallen, dass an der Erzählung etwas nicht stimmen konnte. Wie konnte man dreimal alles verlieren? Indem man wieder hinzu verdiente und neu verlor? Er stellte diese Frage nicht. Stattdessen putzte er Steinkrüge und wartete auf die Antwort. Nun, vielleicht war er doch nicht der Dümmste im Raum...
„Meine Geschichte“, setzte der Tenor-Mann an, „handelt von Ramil, einem Königssohn, der glaubte, ein besonders kluger Kopf zu sein. Der meinte, selbstlos und aufopfernd handeln zu können, so er musste. Und er musste oft genug. Und dann war er doch nur ein kleiner, dummer Egoist.“
Das brachte die Menge zum Lachen. Denn Abkömmlinge von hoher Geburt, die den Anforderungen nicht gewachsen waren, brachten immer Häme, immer einen Grund zum Lachen.
„Besagter Ramil war als Prinz geboren und wurde als Prinz erzogen. Er war der Zweite nach der Geburt, aber da er sich gut machte und sein älterer Bruder ein gewaltverliebter Hitzkopf mit der Geduldsspanne eines einsamen Hengstes in einer rossigen Stutenherde war, hielt sein Vater es für eine gute Idee, ihn zu seinem Nachfolger zu machen.“
Eine Hand schoss in die Höhe. „Was ist eine Geduldsspanne?“
Die Menge lachte. Nun, zumindest jene, die wussten, oder zumindest ahnten, was das schwere Wort bedeutete. Wurde schon erwähnt, dass das Licht in mancher Stube nicht so hell brannte?
„Es ist die Fähigkeit, vor einem dampfenden Teller Suppe zu sitzen, wenn du Hunger hast und zu warten, dass du dir nicht die Schnute verbrennst“, erklärte der Held mit seinem herrlichen Tenor geduldig.
„Ah, danke. Das verstehe ich.“ Wieder lachte die Menge. Eventuell hatte der Bursche nämlich nur angegeben.
„Jedenfalls war unser Ramil eigentlich ein feiner Kerl. Er wusste genau, was sein Geburtsrecht war, und er wusste auch ziemlich genau, was er sich bei den Menschen, die ihn umgaben, leisten konnte und was nicht. Er war also zu jedem nett, der auch nett zu ihm war. Und weil der Bursche ein echtes Herzchen war, waren eigentlich alle nett zu ihm, sodass sein Vater Radabast tatsächlich dachte, der Junge könnte doch tatsächlich Verhandlungen mit anderen Königreichen führen. Aber leider, leider, hatte der König eines nicht bedacht, als er diese Entscheidung traf. Sein Sohn Ramil war ein wirklich, wirklich schlechter Spieler. Er sah bestenfalls einen Zug in die Zukunft, und die abgelegten Karten zählte er nie mit. So nett er war, so fähig er war, er hatte noch nicht gelernt, dass es auch Menschen in der Welt gab, die ihm Böses wollten. Die ihre eigenen Vorteile über seine stellten. Und dass es Menschen gab wie ihn: Könige und Königskinder, die mit ihm auf der Spitze der Treppe der Gesellschaft standen. Lasst mich erzählen, wie Ramil das erste Mal alles verlor.“
Ramil, keine neunzehn Sommer alt, hätte schon längst verheiratet sein müssen, denn sein Bruder Ragorn war es schon seit er sechzehn Jahre alt gewesen war und hatte bereits drei Bälger in die Welt gesetzt, eines davon mit seiner Konkubine, denn es hieß, so attraktiv und sportlich seine Prinzessin auch war, seinen sexuellen Appetit konnte eine Frau alleine nicht befriedigen. Ramil aber zeigte kein besonderes Interesse in dieser Richtung, obwohl er wirklich jede Frau hätte haben können, denn er war witzig, groß, gutaussehend, gut bestückt und, ich erwähnte es schon, ein wirklich, wirklich netter Kerl. Er dachte halt nur zuviel, deshalb hatte er sein Möglichstes getan, um eine Heirat zu vermeiden, so gut er konnte. Oh, das war nicht, weil er gerne und nur mit Männern schlief, im Gegenteil. Selbst für die schien er nichts übrig zu haben, obwohl es genügend gab, die von ihm gerne mal empfangen hätten. Oder die auch gerne mal bei ihm nachgestochert hätten. Nein, der Grund war, er war verliebt. Richtig verliebt. Bis über beide Ohren. Und das schon seit Jahren, genau seit dem Tag, an dem Fürst Tahir von Belegost, einer der tributpflichtigen Adligen Radabasts, das tat, was ein tributpflichtiger Fürst nun einmal tat. Er brachte seine Tochter mit, die gerade einmal zwölf geworden und damit zwei Jahre jünger als Ramil war, um sie Radabasts Haushalt zu übergeben. Denn es war üblich, viel versprechende Kinder an den Hof zu geben, damit sie dort ihre Ausbildung erhielten und auch eine Stellung. Dies versprach nicht nur Lehnstreue, sondern auch Einfluss am Hof. Die junge Fürstentochter, wirklich, damals schon ein bildhübsches blondes Mädchen – echt blond und nicht mit Säure gebleicht, möchte ich betonen – sollte nämlich eine Aufgabe übernehmen, die bis dato von Tahirs unverheirateter Schwester erledigt wurde, nämlich den königlichen Haushalt und damit die Dienerschaft zu führen. Die gute Frau ging stark auf die dreißig zu und sollte noch fix unter die Haube kommen, bevor sie zu alt zum Kinderkriegen wurde, und wir wissen ja alle, wie schwierig die Schwangerschaft für Spätgebärende ist. Tatsächlich hatte sie dafür auch einen festen Lebensplan und der Bräutigam, der es tatsächlich schon nicht mehr erwarten konnte, stand schon fest. Das Problem war, dass die Stellung, die sie innehatte, nach Möglichkeit in der Familie derer von Belegost bleiben sollte. Und da Tahir die Arbeit nicht selbst übernehmen konnte, er war nämlich wirklich schlecht im putzen, musste halt seine Tochter ran.
Damit war das Unglück natürlich geschehen, denn der gute Ramil verliebte sich auf den allerersten Blick in das blonde Mädchen. Und, da bin ich mir sehr sicher, auch sie verliebte sich in ihn. Nein, sie kamen nicht zusammen. Nie. Auch nicht fünf Jahre später, als Ramil endlich neunzehn geworden war, wo die eigentliche Geschichte beginnt. Das lag an der Tante des Mädchens, die es erbarmungslos auf seine Aufgabe vorbereitete, sodass Ehala, so hieß die Hübsche, die Arbeit bereits nach einem halben Jahr übernehmen konnte und fortan über die Dienerschaft des Königshofs gebot. Diese Aufgabe und vor allem ihre Tante hatten solch einen Eifer geweckt, dass sie ihre Arbeit über alles stellte. Wirklich über alles. Sogar über ihre Gefühle für Ramil, denn Ehala war ein wirklich gutes Mädchen, das eines sehr genau wusste: Wenn sie sich verliebte, wenn sie sich vermählte, dann verlor sie ihre Position, ihre Stellung und ihren mit jedem Tag wachsenden Einfluss am Hofe. Außerdem musste dann ihre Tante wieder ihren Posten beziehen, und das war schwierig mit zwei Kleinkindern, denn Tantchen hatte weder mit der Hochzeit, noch mit dem Kinderkriegen lange gezögert. Ein Fazit: Sie war sehr pflichtbewusst.
„Frage: Was ist ein Fazit?“, rief jemand. Vorsichtiges Gelächter erklang, denn mehr als ein Anwesender war gespannt auf die Antwort.
Der Schankknecht sah auf. „Ein Fazit ist sowas wie die Summe in einer Addition.“
Ungläubige Blicke trafen den Mann, einerseits, weil er die Antwort gewusst hatte, andererseits, weil sie kaum ein Anwesender verstand.
Der junge Mann seufzte. „Zwei und zwei ergibt vier. Das ist eine Summe. Ein Fazit ist wie wenn man Ereignisse wie Zahlen zusammenrechnet und das Ergebnis sieht.“
„Das geht?“, fragte eine ungläubige Frauenstimme.
Der Schankknecht seufzte. „Ja, das geht. Ihr macht das jeden Tag.“
„Oh.“ Die Menge lachte. Diese Antwort hatte sie verstanden.
Jedenfalls war auch Ramil sehr pflichtbewusst. Er liebte dieses Mädchen mit jeder Faser seines Leibes, mit jedem Schlag seines Herzens, und er genoss es sehr, dass sie jeden Tag um ihn war. Aber er berührte sie nie, weil er sich trotz der offensichtlichen Liebe in ihren Augen nie sicher genug war, ob sie seine Gefühle erwiderte. Denn viele Leute liebten ihn, aber ohne, ihn wirklich so zu lieben, wie er es brauchte. Oder damals gebraucht hätte.
„Du meinst, ihm hat ein fetter Bums gefehlt?“
Der Held nickte lächelnd. „Ja, es fehlte ihm ein fetter Bums. Nicht mit anderen Frauen. Als Sohn des Königs hatte man schon früh dafür gesorgt, dass er, nun, das Handwerk erlernte. Mir ihr fehlte er ihm.“
Und so lebten sie Seite an Seite in das ferne Land der Zukunft hinein, nur unterbrochen von zwei kleinen Kriegen, einem Dutzend Überfällen und einer Drachenplage im Nordteil des Landes und liebten einander, freilich ohne sich zu berühren. Aber sie waren da, sie sahen einander, sie sprachen einander, und dies war für den Moment genug. Bis Ramil es eines Tages nicht mehr aushielt. Er ging zu seinem Vater und bat um die Erlaubnis, Ehala heiraten zu dürfen. Das tat er freilich, als die junge Frau zugegen war, und jeder offene oder heimliche Beobachter berichtete über zwei Dinge: Selten war ein hübsches Mädchengesicht roter gewesen, aber selten hätten die Augen eines Mädchens mehr gestrahlt als ihre. Doch der Vater hatte geantwortet: „Mein Sohn, mein guter Sohn. Lange schon sehe ich euch zusammen und denke mir, dass Ihr ein hübsches Paar seid. Aber, mein Sohn, du wirst eines Tages König werden, und als dieser König ist die Eheschließung eine Waffe, die du einsetzen musst für das Wohl des Königreichs. Und seien wir doch ehrlich, Ehala ist ein gutes Mädchen, ein viel zu gutes Mädchen, und es wäre eine vortreffliche Schande, wenn du sie zur Konkubine nehmen würdest.“
Diese Worte machten unseren Königssohn hoch betroffen, und ohne ein weiteres Wort stürmte er aus dem Zimmer, in dem er mit seinem Vater gesprochen hatte. Ehala wollte ihm hinterher, aber ihre Pflicht biss sich fest, und sie verharrte an der Seite ihres Königs, denn der Wochenbericht war fällig, und der König liebte einen genauen Überblick über seinen Haushalt zu haben.
Ramil indes, der Ehala seine Liebe indirekt gestanden hatte, hatte sehr wohl ihre leuchtenden Augen gesehen und machte sich noch immer Hoffnung, dass dieses Mädchen seine Liebe erwiderte – während es für alle anderen längst vollkommen offensichtlich war. Und so zermarterte er sich den Kopf, wie er dieses Problem lösen konnte. Ihm fiel aber nur eine Lösung ein, und die war, nicht mehr des Königs Nachfolger zu sein. Dafür gab es nur zwei Lösungen, und ehrlich gesagt gefiel ihm eine Revolte nicht besonders. Also blieb nur die andere Sache, und die war nicht gerade leichter. Er suchte Ragorn auf, seinen älteren Bruder, warf sich vor ihm zu Boden und flehte ihn an, an seiner Statt König zu werden.
Das hatte Ragorn sehr erschrocken, denn eigentlich stand sein Schicksal ziemlich eindeutig auf das Ziel General der Armeen des Landes ausgerichtet, eine Tätigkeit, die er hervorragend beherrschen würde. Die viel umfassendere Tätigkeit eines Königs war ihm zuwider, weil er viel zu viel Neues dazulernen musste, um sie zu beherrschen. Aber als sein Bruder ihm erklärte, warum er kein König sein wollte und noch immer auf den Knien liegend versprach, der Erste Minister des neuen Königs zu werden UND ihm bei den vielen Themen zu helfen, die Ragorn ab dato studieren musste, zeigte der älteste Prinz ein Einsehen. Er redete mit seiner Frau, dann mit seiner Konkubine, fragte seine Kinder, obwohl nur der Älteste sprechen konnte, und entschloss sich, seinen Bruder qualvoll zu Tode zu foltern. Nun, zumindest bei nächstbester Gelegenheit, denn er brauchte ihn dringend als Lehrer und Ersten Minister. Denn er liebte seinen jüngeren Bruder so sehr, dass er sogar die Königssache ausprobieren würde. Obwohl er genau wusste, was das für eine Arbeit war, und bisher, bisher war er dieser Anstrengung erfolgreich aus dem Weg gegangen.
So traten sie vor den König, ihren geliebten Vater Radabast, und trugen ihm ihr Anliegen vor. Der Vater zauderte, zögerte, wog ab und erbot sich einen Monat Bedenkzeit, in der er die Fortschritte seines älteren Sohnes begutachten würde. Denn er war nicht nur ein guter König, sondern auch ein schlauer. Er wusste, wie er seine Schäfchen motivieren konnte, und ganz ehrlich gesagt fand er die Idee von zwei Königen mit einer ordentlichen Hierarchie besser, als nur einen König auf den Thron zu setzen und den anderen an die Armee zu verlieren. Und es stand vollkommen außer Zweifel, wer das Sagen in diesem Doppelgespann hatte, und das war nicht Ragorn.
So ging ein Monat ins Land, in dem Ramil und Ehala kaum die nötigsten Worte miteinander wechselten, in der der Palast den Atem anhielt und in dem Ragorn zwar nicht seine Familie und seine Geliebte vernachlässigte, aber oft genug wie nach hartem Kampftraining nachts in traumlosen Schlummer fiel, den Kopf schwirrend von Lektionen, Aufgaben und Wissen aus Büchern. Als er schließlich mit seinem jüngeren Bruder vor den König trat, war dieser begeistert und stimmte dem Plan der beiden Brüder zu - wenn sie nach einem weiteren halben Jahr ein gewisses Ziel erreicht hatten, das er definierte. Die Brüder willigten ein. Und so verlor Ramil das erste Mal alles, was er bis dahin besessen und sicher geglaubt hatte. Seine Zukunft, sein Schicksal, alles war weg. Dafür aber ging ein neuer Stern für ihn auf, ein verheißender, blonder Stern, der für ihn heller strahlte als alles andere. Nun war er frei für Ehala, und ehrlich, wäre ihr Vater Tahir nicht so ein konservativer Knochen gewesen, der Männern alles durchgehen ließ, aber bei Mädchen darauf bestand, dass sie jungfräulich in die Ehe gehen – bei seiner Tochter sah er das zumindest so – dann hätten sich die beiden sicher fortan jede einzelne Nacht geliebt. So aber blieb es nur ein Versprechen zwischen den beiden, sehnsuchtsvolle Blicke und, man höre und staune, ein paar Berührungen, mal ein zarter, mal ein ruppiger, mal ein langer, mal ein kurzer Kuss und eine gewisse Grenze, die sie jeden Tag zu übertreten drohten.
