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Dämon aus der Stille

von Sithy
Kurzbeschreibung
GeschichteAngst, Liebesgeschichte / P12 / MaleSlash
Jean Pierre Polnareff Mohammed Abdul
25.12.2014
25.12.2014
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Disclaimer: JoJo’s Bizarre Adventure und alle darin vorkommenden Personen und Orte (c) Hirohiko Araki. Mit dieser Geschichte wird kein Geld verdient.

Dämon aus der Stille


*** Frankreich 199x ***

In der Kapelle war es still. Durch die vor Schmutz blinden Buntglasfenster fielen nur vereinzelte Sonnenstrahlen herein, durchdrangen das Dämmerlicht und spiegelten sich auf den vergoldeten Heiligenscheinen und Aufsätzen der Engel und Heiligen. Feine Staubflöckchen und Pollen tanzten im Sonnenlicht und verliehen dem Kapelleninnern eine samtene, ruhige Stimmung. Neben dem spärlichen Sonnenlicht spendeten einzig die Gebetskerzen ein wenig Licht, die von Besuchern angezündet worden waren. Manch eine von ihnen war bereits so weit heruntergebrannt, dass ihr Docht jede Sekunde lautlos erlöschen konnte.

Über dem gusseisernen Gestell, auf denen die flackernden Kerzen ruhten, breitete eine Marienfigur, in blauem Sternenmantel, schützend ihre Arme aus. Sie war so schön gearbeitet, dass sie in der unscheinbaren Kapelle völlig fehl am Platze schien. Daneben machte sich der Altar bescheiden, der, gleichsam als ruhender Pol, an der Stirnseite des Raumes errichtet worden war. Auch das Kreuz darauf ließ allen Schmuck und Firlefanz vermissen. Dennoch gelang es der Architektur mühelos, den Blick der Besucher auf diesen einen gesegneten Punkt zu lenken. Alles strebte ihm zu, Engel, Heilige, selbst das Licht, das durch die offene Pforte hereinfiel.

Die Sommersonne draußen vor der Pforte hatte ihren höchsten Stand längst erreicht. Alles duckte sich in ihrer Hitze, die flimmernd über dem flachen Land lag. Mensch und Tier suchten gleichermaßen Abkühlung zu dieser Stunde, sei es in einem der Seen, im Schatten oder in den vielen niedlichen Straßencafés. Keiner wäre auf die Idee gekommen, den herrlichen französischen Sommertag in einer Kapelle am Wegesrand irgendwo in der weiten Feldflur zu verbringen.

Aber Jean Pierre Polnareff war auch nicht irgendein Niemand. Er saß schon eine ganze Weile tief in Gedanken versunken auf der ungemütlichen Holzbank, nur mit sich allein, lauschte auf die vereinzelten Vogelstimmen von draußen und das kaum wahrnehmbare Knistern der Kerzenflammen. Es roch nach Wachs, nach Asche, nach Stein und Alter. Die Kapelle war schon alt gewesen, als er noch ein kleiner Junge gewesen war, und nichts hatte sich in ihr verändert. Vielleicht waren die Bänke noch morscher, vielleicht waren die Mauern noch brüchiger, das Dach noch undichter geworden, aber große Veränderungen hatte es hier in all den Jahren nicht gegeben.

Die Sommerhitze war nur ein Grund gewesen, warum er Schutz innerhalb der kühlen Gemäuer gesucht hatte.

Seit einiger Zeit sehnte er sich verstärkt nach Ruhe. Er hatte so viel erlebt, so viel verloren, es war der Zeitpunkt gekommen, an dem er die Hektik der Welt nicht mehr ertrug. Das pulsierende, chaotische Leben einer Großstadt wie Paris, in der er sich stets wohlgefühlt hatte, stieß ihn plötzlich schroff ab. Er sehnte sich nach der südfranzösischen Provinz, wo er mit seiner Schwester aufgewachsen war. Er sehnte sich nach der brütenden Hitze der Sommer, den weiten Feldfluren und schmucken Städtchen. Also war er zurückgekehrt, in die Welt seiner Kindheit, in der die Zeit natürlich auch nicht stehen geblieben war.

