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Der 09. November 1989 in der JVA Dahlstedt

Kurzbeschreibung
KurzgeschichteDrama / P12 / Gen
Alexandra "Sascha" Mehring
09.11.2014
09.11.2014
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2.055
 
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Wir schreiben Donnerstag, den 09. November 1989. Nach einer Nacht mit leichtem Regen wurden die Insassinnen der Justizvollzugsanstalt Dahlstedt durch lautes trampeln, klimpernden Schlüsseln und eindringlichen Rufen der Schließer geweckt. Alexandra, von allen nur Sascha genannt, Mehring, saß bereits am Tisch bei ihrer Morgenzigarette und blickte nachdenklich durch die Fenstergitter in die Dunkelheit, während ihre drei Zellengenossinnen noch schlummernd im Bett lagen. Nur langsam kam Bewegung in jede Einzelne. Allerdings wollte Sascha so schnell wie möglich aus der Zelle, da sie die halbe Nacht wachgelegen hatte. Über ein Jahr saß die Frau mit den kurzen braunen Haaren schon in diesem Gefängnis. Und es gab dem wohl kein Entrinnen. Lebenslänglich hieß es bei der Urteilsverkündung. Immer wieder liefen in Saschas Kopf die gleichen Szenen ab. Sie sah, wie sie mit Doreen, so hieß ihre Freundin, glücklich, Hand in Hand durch Prag schlenderte. Die Monate davor in der Datsche von Doreens Eltern, in der sie über ein Jahr heimlich wohnte. Unwillkürlich musste sie dabei sanft lächeln. Doch dann wurde es in ihr wieder unruhig. Stille Tränen ihr übers Gesicht, als würde der Moment gegenwärtig sein, in dem ihr der schlimmste Fehler ihres bisherigen Lebens passierte. Doreen war energisch laut geworden und rief so etwas wie Republikflucht, woraufhin Polizisten, die sich in der Nähe der deutschen Botschaft in Prag aufhielten, näherten. Die junge Frau wollte sich einfach nicht mehr beruhigen. Daraufhin stieß Sascha ihre Freundin von sich, um sie zu erschrecken, damit sie wieder ruhiger wurde. Sie wurde auch still, allerdings weiteten sich Doreens Augen unnatürlich. Erst bei näherem Hinsehen entdeckte Sascha das Eisenspitzen den Zaun des deutschen hoheitlichen Gebietes zierten. Eine von diesen hatte sich in den Nacken ihrer Freundin gebohrt. Ein wahrer Alptraum.

Es war für Sascha kaum erträglich dies still und in sich gekehrt zu verarbeiten. Sie musste sich zusammenreißen, da sie ihre Zellengenossinnen durch ewiges hin- und herlaufen nicht wecken wollte. Jeden Morgen um kurz vor 6 sehnte sie sich schon fast unerträglich danach, endlich längere Wege zu laufen. So auch jetzt. Bevor sie zum Frühstück ging lief Sascha meistens einige Male den Gang auf und ab. Bevor einer der Schließer sie zum dritten Mal ermahnte, schlug die großgewachsene Frau den Weg zum Frühstücksraum ein. Schweigend saßen die Frauen nebeneinander und nahmen ihr Essen zu sich. Nach und nach verließen sie den Raum und machten sich für den Arbeitstag fertig. Jede Frau ordnete sich in der Arbeitsgruppe ein, in die sie eingeteilt worden war. Sascha wurde in der Wäscherei eingesetzt. Nach dem Zählapell wurden die einzelnen Gittertüren geöffnet und die Insassinnen wurden zu den Arbeitsstätten begleitet.

