Die Bar - Aus Aidens Sicht
von ErikDraven
Kurzbeschreibung
Ich bin ein Rächer. Ein Dämon. Ein Bestrafer. Ich bin eine Präsenz des Zorns. Der Rache.
GeschichteDrama, Mystery / P18 / Gen
Aiden
Jodie Holmes
02.03.2015
02.03.2015
1
2.404
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Die Bar liegt ausserhalb, an einer Verbindungsstrasse zur nächsten Ortschaft. Es ist still an diesem Ort. Das ist etwas, was mir in der Welt der Sterblichen immer wieder auffällt: Die Stille.
Sie wirkt unterschiedlich auf die Menschen. Die einen schätzen, ja, lieben sie geradezu. Die anderen jedoch fühlen sich unwohl, sie fürchten sich sogar vor ihr.
Ich hingegen geniesse dieses Fehlen von Lärm. Dieses Schweigen. Diese Ruhe. Diesen Frieden.
Jodie jedoch wirkt unsicher. Nervös. Ich würde sie gern beruhigen, doch wann immer ich dazu ansetze, fängt sie gleich an, mir einreden zu wollen, dass alles gutgehen wird.
"Keine Sorge, Aiden, es ist alles okay."
Nein, nichts ist okay. Gar nichts. Wir sind aus dem DPA-Forschungskomplex ausgebrochen, wir haben Coles Körper missbraucht, ihn gewaltsam dazu gebracht, uns in seinem Wagen durch die Gegend zu fahren. Dann hat Jodie den Wagen an sich gerissen und mir befohlen, Cole in den Wald zu schicken.
Ob ich das für eine gute Idee halte? Nein. Aber Jodie will unbedingt ausgehen, also tu ich ihr den Gefallen. Natürlich wird sich das noch rächen, sobald Nathan von der Sache erfährt, doch das wird noch eine ganze Weile dauern.
Der Wagen fährt langsam auf den Parkplatz der Bar. Knirschend kommen die Reifen der schweren Limousine zum Stehen. Jodie steigt aus und blickt sich um.
"Tja, hier ist die Bar."
Ja, wir sind am Ziel angekommen. Und je länger ich hier bin, desto unwohler fühle ich mich. Nicht, dass mich hier irgendwas bedrohen könnte, doch ich mache mir Sorgen um Jodie. Sie gehört nicht an diesen Ort.
Während ich über Jodies linker Schulter schwebe, lasse ich die Eindrücke dieses Ortes auf mich wirken. All die Bilder, Töne, Empfindungen und Erinnerungen. All das, was die Menschen hier zurückgelassen haben.
Menschen sind seltsam. Ihnen ist nicht bewusst, wieviel sie von sich an den Orten lassen, die sie besuchen. Und ich meine damit keine materiellen Dinge. Ich meine Empfindungen. Trauer. Freude. Schmerz. Ärger. Furcht. Unsicherheit. Scham. Übelkeit. Boshafte Freude.
Nein, Jodie sollte nicht hier sein. Aber wie so oft, hat sie auch dieses Mal ihren Sturkopf durchgesetzt. Und ich habe getan, was ich immer tue: Ich habe sie unterstützt. Ihr dabei geholfen, ihren Willen zu bekommen.
"Die anderen müssen schon reingegangen sein ..."
Ich spüre Jodies Zweifel, ich spüre ihre Unsicherheit, aber ich lasse sie gewähren, und gemeinsam betreten wir die Bar.
Als wir den Raum betreten, fallen lauter Blicke auf uns. Und ich bemerke zwei wesentliche Dinge:
1. Jodies "Freunde" sind nicht hier. Eine Tatsache, die Jodie ebenfalls feststellt.
2. Es sind keine weiblichen Menschen hier. Nur Männer. Jodie ist nun das einzige weibliche Wesen in dieser Bar. Und sie ist noch sehr jung. Zu jung für solch einen Ort.
Wir warten ...
Erfüllt von wachsender Unsicherheit nimmt Jodie auf einem Stuhl Platz. Kaum hat sie eine einigermassen bequme Sitzhaltung eingenommen, kommt der Besitzer der Bar auf uns zu.
"Wie alt sind Sie, Miss?"
Jodie schenkt ihm einen zynischen, entschlossenen Blick. Sie mag diese Frage nicht, und erst recht nicht in dieser Situation. Doch die Souveränität in ihrer Stimme überrascht mich.
"Einundzwanzig. Ich will nur 'ne Limo."