Der Schemen Silver Chariots huschte zwischen den Bänken hindurch und das Mittelschiff entlang. Sonderbar, wie der Stand immer wieder in die Nähe der Kerzen zurückkehrte, als würden ihn die flackernden Flammen in ihren Bann schlagen. Wann immer Chariot in die Nähe der Kerzen kam, spürte Polnareff ihre Wärme auf der Haut. Tröstlich, vertraut, wie ein alter Freund …


*** Kairo 1988 ***

„He, warte! Wo willst du hin? Um diese Uhrzeit?!“

Abdul, die Hand am Türknauf, ließ sie sinken und seufzte. Ausgerechnet! Er hatte gehofft, sich leise davonstehlen zu können, ohne einen der anderen seiner illustren Reisegruppe auf sich aufmerksam zu machen. Im Grunde stellte es keine allzu große Herausforderung dar: Der alte Joestar, mit dem er sich das Zimmer teilte, schlief schon wie ein Stein, Jotaro und Kakyoin hatten sich zeitig in ihre Zimmer zurückgezogen und trieben wer weiß was, und Polnareff schlief wie üblich allein, weil er … nun, weil der großspurige Franzose darauf bestand!

Ausgerechnet besagter Franzose stand nun vor ihm, nur in Shorts, ein Handtuch über den nackten Schultern. Die nassen Haare hingen ganz ungewohnt lose nach unten. Er kratzte sich mit dem kleinen Finger im Ohr und blickte Abdul neugierig an.
Wie wurde er den Franzosen bloß am einfachsten wieder los?

„Polnareff, guten Abend. So spät noch auf?“

„Nicht meine Schuld! Mr. Joestar und Iggy haben ewig im Bad gebraucht. Ich hab schon gedacht, ich muss ungeduscht ins Bett gehen!“

Abdul lachte.
„Ich sehe, du glänzt vor Sauberkeit. Dann steht einer erholsamen Nacht ja nichts mehr im Wege.“
Sie blickten sich an.

Keiner sagte ein Wort.

„Ist noch etwas?“

„Ja, wo willst du hin, Abdul? Du wirst ja wohl nicht alleine um diese Uhrzeit in Kairo herumspazieren wollen?!”

Es half wohl alles nichts. Polnareff ließ sich nicht so einfach abschütteln, wenn seine Neugierde erst einmal geweckt war.

„Ich muss nur etwas erledigen. Eine Kleinigkeit. Nichts Wichtiges. Mach dir keine Sorgen, ich bin bald zurück.“

„Mon Dieu, was kann um diese Uhrzeit denn so wichtig sein?!“

„Wie gesagt, es ist nichts Wichtiges. Gute Nacht, Polnareff.“

Abdul öffnete die Türe und blickte überrascht nach unten, als sich die Hand des Franzosen um seine spannte und er energisch die Türe wieder zuschob. Da lag so viel Nachdruck in der Bewegung, dass Abdul wenig entgegenzusetzen hatte. Die Tür fiel unsanft ins Schloss.

„Jetzt warte doch! Was ist, wenn du von Dios Schergen angegriffen wirst?“ Ehrliche Sorge zog über Polnareffs markante Züge und schwang in seiner Stimme mit.
„Er weiß sicher, dass wir hier sind und wartet vielleicht nur darauf, dass sich einer von uns alleine vorwagt.“

„Ich kenne mich in Kairo aus …“

„Na und?! Du bist ihm einmal entwischt, na gut, aber du kannst dich nicht immer auf deine schnellen Beine verlassen, alter Mann!“

Polnareff war laut geworden. Bald würde er mit seinem Geschrei die anderen auf den Plan rufen. Abdul lächelte säuerlich, stieß den Franzosen sanft, aber bestimmt zur Seite und öffnete wiederum die Türe.
„Der alte Mann kann sehr gut alleine auf sich aufpassen. Geh zur Seite.“

„Dann nimm mich wenigstens mit! Ich zieh mir nur schnell was an und mach mir die Haare. Nein, nein, vergiss die Haare. Ich bin gleich zurück!“

Abdul musste sich ein Lächeln verkneifen. Es war schön, dass sich jemand so offensichtlich um sein Wohlergehen sorgte.

Als er damals in Singapur von Polnareff zum Duell herausgefordert worden war, hätte er sich niemals träumen lassen, dass ihm ausgerechnet dieser prahlerische Bengel derart ans Herz wachsen würde. Dabei war der Franzose reifer geworden. Die Reise hatte ihre Spuren an ihm hinterlassen, wie an ihnen allen. Abdul unterdrückte die Regung, sich an die Stirn zu fassen, wo eine Narbe ihn ständig daran erinnerte, wie haarscharf er dem Tod entronnen war.