Die Zeit verging bis zur Mittagspause schleppend, wie jeden Tag. Denn das Kommunizieren war während der Arbeitszeit nicht geduldet. So waren um Sascha herum nur die Geräusche von Maschinen zu hören. Oder eben mal ein überehrgeiziger Beamter, der eine Gefangene lauthals niedermachte. Doch irgendwann war die Mittagszeit angebrochen. Alle Gerätschaften wurden ausgeschaltet und die Frauen strömten zur Essensausgabe.
„Linseneintopf“ verzog Sascha das Gesicht, als sie daran roch.
„Die hätten zumindest mal ein Würstchen mit reinpacken können“ stimmte ihre Essnachbarin zu. Sascha nickte nur müde, denn schon im nächsten Moment brüllte einer der Aufseher:
„Ruhe da hinten. Hier wird gegessen und nicht gequatscht!“ Stumm blickten sie sich kurz an und aßen, ehe die nachmittägliche Arbeit auf sie wartete.

Sascha und ihre Arbeitsgruppe kamen gut voran und erledigten die restlichen Aufgaben bis einer der Schlusen, das Ende der Arbeitszeit verkündete. Dieser brachte sie auch zurück auf Station, wo sie sich in ihren Zellen umziehen konnten und den restlichen Tag weitestgehend frei gestalten konnten. Sascha war die letzten Minuten richtig unruhig geworden. Der Drang nach einer Zigarette wurde immer größer. Drei Zigaretten am Tag waren schon sehr knapp bemessen. Aber mehr konnte sie sich nicht leisten. Nachdem sie sich in ihre Freizeitklamotten geworfen hatte, schnappte sie sich ihre zweite und wurde zusammen mit den anderen auf den Gefängnishof gebracht, um endliche frische Luft schnappen zu können.

Draußen angekommen, lehnte sie sich an einen Baum, der etwas abseits stand, steckte sich die Zigarette an, schloss die Augen und atmete tief durch. Heike, eine ältere Frau, mit langen schwarzen Haaren, drückte sich ebenfalls an den Baum und sprach sie an:
„Hey, na? Alles ok?“
Sascha nickte nur, stieß eine Rauchwolke aus und war dabei sich aus der Situation zu befreien. Doch Kathrin hielt sie am Arm fest.
„Warum läufst du denn davon?“
Sascha zog schnell an ihrer Zigarette, blickte ihr in die Augen und meinte:
„Weil ich keine Lust auf Smalltalk habe.“ Und versuchte wegzugehen.
„Wer sagt denn, dass ich nur Smalltalk möchte?“
„So? Was möchtest du denn sonst?“
„Ich mach mir Sorgen um dich. Du bist immer so ruhig. Und …“
„Ich bin so und ich möchte einfach meine Ruhe, okay?“
„Gut, wie du meinst, aber das war das erste und letzte Mal, dass ich dich belästigt habe. Komm ja nicht irgendwann angekrochen.“ Zischte Heike böse auf.
„Keine Sorge. Ich komme klar.“ Damit verließ Sascha den Baum, samt Anhängsel und stellte sich zu Bärbel, einer ihrer Zellengenossinnen, die mit anderen Frauen am Plaudern war.

Die Freizeit verging im Gegensatz zur Arbeitszeit rasend schnell. Es war dunkel geworden und alle Frauen befanden sich wieder auf Station und schlugen die Zeit bis zum Abendessen dort tot. Sascha war allein in ihrer Zelle, hatte sich bäuchlings auf ihr Bett gelegt und las. Immer wieder ließ sie ihre Gedanken abschweifen und vergrub irgendwann ihr Gesicht in ihren Händen.  Anne, eine andere Zellennachbarin, kam herein um das kleine Bad aufzusuchen. Sascha blieb in ihrer Haltung verharrt. Als sie die Spülung der Toilette hörte, öffnete sie zwar ihr Gesicht, drehte sich aber mit dem Gesicht zur Wand. Als Anna wieder den Wohnraum betrat, ging sie zu ihr und setzte sich auf Saschas Bett:
„Sascha, was ist denn los?“ Angesprochene reagierte nicht.
„Komm schon, sag doch was. Du kannst doch nicht immer schweigen.“ Versuchte sie es erneut. Die braunhaarige Frau versuchte mit aller Macht das Zittern ihres Körpers zu vermeiden. Doch es klappte diesmal nicht. Ihre blonde Zellengenossin legte sanft eine Hand auf deren Schulter und strich ihr sanft darüber.
„Sprechen hilft manchmal wirklich. Wenn du mich brauchst. Ich bin auf dem Gang und … gleich gibt’s Abendessen.“ lächelte sie ihr aufmunternd zu, auch wenn Sascha das nicht sehen konnte.