Er glaubt ihr nicht. Natürlich nicht. Eine 21jährige, die "nur 'ne Limo" will und nichtmal wie 21 aussieht.
Die zwei Männer am Billardtisch beenden ihr Spiel und verlassen die Bar. Ich blickte ihnen nach. Manchmal frage ich mich, was andere Menschen so machen, wie sie leben, wer sie sind. Ich kenne bis jetzt nur Jodies Leben - und teilweise das Leben derer, die mit ihr in Verbindung stehen - doch das Leben fremder Menschen ist mir unbekannt.
Der Barkeeper bringt Jodie die bestellte Limo und schenkt ihr ein Glas ein. Gleich darauf kehrt er zu seiner Theke zurück.
Als ich ihm hinterherblicke fällt mir auf, dass sich die zwei Männer an der Theke immer wieder zu uns umdrehen und dabei unablässig reden. Ich beschliesse, mir das genauer anzusehen.
"Was meinst du, wie alt die ist?"
"Fünfzehn ... vielleicht auch sechzehn ..."
"Was macht sie hier drin, so ganz alleine?"
"Was weiss ich? Braucht vielleicht noch ein bisschen Gesellschaft?"
Die Männer fangen an zu lachen. Es ist ein böses Lachen, ein schadenfrohes Lachen. Ich mag diese Männer nicht. Ich mag diesen Ort nicht. Am liebsten würde ich Jodie nehmen und gehen.
Doch das geht nicht. Sie hat einen Entschluss gefasst und bleibt dabei. Natürlich könnte ich mit Leichtigkeit Besitz von ihr ergreifen und so die Bar mit ihr verlassen, aber das würde sie mir nie verzeihen. Und ich will es auch nicht.
"Scheisse, weisst du was? Im Bett macht die Kleine bestimmt richtig was her!"
Wieder lachen sie.
Ich habe noch nie jemanden vor Jodies Augen getötet. Menschen die sie bedrohen, habe ich bisher nur immer überwältigt. Ich habe ihnen die Luft genommen, bis sie keuchend zu Boden gingen. Ich habe von ihren Körpern Besitz ergriffen und sie gegen die Wand laufen lassen, so dass sie bewusstlos zusammengebrochen sind, aber nie habe ich ihnen ihr Leben geraubt.
Doch dieses Mal bin ich kurz davor.
"Ah, laber doch nicht, Earl. Trink dein Bier aus und halt die ..."
"Hey, erzähl mir nicht, dass du nicht heiss auf die Kleine bist, hm? Die sucht 'nen Fick."
"Ja - Tja. Man muss sich schon fragen, was sie allein hier will, um diese Uhrzeit."
"Sieh die Schlampe doch an, Alter. Und hübsch ist sie auch, hm?"
"Komm schon, Earl. Halt den Rand."
Sie beenden ihr Gespräch und wenden sich wieder ihren Getränken zu. Sie wissen nicht, dass nur wenige Meter hinter ihnen der Tod lauert.
Ich muss mich bemühen, ruhig zu bleiben und nicht durchzudrehen. Jodie weiss es nicht, doch sie ist in Gefahr.
Aber gerade als ich mir überlege, wie ich Jodie dazu überreden kann, diese Bar zu verlassen, steht sie auf und geht zum Billardtisch. Sie wirft eine Münze in die Maschine und nimmt sich die Kugeln.
Die Männer bemerken das und wenden sich ihr wieder zu. Die Blicke die sie Jodie zuwerfen, sind eindeutig. Entweder bemerkt Jodie es nicht, oder sie will es nicht bemerken.
"Willst du 'nen Partner?"
Jodie blickt auf. Sie ist unsicher. Ängstlich. Nervös. Die offene Aufmerksamkeit dieser Männer behagt ihr gar nicht.
"Eigentlich spiel ich lieber allein, okay?"
Doch davon lässt sich Earl nicht abschrecken. Im Gegenteil.
"Ooooh - du spielst Billard, ganz allein?"
Er steht auf und kommt zu ihr. Allein die Tatsache, dass er sie bisher nicht angefasst hat, hält mich davon ab, ihm die Luftröhre zu zerquetschen.
"Zu zweit macht's doch erst so richtig Spass."
Jodie ordnet die Kugeln und richtet sie mittig aus. Earl nimmt sich währendessen einen Queue.
"Ladies first ..."
Jodie legt den Queue an und zielt.