„Polnareff, wirklich. Das ist nicht nötig.“

Jetzt war Polnareffs Misstrauen geweckt. Skeptisch beäugte er den Ägypter.
„Du verheimlichst mir doch etwas.“ Sein Gesicht hellte sich auf. „Eine geheime Liebschaft? Familie? Rachegelüste?“

Dieses Mal musste Abdul wirklich lachen.
Polnareff schwatzte unbeirrt weiter: „Ich weiß gar nicht, was es da zu lachen gibt! Du hast doch immer gepredigt, nicht Hals über Kopf loszustürmen und- …“

„Ich stürme nicht Hals über Kopf los. Ich habe mir alles gut überlegt. Schau, es ist noch lange nicht Mitternacht, ich kenne mich in Kairo aus und ich nehme Iggy mit. Du brauchst dir also wirklich …“

Ach je.

Die Worte waren ein Fehler gewesen. Polnareff klappte den Mund zu wie eine eingeschnappte Miesmuschel und wurde puterrot.

„Quoi?! Dieses dreckige Mistvieh mit seinen Blähungen und dem Appetit auf Haare, das nimmst du mit?! Ich bin dir wohl nicht mehr gut genug!“

„Das ist nicht … Polnareff. Komm, sei nicht beleidigt. Du weißt ganz genau, dass mir an deiner Gesellschaft sehr viel liegt. Ich glaube nur, dass du dich an dem Ort nicht wohlfühlen wirst.”

Die beleidigte Leberwurst verwandelte sich in eine Bratwurst brennender Neugierde.
Abdul gab es auf. Er musste wohl akzeptieren, dass er den Franzosen nicht loswerden würde. Und es begann langsam spät zu werden.

„Meinetwegen, begleite mich. Aber versprich mir, dass du dich benimmst.“

„Natürlich! Alles, was du willst, Abdul!“

„Ach, und Polnareff?“

„Ja?“

„Zieh dir bitte ein anderes Hemd an. Eines, das keine tiefen Einblicke in dein, hm, Dekolleté zulässt.“
Polnareff grinste verschmitzt, stemmte die Fäuste in die Hüften und reckte die Brust raus.

„Wo haben Sir nur wieder Ihre Augen, Monsieur Abdul?“

„Mach dich nicht lustig über mich! So halbnackt nehme ich dich nicht mit!“

***

Ein “halbnackt, also wirklich!” später, erreichten sie ihr Ziel.

„Eine Moschee?!“

Polnareff legte den Kopf in den Nacken, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte den Mauern entlang nach oben bis zur Kuppel.

„Was wollen wir denn in einer Moschee?“

Abdul war überrascht, dass der Franzose das Gebäude als Moschee erkannte, verkniff sich aber jede Bemerkung. Manchmal blitzte tatsächlich so etwas wie Bildung in Polnareffs See der Ignoranz auf.

„Ich werde beten. Du wirst dich im Hintergrund halten und still sein.“

Er beugte sich zu Iggy nach unten, der gähnend zu seinen Füßen saß, versuchte ohne großen Erfolg ihn hinter den Ohren zu kraulen und gab ihm schließlich einen Kaffee-Kaugummi.

„Du wartest draußen, Iggy. Hunde sind in einer Moschee nicht willkommen.“

Der Boston-Terrier schnaubte herablassend, nahm den Kaugummi und trollte sich in eine Ecke der Umgebungsmauer, wo ihn keiner sehen konnte.

„Komm.“

Polnareff, der Iggy nachgeblickt hatte, erwachte aus seiner Starre und eilte Abdul hinterher. Auch wenn er wenig Verständnis für Philosophie, Religion oder sonstiges, kopflastiges Geschwurbel hatte, so schüchterte ihn das wuchtige Gebäude doch ein kleines bisschen ein. Hier galt es respektvoll zu sein, das verstand sogar er. Kühl, um nicht zu sagen, kalt, pfiff der Nachtwind durch die engen Gassen, überwand Mauern und Häuserwände und strich Polnareff wie ein Gespenst mit kalten Fingern über den Nacken. Fröstelnd kroch der Franzose tiefer in das weite Hemd mit den langen Ärmeln, das ihm Abdul geliehen hatte. Jetzt war er froh darüber. Seine übliche Kluft erschien ihm hier wirklich etwas unpassend.