Dies könnte das Ende der Geschichte sein, denn Ramil war ein guter Lehrer und Ragorn lernte schneller und besser, als er es selbst sich je zugetraut hätte... Es stellte sich heraus, dass Ragorn tatsächlich ein ziemlich heller Kopf war, dem nur der rechte Tritt in den Arsch gefehlt hatte. Und je mehr er lernte, desto mehr Spaß machte es ihm, und alle waren zufrieden.
„Das klingt aber tatsächlich wie das Ende der Geschichte“, murrte jemand. Zustimmendes Gemurmel erklang aus der Menge.
„Gemach, gemach, ich habe doch erwähnt, dass Ramil alles dreimal verlor. Wie oft hat er jetzt alles verloren?“
Mit einem Blick, der mit Resignation gefüllt war, betrachtete der Held den Mann, der den Einwurf gemacht hatte und nun versuchte, mit allen zehn Fingern zu zählen, während seine Stirn in Falten lag, weil er sein Gehirn so sehr anstrengte, um sich zu erinnern, wie oft es gewesen war. Seine Lippen bewegten sich dazu und seine Zähne knirschten. „Ei-einmal?“, frug er schließlich ängstlich.
„Genau. Einmal bisher. Die Geschichte geht weiter.“
Da klang Jubel auf, und so mancher wohlgemeinter Schulterklopfer traf den Rechenkünstler. Nicht jeder im Raum hätte es sich zugetraut, diese Frage so schnell zu beantworten. Außer einem gewissen Schankknecht, aber der war ja auch der Dümmste im Raum.
Wie bereits erwähnt wurde, dachte Ramil von sich, ein guter Diplomat zu sein, aber wie auch erwähnt wurde, war er ein miserabler Spieler, der nicht weit genug in die Zukunft sah und nie die abgeworfenen Karten mitzählte. Keiner hatte es ihm je gezeigt, und von allein ist er nie drauf gekommen. So geschah es, dass er vor Ablauf des halben Jahres, an dessen Ende Ragorn zum Kornprinz proklamiert werden sollte und man seine Eheschließung mit der Haushofmeisterin feiern würde, zu einer wichtigen Konferenz mit den Nachbarstaaten aufbrach. Es ging um ein paar banale Dinge wie Grenzziehungen, Zollerleichterungen und Festigung der Bande zwischen den Nationen sowie den Austausch von Geiseln, die man im Falle einer feindlichen Aktion der anderen augenblicklich hinrichten konnte. Das Übliche halt.
Bei dieser Mission traf, was zu erwarten gewesen war, der gute Ramil einen anderen Prinzen, Tekkai mit Namen. Tekkai war kein übler Kerl, aber ein rechter Hitzkopf, nicht gerade mit Geduld gesegnet und vor allem krankhaft rechthaberisch. Zudem war er davon überzeugt, dass die meisten seiner Entscheidungen richtig waren. So etwa einhundert Prozent.
„Was bedeutet das, dieses Prozent?“
Der Schankknecht räusperte sich. „Das ist alluromisch. Das Pro steht für unser von, und das Cent ist ihre Zahl für hundert. All das stammt aus einer Rechenart und bedeutet, dass man eine bestimmte Summe an Dingen dem höchstmöglichen Wert zurechnet. Wenn zum Beispiel eine Kompanie Soldaten einhundert Mann stark ist, aber nur siebzig kämpfen können, dann hat die Kompanie eine Kampfbereitschaft von siebzig von hundert, also siebzig Prozent.“
„Oh. Das verstehe ich.“ Es bestand die Möglichkeit, dass der Mann das tatsächlich tat.
Jedenfalls war Tekkai kein wirklich schlechter Kerl. Hochgeboren, erzogen um König zu werden, von sich selbst überzeugt, und der festen Meinung, dass jeder seinen Platz kennen sollte. Versteht das richtig, er hatte nichts dagegen, wenn ein Bürgerlicher in den Adelsstand erhoben wurde, wenn er herausragende Leistungen erbracht hatte. Und er hatte auch nichts dagegen, wenn ein Adliger seinen Titel, seine Ländereien und sein Vermögen verlor, wenn er sich seines Titels als unwürdig erwiesen hatte. Aber er pflegte im hier und jetzt zu leben und die Menschen nicht danach zu beurteilen, was sie sein sollten oder werden konnten, sondern danach, was sie in dem Moment waren, wenn er sie traf. Das bedeutete, eine Magd behandelte er wie eine Magd – aber durchaus freundlich - einen Diener wie einen Diener, einen König wie einen König und einen Soldaten wie einen Soldaten. Spötter pflegte er umzubringen, wenn ihr Status in der Gesellschaft nicht zu hoch war, denn Spott konnte sich ein künftiger König eher nicht leisten.
Es kam wie es kommen musste. Die beiden begegneten einander, und obwohl sie sich nicht sofort und auf Anhieb mochten, so respektierten sie doch einander ihrer Ränge wegen und wegen dem Wissen, dass beide erworben hatten. Man konnte sagen, sie erkannten einander auf Augenhöhe an. Das wäre eine gute Voraussetzung gewesen und hätte gute Verhandlungen zwischen beiden Ländern bedeutet – und so sollte es auch geschehen. Man einigte sich auf ein paar Zolländerungen, zog die Grenze neu, weil ein Fluss sein Bett verlassen hatte und einigte sich auf eine Kompensation an Land andernorts von dem Land, das dadurch Gebiet gewonnen hatte, und man konnte tatsächlich einen Friedensvertrag und einen Beistandspakt aushandeln, der beide Reiche auf Jahrzehnte stabilisieren würde. Aber wie den letzten Punkt stabilisieren, wie ihn mit soviel Sicherheit ausstatten, dass er auch Jahrzehnte hielt?
Nun, da passierte Ramil ein Malheur, denn er sprach einen Gedanken aus. „Tekkai, ich bin froh, dass du keine Schwester hast. Sonst müsste ich sie heiraten, und der Pakt wäre stabil.“
Dies irritierte den anderen Prinzen. „Hast du etwas dagegen, mein Schwager zu werden?“
„Nein, aber als Königssohn wäre ich zu dieser Hochzeit verpflichtet, aus Treue zu König und Volk. Da dies aber nun nicht so ist, werde ich bald meine Jugendliebe heiraten.“
Das machte Tekkai ganz bestürzt, denn er hatte weder eine Jugendliebe, noch eine Person, die er heiraten würde. Denn der Gute war immer so aufbrausend und kurz angebunden, dass selbst die Konkubinen, die man ihm zuführte, damit er Dampf ablassen konnte, nur kurz in seiner Nähe bleiben wollten. Man konnte ja nie wissen, was geschah. „Dann bewahre es dir und mach es schnell, bevor die Pflicht zuschlägt. Dein Land hat noch mehr Nachbarn, weißt du?“ Dazu lachte er schallend und klopfte Ramil auf die Schulter. Und da, genau da beging der junge Prinz seinen Fehler. Er lud Tekkai ein. Zu einer Audienz. Bei seinem Vater. Damit er persönlich die Vereinbarungen, die Tekkai und Ramil getroffen hatte, gegenzeichnete. Tekkai, der sich bei den neuen Verbündeten seltsamerweise sehr sicher fühlte, willigte ein. Da er tatsächlich ein wenig Leerlauf im Terminplan hatte, wollte er mit Ramil zur Königsburg reisen und die ganze Geschichte unter Dach und Fach bringen. Ramil willigte ein. Und damit nahm das Verhängnis seinen Lauf.
Kaum waren die beiden mit ihren Gefolgsleuten aufgebrochen, erreichte Ramil die Kunde, dass wieder einmal die Volgir mit dreihundert Männern in ihr Land eingebrochen waren und die befestigten Dörfer an der Grenze zu brandschatzen drohten, sodass Ramil auf der Stelle mit seinen Rittern zu Hilfe eilte. Tekkai aber sandte er voraus, mit seinen Empfehlungen und besten Wünschen, obwohl der Prinz angeboten hatte, an seiner Seite zu kämpfen. Was im Nachhinein die beste Idee gewesen wäre. Doch Ramil wehrte ab, auch weil er dachte, die Volgir zu besiegen, und das in der Provinz von Ehalas Vater, Tahir von Belegost, würde sich gut machen, wenn er den Fürsten letztendlich um die Hand seiner Tochter bat.
Und so brach Ramil auf, um die Volgir daran zu hindern, das Blut seiner Bürger zu vergießen, und Tekkai, leicht verärgert, weil er zurückgewiesen worden war, zog weiter zur Königsburg. Und weil er so schlechte Laune hatte, trieb er seine Männer und die Eskorte Ramils, die ihn begleitete, unerbittlich an. Nicht, weil er die Burg schnell erreichen wollte, sondern weil er sonst geplatzt wäre vor Ärger. Denn obwohl er einsah, dass Ramils Weg der Richtige war, grämte er doch wegen der Kämpfe, die ihm nun entgehen würden. Hatte ich erwähnt, dass er ein Hitzkopf war?
Dadurch, dass er das Tempo vorgab, befand sich die Königsburg noch im Großreinemachen, denn natürlich war Tekkais Ankunft angekündigt worden, und der König hatte einen kompletten Putz befohlen, um auf den Kronprinz des Nachbarreichs den bestmöglichen Eindruck zu machen. In genau diese Arbeiten platzte Tekkai nun hinein, und er war peinlich berührt, denn er war ein heller, ein sehr heller Kopf, und verstand, dass sein Ärger diese Peinlichkeit verursacht hatte. Nun war er aber nicht gewohnt, Fehler bei sich zu suchen, und fand er doch mal einen, wiegelte und wälzte er sie gerne ab. Also kam, was kommen musste. Den Ärgerlichen markierend, obwohl er eigentlich verlegen war, sprang er vom Pferd, rief nach den Stallburschen, damit sie seinen Hengst einstellten und rannte dabei eine Magd um, die auf ihn zugeeilt war, um ihm zu Diensten zu sein. Einziger Haken bei der Geschichte: Es war keine einfache Magd, sondern Ehala, die die derberen Kleider der Dienstmägde trug, weil die große Aufräumaktion damit leichter zu bewältigen gewesen war.
Wie schon erwähnt war Tekkai kein schlechter Kerl, und als er die Magd umrannte, die eigentlich eine Fürstentochter war, erschruk er bis ins Mark, stoppte sofort und half der gestrauchelten Maid wieder auf die Beine. Und als er die blutende Wunde sah, die sein Schwertknauf in ihrem Gesicht gerissen hatte, stammelte er verlegen Entschuldigung um Entschuldigung, denn ein nicht unbeträchtlicher Teil des Kapitals eines Mädchens war ihr Gesicht. Sofort und auf der Stelle wollte er das Mädchen kompensieren und gab ihr ein Handgeld von einhundert Goldvenn mit, was einem guten, einem sehr guten Jahreslohn in seinem Land entsprach.
Dieses Geld, dieses gute Geld aber warf Ehala in einem Anflug von Wut von sich. Eine Magd hätte gut davon leben und sich einen anständigen Ehemann suchen können, der sie trotz der zu erwartenden Narbe heiraten würde – ehrlich, weder sie noch Tekkai dachten in dem Moment daran, dass die königlichen Heiler einen Großteil ihres Stolzes daraus bezogen, kleinere Wunden narbenlos zu verheilen und Narben so klein wie möglich zu halten – aber eine Fürstin, die einen Prinzen heiraten würde? Zehn Truhen Gold wären nicht genug gewesen.
Das Handeln der jungen Frau irritierte Tekkai, und das erste Mal in seinem Leben gab er nicht seinem impulsiven Wesen nach, schüttelte sie nicht an den Schultern und brüllte sie nicht an mit den Worten: „Weib, bist du von Sinnen?“ Stattdessen frug er: „Ist es nicht genug?“ Und er winkte schon seinem Schatzmeister, denn sein schlechtes Gewissen wog schwer.
Da antwortete Ehala, und es war eine wirklich dumme Idee von ihr, es so zu formulieren: „Mein Name ist Ehala von Belegost, Tochter von Fürst Belegost, Herrin des Haushalts von König Radabast. Ihr beleidigt mich, wenn Ihr mich zu kompensieren wünscht. Es gibt nichts, was ich mir von Euch wünsche und es gibt nichts, was Ihr mir geben könnt, was besser wäre als die Narbe, die ich zu erwarten habe.“ Brüsk wandte sie sich ab und rauschte davon, den belämmerten Tekkai zurücklassend, der einmal, tatsächlich einmal in seinem Leben sich selbst gegenüber eingestand, wirklich großen Mist gebaut zu haben. Denn wer würde eine Fürstentochter mit narbigem Gesicht denn jetzt noch nehmen? Und dies war der Moment, in dem ihm die Worte Ramils wieder einfielen über die Schwester, die er nicht hatte. Warum nicht die Chancen des Mädchens auf eine Heirat bewahren? Warum nicht eine Frau von hohem Blut zur Prinzessin seines Landes machen? Denn, wenn er ehrlich war – und so oft an einem Tag war das für Tekkai eine Sensation – hatte sie ihm sehr gut gefallen, selbst in den derben Putzkleidern. Und ihr Mut und ihre direkte Art sprachen ihn sehr an, war er doch selbst ein Hitzkopf. Nein, er war ihr nicht in Liebe verfallen, aber, hey, er konnte sich vorstellen, mit dieser Frau sein Leben zu verbringen. Nicht, dass sie viel Auswahl hatte, jetzt, wo die Narbe drohte, ihr Gesicht zu entstellen. Denn im Grunde seines Herzens war Tekkai ein zutiefst einsamer Mann, dem es einfach nicht gelang, jemanden zu finden, der zu ihm passte, geschweige denn jemanden zu finden, der nicht vor Angst in seiner Nähe zitterte, weil sein Jähzorn legendär war. Man kann sagen, Tekkai hat alles ziemlich gut gemeint. Und, das muss man auch sagen, er wusste ja gar nicht, dass Ehala die Jugendliebe war, die Ramil zu heiraten gedachte. Ja, er hielt das für eine ziemlich gute Idee. Und diese gute Idee unterbreitete er, kaum zum König vorgelassen, Radabast selbst.