Ich überlege kurz, ob ich ihr helfen soll, entscheide aber dann, sie die Partie selbst beginnen zu lassen. Ich weiss genau, was wäre, würde ich ihr dabei unter die Arme greifen: "Ich kann das selbst, Aiden."
In solchen Momenten hat sie immer einen ganz besonders vorwurfsvollen Klang in ihrer Stimme. Und, wenn sie unter fremden Menschen ist, auch in ihren Gedanken. Ich habe gelernt, dass sie immer mehr Dinge in ihrem Leben selbst machen möchte.
"Was machst du hier, so ganz allein?"
Earl geht um den Tisch herum und drängt sich dabei sehr dicht an Jodie vorbei.
So langsam wird die Sache unangenehm.
"Nichts."
Eine typische Teenager-Antwort. Eine ausweichende Antwort, wenn man nicht die Wahrheit sagen will. Und eine Antwort, die zu Jodie passt.
Sie geht um den Tisch herum und sucht eine Kugel, die sie anspielen will. Kaum hat sie diese gefunden, spielt sie die Kugel auch an, doch der Stoss geht daneben.
Jodie flucht leise.
"Hah, knapp, aber nicht ins Loch. Sag mal ... bist du nicht ein bisschen jung, um hier rumzuhängen? Wie alt bist du?"
Mein Entschluss diesem Kerl das Leben zu nehmen, wird stärker. Eine Sache, mit der ich ehrlich gesagt keinerlei Probleme habe. Ich habe nie gelebt. Ich bin tot geboren worden. Ich habe die Freuden und den Zauber des Lebens nie kennengelernt.
Mein ganzes Dasein besteht daraus, ein unsichtbarer, ja, manche sagen auch, ein imaginärer Freund für Jodie zu sein. Ein Kamerad, ein Gefährte, ein Beschützer. Und ein Bruder.
"Das geht Sie ja wohl überhaupt nichts an. Und übrigens fragt man das nicht."
Earl lacht. Ein spöttisches Lachen, das eindeutig zeigt, dass er Jodie nicht ernstnimmt.
"Verzeihung."
Er legt den Queue an und spielt. Aber er hat kein Glück. Er kann die Kugel nicht versenken.
"Wissen deine Eltern Bescheid?"
Jodie blickt Earl künstlich unbeeindruckt an. Die Menschen nennen sowas "cool bleiben". Doch Jodie ist ganz und gar nicht "cool". Sie versteckt ihre Angst hinter einer löchrigen Fassade.
"Ist das hier Billard oder 'ne Quizshow?"
Eine typische Antwort von ihr. Triefend vor Sarkasmus. Ein Charakterzug, den sie mit wachsendem Alter entwickelt hat. Ich habe mich erst daran gewöhnen und es vor allem erstmal verstehen müssen. Wie so viele Dinge ist auch Sarkasmus etwas, was sich mir nicht sofort erschliesst.
Jodie legt wieder den Queue an und will ihren Stoss spielen, doch plötzlich packt Earl sie von hinten an. Jodie wirbelt sofort herum.
"Hey, Pfoten weg!"
Sie hebt abwehrend die Hände, aber Earl lässt sich davon nicht beeindrucken. Nichtmal annähernd.
"Komm schon, Baby, du willst es doch auch."
All ihre "Coolness", all der Sarkasmus hilft ihr nichts. Earl weicht nicht zurück. Stattdessen fängt er an, Jodie weiter zu begrapschen.
"Also, meine Eltern müssten gleich hier sein, ich werd' besser gehen."
Plötzlich geht alles sehr schnell. Es ist erstaunlich, wie schnell Menschen in manchen Situationen entscheiden und handeln können.
Earl packt Jodie und hebt sie auf den Billardtisch. Sein Kumpel packt ihre Arme und hält sie fest. Derweil versucht Earl, Jodies Beine auseinanderzuziehen.
Ich habe genug gesehen. Voller Zorn treibe ich die Männer von ihr weg.
Verwirrt blicken sie sich um. Sie können sich nicht erklären, was eben geschehen ist.
Gut so.
Genauso möchte ich es auch haben.
"Wer ist da?"
Natürlich können sie mich nicht wahrnehmen. Sie können mich nicht sehen und nicht hören. Bei all den erstaunlichen Dingen zu denen Menschen fähig sind, ist es doch interessant, wie schwach ihre Sinne entwickelt sind.
"Komm her, du Scheissfreak, zeig dich doch!"
Diesem Wunsch komme ich nur zu gerne nach – auf meine Weise!