„Soll ich auch draußen warten?“

Er hatte Abdul eingeholt. Der Ägypter stand an einem überdachten Brunnen und drehte eben einen der Wasserhähne auf.

„Warum willst du draußen warten?“

„Nun, weil ich kein Muslim bin und deshalb …“

Abdul lächelte.
„Du bist Gast in diesem Haus. Und solange du dich dem Gastgeber gegenüber mit Respekt verhältst, brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“

„Wenn du das sagst …“

Wasser rann nur spärlich aus dem Wasserhahn über Abduls Hände.

„Muss ich mich auch waschen?“

„Nein. Du kannst dort drüben auf der Bank auf mich warten. Es dauert nicht lange.“

Polnareff setzte sich, zog die Beine an und sah Abdul dabei zu, wie er sich wusch. In achtsamen, ruhigen und geübten Bewegungen begann er sich die Hände zu waschen, das Gesicht, Nase und Mund, Unterarme, Scheitel und Ohren.

Warum hatte es den Ägypter ausgerechnet heute Nacht an so einen Ort gezogen? War er hier, weil die letzte große Schlacht bevorstand? Wollte Abdul Frieden mit sich selbst und der Welt machen?
Polnareff wurde das Herz eng.

Seinen Frieden machen.

Das klang doch sehr nach Tod und Verderben. Viel zu sehr für den immer optimistischen Polnareff.
Verdammt noch mal, sie waren nicht tot! Noch lange nicht – Männer wie sie, denen lag doch die Welt zu Füßen! Sie waren jung, ungebunden, voller Energie und Ehrgeiz. Goldkinder, Sonntagskinder, Helden – Stardust Crusaders! Erhobenen Hauptes und als Sieger würden sie aus diesem Abenteuer hervorgehen und die Welt von einem großen Übel befreien.
Polnareff, der sich selbst schon mit Schild und Lanze gegen einen Drachen anreiten sah, der Dio wie aus dem Gesicht geschnitten war, wurde unsanft aus seinen Heldenträumen aufgeschreckt, als ihm Abdul die Hand auf die Schulter legte.

„Schläfst du? Du hättest doch zuhause bleiben sollen.“

Der Franzose setzte schon zu einer theatralischen Widerrede an, da erinnerte er sich, wo er sich befand. Grollend folgte er Abdul zum Eingang der Moschee. Sie zogen ihre Schuhe aus und betraten den Innenraum.

Helles Licht von kreisrund angebrachten Leuchtern begrüßte sie. Geblendet blinzelte Polnareff, der hinter Abdul die Moschee betrat. Überrascht blickte er nach unten. Warm und weiche schmiegte sich der Teppich an seine Fußsohlen. Sein sattes Rot stand in klarem Kontrast zu den gelblich—weißen Wänden und Säulen aus Alabaster, die mit verschlungenen, filigranen Ornamenten verziert waren. Teils mit Farbe aufgetragen, teils geschickt als Relief aus dem Stein herausgemeißelt.

Polnareff stand staunend, den Mund offen. Sein Blick wanderte nach oben, wo, auf schlanken Säulen, die Kuppel ruhte. Hinauf und hinauf ging es, bis Polnareffs Nacken vor lauter Schauen starr wurde. Zwischen den Säulen spannten sich Bögen und gaben dem Gewölbe Halt.

„Sieh dich ruhig um“, sprach ihn Abdul leise von der Seite an. „Aber versuche keinen Krach zu machen und störe die anderen nicht.“

In Abduls Augen blitzte der Schalk, sodass Polnareff ihm seine schulmeisterliche Art nicht wirklich übel nehmen konnte.

„Ich werde“, zischelte er zurück, „einfach hier stehen bleiben und nichts anfassen. Und wenn ein Stand auftaucht, werde ich keinen Finger rühren, wenn er dir den Kopf absäbelt.“

Abdul lachte leise.
„Mein Lieber, du wärst der Erste, der sich dazwischenwerfen würde. Du Ritter auf einem weißen Ross!“
Polnareff fühlte sich ertappt und wurde rot. Hatte er vorhin auf dem Vorplatz etwa laut mit sich selbst gesprochen, als er in seiner Vorstellung gegen den Drachen Dio in den Kampf gezogen war? Nein, bestimmt nicht. Wahrscheinlicher war, dass ihn Abdul mittlerweile einfach nur zu gut kannte.