Radabast war im ersten Moment begeistert, weil dies bedeutete, den Bund zwischen beiden Ländern in einem Maße zu festigen, den sonst nur eine Heirat unter Königsfamilien erreichen konnte. Dann aber erinnerte er sich daran, wie sehr sich seine beiden Söhne angestrengt hatten, um es Ramil zu ermöglichen, Ehala zu heiraten. Leider sprach er diese Gedanken nicht aus und leider beriet er sich nicht mit seinem Sohn Ragorn. Stattdessen rief er die junge Frau selbst zu sich, kaum dass die Heiler sie aus den Fingern gelassen hatten, und der frische Wundverband entstellte ihr Gesicht mehr, als zu erwarten gewesen war. Dies vorweg: Der Heiler des Königs selbst hatte den Schnitt genäht, und dies so fein und so gut, dass keine Narbe bleiben sollte. Zum Glück war der Schnitt auch nur oberflächlich gewesen, aber all das konnte zu dieser Zeit noch niemand wissen.
Ehala war von dem Angebot mehr als geschmeichelt, war es doch eine Kompensation, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte, und Tekkai war trotz seiner offensichtlichen Charakterschwächen doch ein freundlicher, gut aussehender und starker Mann. Ehala lehnte ab, denn einem Vergleich mit ihrem Ramil konnte er nicht standhalten. Doch etwas geriet ihr in den Weg, bevor sie die Ablehnung aussprechen konnte. Ihr Stolz. Ihr Stolz darauf, stets das Beste für ihren König, für ihre Familie, für ihr Land zu tun. Also schloss sie den Mund wieder, ging in sich und frug sich, was das Beste wäre, was sie tun konnte. Und, das sei dazu gesagt, es schlich sich etwas Zweifel in ihr Herz, ob Ramil sie jetzt mit der Narbe im Antlitz überhaupt noch haben wollte. Und anstatt in Ruhe darüber nachzudenken, sich mit dem König zu besprechen oder zumindest Ramils Bruder und dessen Frauen zu befragen, machte sie den größten Fehler. Sie traf eine schnelle Entscheidung.
„Für den Frieden zwischen unseren Ländern, für eine gemeinsame Zukunft und um meiner Familie und meinem König zu dienen sage ich ja.“ Denn Vernunftehen waren in ihren Kreisen die Norm, nicht die Ausnahme.
„Norm?“, fragte jemand, und alle Blicke gingen zum Schankknecht.
Der blickte verlegen in die Runde. „Norm. Das ist, wenn ein Bauer fünfzehn Kühe hat, sie auf die Weide schickt, und fünfzehn kommen wieder rein. Es können auch vierzehn sein, dann ist etwas nicht normal. Es können sechzehn sein, dann ist garantiert etwas nicht normal.“
Die Menge murmelte bestätigend. Das hatten alle gut verstanden, selbst die Gebildeteren unter ihnen.
Tja, und so passierte es, dass Tekkai und Ehala miteinander verlobt wurden. Es war eine reine Zweckehe, aber immerhin fanden sie einander nicht vollkommen abstoßend, und es schien abzusehen zu sein, dass Ehala das Wunder gelingen konnte, ausgerechnet ihn zu bändigen.
Die Sache, die Ramil davon abgehalten hatte, mit Tekkai zur Burg seines Vaters zu reisen, dauerte länger an, als er selbst beabsichtigt hatte. Er wurde in sehr schwere Kämpfe verwickelt und war wochenlang damit beschäftigt, die Volgir vom Land seines Schwiegervaters in spe zu vertreiben, wo er sie nicht komplett unterwerfen konnte. Als er mit dieser wichtigen Arbeit fertig war, fragte Tahir da: „Junge, bist du von Sinnen?“ Dies verwirrte den Prinzen, denn er dachte, er hätte eigentlich ziemlich gute Arbeit geleistet. Dann aber sagte ihm Tahir, was während seiner Abwesenheit passiert war und wie er das hatte zulassen können. Denn zu diesem Zeitpunkt waren Tekkai und seine Braut bereits außer Landes. Dies war der Moment, in dem Ramil zum zweiten Mal alles verlor. Seine Mühe, nicht König werden zu müssen, seine Liebe zu Ehala, alles, was ihm lebenswert erschien, auf einen Schlag war es ihm genommen worden. Und als der Fürst sah, in welch großer Verzweiflung der Junge zu stürzen drohte, erhob er sich von seinem Thron, ging auf ihn zu und umarmte ihn, um ihm heimlich einen Rat ins Ohr zu flüstern, den er nie hätte laut aussprechen dürfen, nicht gegenüber dem Sohn eines Mannes, dem er Lehnstreue geschworen hatte. Ramil aber hörte diese Worte. Und er verstand sie.
Wie gesagt, wochenlang hatte er sich mit den Volgir geprügelt und etliche ihrer Stämme unterworfen, andere vernichtet. Man konnte sagen, an diesem Teil der Grenze herrschte für eine erstaunlich lange Zeit Ruhe und Frieden. Und in diesen Wochen war einiges geschehen. Die Hochzeit war bereitet worden, die Gäste waren geladen worden, und eine Einladung war selbstverständlich an Ramil gegangen, der als Ehrengast und Zeuge des Bräutigams geladen war. Man konnte von Glück sagen, dass der Kampf gegen die Volgir zum Schluss ganz schnell vorbei gewesen war, denn nun blieb gerade noch mal eine Woche bis zur Trauung, und das war wenig Zeit, um umzusetzen, was Tahir ihm geraten hatte.
Mit seinen Getreuen ritt er scharf wie nie zur Königsburg. Dort angekommen ließ er einen Schreiber kommen und diktierte ihm seinen Willen. Schwungvoll unterschrieb er das amtliche Dokument und ging damit zu seinem Vater. „Mein König, ich sage mich los von dir, los vom Königreich, los von allem Besitz, den ich diesem Land verdanke, los von all meinen Verbindungen, die mich hier halten. Nichts von diesem Land will ich fürderhin in Anspruch nehmen, so ich nicht dafür bezahlen kann.“
„Ja, Himmel, mein Junge, aber wieso denn?“, rief da der König entgeistert.
Ramil lächelte traurig. „Damit all das, was ich nun tun kann und tun werde, nicht auf mein Heimatland und nicht auf meinen Vater zurückfällt.“
Da begriff der weise König, dass Ramil Ehala nicht aufgegeben hatte, dass er um sie kämpfen würde. Drum trat er zu ihm, legte ihm die Hand auf den Kopf und segnete ihn und seine Wege. „Geh deiner Wege, mein Sohn, und gehe sie stolz. Und auch wenn du dich losgesagt hast, dieser Palast wird immer deine Heimat sein“, sagte er.
Nun trat auch sein Bruder hinzu, der zufällig im Saal gewesen war. Er umarmte seinen Bruder herzlich und verbat sich von ihm jede Entschuldigung, denn auch er hatte lieber was von „Pflicht“ gemurmelt, als etwas für seinen Bruder und sein Mädchen zu tun, und deshalb schämte er sich sehr.
Derart ermutigt sagte der Mann, der nun kein Prinz mehr war: „Löst meinen Haushalt auf! Alles, was ich erhalten habe als Prinz dieses Landes, soll in die Kasse oder den Besitz meines Vaters fließen. Alles, was übrig bleibt, macht zu Geld und übergebt es mir. Ich reise heute noch ab.“
Und so kam es, wie es kommen musste. Alles, was Ramil als Prinz erhalten oder verdient hatte, ging an den König, und das war ein stolzes Sümmchen. Und alles, was er sich selbst erwirtschaftet hatte, mit seiner eigenen Hände Arbeit, mit seinem Verstand und nicht als Prinz, wurde zu Geld gemacht. Als also Ramil am Abend davon reiten wollte, sah er nicht ohne Verwunderung die Kutsche, die hinter seinem Pferd auf ihn wartete. „Was soll das?“, frug er da Colm, den Anführer seiner ehemaligen Leibgarde, mit der er in mancher Schlacht gestanden hatte.
„Das ist dein Geld, Herr“, sagte er, da er Prinz nicht mehr sagen durfte. „Wir haben alles zu Geld gemacht, was dein ist und dir nicht als Prinz geschenkt oder gegeben wurde. Es wurden zwei Truhen Gold. Über zweihunderttausend Venn sind es, Herr.“
Das waren zweitausend gute Jahreslöhne, und eigentlich ein ziemlich guter Start in ein neues Leben. „Und die anderen Wagen?“, hakte er nach.
„Dort sind all die Dinge, die wir noch nicht zu Geld machen konnten, Herr. Und ab da beginnt der Wagenzug der Familien.“
„Der Familien?“
„Der Familien derjenigen, die dich begleiten werden, Herr“, sagte Colm mit fester Stimme. „All jene, die dir gedient haben, nicht dem Prinzen, und die sich bereit erklärt haben, dich weiterhin zu begleiten.“
Nun erst fielen Ramil die vielen Menschen auf. Er erkannte seine Garde, die gerade erst mit ihm gegen die Volgir gekämpft hatte, er sah seine Schreiber und Gelehrten, sah Gesichter aus seiner Dienerschaft und ein paar Soldaten mehr, die ihm nie direkt gedient hatten, die aber wild entschlossen waren, ihn zu eskortieren. Colm umfasste all das mit einer großen Geste seiner langen Arme und sagte: „Herr, all dies ist dein. Wir folgen dir überallhin.“
Das rührte Ramils Herz. Nun hatte er zwar zum dritten Mal alles verloren, seine Prinzenwürde, seine Arbeit in der Regierung und die Ämter und die Pflichten, die er bisher ausgefüllt hatte, aber er war nicht allein, und er war auch nicht arm. Denn neben dem Geld besaß er noch einige Schätze seiner verstorbenen Mutter, die sie ihm vermacht und die recht leicht auch zu Geld gemacht werden konnten.
„Und wohin, Herr, werden wir gehen?“, fragte Colm.
„Wir besuchen Tekkai“, sagte er schlicht, „und holen meine Braut zurück.“
Es gab kein Murren, aber auch keinen Jubel. Es gab nur grimmige Entschlossenheit der Männer und Frauen, die sich entschieden hatten, ihm, und nur ihm zu folgen. So ritten und fuhren sie aus. Und bevor sein Tross die Landesgrenze erreicht hatte, war er bereits um ein Drittel gewachsen, denn weitere Freunde des ehemaligen Prinzen hatten alles hinter sich gelassen, um ihm in der Fremde zu dienen. Und auch Tahir stellte ihm heimlich ein Kontingent an Geld, Soldaten und Gelehrten zur Verfügung, dass es der Aussteuer einer Fürstentochter entsprach.
So reiste Ramil also in Tekkais Land. Er gebot über fünfhundert Soldaten, fast ebenso viele Diener, Boten und Schreiber sowie Gelehrte. Man konnte sagen, mit sich führte er die Keimzelle eines neuen Landes der Zivilisation. Wohin auch immer er sich wenden würde, der Anfang würde vielversprechend sein.
Als sie die Burg von Tekkais Vater, König Terof, erreichten, hatte Ramil sich so viele Worte zurechtgelegt, die er hatte sagen wollen, denn obwohl er dazu bereit war, seine Braut notfalls mit Gewalt zu retten, so wusste er doch nicht, ob sie ihn überhaupt noch wollte, und wie Tekkai reagieren würde, der ihm die hohe Ehre erwiesen hatte, sein Zeuge der Trauung zu sein. Immerhin kam er geschlagene drei Tage vor der Hochzeit an, und auch wenn er nichts darauf gab, dass seine Braut jungfräulich in seine Arme sank, so gab es doch das Edikt ihres Vaters, der ihr vor der Ehe die körperliche Liebe verbot.
So also trat Ramil von Tekkai und wurde von ihm begrüßt wie ein alter Freund. Doch alles, alles, was sich Ramil an Worten zurechtgelegt hatte, wurde von einem einzigen Moment zunichte gemacht, denn man konnte das Herz zähmen, aber manchmal war es stärker. Ehala lief in den Raum, stockte, sah ihren Geliebten an, und alle Widerstände, alle Vernunft in ihr zerbrach. „RAMIL!“, rief sie vor lauter Freude, Erleichterung, aber auch Schmerz, und stürzte in seine Arme. „EHALA!“, rief Ramil da und griff nach ihr, so als wolle er sie nie wieder loslassen. Alle Worte, alle Vorwürfe, was sie sich dabei gedacht hatte, all das konnte er nicht aussprechen, weil er sich nicht sattsehen konnte an ihren Augen und an ihrem lieblichen Gesicht. Ehrlich, es hatte gar keine Narbe gegeben. Der Heiler Radabasts war verdammt gut. Stattdessen küssten sie sich wie nie zuvor in ihrem Leben, wie Ertrinkende, die nach Luft schnappten, und es hätte nicht viel gefehlt, da hätten sie hier an Ort und Stelle die Anordnung von Ehalas Vaters aber sowas von missachtet.
Jemand verstand vor allen anderen und lachte laut.
Die anderen folgten mit Verspätung. Erst jene, die auch verstanden hatten, dann alle anderen, die nichts verstanden, aber nicht hatten auffallen wollen.
Tekkai aber musterte die beiden und räusperte sich sehr laut – sehr, sehr laut, bevor das erste Kleidungsstück geöffnet wurde.
Nun lachten die nochmal, die zuerst nichts kapiert hatten. Der Schankknecht war freilich nicht darunter.
„So ist das also“, sagte Tekkai.
„Ja, so ist das“, sagte Ramil und hielt die Arme trotzig um Ehala geschlossen.
„Aber warum habt Ihr mir nichts davon gesagt? Warum hat dein Vater nichts gesagt? Warum hast du nichts gesagt?“ Verzweifelt rang Tekkai die Hände. „Verdammich, Liebe ist doch wichtig!“ Der gute Prinz war nahe daran, dem ehemaligen Prinzen Ramil die Ohrfeige seines Lebens zu verpassen.