Die Lampe über dem Billardtisch beginnt zu flackern, als Ankündigung für das, was nun folgen wird.
Ich bin ein Rächer. Ein Dämon. Ein Bestrafer. Ich bin eine Präsenz des Zorns. Der Rache.
Ich hebe mit Leichtigkeit die Stühle in die Luft und werfe sie auf die Männer. Das robuste Eichenholz trifft die Kerle mitten auf der Brust. Erstaunlicherweise gehen sie dadurch nicht zu Boden.
Aber das reizt mich nur noch mehr.
Ich schwebe auf Jodie zu, umkreise sie langsam, um zu schauen, wie es ihr geht. Doch was ich sehe, schmerzt mich auf unsagbare Weise.
Jodie liegt zusammengerollt und weinend auf dem Billardtisch. Sie ist verängstigt, von Scham und Verzweifelung erfüllt. Von tiefer, schmerzender Reue und auch von qualvoll stechenden Schuldgefühlen.
Als ich Jodie so sehe und mich diese Woge von Qual erreicht und durchflutet, weiss ich, was ich tun muss. Ich weiss, dass es keinen anderen Weg mehr gibt.
Brennend vor Hass schwebe ich den drei Männern hinterher, die mittlerweile verzweifelt versuchen, die Tür aufzubrechen, die ich verriegelt habe. Ich werde sie nicht davonkommen lassen. Sie haben es nicht verdient, zu überleben.
Ohne jegliche Gnade packe ich Earls Kumpel an der Kehle und zerquetsche ihm die Luftröhre. Hätte ich menschliche Sinne, würde ich spüren, wie seine Halswirbel brechen.
Aber so spüre ich nur, wie ihn das Leben verlässt, wie er in seinem Kopf darum bettelt, nicht sterben zu müssen. Doch er hat sein Recht auf Leben vertan.
Earl ist entsetzt. Frank und er müssen wohl gute Freunde gewesen sein, aber diese Freundschaft findet nun ein apruptes Ende. Ebenso wie das Leben dieser Menschen.
Ohne jede Rücksicht ergreife ich Besitz von dem Barkeeper und lasse ihn nach der Waffe greifen, die hinter der Theke liegt.
Es ist Zeit, Earl bezahlen zu lassen.
Einen einzelnen Schuss feuere ich aus der Flinte ab, doch er reicht aus, um Earls fetten Torso zu durchschlagen.
Er stirbt schneller als ich es eigentlich will. Er hat nichtmal mitbekommen, wer oder was ihn getötet hat. Sein Tod ist gnädiger gewesen, als er es verdient hat.
Ich lasse den Barkeeper die Waffe nun gegen sich selbst richten und abdrücken. Sein Blut beschmutzt eine Dartscheibe an der Wand.
Mein Zorn verraucht nur langsam. Jodies Peiniger sind tot, gerichtet von einer Macht, deren Präsenz in ihrer Welt eigentlich nicht existiert. Von der sie eigentlich wissen, dass es sowas nicht gibt.
Doch ich bin nicht befriedigt. Ich habe das erste Mal getötet, aber es hat mir nicht gefallen.
Erst als die Tür von aussen aufgebrochen wird, als Nathan, Cole und ein Sicherheitsmann vom DPA hereinstürmen, realisiere ich, dass ich etwas übersehen habe. Etwas entscheidendes. Etwas wichtiges.
Während all dieser Szenen liegt Jodie weinend auf dem Billardtisch. Allein. Verlassen. Hilflos.
Ich habe sie im Stich gelassen.
Anstatt ihr zu helfen, habe ich mich meinem blinden Zorn hingegeben, um Rache zu üben. Und zu töten.
Der Preis für diese Versuchung ist Jodie. Und eine gigantische Woge von Schmerz und Schuldgefühlen, die über mich hereinbricht.
Ich habe Jodie in diese Hölle gebracht. Ich habe ihr dabei geholfen, an diesen Ort des Bösen zu kommen. Und dann habe ich sie im Stich gelassen.
In diesem Moment schwöre ich mir, sowas nie wieder zuzulassen. Niemals wird ihr wieder jemand zu nahe kommen. Nie wieder wird ihr jemand wehtun. Und nie wieder werde ich mich so sehr vom Zorn übermannen lassen, dass ich vergessen werde, was wirklich wichtig ist.
Jodie hat nur ein normales Mädchen sein wollen. Sie hat einen Abend lang so tun wollen, als sei sie ganz normal. Als würde sie nicht in einem Labor leben, in dem man sie die ganze Zeit beobachtet. Als gäbe es mich nicht, diesen Geist, der nicht von ihrer Seite weicht.