Wenig später fanden sich alle Frauen im Speisesaal ein um zu essen. Anschließend, gegen 18:30 Uhr, zogen einige Frauen in den Aufenthaltsraum um, um sich die Nachrichten anzusehen. Da die Sendung um 18:45 Uhr beendet war, zappte eine der Frauen durch das restlich, dünn besiedelte Fernsehprogramm der DDR, und blieben bei einer Pressekonferenz mit Günter Schabowski hängen. Auch Sascha hatte sich im Raum eingefunden, um zumindest etwas Gesellschaft zu haben, aber blätterte durch ihr Buch und hörte nur mit halbem Ohr dem Monolog des Schabowskis zu:

„…Allerdings ist heute, soviel ich weiß (blickt bei diesen Worten zustimmungsheischend in Richtung Labs und Banaschak), eine Entscheidung getroffen worden. Es ist eine Empfehlung des Politbüros aufgegriffen worden, daß man aus dem Entwurf des Reisegesetzes den Passus herausnimmt und in Kraft treten läßt, der stän... - wie man so schön sagt oder so unschön sagt - die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik. Weil wir es (äh) für einen unmöglichen Zustand halten, daß sich diese Bewegung vollzieht (äh) über einen befreundeten Staat (äh), was ja auch für diesen Staat nicht ganz einfach ist. Und deshalb (äh) haben wir uns dazu entschlossen, heute (äh) eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht (äh), über Grenzübergangspunkte der DDR (äh) auszureisen.“ (Quelle: http://www.chronik-der-mauer.de/index.php/de/Media/TextPopup/day/9/id/1579592/month/November/oldAction/Detail/oldModule/Chronical/year/1989)

Erst jetzt wurde sie hellhörig, sah auf und schenkte ihre volle Aufmerksamkeit dem Fernsehprogramm. Mehrere Zwischenrufe sind zu dieser Aussage zu vernehmen und Schabowski, sichtlich unsicher, bestätigt, dass ab sofort, unverzüglich jeder DDR-Bürger uneingeschränkt ausreisen kann. Saschas Gesichtszüge entgleisten ihr nun vollends. Tränen standen in ihren Augen. Sie nahm ihre Umwelt kaum mehr wahr. Hatte sie das jetzt richtig verstanden? Die Mauer würde fallen? Um sie herum fielen sich einige der Frauen in die Arme. Andere murrten auf. Klar, für die meisten änderte sich in naher Zukunft auch nichts. Ihre Mauer um das Gefängnis herum würden sie noch länger sehen. Anna und Bärbel gingen dennoch auf Sascha zu und klopften ihr auf die Schulter, sodass sie wieder aus ihrem Trancezustand zurückfand.

Die Schließer wurden auf das Getöse aufmerksam und einer suchte den Aufenthaltsraum auf um nach dem Rechten zu sehen:
„Was ist denn hier los?“ rief er in die Runde.
Eine der Frauen kam auf ihn zu und umarmte ihn:
„Die Mauer ist auf!“
„Wie? -  Lassen Sie mich los!“
„Es kann aus der Deutschen Demokratischen Republik ausgereist werden!“
„Sagt wer?“
„Na der Typ im Fernsehen!“
„Schabowski“ rief Sascha leise ein.
Einige der Frauen, die zusammenstanden stimmten „Auf der Mauer auf der Lauer“ an.
Der Schluse ging wieder und teilte das seinen Kollegen mit und beriet sich mit ihnen.
Es war 19:00 Uhr und die Pressekonferenz vorbei.