„Dies und das ist passiert und die Volgir waren hartnäckig. Hätte ich dich und deine Mannen nur mitgenommen.“
„Ja, hättest du das mal getan, dann wäre all das nicht passiert“, sagte Tekkai. „Und was soll ich jetzt machen? In drei Tagen ist die Hochzeit des Prinzen mit der Fürstentochter, die zwei gute Länder einander näher bringen soll. Und jetzt kommt Radabast und verlangt Ehala zurück...“
„Nein, das tut er nicht“, erklärte Ramil. „Ich habe abgeschworen. Ich bin nicht länger Prinz des Landes meines Vaters. Ich habe meine Ämter aufgegeben und ich habe mein Vermögen der Kasse des Reichs zurückgegeben.“
„Ach, und dann kommst du mit einer offiziellen Abordnung?“
„Ich habe nichts bei mir, was mir nicht persönlich gehört. Und die Männer und Frauen folgen mir aus freien Stücken, weil sie mir verpflichtet waren, nicht meinem Vater oder meinem Bruder.“
„Du bist mit einem ganzen Hofstaat angereist, einem Prinzen würdig“, nuschelte Tekkai vor sich hin, während er überlegte, wie das Dilemma zu beenden war. Die einfachste Lösung wäre gewesen, Ramil zu erschlagen und Ehala zu zwingen, seine Frau zu werden, aber dafür war er nicht der Mann. „Du könntest sofort ein eigenes Land gründen, scheint mir.“ Er hob beide Hände. „Versteht mich nicht falsch, ich liebe Ehala nicht, aber ich mag sie, mag sie sehr. So sehr, dass, jetzt wo ich weiß, wen sie liebt, ich ihr nichts mehr wünsche als alles Glück und ihren Geliebten als Mann. Ich finde dies besser als dich und deinen Hofstaat niederzumetzeln, aber glaube mir, Ramil, ich liebäugele mit dieser leichten Methode.“
Ramil sah ihn da ernst an, die Arme um Ehala ein wenig enger schlingend. „Als ich ankam, hatte ich viele Worte vorbereitet, meine Argumente zurecht gelegt. Aber all das nützt mir nichts. Ich lege deshalb mein Schicksal, ich lege Ehalas Schicksal in deine Hände... Freund.“
Dies berührte Tekkai tief in seiner Seele. „Nicht Freund. Bruder“, sagte er und legte beiden seine Hände auf die Schultern. Dann aber dämmerte ihm die Erkenntnis, die er gebraucht hatte. „So, so, losgesagt hast du dich. Kannst du dir vorstellen, du und deine Gefolgsleute, fortan mir zu dienen?“
So eine Art von Hoffnung glomm in Ramil auf. „Ich würde alles tun, was mich diese Frau heiraten ließe.“
Da lachte Tekkai laut auf und klopfte beiden erneut kräftig auf die Schultern. „Es ist abgemacht!“
Drei Tage darauf trafen nach und nach die Gäste ein. Darunter waren auch Radabast und sein Sohn, der zukünftige König Ragorn mit seinen beiden Frauen. Sie waren mehr als verwundert, als sie keinerlei Spuren von Kämpfen entdeckten, dafür aber in der Dienerschaft für die Hochzeit viele bekannte Gesichter, die Ramil gefolgt waren, als er sich losgesagt hatte.
König Terof, alt und gebeugt, kam selbst herbeigehumpelt, um sie zu begrüßen. Er strahlte die beiden an und umarmte sie wie alte Freunde – was gemein war, denn beide waren größer als er und mussten sich dafür erheblich bücken. „Ihr seid also wie versprochen gekommen, um der Hochzeit meines Sohnes und von Fürstin Ehala beizuwohnen, auf dass ewiger Friede zwischen unseren Ländern herrscht.“
So formuliert musste Radabast zustimmen, obwohl er bereit gewesen war, für das Glück seines Sohnes auf alle Vernunft zu scheißen und einen Krieg anzuzetteln. „Natürlich, guter Freund. Wir werden Zeuge sein von Ehalas und Tekkais Glück.“
„Nicht Tekkai. Ramil“, korrigierte Terof.
Verdutzt sahen sich König und Prinz an. War der alte König senil, oder brachte er nur etwas durcheinander?
„Wisst Ihr“, sagte Terof da, „es war mir immer ein Schmerz in meiner Seele, dass ich der Welt nur einen Sohn hinterlassen konnte. Mein Weib starb zu früh, und meine Lenden wollten nie wieder eine Frucht erzeugen. Dann aber kam vor drei Tagen dieser junge, viel versprechende Mann an meinen Hof, der seinem Land abgesagt und die Bildung eines Königs hat, und der mit seinem Stab sofort jegliche königliche Arbeit aufnehmen konnte. Er, ein guter, ein sehr guter Freund von Tekkai, hatte alles hinter sich gelassen, um Ehala nahe zu sein, und alleine das hätte mein Herz gerührt. Als mir mein erster Sohn aber die Möglichkeiten erklärte, die sich daraus ergaben, vor allem für den dauerhaften Frieden unserer beider Länder, da er dort Bruder und Vater hat, erkannte ich die unglaublichen Möglichkeiten. Also adoptierte ich ihn, denn er ist ein sehr viel ruhigerer, besonnenerer und überlegter Bursche als Tekkai und damit die bessere Wahl als künftiger König. Nach mir auf dem Thron: Ramil!“
Nun, das versprach tatsächlich Frieden zwischen den beiden Ländern, mehr noch, die Möglichkeit, nach und nach miteinander eine Union zu gründen oder gar zu verschmelzen, was ihnen allen eine besondere Stellung in der Region einbringen würde, Sicherheit, Wohlstand, Schlagkraft.
Nun kamen auch Ramil, Ehala und Tekkai hinzu, um Vater und Bruder zu begrüßen.
Darauf folgte eine wirklich schöne Hochzeit der auch Ehalas Vater Tahir und ihre Mutter Ehomin beiwohnten und Ehrengäste waren. Nach der Vermählung nahm Ramil sofort seine Arbeit auf, um als künftiger König die Landesgeschäfte zu steuern. Dies tat er so gut, dass Terof in Jahresfrist zurücktrat und ihn zum König proklamierte, und Ehala zur Königin.
Was aber Radabasts Haushalt anging, so musste besagte Tante nun doch wieder in den Hof zurückkehren. Aber immerhin waren ihre Blagen nun älter, und man konnte sie während der Arbeit von der Dienerschaft betreuen lassen... Eventuell hatte ihr sogar der Palast und ihre Aufgabe gefehlt. So kam es, dass beide Länder dauerhaften Frieden hatten, denn die Könige waren Brüder und vertrauten einander blind.
Ja, Ramil hatte dreimal alles verloren, zum Schluss aber dank Tekkai mehr gewonnen, als er je zuvor gehabt hatte. Und Tekkai war das Problem los, selbst einmal König zu werden und sich all die Arbeit aufzuhalsen, die so viel Gleichmut erforderte, den er nie gehabt hatte.
Damit war der Schluss der Geschichte erreicht, und die Menge spendierte dem Helden reichlich an Applaus dafür und wie er sie erzählt hatte. Ihm wurde zugeprostet, und die Combo spielte drei Tuschs, die von der Menge begeistert mitgetragen wurden.
„Und was ist nun mit Tekkai?“, rief jemand aus der Menge. „Hat er wirklich auf die Krone verzichtet?“
Der Held lächelte. „Tekkai... Ja, der gute Tekkai. Er war schon immer kurz angebunden gewesen, was der Kummer seines Vaters gewesen war. Es war abzusehen gewesen, dass er etliche Entscheidungen getroffen hätte, ohne sie richtig zu überdenken, wie es Ramil tat. Ab jetzt, meine ich. Und auch Tekkai selbst hatte sich nie so recht mit der Bürde dieses Amtes und all ihren Aufgaben abgefunden. Darum hatte er die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, ein Prinz seines Landes zu sein, aber zum ersten Mal in seinem Leben sein Schicksal selbst zu wählen. Er ging hinaus in die Welt, um für sich selbst die Frau fürs Leben zu finden. Und während er dies tat, suchte er nach fähigen Männern und Frauen, die ihm dabei helfen konnten, seinem Land, genauer gesagt, seinen beiden Ländern besser zu dienen.“
„Hat er denn seine Liebe gefunden?“, frug ein anderer.
„Der Legende nach“, meldete sich der Schankknecht zu Wort, „traf Tekkai auf Unasil, die beste Kriegerin der Untastu, schlug sie im Zweikampf , entband sie aber vom Kodex ihres Volkes, der sie dazu bestimmt hätte, fortan sein Eigentum zu sein. Sie konnte gehen, wohin sie wollte. Doch bei soviel Großmut entschloss sie sich, ein klein wenig bei Tekkai zu bleiben, wenn er schon fähige Leute suchte. Und es heißt weiter, die beiden hätten dann tatsächlich zueinander gefunden.“
Da lachte die Menge. Das war der Beweis, dass der Schankknecht eben doch der Dümmste im Raum war. Eine Untastu bändigen, ohne, dass sie an ihre Eide gebunden war, was für ein Unsinn!
Da aber ging die Tür auf, und eine große, blonde Frau in der vollen Kriegsmontur ihres Volkes trat ein. Sie sah sich kurz um, bevor ein Lächeln ihr Gesicht aufblühen ließ wie die Sonne die Blumenknospen. „Tekkai, da bist du ja.“ Sie trat eilig an den Tisch heran, und der Held erhob sich rasch, um sie in die Arme zu schließen. „Unasil, mein Engel. Du bringst Kunde aus der Heimat?“
„Es dräut Krieg, und die Könige Ramil und Ragorn wollen ihren Bruder und General im Lande wissen. Wir sollten sofort aufbrechen.“ Sie griff nach ihrer Börse, aber Tekkai winkte ab. „Ich habe im voraus bezahlt.“ Er gürtete das Schwert um seine Hüfte und warf sich den Umhang um. „Dann wollen wir meine Brüder auch nicht warten lassen! Auf bald, gute Leute!“, rief er und winkte in die Menge.
Diese war starr vor Entsetzen, denn selbst dem Dümmsten war klar, nicht unbedingt wessen sie Zeuge gewesen waren, zugegeben, aber dass sie Zeuge eines bedeutenden Moments geworden waren, der vielleicht sogar einmal besungen werden würde. Und so blieb sie beeindruckt und stumm, bis die Tür hinter dem Paar ins Schloss fiel.
„Eine Runde aufs Haus“, sagte da der Wirt, denn dieser Tag würde mit Sicherheit dafür sorgen, dass noch mehr Gäste sein Etablissement besuchen wollten.
Doch die Tür öffnete sich noch einmal, und Tekkai steckte sein ärgerliches Gesicht hindurch. „Kommst du nun, oder liebst du diese Arbeit hier so sehr? Ich habe doch gesagt, ich suche nach fähigen Leuten.“
Erstaunt sahen sich die Männer und Frauen an. Wer war gemeint? Wer erhielt die Ehre, Tekkai und Unasil zu begleiten und zwei Königreichen zu dienen? So mancher mächtiger Mann mit schwerer Waffe sah sich schon mit ihm reiten, da sprang der Schankknecht mit Schwung über den Tresen, nahm die Schürze ab und warf sie dem Wirt zu. „Ich kündige! Behalte meinen Lohn!“ So eilte der junge Mann hinaus, empfing einen wohlwollenden Schulterklopfer von Tekkai und ward auf Jahre nicht mehr gesehen. Aber in den Liedern über Tekkai, da sollte man ihn noch oft wieder antreffen.
Und es wurden viele Lieder gesungen über ihn und jene Tapferen, die ihm folgten.
Dies machte die Schänke Zum gebrochenen Rad um eine Erzählung reicher, die mehr wert war als die alte Legende mit dem König, der sich fast zu Tode soff. Die Schänke änderte übrigens ihren Namen und hieß fortan: Zu den drei Prinzen.
Die Taverne hieß „Zum gebrochenen Rad“, weil vor Urzeiten mal ein waschechter König hier Radbruch an seinem Wagen erlitten und notgedrungen bis zum Ende der Reparatur in dieser Taverne gebechert hatte, bis der Arzt gekommen war. Sein Leibarzt, um genau zu sein, der verhinderte, dass besagter König sich zu Tode soff. Nun, für dieses Mal. Jedenfalls bezahlte der König mit einem Abdruck seines Siegelrings, der fortan das Logo der Kneipe wurde und Steuerfreiheit garantierte. Bis ein Nachfolger anders entschied. Hatte bisher aber keiner getan.
Jedenfalls war sie seither sowas wie die erste Adresse am Ort. Und sie verteidigte diesen Ruf erbittert. Das Geheimrezept dazu war eine Horde unerbittlicher Türsteher, die richtige Mischung aus populären Gästen, zwielichtigen Gästen, anerkannten und besungenen Helden, sowie einem Haufen weiterer Leute, die ordentlich Geld daließen, um mit ihrem Geld die Taverne zu finanzieren.
So war es auch nicht verwunderlich, dass der schwertbewehrte Hüne, der Einlass begehrte, von den Türstehern ohne zu zögern eingelassen wurde, roch er doch bereits von weitem nach „Held“. Nicht so vorteilhaft denkende Zeitgenossen hätten eher von „Schweiß, abgestanden, mehrere Tage alt, dazu Pferd – viiiiel Pferd“ gesprochen, aber es war nun mal das Zerbrochene Rad.
Als der Mann seinen Mantel löste, das Breitschwert samt Scheide von der Hüfte nahm und an einem Tisch Platz nahm, der sehr plötzlich sehr endgültig frei geworden war, ruhten bereits die meisten Augen auf ihm. Andere Helden versuchten ihn einzuordnen. Das zwielichtige Gesindel versuchte zu erkennen, ob er eine Gefahr für sie war, und der normale Gast erhoffte sich von ihm ein Ereignis. Irgendein Ereignis. Hauptsache nicht langweilig. Und die eine oder andere Frau, durchaus nicht nur Dirnen und Schankmaiden, betrachtete den Burschen mit dem Hintergedanken für die eigenen Möglichkeiten. Finanziell, materiell, sexuell, das Übliche eben. Aber, wie alle anderen, beobachteten sie erst einmal. Denn schlecht gelaunten Helden war man nicht gerne ausgeliefert, und bei diesem Burschen konnte mal nicht erkennen, was er war. Noch nicht.
„Bier.“ Das Wort stand im Raum. Es war gesprochen worden mit einer klaren Tenorstimme, die für das mächtige Kreuz des Mannes ein wenig zu hell wirkte. Sofort eilte eine Schankdame herbei und servierte ihm einen Krug vom Besten, was das Zerbrochene Rad hatte. Das war nicht besonders viel, zugegeben, aber zumindest war dieses hier nicht gepanscht.
„Brot.“ Auch dies wurde ihm gebracht, und diesmal zückte der Mann seine Börse, die gut gefüllt war, entnahm ihr einen Silberling und bezahlte damit. „Für den Abend. Der Rest ist für dich.“
Zwei Sätze am Stück, fehlerlos gesprochen und richtig betont. Die Menge hielt den Atem an. Einerseits, weil das Silberstück eine mehr als großzügige Bezahlung war, selbst wenn der Bursche ein Fass Bier auszutrinken gedachte, und andererseits, weil dieser Held ein Held von Bildung war. Hätte er hier und sofort angefangen, Papier und Schreibwerkzeug hervorzukramen, um seine Korrespondenz zu erledigen, die versammelte Abendgesellschaft hätte einen Kulturschock erlitten.