Jodie hat einen Abend lang ausgehen und Spass haben wollen. Sie hat sich darauf verlassen, dass ich sie beschütze, dass ich ihr helfe.
Doch ich habe versagt.
Sie wirkt unterschiedlich auf die Menschen. Die einen schätzen, ja, lieben sie geradezu. Die anderen jedoch fühlen sich unwohl, sie fürchten sich sogar vor ihr.
Ich hingegen geniesse dieses Fehlen von Lärm. Dieses Schweigen. Diese Ruhe. Diesen Frieden.
Jodie jedoch wirkt unsicher. Nervös. Ich würde sie gern beruhigen, doch wann immer ich dazu ansetze, fängt sie gleich an, mir einreden zu wollen, dass alles gutgehen wird.
"Keine Sorge, Aiden, es ist alles okay."
Nein, nichts ist okay. Gar nichts. Wir sind aus dem DPA-Forschungskomplex ausgebrochen, wir haben Coles Körper missbraucht, ihn gewaltsam dazu gebracht, uns in seinem Wagen durch die Gegend zu fahren. Dann hat Jodie den Wagen an sich gerissen und mir befohlen, Cole in den Wald zu schicken.
Ob ich das für eine gute Idee halte? Nein. Aber Jodie will unbedingt ausgehen, also tu ich ihr den Gefallen. Natürlich wird sich das noch rächen, sobald Nathan von der Sache erfährt, doch das wird noch eine ganze Weile dauern.
Der Wagen fährt langsam auf den Parkplatz der Bar. Knirschend kommen die Reifen der schweren Limousine zum Stehen. Jodie steigt aus und blickt sich um.
"Tja, hier ist die Bar."
Ja, wir sind am Ziel angekommen. Und je länger ich hier bin, desto unwohler fühle ich mich. Nicht, dass mich hier irgendwas bedrohen könnte, doch ich mache mir Sorgen um Jodie. Sie gehört nicht an diesen Ort.
Während ich über Jodies linker Schulter schwebe, lasse ich die Eindrücke dieses Ortes auf mich wirken. All die Bilder, Töne, Empfindungen und Erinnerungen. All das, was die Menschen hier zurückgelassen haben.
Menschen sind seltsam. Ihnen ist nicht bewusst, wieviel sie von sich an den Orten lassen, die sie besuchen. Und ich meine damit keine materiellen Dinge. Ich meine Empfindungen. Trauer. Freude. Schmerz. Ärger. Furcht. Unsicherheit. Scham. Übelkeit. Boshafte Freude.
Nein, Jodie sollte nicht hier sein. Aber wie so oft, hat sie auch dieses Mal ihren Sturkopf durchgesetzt. Und ich habe getan, was ich immer tue: Ich habe sie unterstützt. Ihr dabei geholfen, ihren Willen zu bekommen.
"Die anderen müssen schon reingegangen sein ..."
Ich spüre Jodies Zweifel, ich spüre ihre Unsicherheit, aber ich lasse sie gewähren, und gemeinsam betreten wir die Bar.
Als wir den Raum betreten, fallen lauter Blicke auf uns. Und ich bemerke zwei wesentliche Dinge:
1. Jodies "Freunde" sind nicht hier. Eine Tatsache, die Jodie ebenfalls feststellt.
2. Es sind keine weiblichen Menschen hier. Nur Männer. Jodie ist nun das einzige weibliche Wesen in dieser Bar. Und sie ist noch sehr jung. Zu jung für solch einen Ort.
Wir warten ...
Erfüllt von wachsender Unsicherheit nimmt Jodie auf einem Stuhl Platz. Kaum hat sie eine einigermassen bequme Sitzhaltung eingenommen, kommt der Besitzer der Bar auf uns zu.
"Wie alt sind Sie, Miss?"
Jodie schenkt ihm einen zynischen, entschlossenen Blick. Sie mag diese Frage nicht, und erst recht nicht in dieser Situation. Doch die Souveränität in ihrer Stimme überrascht mich.
"Einundzwanzig. Ich will nur 'ne Limo."
Er glaubt ihr nicht. Natürlich nicht. Eine 21jährige, die "nur 'ne Limo" will und nichtmal wie 21 aussieht.