Sascha klappte ihr Buch zu und machte sich auf den Weg zu ihrem Bett. Tausend neuer Gedanken gingen ihr durch den Kopf.  Auf der einen Seite war sie froh, dass diese Mauer, die sie vom Westen und der ganzen weiten Welt, trennte, weg war, andererseits so unendlich traurig darüber, dass ihre geliebte Doreen das nicht miterlebte, sie mit ihr das nicht erleben durfte und alles nur… Sascha schossen erneut Tränen in die Augen, … weil sie sie getötet hatte. Genau deswegen, weil sie diese Freiheit wollte. Sich nicht unterdrücken lassen wollte. Der Drang nach Freiheit war die Jahre vor diesem schrecklichen Unfall so unendlich groß geworden und jetzt saß sie hier, in noch viel engerer Gefangenschaft. Sascha war froh, als sie sich auf ihr Bett werfen konnte und sich unter der Decke vergraben konnte. Die bitteren Tränen wollten nicht mehr aufhören zu rinnen. Sie konnte nicht mehr. Sie wollte nicht mehr.

Nach einiger Zeit betraten auch ihre Zellengenossinnen ihren Wohnbereich. Susanne zog sich in die Nasszelle zurück. Bärbel warf sich rasant auf ihr Bett und gluckste noch mit Anna, die gemächlich den Raum betrat. Ihr Blick fiel auf Saschas Bett. Von der nur ein Teil ihrer Haare zu sehen war und nur das Zucken ihres Körpers zeigte den beiden, dass Sascha noch halbwegs lebend anwesend war. Die beiden stellten das Gekicher ein und Anna setzte sich zu Sascha. Auch Bärbel kam an Saschas Bett und kauerte davor. Und blickte unschlüssig zu Anna. Mit möglichst ruhiger Stimme versuchte sie  einen Zugang zu ihr zu bekommen:
„Sascha?“
Außer einem unterdrückten Schluchzen war nichts zu vernehmen.
„Sascha. Mensch. Nun freu dich doch, dass die Mauer weg ist.“ – Schluchzen.
Hilflos blickte sie erneut zu Anna. Nun versuchte diese einen Zugang zu bekommen:
„Sascha, bitte sprich mit uns, sonst müssen wir den Arzt holen. Wir machen und Sorgen um dch.“
Susanne trat aus der Nasszelle heraus und reichte Anna ein paar Blätter Toilettenpapier, die diese direkt an Sascha weitergab:
„Hier, ich hoffe, es ist kein Pipi von Susanne dran“ schmunzelte Anna und bekam dafür einen bösen Blick von der edlen Spenderin.
Sascha umfasste sanft Annas Hand und nahm ihr das Papier ab. Leise drang ein
„Danke“ unter der Decke hervor.  Sie trocknete sich etwas die Tränen und schlug die Decke auf, um besser Schnäuzen zu können.
„Hey, da bist du ja wieder“ lächelte Anna die Frau mit den verwuschelten Haaren an.
Nachdem sich Sascha aufgesetzt und erneut geschnäuzt hatte, zog sie sie einfach zu sich und hielt sie im Arm. Die blonde Frau nickte Bärbel zu, die sich daraufhin in ihr Bett zurückzog.
„Siehst du, ist doch gleich besser, hmm?“
Eigentlich wollte Sascha nur ihre Ruhe haben, doch irgendwie war sie in diesem Moment einfach nur dankbar, dass jetzt gerade jemand da war und sich wirklich um sie sorgte.

Sie saßen noch eine Weile so da, bis vom Gang der Befehl zum Zelleneinschluss kam, der sie aus ihrer Nähe riss. Der restliche Abend ging schnell vorüber. Am nächsten Tag würden sie bestimmt mehr erfahren, wie es denn jetzt wirklich weiterging.  Und als das Licht ausging, kam Sascha in den Sinn, dass diese Veränderung vielleicht auch ihr Leben hier verändern könnte. Sie begann zu hoffen, dass ihr Fall neu aufgerollt werden würde und es vielleicht zu einem anderen Urteil kommen könnte. Mit diesem Gedanken schlief sie schnell ein.
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