„Käse“, sagte er, diesmal wieder einsilbig und wortfaul. Auch das wurde ihm serviert, und mit einem Messer aus seinem Gürtel teilte er Brot und Käse, legte es aufeinander und begann bedächtig zu essen. Ohne laut zu schmatzen. Das konnte am alten Brot liegen, oder am viel zu scharfen, da überreifen Käse, da war es immer gut, vorsichtig zu kauen. Aber ohne zu schmatzen? Die Menge witterte einen handfesten Skandal. Hatten sie hier vielleicht einen Königssohn vor sich? Was nicht so ungewöhnlich war, wegen Handelsweg und so.
„Musik“, klang seine Stimme erneut auf. Als er das Geforderte nicht sofort bekam, griff er wieder nach seinem Beutel, zerrte einen Dieb, der gerade danach hatte greifen wollen, gleich mit hervor, griff hinein und warf den Spielleuten ein paar Kupferstücke zu. Kurz nachdem er dem wagemutigen Langfinger seine Faust aufs Nasenbein geschlagen hatte. Etwas knirschte, und es war sicher nicht die Faust.
Die Spielleute, Lauten und Trommeln, unterstützt von zwei Flöten, ehrlich gesagt die beste Combo im Ort und eigentlich ständig ausgebucht, nahm das Geld dankbar an und begann mit einem Klassiker: Was hat die Magd unterm Rock?
Der Hüne winkte ab, und die Spielleute verstummten, bevor die Menge mitgröhlen konnte. „Nicht das. Spielt „Königssohn, du Narr“.“
Dies ließ die Menge aufraunen. Majestätsbeleidigung. Wie überaus interessant. Ein Spottlied. Jeder kannte es, jeder mochte es – außer, du warst König. Deshalb war es verboten, außer in verschworenen Kreisen, oder wenn richtig gut dafür bezahlt wurde. Die Bezahlung des Hünen war wohl gut genug, denn die Combo setzte an und spielte das Lied. Und bereits beim ersten Takt war die Menge so richtig drin. Es war ein wirklich, wirklich populäres Lied.
Der Hüne indes trank das Bier in langen Zügen, orderte nach, aß Käse auf Brot mit vollen Backen – zum Entsetzen der Menge immer noch ohne jeden Schmatzlaut – und klopfte im Takt der Musik auf den Tisch. Es war offensichtlich, dass er sich über das Lied amüsierte. An der Stelle, an der der Königssohn vor den Drachen trat, ausgestattet mit dem teuren Mantel des Zauberers, der angeblich feuersicher machte, und auf die harte Tour lernen musste, dass er betrogen worden war, lachte er zufrieden auf und sang den Rest der Strophe mit. Und dies mit einer Stimme, für die mancher Minnesänger gerne gemordet hätte.
Dann verstummte die Musik, und erwartungsvolle Blicke richteten sich auf den Hünen. Was nun? Wie ging es weiter? Was hatte er noch zu bieten? Die Spannung stieg kontinuierlich an.
„Nein“, wehrte der Hüne ab, die Blicke spürend.
Stille, weiterhin.
„Nein!“, sagte er wesentlich bestimmter. „Spielt!“, rief er den Spielleuten zu, aber sie setzten nicht an.
„Uff“, machte er. „Na gut.“
Was zum Jubel der Anwesenden führte. Tische wurden verrückt, Stühle getragen, neues Bier serviert, und jeder bemühte sich, dem Helden so nahe wie möglich zu kommen, in der Erwartung, dass etwas Besonderes geschehen würde. Nur was würde er tun? Singen? Tanzen? Musizieren?
„Ich möchte eine Geschichte erzählen“, sagte er schließlich, als die ersten Händler schon versuchten, die Spannung im Raum einzufangen, einzutüten und zu verkaufen. „Eine Geschichte über einen Mann, der erst alles verlor, dann alles verlor und schließlich alles verlor.“
Aufgeregtes Raunen erklang. Geschichten, das war noch besser als das, was der Ausrufer einmal am Tag über das Geschehen in der Welt verkündete. Geschichten, das hatte was. Und gute Geschichten machten eine weite Runde. Aber selbst dem Dümmsten – in diesem Fall einem Schankknecht – war aufgefallen, dass an der Erzählung etwas nicht stimmen konnte. Wie konnte man dreimal alles verlieren? Indem man wieder hinzu verdiente und neu verlor? Er stellte diese Frage nicht. Stattdessen putzte er Steinkrüge und wartete auf die Antwort. Nun, vielleicht war er doch nicht der Dümmste im Raum...
„Meine Geschichte“, setzte der Tenor-Mann an, „handelt von Ramil, einem Königssohn, der glaubte, ein besonders kluger Kopf zu sein. Der meinte, selbstlos und aufopfernd handeln zu können, so er musste. Und er musste oft genug. Und dann war er doch nur ein kleiner, dummer Egoist.“
Das brachte die Menge zum Lachen. Denn Abkömmlinge von hoher Geburt, die den Anforderungen nicht gewachsen waren, brachten immer Häme, immer einen Grund zum Lachen.
„Besagter Ramil war als Prinz geboren und wurde als Prinz erzogen. Er war der Zweite nach der Geburt, aber da er sich gut machte und sein älterer Bruder ein gewaltverliebter Hitzkopf mit der Geduldsspanne eines einsamen Hengstes in einer rossigen Stutenherde war, hielt sein Vater es für eine gute Idee, ihn zu seinem Nachfolger zu machen.“
Eine Hand schoss in die Höhe. „Was ist eine Geduldsspanne?“
Die Menge lachte. Nun, zumindest jene, die wussten, oder zumindest ahnten, was das schwere Wort bedeutete. Wurde schon erwähnt, dass das Licht in mancher Stube nicht so hell brannte?
„Es ist die Fähigkeit, vor einem dampfenden Teller Suppe zu sitzen, wenn du Hunger hast und zu warten, dass du dir nicht die Schnute verbrennst“, erklärte der Held mit seinem herrlichen Tenor geduldig.
„Ah, danke. Das verstehe ich.“ Wieder lachte die Menge. Eventuell hatte der Bursche nämlich nur angegeben.
„Jedenfalls war unser Ramil eigentlich ein feiner Kerl. Er wusste genau, was sein Geburtsrecht war, und er wusste auch ziemlich genau, was er sich bei den Menschen, die ihn umgaben, leisten konnte und was nicht. Er war also zu jedem nett, der auch nett zu ihm war. Und weil der Bursche ein echtes Herzchen war, waren eigentlich alle nett zu ihm, sodass sein Vater Radabast tatsächlich dachte, der Junge könnte doch tatsächlich Verhandlungen mit anderen Königreichen führen. Aber leider, leider, hatte der König eines nicht bedacht, als er diese Entscheidung traf. Sein Sohn Ramil war ein wirklich, wirklich schlechter Spieler. Er sah bestenfalls einen Zug in die Zukunft, und die abgelegten Karten zählte er nie mit. So nett er war, so fähig er war, er hatte noch nicht gelernt, dass es auch Menschen in der Welt gab, die ihm Böses wollten. Die ihre eigenen Vorteile über seine stellten. Und dass es Menschen gab wie ihn: Könige und Königskinder, die mit ihm auf der Spitze der Treppe der Gesellschaft standen. Lasst mich erzählen, wie Ramil das erste Mal alles verlor.“
Ramil, keine neunzehn Sommer alt, hätte schon längst verheiratet sein müssen, denn sein Bruder Ragorn war es schon seit er sechzehn Jahre alt gewesen war und hatte bereits drei Bälger in die Welt gesetzt, eines davon mit seiner Konkubine, denn es hieß, so attraktiv und sportlich seine Prinzessin auch war, seinen sexuellen Appetit konnte eine Frau alleine nicht befriedigen. Ramil aber zeigte kein besonderes Interesse in dieser Richtung, obwohl er wirklich jede Frau hätte haben können, denn er war witzig, groß, gutaussehend, gut bestückt und, ich erwähnte es schon, ein wirklich, wirklich netter Kerl. Er dachte halt nur zuviel, deshalb hatte er sein Möglichstes getan, um eine Heirat zu vermeiden, so gut er konnte. Oh, das war nicht, weil er gerne und nur mit Männern schlief, im Gegenteil. Selbst für die schien er nichts übrig zu haben, obwohl es genügend gab, die von ihm gerne mal empfangen hätten. Oder die auch gerne mal bei ihm nachgestochert hätten. Nein, der Grund war, er war verliebt. Richtig verliebt. Bis über beide Ohren. Und das schon seit Jahren, genau seit dem Tag, an dem Fürst Tahir von Belegost, einer der tributpflichtigen Adligen Radabasts, das tat, was ein tributpflichtiger Fürst nun einmal tat. Er brachte seine Tochter mit, die gerade einmal zwölf geworden und damit zwei Jahre jünger als Ramil war, um sie Radabasts Haushalt zu übergeben. Denn es war üblich, viel versprechende Kinder an den Hof zu geben, damit sie dort ihre Ausbildung erhielten und auch eine Stellung. Dies versprach nicht nur Lehnstreue, sondern auch Einfluss am Hof. Die junge Fürstentochter, wirklich, damals schon ein bildhübsches blondes Mädchen – echt blond und nicht mit Säure gebleicht, möchte ich betonen – sollte nämlich eine Aufgabe übernehmen, die bis dato von Tahirs unverheirateter Schwester erledigt wurde, nämlich den königlichen Haushalt und damit die Dienerschaft zu führen. Die gute Frau ging stark auf die dreißig zu und sollte noch fix unter die Haube kommen, bevor sie zu alt zum Kinderkriegen wurde, und wir wissen ja alle, wie schwierig die Schwangerschaft für Spätgebärende ist. Tatsächlich hatte sie dafür auch einen festen Lebensplan und der Bräutigam, der es tatsächlich schon nicht mehr erwarten konnte, stand schon fest. Das Problem war, dass die Stellung, die sie innehatte, nach Möglichkeit in der Familie derer von Belegost bleiben sollte. Und da Tahir die Arbeit nicht selbst übernehmen konnte, er war nämlich wirklich schlecht im putzen, musste halt seine Tochter ran.
Damit war das Unglück natürlich geschehen, denn der gute Ramil verliebte sich auf den allerersten Blick in das blonde Mädchen. Und, da bin ich mir sehr sicher, auch sie verliebte sich in ihn. Nein, sie kamen nicht zusammen. Nie. Auch nicht fünf Jahre später, als Ramil endlich neunzehn geworden war, wo die eigentliche Geschichte beginnt. Das lag an der Tante des Mädchens, die es erbarmungslos auf seine Aufgabe vorbereitete, sodass Ehala, so hieß die Hübsche, die Arbeit bereits nach einem halben Jahr übernehmen konnte und fortan über die Dienerschaft des Königshofs gebot. Diese Aufgabe und vor allem ihre Tante hatten solch einen Eifer geweckt, dass sie ihre Arbeit über alles stellte. Wirklich über alles. Sogar über ihre Gefühle für Ramil, denn Ehala war ein wirklich gutes Mädchen, das eines sehr genau wusste: Wenn sie sich verliebte, wenn sie sich vermählte, dann verlor sie ihre Position, ihre Stellung und ihren mit jedem Tag wachsenden Einfluss am Hofe. Außerdem musste dann ihre Tante wieder ihren Posten beziehen, und das war schwierig mit zwei Kleinkindern, denn Tantchen hatte weder mit der Hochzeit, noch mit dem Kinderkriegen lange gezögert. Ein Fazit: Sie war sehr pflichtbewusst.
„Frage: Was ist ein Fazit?“, rief jemand. Vorsichtiges Gelächter erklang, denn mehr als ein Anwesender war gespannt auf die Antwort.
Der Schankknecht sah auf. „Ein Fazit ist sowas wie die Summe in einer Addition.“
Ungläubige Blicke trafen den Mann, einerseits, weil er die Antwort gewusst hatte, andererseits, weil sie kaum ein Anwesender verstand.
Der junge Mann seufzte. „Zwei und zwei ergibt vier. Das ist eine Summe. Ein Fazit ist wie wenn man Ereignisse wie Zahlen zusammenrechnet und das Ergebnis sieht.“
„Das geht?“, fragte eine ungläubige Frauenstimme.
Der Schankknecht seufzte. „Ja, das geht. Ihr macht das jeden Tag.“
„Oh.“ Die Menge lachte. Diese Antwort hatte sie verstanden.
Jedenfalls war auch Ramil sehr pflichtbewusst. Er liebte dieses Mädchen mit jeder Faser seines Leibes, mit jedem Schlag seines Herzens, und er genoss es sehr, dass sie jeden Tag um ihn war. Aber er berührte sie nie, weil er sich trotz der offensichtlichen Liebe in ihren Augen nie sicher genug war, ob sie seine Gefühle erwiderte. Denn viele Leute liebten ihn, aber ohne, ihn wirklich so zu lieben, wie er es brauchte. Oder damals gebraucht hätte.
„Du meinst, ihm hat ein fetter Bums gefehlt?“
Der Held nickte lächelnd. „Ja, es fehlte ihm ein fetter Bums. Nicht mit anderen Frauen. Als Sohn des Königs hatte man schon früh dafür gesorgt, dass er, nun, das Handwerk erlernte. Mir ihr fehlte er ihm.“
Und so lebten sie Seite an Seite in das ferne Land der Zukunft hinein, nur unterbrochen von zwei kleinen Kriegen, einem Dutzend Überfällen und einer Drachenplage im Nordteil des Landes und liebten einander, freilich ohne sich zu berühren. Aber sie waren da, sie sahen einander, sie sprachen einander, und dies war für den Moment genug. Bis Ramil es eines Tages nicht mehr aushielt. Er ging zu seinem Vater und bat um die Erlaubnis, Ehala heiraten zu dürfen. Das tat er freilich, als die junge Frau zugegen war, und jeder offene oder heimliche Beobachter berichtete über zwei Dinge: Selten war ein hübsches Mädchengesicht roter gewesen, aber selten hätten die Augen eines Mädchens mehr gestrahlt als ihre. Doch der Vater hatte geantwortet: „Mein Sohn, mein guter Sohn. Lange schon sehe ich euch zusammen und denke mir, dass Ihr ein hübsches Paar seid. Aber, mein Sohn, du wirst eines Tages König werden, und als dieser König ist die Eheschließung eine Waffe, die du einsetzen musst für das Wohl des Königreichs. Und seien wir doch ehrlich, Ehala ist ein gutes Mädchen, ein viel zu gutes Mädchen, und es wäre eine vortreffliche Schande, wenn du sie zur Konkubine nehmen würdest.“
Diese Worte machten unseren Königssohn hoch betroffen, und ohne ein weiteres Wort stürmte er aus dem Zimmer, in dem er mit seinem Vater gesprochen hatte. Ehala wollte ihm hinterher, aber ihre Pflicht biss sich fest, und sie verharrte an der Seite ihres Königs, denn der Wochenbericht war fällig, und der König liebte einen genauen Überblick über seinen Haushalt zu haben.