Die zwei Männer am Billardtisch beenden ihr Spiel und verlassen die Bar. Ich blickte ihnen nach. Manchmal frage ich mich, was andere Menschen so machen, wie sie leben, wer sie sind. Ich kenne bis jetzt nur Jodies Leben - und teilweise das Leben derer, die mit ihr in Verbindung stehen - doch das Leben fremder Menschen ist mir unbekannt.
Der Barkeeper bringt Jodie die bestellte Limo und schenkt ihr ein Glas ein. Gleich darauf kehrt er zu seiner Theke zurück.
Als ich ihm hinterherblicke fällt mir auf, dass sich die zwei Männer an der Theke immer wieder zu uns umdrehen und dabei unablässig reden. Ich beschliesse, mir das genauer anzusehen.
"Was meinst du, wie alt die ist?"
"Fünfzehn ... vielleicht auch sechzehn ..."
"Was macht sie hier drin, so ganz alleine?"
"Was weiss ich? Braucht vielleicht noch ein bisschen Gesellschaft?"
Die Männer fangen an zu lachen. Es ist ein böses Lachen, ein schadenfrohes Lachen. Ich mag diese Männer nicht. Ich mag diesen Ort nicht. Am liebsten würde ich Jodie nehmen und gehen.
Doch das geht nicht. Sie hat einen Entschluss gefasst und bleibt dabei. Natürlich könnte ich mit Leichtigkeit Besitz von ihr ergreifen und so die Bar mit ihr verlassen, aber das würde sie mir nie verzeihen. Und ich will es auch nicht.
"Scheisse, weisst du was? Im Bett macht die Kleine bestimmt richtig was her!"
Wieder lachen sie.
Ich habe noch nie jemanden vor Jodies Augen getötet. Menschen die sie bedrohen, habe ich bisher nur immer überwältigt. Ich habe ihnen die Luft genommen, bis sie keuchend zu Boden gingen. Ich habe von ihren Körpern Besitz ergriffen und sie gegen die Wand laufen lassen, so dass sie bewusstlos zusammengebrochen sind, aber nie habe ich ihnen ihr Leben geraubt.
Doch dieses Mal bin ich kurz davor.
"Ah, laber doch nicht, Earl. Trink dein Bier aus und halt die ..."
"Hey, erzähl mir nicht, dass du nicht heiss auf die Kleine bist, hm? Die sucht 'nen Fick."
"Ja - Tja. Man muss sich schon fragen, was sie allein hier will, um diese Uhrzeit."
"Sieh die Schlampe doch an, Alter. Und hübsch ist sie auch, hm?"
"Komm schon, Earl. Halt den Rand."
Sie beenden ihr Gespräch und wenden sich wieder ihren Getränken zu. Sie wissen nicht, dass nur wenige Meter hinter ihnen der Tod lauert.
Ich muss mich bemühen, ruhig zu bleiben und nicht durchzudrehen. Jodie weiss es nicht, doch sie ist in Gefahr.
Aber gerade als ich mir überlege, wie ich Jodie dazu überreden kann, diese Bar zu verlassen, steht sie auf und geht zum Billardtisch. Sie wirft eine Münze in die Maschine und nimmt sich die Kugeln.
Die Männer bemerken das und wenden sich ihr wieder zu. Die Blicke die sie Jodie zuwerfen, sind eindeutig. Entweder bemerkt Jodie es nicht, oder sie will es nicht bemerken.
"Willst du 'nen Partner?"
Jodie blickt auf. Sie ist unsicher. Ängstlich. Nervös. Die offene Aufmerksamkeit dieser Männer behagt ihr gar nicht.
"Eigentlich spiel ich lieber allein, okay?"
Doch davon lässt sich Earl nicht abschrecken. Im Gegenteil.
"Ooooh - du spielst Billard, ganz allein?"
Er steht auf und kommt zu ihr. Allein die Tatsache, dass er sie bisher nicht angefasst hat, hält mich davon ab, ihm die Luftröhre zu zerquetschen.
"Zu zweit macht's doch erst so richtig Spass."
Jodie ordnet die Kugeln und richtet sie mittig aus. Earl nimmt sich währendessen einen Queue.
"Ladies first ..."
Jodie legt den Queue an und zielt.
Ich überlege kurz, ob ich ihr helfen soll, entscheide aber dann, sie die Partie selbst beginnen zu lassen. Ich weiss genau, was wäre, würde ich ihr dabei unter die Arme greifen: "Ich kann das selbst, Aiden."
In solchen Momenten hat sie immer einen ganz besonders vorwurfsvollen Klang in ihrer Stimme. Und, wenn sie unter fremden Menschen ist, auch in ihren Gedanken. Ich habe gelernt, dass sie immer mehr Dinge in ihrem Leben selbst machen möchte.