Zut alors!

Während Abdul weiter vor ging, um sich zwischen der Handvoll betender Männer auf den Knien niederzulassen, blieb Polnareff im hinteren Teil der Moschee zurück. Hier war es still. Selbst das leise Murmeln der Betenden erreichte ihn nicht. Der Teppich verschluckte alle Laute. Still hingen auch die Lichter.

Polnareff fühlte sich plötzlich sehr allein. Seine Zehen vergruben sich in den Fasern des Teppichs. Ihn fröstelte. Unruhig blies er eine Haarsträhne nach oben, die ihm ganz ungewohnt ins Gesicht hing.
Stille war etwas, womit er nicht umgehen konnte. Er ertrug ihr Gewicht nicht, wie sie ihm dämonenhaft auf der Brust saß und mit ihren Klauen die Kehle zudrückte, bis das Atmen zur Qual wurde. In seinem Leben hatte zu oft Stille geherrscht. Zuerst war der kräftige Bariton seines Vaters verschwunden. Wer weiß wohin? Dann die Stimme seiner Mutter und zuletzt verschwand Sherrys.
Auch wenn eine Tante ihn und seine Schwester aufgenommen hatte, in ein Haus voller Cousinen und Cousins, voller Leben und Lärm, so hatte dennoch nie jemand diese verstummten Stimmen ersetzen können.
In der Riesenhaftigkeit dieses Raumes, griff die Stille erneut mit klammen Fingern nach ihm.

Polnareff verschränkte die Hände hinter dem Rücken und stapfte los. Er besah sich die floralen Ornamente genauer, verfolgte die Wege ihrer Windungen und Schnörkel, wie sie über die glatte Oberfläche des Steins mäanderten, kreuz und quer und doch einem größeren Ziel folgend. Was ihm gleich beim Eintreten aufgefallen war, nämlich, dass es keine Bilder und Skulpturen in der Moschee gab, bestätigte sich bei seinem Rundgang. Stattdessen begegnete ihm die Ornamentik auf Schritt und Tritt. Er wusste nicht zu sagen, wo sie aufhörte und die arabischen Schriftzeichen begannen. Seine Blicke waren überall, aber er hütete sich, etwas anzufassen. Wer wusste schon, was tabu war und was nicht? So ging er weiter, auf dem Teppich, der seine Schritte dämpfte, unter dem elektrischen Licht der Lampen und dem Dach eines fremden Gotteshauses.

Und es war gut so.

„Polnareff?“
Ein wenig zuckte der Franzose zusammen, als ihn Abdul plötzlich leise ansprach und sacht am Arm berührte.

„Wir können gehen.“

Abduls Stimme fiel in das Schweigen wie ein Stein ins Wasser. Heimlich, still und leise, aber sie schlug Welle um Welle, schwemmte den Dämon Stille von Polnareffs Brust und hinterließ nichts als Zärtlichkeit.

***

Sie verbrachten die Nacht zusammen.
Der große, letzte Endkampf stand bevor … mussten sie auch miteinander ihren Frieden machen? Der Zuneigung nachgeben, die sie die letzten Tage verstärkt heimgesucht hatte? Sich eingestehen, was sie für den anderen empfanden, bevor es zu spät dafür war?

Möglich.

Abdul ließ Iggy in das gemeinsame Zimmer, wo der alte Joestar schon ganze Wälder niedersägte, aber anstatt dem Hund zu folgen, ließ er die Türe sanft ins Schloss fallen. Polnareff stand unschlüssig vor seiner eigenen Zimmertüre, die rechte Hand auf dem Türknauf, mit der linken massierte er sich den Nacken. Erwartungsvoll und ein kleines bisschen unsicher blickte er Abdul an.

Die anfängliche Unsicherheit verschwand nur allzu bald, kaum, dass die Türe hinter ihnen ins Schloss gefallen war. In der Sicherheit des dunklen Zimmers fanden Hände und Lippen zueinander, wurden Kleider vom Leib gestreift, ging der Atem bald keuchend und schwer, griffen Finger fahrig in dichte Strähnen ansonsten gebändigten Haars. Ein Reigen aus süßem Verlangen, geflüsterten Liebesbekundungen und purer Lebensfreude. Zuletzt tiefe, zufriedene Ruhe, die sie so samtig-warm umfing, wie die Arme des geliebten Menschen neben ihnen.