Ramil indes, der Ehala seine Liebe indirekt gestanden hatte, hatte sehr wohl ihre leuchtenden Augen gesehen und machte sich noch immer Hoffnung, dass dieses Mädchen seine Liebe erwiderte – während es für alle anderen längst vollkommen offensichtlich war. Und so zermarterte er sich den Kopf, wie er dieses Problem lösen konnte. Ihm fiel aber nur eine Lösung ein, und die war, nicht mehr des Königs Nachfolger zu sein. Dafür gab es nur zwei Lösungen, und ehrlich gesagt gefiel ihm eine Revolte nicht besonders. Also blieb nur die andere Sache, und die war nicht gerade leichter. Er suchte Ragorn auf, seinen älteren Bruder, warf sich vor ihm zu Boden und flehte ihn an, an seiner Statt König zu werden.
Das hatte Ragorn sehr erschrocken, denn eigentlich stand sein Schicksal ziemlich eindeutig auf das Ziel General der Armeen des Landes ausgerichtet, eine Tätigkeit, die er hervorragend beherrschen würde. Die viel umfassendere Tätigkeit eines Königs war ihm zuwider, weil er viel zu viel Neues dazulernen musste, um sie zu beherrschen. Aber als sein Bruder ihm erklärte, warum er kein König sein wollte und noch immer auf den Knien liegend versprach, der Erste Minister des neuen Königs zu werden UND ihm bei den vielen Themen zu helfen, die Ragorn ab dato studieren musste, zeigte der älteste Prinz ein Einsehen. Er redete mit seiner Frau, dann mit seiner Konkubine, fragte seine Kinder, obwohl nur der Älteste sprechen konnte, und entschloss sich, seinen Bruder qualvoll zu Tode zu foltern. Nun, zumindest bei nächstbester Gelegenheit, denn er brauchte ihn dringend als Lehrer und Ersten Minister. Denn er liebte seinen jüngeren Bruder so sehr, dass er sogar die Königssache ausprobieren würde. Obwohl er genau wusste, was das für eine Arbeit war, und bisher, bisher war er dieser Anstrengung erfolgreich aus dem Weg gegangen.
So traten sie vor den König, ihren geliebten Vater Radabast, und trugen ihm ihr Anliegen vor. Der Vater zauderte, zögerte, wog ab und erbot sich einen Monat Bedenkzeit, in der er die Fortschritte seines älteren Sohnes begutachten würde. Denn er war nicht nur ein guter König, sondern auch ein schlauer. Er wusste, wie er seine Schäfchen motivieren konnte, und ganz ehrlich gesagt fand er die Idee von zwei Königen mit einer ordentlichen Hierarchie besser, als nur einen König auf den Thron zu setzen und den anderen an die Armee zu verlieren. Und es stand vollkommen außer Zweifel, wer das Sagen in diesem Doppelgespann hatte, und das war nicht Ragorn.
So ging ein Monat ins Land, in dem Ramil und Ehala kaum die nötigsten Worte miteinander wechselten, in der der Palast den Atem anhielt und in dem Ragorn zwar nicht seine Familie und seine Geliebte vernachlässigte, aber oft genug wie nach hartem Kampftraining nachts in traumlosen Schlummer fiel, den Kopf schwirrend von Lektionen, Aufgaben und Wissen aus Büchern. Als er schließlich mit seinem jüngeren Bruder vor den König trat, war dieser begeistert und stimmte dem Plan der beiden Brüder zu - wenn sie nach einem weiteren halben Jahr ein gewisses Ziel erreicht hatten, das er definierte. Die Brüder willigten ein. Und so verlor Ramil das erste Mal alles, was er bis dahin besessen und sicher geglaubt hatte. Seine Zukunft, sein Schicksal, alles war weg. Dafür aber ging ein neuer Stern für ihn auf, ein verheißender, blonder Stern, der für ihn heller strahlte als alles andere. Nun war er frei für Ehala, und ehrlich, wäre ihr Vater Tahir nicht so ein konservativer Knochen gewesen, der Männern alles durchgehen ließ, aber bei Mädchen darauf bestand, dass sie jungfräulich in die Ehe gehen – bei seiner Tochter sah er das zumindest so – dann hätten sich die beiden sicher fortan jede einzelne Nacht geliebt. So aber blieb es nur ein Versprechen zwischen den beiden, sehnsuchtsvolle Blicke und, man höre und staune, ein paar Berührungen, mal ein zarter, mal ein ruppiger, mal ein langer, mal ein kurzer Kuss und eine gewisse Grenze, die sie jeden Tag zu übertreten drohten.
Dies könnte das Ende der Geschichte sein, denn Ramil war ein guter Lehrer und Ragorn lernte schneller und besser, als er es selbst sich je zugetraut hätte... Es stellte sich heraus, dass Ragorn tatsächlich ein ziemlich heller Kopf war, dem nur der rechte Tritt in den Arsch gefehlt hatte. Und je mehr er lernte, desto mehr Spaß machte es ihm, und alle waren zufrieden.
„Das klingt aber tatsächlich wie das Ende der Geschichte“, murrte jemand. Zustimmendes Gemurmel erklang aus der Menge.
„Gemach, gemach, ich habe doch erwähnt, dass Ramil alles dreimal verlor. Wie oft hat er jetzt alles verloren?“
Mit einem Blick, der mit Resignation gefüllt war, betrachtete der Held den Mann, der den Einwurf gemacht hatte und nun versuchte, mit allen zehn Fingern zu zählen, während seine Stirn in Falten lag, weil er sein Gehirn so sehr anstrengte, um sich zu erinnern, wie oft es gewesen war. Seine Lippen bewegten sich dazu und seine Zähne knirschten. „Ei-einmal?“, frug er schließlich ängstlich.
„Genau. Einmal bisher. Die Geschichte geht weiter.“
Da klang Jubel auf, und so mancher wohlgemeinter Schulterklopfer traf den Rechenkünstler. Nicht jeder im Raum hätte es sich zugetraut, diese Frage so schnell zu beantworten. Außer einem gewissen Schankknecht, aber der war ja auch der Dümmste im Raum.
Wie bereits erwähnt wurde, dachte Ramil von sich, ein guter Diplomat zu sein, aber wie auch erwähnt wurde, war er ein miserabler Spieler, der nicht weit genug in die Zukunft sah und nie die abgeworfenen Karten mitzählte. Keiner hatte es ihm je gezeigt, und von allein ist er nie drauf gekommen. So geschah es, dass er vor Ablauf des halben Jahres, an dessen Ende Ragorn zum Kornprinz proklamiert werden sollte und man seine Eheschließung mit der Haushofmeisterin feiern würde, zu einer wichtigen Konferenz mit den Nachbarstaaten aufbrach. Es ging um ein paar banale Dinge wie Grenzziehungen, Zollerleichterungen und Festigung der Bande zwischen den Nationen sowie den Austausch von Geiseln, die man im Falle einer feindlichen Aktion der anderen augenblicklich hinrichten konnte. Das Übliche halt.
Bei dieser Mission traf, was zu erwarten gewesen war, der gute Ramil einen anderen Prinzen, Tekkai mit Namen. Tekkai war kein übler Kerl, aber ein rechter Hitzkopf, nicht gerade mit Geduld gesegnet und vor allem krankhaft rechthaberisch. Zudem war er davon überzeugt, dass die meisten seiner Entscheidungen richtig waren. So etwa einhundert Prozent.
„Was bedeutet das, dieses Prozent?“
Der Schankknecht räusperte sich. „Das ist alluromisch. Das Pro steht für unser von, und das Cent ist ihre Zahl für hundert. All das stammt aus einer Rechenart und bedeutet, dass man eine bestimmte Summe an Dingen dem höchstmöglichen Wert zurechnet. Wenn zum Beispiel eine Kompanie Soldaten einhundert Mann stark ist, aber nur siebzig kämpfen können, dann hat die Kompanie eine Kampfbereitschaft von siebzig von hundert, also siebzig Prozent.“
„Oh. Das verstehe ich.“ Es bestand die Möglichkeit, dass der Mann das tatsächlich tat.
Jedenfalls war Tekkai kein wirklich schlechter Kerl. Hochgeboren, erzogen um König zu werden, von sich selbst überzeugt, und der festen Meinung, dass jeder seinen Platz kennen sollte. Versteht das richtig, er hatte nichts dagegen, wenn ein Bürgerlicher in den Adelsstand erhoben wurde, wenn er herausragende Leistungen erbracht hatte. Und er hatte auch nichts dagegen, wenn ein Adliger seinen Titel, seine Ländereien und sein Vermögen verlor, wenn er sich seines Titels als unwürdig erwiesen hatte. Aber er pflegte im hier und jetzt zu leben und die Menschen nicht danach zu beurteilen, was sie sein sollten oder werden konnten, sondern danach, was sie in dem Moment waren, wenn er sie traf. Das bedeutete, eine Magd behandelte er wie eine Magd – aber durchaus freundlich - einen Diener wie einen Diener, einen König wie einen König und einen Soldaten wie einen Soldaten. Spötter pflegte er umzubringen, wenn ihr Status in der Gesellschaft nicht zu hoch war, denn Spott konnte sich ein künftiger König eher nicht leisten.
Es kam wie es kommen musste. Die beiden begegneten einander, und obwohl sie sich nicht sofort und auf Anhieb mochten, so respektierten sie doch einander ihrer Ränge wegen und wegen dem Wissen, dass beide erworben hatten. Man konnte sagen, sie erkannten einander auf Augenhöhe an. Das wäre eine gute Voraussetzung gewesen und hätte gute Verhandlungen zwischen beiden Ländern bedeutet – und so sollte es auch geschehen. Man einigte sich auf ein paar Zolländerungen, zog die Grenze neu, weil ein Fluss sein Bett verlassen hatte und einigte sich auf eine Kompensation an Land andernorts von dem Land, das dadurch Gebiet gewonnen hatte, und man konnte tatsächlich einen Friedensvertrag und einen Beistandspakt aushandeln, der beide Reiche auf Jahrzehnte stabilisieren würde. Aber wie den letzten Punkt stabilisieren, wie ihn mit soviel Sicherheit ausstatten, dass er auch Jahrzehnte hielt?
Nun, da passierte Ramil ein Malheur, denn er sprach einen Gedanken aus. „Tekkai, ich bin froh, dass du keine Schwester hast. Sonst müsste ich sie heiraten, und der Pakt wäre stabil.“
Dies irritierte den anderen Prinzen. „Hast du etwas dagegen, mein Schwager zu werden?“
„Nein, aber als Königssohn wäre ich zu dieser Hochzeit verpflichtet, aus Treue zu König und Volk. Da dies aber nun nicht so ist, werde ich bald meine Jugendliebe heiraten.“
Das machte Tekkai ganz bestürzt, denn er hatte weder eine Jugendliebe, noch eine Person, die er heiraten würde. Denn der Gute war immer so aufbrausend und kurz angebunden, dass selbst die Konkubinen, die man ihm zuführte, damit er Dampf ablassen konnte, nur kurz in seiner Nähe bleiben wollten. Man konnte ja nie wissen, was geschah. „Dann bewahre es dir und mach es schnell, bevor die Pflicht zuschlägt. Dein Land hat noch mehr Nachbarn, weißt du?“ Dazu lachte er schallend und klopfte Ramil auf die Schulter. Und da, genau da beging der junge Prinz seinen Fehler. Er lud Tekkai ein. Zu einer Audienz. Bei seinem Vater. Damit er persönlich die Vereinbarungen, die Tekkai und Ramil getroffen hatte, gegenzeichnete. Tekkai, der sich bei den neuen Verbündeten seltsamerweise sehr sicher fühlte, willigte ein. Da er tatsächlich ein wenig Leerlauf im Terminplan hatte, wollte er mit Ramil zur Königsburg reisen und die ganze Geschichte unter Dach und Fach bringen. Ramil willigte ein. Und damit nahm das Verhängnis seinen Lauf.
Kaum waren die beiden mit ihren Gefolgsleuten aufgebrochen, erreichte Ramil die Kunde, dass wieder einmal die Volgir mit dreihundert Männern in ihr Land eingebrochen waren und die befestigten Dörfer an der Grenze zu brandschatzen drohten, sodass Ramil auf der Stelle mit seinen Rittern zu Hilfe eilte. Tekkai aber sandte er voraus, mit seinen Empfehlungen und besten Wünschen, obwohl der Prinz angeboten hatte, an seiner Seite zu kämpfen. Was im Nachhinein die beste Idee gewesen wäre. Doch Ramil wehrte ab, auch weil er dachte, die Volgir zu besiegen, und das in der Provinz von Ehalas Vater, Tahir von Belegost, würde sich gut machen, wenn er den Fürsten letztendlich um die Hand seiner Tochter bat.
Und so brach Ramil auf, um die Volgir daran zu hindern, das Blut seiner Bürger zu vergießen, und Tekkai, leicht verärgert, weil er zurückgewiesen worden war, zog weiter zur Königsburg. Und weil er so schlechte Laune hatte, trieb er seine Männer und die Eskorte Ramils, die ihn begleitete, unerbittlich an. Nicht, weil er die Burg schnell erreichen wollte, sondern weil er sonst geplatzt wäre vor Ärger. Denn obwohl er einsah, dass Ramils Weg der Richtige war, grämte er doch wegen der Kämpfe, die ihm nun entgehen würden. Hatte ich erwähnt, dass er ein Hitzkopf war?
Dadurch, dass er das Tempo vorgab, befand sich die Königsburg noch im Großreinemachen, denn natürlich war Tekkais Ankunft angekündigt worden, und der König hatte einen kompletten Putz befohlen, um auf den Kronprinz des Nachbarreichs den bestmöglichen Eindruck zu machen. In genau diese Arbeiten platzte Tekkai nun hinein, und er war peinlich berührt, denn er war ein heller, ein sehr heller Kopf, und verstand, dass sein Ärger diese Peinlichkeit verursacht hatte. Nun war er aber nicht gewohnt, Fehler bei sich zu suchen, und fand er doch mal einen, wiegelte und wälzte er sie gerne ab. Also kam, was kommen musste. Den Ärgerlichen markierend, obwohl er eigentlich verlegen war, sprang er vom Pferd, rief nach den Stallburschen, damit sie seinen Hengst einstellten und rannte dabei eine Magd um, die auf ihn zugeeilt war, um ihm zu Diensten zu sein. Einziger Haken bei der Geschichte: Es war keine einfache Magd, sondern Ehala, die die derberen Kleider der Dienstmägde trug, weil die große Aufräumaktion damit leichter zu bewältigen gewesen war.