"Was machst du hier, so ganz allein?"
Earl geht um den Tisch herum und drängt sich dabei sehr dicht an Jodie vorbei.
So langsam wird die Sache unangenehm.
"Nichts."
Eine typische Teenager-Antwort. Eine ausweichende Antwort, wenn man nicht die Wahrheit sagen will. Und eine Antwort, die zu Jodie passt.
Sie geht um den Tisch herum und sucht eine Kugel, die sie anspielen will. Kaum hat sie diese gefunden, spielt sie die Kugel auch an, doch der Stoss geht daneben.
Jodie flucht leise.
"Hah, knapp, aber nicht ins Loch. Sag mal ... bist du nicht ein bisschen jung, um hier rumzuhängen? Wie alt bist du?"
Mein Entschluss diesem Kerl das Leben zu nehmen, wird stärker. Eine Sache, mit der ich ehrlich gesagt keinerlei Probleme habe. Ich habe nie gelebt. Ich bin tot geboren worden. Ich habe die Freuden und den Zauber des Lebens nie kennengelernt.
Mein ganzes Dasein besteht daraus, ein unsichtbarer, ja, manche sagen auch, ein imaginärer Freund für Jodie zu sein. Ein Kamerad, ein Gefährte, ein Beschützer. Und ein Bruder.
"Das geht Sie ja wohl überhaupt nichts an. Und übrigens fragt man das nicht."
Earl lacht. Ein spöttisches Lachen, das eindeutig zeigt, dass er Jodie nicht ernstnimmt.
"Verzeihung."
Er legt den Queue an und spielt. Aber er hat kein Glück. Er kann die Kugel nicht versenken.
"Wissen deine Eltern Bescheid?"
Jodie blickt Earl künstlich unbeeindruckt an. Die Menschen nennen sowas "cool bleiben". Doch Jodie ist ganz und gar nicht "cool". Sie versteckt ihre Angst hinter einer löchrigen Fassade.
"Ist das hier Billard oder 'ne Quizshow?"
Eine typische Antwort von ihr. Triefend vor Sarkasmus. Ein Charakterzug, den sie mit wachsendem Alter entwickelt hat. Ich habe mich erst daran gewöhnen und es vor allem erstmal verstehen müssen. Wie so viele Dinge ist auch Sarkasmus etwas, was sich mir nicht sofort erschliesst.
Jodie legt wieder den Queue an und will ihren Stoss spielen, doch plötzlich packt Earl sie von hinten an. Jodie wirbelt sofort herum.
"Hey, Pfoten weg!"
Sie hebt abwehrend die Hände, aber Earl lässt sich davon nicht beeindrucken. Nichtmal annähernd.
"Komm schon, Baby, du willst es doch auch."
All ihre "Coolness", all der Sarkasmus hilft ihr nichts. Earl weicht nicht zurück. Stattdessen fängt er an, Jodie weiter zu begrapschen.
"Also, meine Eltern müssten gleich hier sein, ich werd' besser gehen."
Plötzlich geht alles sehr schnell. Es ist erstaunlich, wie schnell Menschen in manchen Situationen entscheiden und handeln können.
Earl packt Jodie und hebt sie auf den Billardtisch. Sein Kumpel packt ihre Arme und hält sie fest. Derweil versucht Earl, Jodies Beine auseinanderzuziehen.
Ich habe genug gesehen. Voller Zorn treibe ich die Männer von ihr weg.
Verwirrt blicken sie sich um. Sie können sich nicht erklären, was eben geschehen ist.
Gut so.
Genauso möchte ich es auch haben.
"Wer ist da?"
Natürlich können sie mich nicht wahrnehmen. Sie können mich nicht sehen und nicht hören. Bei all den erstaunlichen Dingen zu denen Menschen fähig sind, ist es doch interessant, wie schwach ihre Sinne entwickelt sind.
"Komm her, du Scheissfreak, zeig dich doch!"
Diesem Wunsch komme ich nur zu gerne nach – auf meine Weise!
Die Lampe über dem Billardtisch beginnt zu flackern, als Ankündigung für das, was nun folgen wird.
Ich bin ein Rächer. Ein Dämon. Ein Bestrafer. Ich bin eine Präsenz des Zorns. Der Rache.