Stille?
Stille hatte keine Macht mehr über Jean Pierre Polnareff.


*** Frankreich 199x ***

„Jean! Jean?!“

Polnareff hob überrascht den Kopf, als der Wind eine Stimme in den Frieden der Kapelle trug. Das konnte nur seine Cousine Marie sein.
Ein Organ wie ein Bauarbeiter!

Silver Chariot vorne bei den Kerzen löste sich auf und kehrte zu ihm zurück. Es tat gut, ihn wieder bei sich zu wissen. Polnareff stand auf, warf noch einen Blick auf den Raum, der ihm die letzte halbe Stunde Hafen und Ruhepunkt gewesen war und trat dann hinaus in die flimmernde Hitze des südfranzösischen Sommers.

Wie gerne hätte er Abdul all das hier gezeigt! Die weiten Wiesen und Felder, die Weinberge, das Café am Eck, das noch immer das beste Eis der Welt herstellte und noch immer die gleichen, niedlich-blauweißen Sonnenschirme aufstellte!
Wie gerne hätte er ihm all die kleinen geheimen Orte gezeigt, die damals für ihn und Sherry so voller Abenteuer gewesen waren! Aber nichts von alledem hatte er Abdul je zeigen können.
Die Enttäuschung und der Schmerz darüber waren über die Jahre abgeklungen, denn, so dumm es auch klingen mochte, die Zeit heilte tatsächlich alle Wunden. Nur dann und wann, in seinen dunkelsten Stunden, wallte der Kummer wieder in ihm hoch. Dann suchte er die friedliche Einsamkeit, wie sie diese kleine Kapelle spendete.

Er sah Marie, die den Weg entlanggerannt kam und dabei einigen Staub aufwirbelte. Jetzt hatte sie ihn erspäht und winkte aufgeregt.

„Jean! Ein Mann hat angerufen. Jotaro Ku-irgendwie? Klang ausländisch. Chinesisch vielleicht? Du sollst zurückrufen. Ferngespräch.“

Sie japste und war knallrot im Gesicht, als sie Polnareff erreicht, der ihr entgegenkam, Hände in den Hosentaschen, die Sonne heiß auf den Schultern.
Der Schweiß stand Marie auf der Stirn. Mit unverhohlener Neugier blickte sie ihn dennoch aus ihren blauen Augen an, die so typisch für den väterlichen Zweig seiner Familie waren.

„Er … er sagte, es ist wichtig, und dass er deine Hilfe in Italien braucht.“

Polnareff war sofort Feuer und Flamme. Jotaro? Brauchte seine Hilfe? Italien? Das klang ganz nach einem neuen Abenteuer!

„Wer ist denn dieser Jotaro?“

Grinsend langte er aus und zerzauste Marie das dunkle Haar. Nächstes Jahr würde sie nach Paris ziehen und zur Universität gehen. Wie die Zeit verging! Es war schwer, sich den Wildfang in einer Stadt wie Paris vorzustellen. Sie gehörte hinaus auf die Felder, die Sonne über sich und die Erde unter den braungebrannten Füßen.

„Du musst nicht immer alles wissen, du naseweise Göre!“

„Pah! Du kannst den Mund sowieso nicht halten. Morgen erzählst du mir alles.“ Sie drehte ihm eine lange Nase und rannte davon.

Polnareff schmunzelte. So ganz unrecht hatte sie mit ihren Worten ja nicht, aber es gab Episoden in seinem Leben, über die er nicht bereit war zu sprechen. Sie lagen still unter einem Mäntelchen des Schweigens und dort würden sie auch bleiben. Unbewusst rieb er sich über die Stelle an seiner linken Hand, an der Ring- und kleiner Finger fehlten.

Kopfschüttelnd folgte er ihr, zuerst langsam, bis er schließlich in einen gemütlichen Trab fiel, der sich schon bald in einen ausgewachsenen Sprint verwandelte. Er würde sich doch von so einer halben Portion nicht abhängen lassen! Noch war er kein alter Mann!

Na warte!

„Marie!“

- Ende
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