Wie schon erwähnt war Tekkai kein schlechter Kerl, und als er die Magd umrannte, die eigentlich eine Fürstentochter war, erschruk er bis ins Mark, stoppte sofort und half der gestrauchelten Maid wieder auf die Beine. Und als er die blutende Wunde sah, die sein Schwertknauf in ihrem Gesicht gerissen hatte, stammelte er verlegen Entschuldigung um Entschuldigung, denn ein nicht unbeträchtlicher Teil des Kapitals eines Mädchens war ihr Gesicht. Sofort und auf der Stelle wollte er das Mädchen kompensieren und gab ihr ein Handgeld von einhundert Goldvenn mit, was einem guten, einem sehr guten Jahreslohn in seinem Land entsprach.
Dieses Geld, dieses gute Geld aber warf Ehala in einem Anflug von Wut von sich. Eine Magd hätte gut davon leben und sich einen anständigen Ehemann suchen können, der sie trotz der zu erwartenden Narbe heiraten würde – ehrlich, weder sie noch Tekkai dachten in dem Moment daran, dass die königlichen Heiler einen Großteil ihres Stolzes daraus bezogen, kleinere Wunden narbenlos zu verheilen und Narben so klein wie möglich zu halten – aber eine Fürstin, die einen Prinzen heiraten würde? Zehn Truhen Gold wären nicht genug gewesen.
Das Handeln der jungen Frau irritierte Tekkai, und das erste Mal in seinem Leben gab er nicht seinem impulsiven Wesen nach, schüttelte sie nicht an den Schultern und brüllte sie nicht an mit den Worten: „Weib, bist du von Sinnen?“ Stattdessen frug er: „Ist es nicht genug?“ Und er winkte schon seinem Schatzmeister, denn sein schlechtes Gewissen wog schwer.
Da antwortete Ehala, und es war eine wirklich dumme Idee von ihr, es so zu formulieren: „Mein Name ist Ehala von Belegost, Tochter von Fürst Belegost, Herrin des Haushalts von König Radabast. Ihr beleidigt mich, wenn Ihr mich zu kompensieren wünscht. Es gibt nichts, was ich mir von Euch wünsche und es gibt nichts, was Ihr mir geben könnt, was besser wäre als die Narbe, die ich zu erwarten habe.“ Brüsk wandte sie sich ab und rauschte davon, den belämmerten Tekkai zurücklassend, der einmal, tatsächlich einmal in seinem Leben sich selbst gegenüber eingestand, wirklich großen Mist gebaut zu haben. Denn wer würde eine Fürstentochter mit narbigem Gesicht denn jetzt noch nehmen? Und dies war der Moment, in dem ihm die Worte Ramils wieder einfielen über die Schwester, die er nicht hatte. Warum nicht die Chancen des Mädchens auf eine Heirat bewahren? Warum nicht eine Frau von hohem Blut zur Prinzessin seines Landes machen? Denn, wenn er ehrlich war – und so oft an einem Tag war das für Tekkai eine Sensation – hatte sie ihm sehr gut gefallen, selbst in den derben Putzkleidern. Und ihr Mut und ihre direkte Art sprachen ihn sehr an, war er doch selbst ein Hitzkopf. Nein, er war ihr nicht in Liebe verfallen, aber, hey, er konnte sich vorstellen, mit dieser Frau sein Leben zu verbringen. Nicht, dass sie viel Auswahl hatte, jetzt, wo die Narbe drohte, ihr Gesicht zu entstellen. Denn im Grunde seines Herzens war Tekkai ein zutiefst einsamer Mann, dem es einfach nicht gelang, jemanden zu finden, der zu ihm passte, geschweige denn jemanden zu finden, der nicht vor Angst in seiner Nähe zitterte, weil sein Jähzorn legendär war. Man kann sagen, Tekkai hat alles ziemlich gut gemeint. Und, das muss man auch sagen, er wusste ja gar nicht, dass Ehala die Jugendliebe war, die Ramil zu heiraten gedachte. Ja, er hielt das für eine ziemlich gute Idee. Und diese gute Idee unterbreitete er, kaum zum König vorgelassen, Radabast selbst.
Radabast war im ersten Moment begeistert, weil dies bedeutete, den Bund zwischen beiden Ländern in einem Maße zu festigen, den sonst nur eine Heirat unter Königsfamilien erreichen konnte. Dann aber erinnerte er sich daran, wie sehr sich seine beiden Söhne angestrengt hatten, um es Ramil zu ermöglichen, Ehala zu heiraten. Leider sprach er diese Gedanken nicht aus und leider beriet er sich nicht mit seinem Sohn Ragorn. Stattdessen rief er die junge Frau selbst zu sich, kaum dass die Heiler sie aus den Fingern gelassen hatten, und der frische Wundverband entstellte ihr Gesicht mehr, als zu erwarten gewesen war. Dies vorweg: Der Heiler des Königs selbst hatte den Schnitt genäht, und dies so fein und so gut, dass keine Narbe bleiben sollte. Zum Glück war der Schnitt auch nur oberflächlich gewesen, aber all das konnte zu dieser Zeit noch niemand wissen.
Ehala war von dem Angebot mehr als geschmeichelt, war es doch eine Kompensation, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte, und Tekkai war trotz seiner offensichtlichen Charakterschwächen doch ein freundlicher, gut aussehender und starker Mann. Ehala lehnte ab, denn einem Vergleich mit ihrem Ramil konnte er nicht standhalten. Doch etwas geriet ihr in den Weg, bevor sie die Ablehnung aussprechen konnte. Ihr Stolz. Ihr Stolz darauf, stets das Beste für ihren König, für ihre Familie, für ihr Land zu tun. Also schloss sie den Mund wieder, ging in sich und frug sich, was das Beste wäre, was sie tun konnte. Und, das sei dazu gesagt, es schlich sich etwas Zweifel in ihr Herz, ob Ramil sie jetzt mit der Narbe im Antlitz überhaupt noch haben wollte. Und anstatt in Ruhe darüber nachzudenken, sich mit dem König zu besprechen oder zumindest Ramils Bruder und dessen Frauen zu befragen, machte sie den größten Fehler. Sie traf eine schnelle Entscheidung.
„Für den Frieden zwischen unseren Ländern, für eine gemeinsame Zukunft und um meiner Familie und meinem König zu dienen sage ich ja.“ Denn Vernunftehen waren in ihren Kreisen die Norm, nicht die Ausnahme.
„Norm?“, fragte jemand, und alle Blicke gingen zum Schankknecht.
Der blickte verlegen in die Runde. „Norm. Das ist, wenn ein Bauer fünfzehn Kühe hat, sie auf die Weide schickt, und fünfzehn kommen wieder rein. Es können auch vierzehn sein, dann ist etwas nicht normal. Es können sechzehn sein, dann ist garantiert etwas nicht normal.“
Die Menge murmelte bestätigend. Das hatten alle gut verstanden, selbst die Gebildeteren unter ihnen.
Tja, und so passierte es, dass Tekkai und Ehala miteinander verlobt wurden. Es war eine reine Zweckehe, aber immerhin fanden sie einander nicht vollkommen abstoßend, und es schien abzusehen zu sein, dass Ehala das Wunder gelingen konnte, ausgerechnet ihn zu bändigen.
Die Sache, die Ramil davon abgehalten hatte, mit Tekkai zur Burg seines Vaters zu reisen, dauerte länger an, als er selbst beabsichtigt hatte. Er wurde in sehr schwere Kämpfe verwickelt und war wochenlang damit beschäftigt, die Volgir vom Land seines Schwiegervaters in spe zu vertreiben, wo er sie nicht komplett unterwerfen konnte. Als er mit dieser wichtigen Arbeit fertig war, fragte Tahir da: „Junge, bist du von Sinnen?“ Dies verwirrte den Prinzen, denn er dachte, er hätte eigentlich ziemlich gute Arbeit geleistet. Dann aber sagte ihm Tahir, was während seiner Abwesenheit passiert war und wie er das hatte zulassen können. Denn zu diesem Zeitpunkt waren Tekkai und seine Braut bereits außer Landes. Dies war der Moment, in dem Ramil zum zweiten Mal alles verlor. Seine Mühe, nicht König werden zu müssen, seine Liebe zu Ehala, alles, was ihm lebenswert erschien, auf einen Schlag war es ihm genommen worden. Und als der Fürst sah, in welch großer Verzweiflung der Junge zu stürzen drohte, erhob er sich von seinem Thron, ging auf ihn zu und umarmte ihn, um ihm heimlich einen Rat ins Ohr zu flüstern, den er nie hätte laut aussprechen dürfen, nicht gegenüber dem Sohn eines Mannes, dem er Lehnstreue geschworen hatte. Ramil aber hörte diese Worte. Und er verstand sie.
Wie gesagt, wochenlang hatte er sich mit den Volgir geprügelt und etliche ihrer Stämme unterworfen, andere vernichtet. Man konnte sagen, an diesem Teil der Grenze herrschte für eine erstaunlich lange Zeit Ruhe und Frieden. Und in diesen Wochen war einiges geschehen. Die Hochzeit war bereitet worden, die Gäste waren geladen worden, und eine Einladung war selbstverständlich an Ramil gegangen, der als Ehrengast und Zeuge des Bräutigams geladen war. Man konnte von Glück sagen, dass der Kampf gegen die Volgir zum Schluss ganz schnell vorbei gewesen war, denn nun blieb gerade noch mal eine Woche bis zur Trauung, und das war wenig Zeit, um umzusetzen, was Tahir ihm geraten hatte.
Mit seinen Getreuen ritt er scharf wie nie zur Königsburg. Dort angekommen ließ er einen Schreiber kommen und diktierte ihm seinen Willen. Schwungvoll unterschrieb er das amtliche Dokument und ging damit zu seinem Vater. „Mein König, ich sage mich los von dir, los vom Königreich, los von allem Besitz, den ich diesem Land verdanke, los von all meinen Verbindungen, die mich hier halten. Nichts von diesem Land will ich fürderhin in Anspruch nehmen, so ich nicht dafür bezahlen kann.“
„Ja, Himmel, mein Junge, aber wieso denn?“, rief da der König entgeistert.
Ramil lächelte traurig. „Damit all das, was ich nun tun kann und tun werde, nicht auf mein Heimatland und nicht auf meinen Vater zurückfällt.“
Da begriff der weise König, dass Ramil Ehala nicht aufgegeben hatte, dass er um sie kämpfen würde. Drum trat er zu ihm, legte ihm die Hand auf den Kopf und segnete ihn und seine Wege. „Geh deiner Wege, mein Sohn, und gehe sie stolz. Und auch wenn du dich losgesagt hast, dieser Palast wird immer deine Heimat sein“, sagte er.
Nun trat auch sein Bruder hinzu, der zufällig im Saal gewesen war. Er umarmte seinen Bruder herzlich und verbat sich von ihm jede Entschuldigung, denn auch er hatte lieber was von „Pflicht“ gemurmelt, als etwas für seinen Bruder und sein Mädchen zu tun, und deshalb schämte er sich sehr.
Derart ermutigt sagte der Mann, der nun kein Prinz mehr war: „Löst meinen Haushalt auf! Alles, was ich erhalten habe als Prinz dieses Landes, soll in die Kasse oder den Besitz meines Vaters fließen. Alles, was übrig bleibt, macht zu Geld und übergebt es mir. Ich reise heute noch ab.“
Und so kam es, wie es kommen musste. Alles, was Ramil als Prinz erhalten oder verdient hatte, ging an den König, und das war ein stolzes Sümmchen. Und alles, was er sich selbst erwirtschaftet hatte, mit seiner eigenen Hände Arbeit, mit seinem Verstand und nicht als Prinz, wurde zu Geld gemacht. Als also Ramil am Abend davon reiten wollte, sah er nicht ohne Verwunderung die Kutsche, die hinter seinem Pferd auf ihn wartete. „Was soll das?“, frug er da Colm, den Anführer seiner ehemaligen Leibgarde, mit der er in mancher Schlacht gestanden hatte.
„Das ist dein Geld, Herr“, sagte er, da er Prinz nicht mehr sagen durfte. „Wir haben alles zu Geld gemacht, was dein ist und dir nicht als Prinz geschenkt oder gegeben wurde. Es wurden zwei Truhen Gold. Über zweihunderttausend Venn sind es, Herr.“
Das waren zweitausend gute Jahreslöhne, und eigentlich ein ziemlich guter Start in ein neues Leben. „Und die anderen Wagen?“, hakte er nach.
„Dort sind all die Dinge, die wir noch nicht zu Geld machen konnten, Herr. Und ab da beginnt der Wagenzug der Familien.“
„Der Familien?“
„Der Familien derjenigen, die dich begleiten werden, Herr“, sagte Colm mit fester Stimme. „All jene, die dir gedient haben, nicht dem Prinzen, und die sich bereit erklärt haben, dich weiterhin zu begleiten.“
Nun erst fielen Ramil die vielen Menschen auf. Er erkannte seine Garde, die gerade erst mit ihm gegen die Volgir gekämpft hatte, er sah seine Schreiber und Gelehrten, sah Gesichter aus seiner Dienerschaft und ein paar Soldaten mehr, die ihm nie direkt gedient hatten, die aber wild entschlossen waren, ihn zu eskortieren. Colm umfasste all das mit einer großen Geste seiner langen Arme und sagte: „Herr, all dies ist dein. Wir folgen dir überallhin.“
Das rührte Ramils Herz. Nun hatte er zwar zum dritten Mal alles verloren, seine Prinzenwürde, seine Arbeit in der Regierung und die Ämter und die Pflichten, die er bisher ausgefüllt hatte, aber er war nicht allein, und er war auch nicht arm. Denn neben dem Geld besaß er noch einige Schätze seiner verstorbenen Mutter, die sie ihm vermacht und die recht leicht auch zu Geld gemacht werden konnten.
„Und wohin, Herr, werden wir gehen?“, fragte Colm.
„Wir besuchen Tekkai“, sagte er schlicht, „und holen meine Braut zurück.“
Es gab kein Murren, aber auch keinen Jubel. Es gab nur grimmige Entschlossenheit der Männer und Frauen, die sich entschieden hatten, ihm, und nur ihm zu folgen. So ritten und fuhren sie aus. Und bevor sein Tross die Landesgrenze erreicht hatte, war er bereits um ein Drittel gewachsen, denn weitere Freunde des ehemaligen Prinzen hatten alles hinter sich gelassen, um ihm in der Fremde zu dienen. Und auch Tahir stellte ihm heimlich ein Kontingent an Geld, Soldaten und Gelehrten zur Verfügung, dass es der Aussteuer einer Fürstentochter entsprach.
So reiste Ramil also in Tekkais Land. Er gebot über fünfhundert Soldaten, fast ebenso viele Diener, Boten und Schreiber sowie Gelehrte. Man konnte sagen, mit sich führte er die Keimzelle eines neuen Landes der Zivilisation. Wohin auch immer er sich wenden würde, der Anfang würde vielversprechend sein.