Ich hebe mit Leichtigkeit die Stühle in die Luft und werfe sie auf die Männer. Das robuste Eichenholz trifft die Kerle mitten auf der Brust. Erstaunlicherweise gehen sie dadurch nicht zu Boden.
Aber das reizt mich nur noch mehr.
Ich schwebe auf Jodie zu, umkreise sie langsam, um zu schauen, wie es ihr geht. Doch was ich sehe, schmerzt mich auf unsagbare Weise.
Jodie liegt zusammengerollt und weinend auf dem Billardtisch. Sie ist verängstigt, von Scham und Verzweifelung erfüllt. Von tiefer, schmerzender Reue und auch von qualvoll stechenden Schuldgefühlen.
Als ich Jodie so sehe und mich diese Woge von Qual erreicht und durchflutet, weiss ich, was ich tun muss. Ich weiss, dass es keinen anderen Weg mehr gibt.
Brennend vor Hass schwebe ich den drei Männern hinterher, die mittlerweile verzweifelt versuchen, die Tür aufzubrechen, die ich verriegelt habe. Ich werde sie nicht davonkommen lassen. Sie haben es nicht verdient, zu überleben.
Ohne jegliche Gnade packe ich Earls Kumpel an der Kehle und zerquetsche ihm die Luftröhre. Hätte ich menschliche Sinne, würde ich spüren, wie seine Halswirbel brechen.
Aber so spüre ich nur, wie ihn das Leben verlässt, wie er in seinem Kopf darum bettelt, nicht sterben zu müssen. Doch er hat sein Recht auf Leben vertan.
Earl ist entsetzt. Frank und er müssen wohl gute Freunde gewesen sein, aber diese Freundschaft findet nun ein apruptes Ende. Ebenso wie das Leben dieser Menschen.
Ohne jede Rücksicht ergreife ich Besitz von dem Barkeeper und lasse ihn nach der Waffe greifen, die hinter der Theke liegt.
Es ist Zeit, Earl bezahlen zu lassen.
Einen einzelnen Schuss feuere ich aus der Flinte ab, doch er reicht aus, um Earls fetten Torso zu durchschlagen.
Er stirbt schneller als ich es eigentlich will. Er hat nichtmal mitbekommen, wer oder was ihn getötet hat. Sein Tod ist gnädiger gewesen, als er es verdient hat.
Ich lasse den Barkeeper die Waffe nun gegen sich selbst richten und abdrücken. Sein Blut beschmutzt eine Dartscheibe an der Wand.
Mein Zorn verraucht nur langsam. Jodies Peiniger sind tot, gerichtet von einer Macht, deren Präsenz in ihrer Welt eigentlich nicht existiert. Von der sie eigentlich wissen, dass es sowas nicht gibt.
Doch ich bin nicht befriedigt. Ich habe das erste Mal getötet, aber es hat mir nicht gefallen.
Erst als die Tür von aussen aufgebrochen wird, als Nathan, Cole und ein Sicherheitsmann vom DPA hereinstürmen, realisiere ich, dass ich etwas übersehen habe. Etwas entscheidendes. Etwas wichtiges.
Während all dieser Szenen liegt Jodie weinend auf dem Billardtisch. Allein. Verlassen. Hilflos.
Ich habe sie im Stich gelassen.
Anstatt ihr zu helfen, habe ich mich meinem blinden Zorn hingegeben, um Rache zu üben. Und zu töten.
Der Preis für diese Versuchung ist Jodie. Und eine gigantische Woge von Schmerz und Schuldgefühlen, die über mich hereinbricht.
Ich habe Jodie in diese Hölle gebracht. Ich habe ihr dabei geholfen, an diesen Ort des Bösen zu kommen. Und dann habe ich sie im Stich gelassen.
In diesem Moment schwöre ich mir, sowas nie wieder zuzulassen. Niemals wird ihr wieder jemand zu nahe kommen. Nie wieder wird ihr jemand wehtun. Und nie wieder werde ich mich so sehr vom Zorn übermannen lassen, dass ich vergessen werde, was wirklich wichtig ist.
Jodie hat nur ein normales Mädchen sein wollen. Sie hat einen Abend lang so tun wollen, als sei sie ganz normal. Als würde sie nicht in einem Labor leben, in dem man sie die ganze Zeit beobachtet. Als gäbe es mich nicht, diesen Geist, der nicht von ihrer Seite weicht.
Jodie hat einen Abend lang ausgehen und Spass haben wollen. Sie hat sich darauf verlassen, dass ich sie beschütze, dass ich ihr helfe.
Doch ich habe versagt.