Als sie die Burg von Tekkais Vater, König Terof, erreichten, hatte Ramil sich so viele Worte zurechtgelegt, die er hatte sagen wollen, denn obwohl er dazu bereit war, seine Braut notfalls mit Gewalt zu retten, so wusste er doch nicht, ob sie ihn überhaupt noch wollte, und wie Tekkai reagieren würde, der ihm die hohe Ehre erwiesen hatte, sein Zeuge der Trauung zu sein. Immerhin kam er geschlagene drei Tage vor der Hochzeit an, und auch wenn er nichts darauf gab, dass seine Braut jungfräulich in seine Arme sank, so gab es doch das Edikt ihres Vaters, der ihr vor der Ehe die körperliche Liebe verbot.
So also trat Ramil von Tekkai und wurde von ihm begrüßt wie ein alter Freund. Doch alles, alles, was sich Ramil an Worten zurechtgelegt hatte, wurde von einem einzigen Moment zunichte gemacht, denn man konnte das Herz zähmen, aber manchmal war es stärker. Ehala lief in den Raum, stockte, sah ihren Geliebten an, und alle Widerstände, alle Vernunft in ihr zerbrach. „RAMIL!“, rief sie vor lauter Freude, Erleichterung, aber auch Schmerz, und stürzte in seine Arme. „EHALA!“, rief Ramil da und griff nach ihr, so als wolle er sie nie wieder loslassen. Alle Worte, alle Vorwürfe, was sie sich dabei gedacht hatte, all das konnte er nicht aussprechen, weil er sich nicht sattsehen konnte an ihren Augen und an ihrem lieblichen Gesicht. Ehrlich, es hatte gar keine Narbe gegeben. Der Heiler Radabasts war verdammt gut. Stattdessen küssten sie sich wie nie zuvor in ihrem Leben, wie Ertrinkende, die nach Luft schnappten, und es hätte nicht viel gefehlt, da hätten sie hier an Ort und Stelle die Anordnung von Ehalas Vaters aber sowas von missachtet.
Jemand verstand vor allen anderen und lachte laut.
Die anderen folgten mit Verspätung. Erst jene, die auch verstanden hatten, dann alle anderen, die nichts verstanden, aber nicht hatten auffallen wollen.
Tekkai aber musterte die beiden und räusperte sich sehr laut – sehr, sehr laut, bevor das erste Kleidungsstück geöffnet wurde.
Nun lachten die nochmal, die zuerst nichts kapiert hatten. Der Schankknecht war freilich nicht darunter.
„So ist das also“, sagte Tekkai.
„Ja, so ist das“, sagte Ramil und hielt die Arme trotzig um Ehala geschlossen.
„Aber warum habt Ihr mir nichts davon gesagt? Warum hat dein Vater nichts gesagt? Warum hast du nichts gesagt?“ Verzweifelt rang Tekkai die Hände. „Verdammich, Liebe ist doch wichtig!“ Der gute Prinz war nahe daran, dem ehemaligen Prinzen Ramil die Ohrfeige seines Lebens zu verpassen.
„Dies und das ist passiert und die Volgir waren hartnäckig. Hätte ich dich und deine Mannen nur mitgenommen.“
„Ja, hättest du das mal getan, dann wäre all das nicht passiert“, sagte Tekkai. „Und was soll ich jetzt machen? In drei Tagen ist die Hochzeit des Prinzen mit der Fürstentochter, die zwei gute Länder einander näher bringen soll. Und jetzt kommt Radabast und verlangt Ehala zurück...“
„Nein, das tut er nicht“, erklärte Ramil. „Ich habe abgeschworen. Ich bin nicht länger Prinz des Landes meines Vaters. Ich habe meine Ämter aufgegeben und ich habe mein Vermögen der Kasse des Reichs zurückgegeben.“
„Ach, und dann kommst du mit einer offiziellen Abordnung?“
„Ich habe nichts bei mir, was mir nicht persönlich gehört. Und die Männer und Frauen folgen mir aus freien Stücken, weil sie mir verpflichtet waren, nicht meinem Vater oder meinem Bruder.“
„Du bist mit einem ganzen Hofstaat angereist, einem Prinzen würdig“, nuschelte Tekkai vor sich hin, während er überlegte, wie das Dilemma zu beenden war. Die einfachste Lösung wäre gewesen, Ramil zu erschlagen und Ehala zu zwingen, seine Frau zu werden, aber dafür war er nicht der Mann. „Du könntest sofort ein eigenes Land gründen, scheint mir.“ Er hob beide Hände. „Versteht mich nicht falsch, ich liebe Ehala nicht, aber ich mag sie, mag sie sehr. So sehr, dass, jetzt wo ich weiß, wen sie liebt, ich ihr nichts mehr wünsche als alles Glück und ihren Geliebten als Mann. Ich finde dies besser als dich und deinen Hofstaat niederzumetzeln, aber glaube mir, Ramil, ich liebäugele mit dieser leichten Methode.“
Ramil sah ihn da ernst an, die Arme um Ehala ein wenig enger schlingend. „Als ich ankam, hatte ich viele Worte vorbereitet, meine Argumente zurecht gelegt. Aber all das nützt mir nichts. Ich lege deshalb mein Schicksal, ich lege Ehalas Schicksal in deine Hände... Freund.“
Dies berührte Tekkai tief in seiner Seele. „Nicht Freund. Bruder“, sagte er und legte beiden seine Hände auf die Schultern. Dann aber dämmerte ihm die Erkenntnis, die er gebraucht hatte. „So, so, losgesagt hast du dich. Kannst du dir vorstellen, du und deine Gefolgsleute, fortan mir zu dienen?“
So eine Art von Hoffnung glomm in Ramil auf. „Ich würde alles tun, was mich diese Frau heiraten ließe.“
Da lachte Tekkai laut auf und klopfte beiden erneut kräftig auf die Schultern. „Es ist abgemacht!“
Drei Tage darauf trafen nach und nach die Gäste ein. Darunter waren auch Radabast und sein Sohn, der zukünftige König Ragorn mit seinen beiden Frauen. Sie waren mehr als verwundert, als sie keinerlei Spuren von Kämpfen entdeckten, dafür aber in der Dienerschaft für die Hochzeit viele bekannte Gesichter, die Ramil gefolgt waren, als er sich losgesagt hatte.
König Terof, alt und gebeugt, kam selbst herbeigehumpelt, um sie zu begrüßen. Er strahlte die beiden an und umarmte sie wie alte Freunde – was gemein war, denn beide waren größer als er und mussten sich dafür erheblich bücken. „Ihr seid also wie versprochen gekommen, um der Hochzeit meines Sohnes und von Fürstin Ehala beizuwohnen, auf dass ewiger Friede zwischen unseren Ländern herrscht.“
So formuliert musste Radabast zustimmen, obwohl er bereit gewesen war, für das Glück seines Sohnes auf alle Vernunft zu scheißen und einen Krieg anzuzetteln. „Natürlich, guter Freund. Wir werden Zeuge sein von Ehalas und Tekkais Glück.“
„Nicht Tekkai. Ramil“, korrigierte Terof.
Verdutzt sahen sich König und Prinz an. War der alte König senil, oder brachte er nur etwas durcheinander?
„Wisst Ihr“, sagte Terof da, „es war mir immer ein Schmerz in meiner Seele, dass ich der Welt nur einen Sohn hinterlassen konnte. Mein Weib starb zu früh, und meine Lenden wollten nie wieder eine Frucht erzeugen. Dann aber kam vor drei Tagen dieser junge, viel versprechende Mann an meinen Hof, der seinem Land abgesagt und die Bildung eines Königs hat, und der mit seinem Stab sofort jegliche königliche Arbeit aufnehmen konnte. Er, ein guter, ein sehr guter Freund von Tekkai, hatte alles hinter sich gelassen, um Ehala nahe zu sein, und alleine das hätte mein Herz gerührt. Als mir mein erster Sohn aber die Möglichkeiten erklärte, die sich daraus ergaben, vor allem für den dauerhaften Frieden unserer beider Länder, da er dort Bruder und Vater hat, erkannte ich die unglaublichen Möglichkeiten. Also adoptierte ich ihn, denn er ist ein sehr viel ruhigerer, besonnenerer und überlegter Bursche als Tekkai und damit die bessere Wahl als künftiger König. Nach mir auf dem Thron: Ramil!“
Nun, das versprach tatsächlich Frieden zwischen den beiden Ländern, mehr noch, die Möglichkeit, nach und nach miteinander eine Union zu gründen oder gar zu verschmelzen, was ihnen allen eine besondere Stellung in der Region einbringen würde, Sicherheit, Wohlstand, Schlagkraft.
Nun kamen auch Ramil, Ehala und Tekkai hinzu, um Vater und Bruder zu begrüßen.
Darauf folgte eine wirklich schöne Hochzeit der auch Ehalas Vater Tahir und ihre Mutter Ehomin beiwohnten und Ehrengäste waren. Nach der Vermählung nahm Ramil sofort seine Arbeit auf, um als künftiger König die Landesgeschäfte zu steuern. Dies tat er so gut, dass Terof in Jahresfrist zurücktrat und ihn zum König proklamierte, und Ehala zur Königin.
Was aber Radabasts Haushalt anging, so musste besagte Tante nun doch wieder in den Hof zurückkehren. Aber immerhin waren ihre Blagen nun älter, und man konnte sie während der Arbeit von der Dienerschaft betreuen lassen... Eventuell hatte ihr sogar der Palast und ihre Aufgabe gefehlt. So kam es, dass beide Länder dauerhaften Frieden hatten, denn die Könige waren Brüder und vertrauten einander blind.
Ja, Ramil hatte dreimal alles verloren, zum Schluss aber dank Tekkai mehr gewonnen, als er je zuvor gehabt hatte. Und Tekkai war das Problem los, selbst einmal König zu werden und sich all die Arbeit aufzuhalsen, die so viel Gleichmut erforderte, den er nie gehabt hatte.
Damit war der Schluss der Geschichte erreicht, und die Menge spendierte dem Helden reichlich an Applaus dafür und wie er sie erzählt hatte. Ihm wurde zugeprostet, und die Combo spielte drei Tuschs, die von der Menge begeistert mitgetragen wurden.
„Und was ist nun mit Tekkai?“, rief jemand aus der Menge. „Hat er wirklich auf die Krone verzichtet?“
Der Held lächelte. „Tekkai... Ja, der gute Tekkai. Er war schon immer kurz angebunden gewesen, was der Kummer seines Vaters gewesen war. Es war abzusehen gewesen, dass er etliche Entscheidungen getroffen hätte, ohne sie richtig zu überdenken, wie es Ramil tat. Ab jetzt, meine ich. Und auch Tekkai selbst hatte sich nie so recht mit der Bürde dieses Amtes und all ihren Aufgaben abgefunden. Darum hatte er die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, ein Prinz seines Landes zu sein, aber zum ersten Mal in seinem Leben sein Schicksal selbst zu wählen. Er ging hinaus in die Welt, um für sich selbst die Frau fürs Leben zu finden. Und während er dies tat, suchte er nach fähigen Männern und Frauen, die ihm dabei helfen konnten, seinem Land, genauer gesagt, seinen beiden Ländern besser zu dienen.“
„Hat er denn seine Liebe gefunden?“, frug ein anderer.
„Der Legende nach“, meldete sich der Schankknecht zu Wort, „traf Tekkai auf Unasil, die beste Kriegerin der Untastu, schlug sie im Zweikampf , entband sie aber vom Kodex ihres Volkes, der sie dazu bestimmt hätte, fortan sein Eigentum zu sein. Sie konnte gehen, wohin sie wollte. Doch bei soviel Großmut entschloss sie sich, ein klein wenig bei Tekkai zu bleiben, wenn er schon fähige Leute suchte. Und es heißt weiter, die beiden hätten dann tatsächlich zueinander gefunden.“
Da lachte die Menge. Das war der Beweis, dass der Schankknecht eben doch der Dümmste im Raum war. Eine Untastu bändigen, ohne, dass sie an ihre Eide gebunden war, was für ein Unsinn!
Da aber ging die Tür auf, und eine große, blonde Frau in der vollen Kriegsmontur ihres Volkes trat ein. Sie sah sich kurz um, bevor ein Lächeln ihr Gesicht aufblühen ließ wie die Sonne die Blumenknospen. „Tekkai, da bist du ja.“ Sie trat eilig an den Tisch heran, und der Held erhob sich rasch, um sie in die Arme zu schließen. „Unasil, mein Engel. Du bringst Kunde aus der Heimat?“
„Es dräut Krieg, und die Könige Ramil und Ragorn wollen ihren Bruder und General im Lande wissen. Wir sollten sofort aufbrechen.“ Sie griff nach ihrer Börse, aber Tekkai winkte ab. „Ich habe im voraus bezahlt.“ Er gürtete das Schwert um seine Hüfte und warf sich den Umhang um. „Dann wollen wir meine Brüder auch nicht warten lassen! Auf bald, gute Leute!“, rief er und winkte in die Menge.
Diese war starr vor Entsetzen, denn selbst dem Dümmsten war klar, nicht unbedingt wessen sie Zeuge gewesen waren, zugegeben, aber dass sie Zeuge eines bedeutenden Moments geworden waren, der vielleicht sogar einmal besungen werden würde. Und so blieb sie beeindruckt und stumm, bis die Tür hinter dem Paar ins Schloss fiel.
„Eine Runde aufs Haus“, sagte da der Wirt, denn dieser Tag würde mit Sicherheit dafür sorgen, dass noch mehr Gäste sein Etablissement besuchen wollten.
Doch die Tür öffnete sich noch einmal, und Tekkai steckte sein ärgerliches Gesicht hindurch. „Kommst du nun, oder liebst du diese Arbeit hier so sehr? Ich habe doch gesagt, ich suche nach fähigen Leuten.“
Erstaunt sahen sich die Männer und Frauen an. Wer war gemeint? Wer erhielt die Ehre, Tekkai und Unasil zu begleiten und zwei Königreichen zu dienen? So mancher mächtiger Mann mit schwerer Waffe sah sich schon mit ihm reiten, da sprang der Schankknecht mit Schwung über den Tresen, nahm die Schürze ab und warf sie dem Wirt zu. „Ich kündige! Behalte meinen Lohn!“ So eilte der junge Mann hinaus, empfing einen wohlwollenden Schulterklopfer von Tekkai und ward auf Jahre nicht mehr gesehen. Aber in den Liedern über Tekkai, da sollte man ihn noch oft wieder antreffen.
Und es wurden viele Lieder gesungen über ihn und jene Tapferen, die ihm folgten.
Dies machte die Schänke Zum gebrochenen Rad um eine Erzählung reicher, die mehr wert war als die alte Legende mit dem König, der sich fast zu Tode soff. Die Schänke änderte übrigens ihren Namen und hieß fortan: Zu den drei Prinzen.