Die Könige von Wilderland I-VI
von meika
Kurzbeschreibung
Kurz vor der Rückeroberung des Erebor hat Thorin ein Bündnis mit der Menschenfrau getroffen, die sich ihm als Rose von Thal vorgestellt und der Balin sein Vertrauen geschenkt hat. Doch es ist der Drachentöter, der König von Thal wird. Das, die verheerende Wirkung des Schatzes auf sein Gemüt, und der unerwartete Preis, den sein Vetter Dáin für seine Unterstützung verlangt, macht ihm zu schaffen. Für seinen Neffen Fíli wird es noch schlimmer. Aber auch Bard trifft unmittelbar nach der Schlacht eine schicksalsschwere Entscheidung. - Dies ist die Geschichte der Herrscher des Erebor und derer von Thal, denen achtzig Jahre bleiben, um den Bund ihrer Völker zu festigen, ehe erneut dunkle Zeiten über das Land hereinbrechen. Achtzig, im Allgemeinen friedliche Jahre, in denen beide Reiche zur Blüte gelangen. Doch Macht und Reichtum bescheren den Königen und ihren Nachfolgern neben einfachen Neidern auch geduldige Feinde. (Teil I-V online - VI im Upload - VII in Arbeit)
GeschichteDrama, Familie / P18 / Het
Bain
Bard
Dis
Fili
Kili
Thorin Eichenschild
14.09.2014
18.03.2023
102
531.858
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18.03.2023
4.863
Hier ist das versprochene Fíli Kapitel frisch aus der Korrektur.
Ich empfehle dazu "Snuff" von Slipknot, das lief beim Schreiben rauf und runter. Und geschrieben, seziert und neu zusammengesetzt hab ich lang daran. Dieser kleine Frankenstein hat Überlange und ist keine leichte Kost, aber ich hoffe, es hat sich gelohnt. Come in and find out - oder so.
♥-lichst meika
Beißender Geruch hing Fíli in der Nase. Sein Herz raste, als wollte es seine Gedanken einholen und seine Glieder fühlten sich bleischwer an. Er kniff die Augen zusammen, versuchte, rückwärts zu zählen, aber er verhaspelte sich. Seine Finger wanderten über seine Hand. Nur zwei Ringe. Sein Bein brannte. Nach nur zwei Tagen schon außer Gefecht, ohne einem einzigen Ork begegnet zu sein. Glanzleistung.
Vorsichtig betastete er den Oberschenkel, stellte fest, dass er keine Hose trug und verzog das Gesicht. Dabei entfuhr ihm ein Stöhnen. Metall klimperte. Es raschelte. Mari war an seinen Sachen.
„Was machst du da?“
Hastig sprang Mari auf und schob den offenen Tornister mit dem Fuß fort. „Hast du Schmerzen?“, fragte er beiläufig.
„Ich verstehe, dass mein Bein wehtut“, murmelte Fíli. Sein Kiefer knackte. „Wieso bekomm’ ich den Mund kaum auf?“
Mari reckte sich und sah ihn endlich an. „Fast hättest du alles wieder aufgerissen“, sagte er. „Du warst wie von Sinnen. Als ob …“
Fíli schauderte. Während Mari nach Worten suchte, zog er die Augenbrauen zusammen. Mit mehr Wucht als Kílis Haken traf ihn das blasse Traumbild, welches ihm schrecklich real erschien. Dazu alles andere. Und wie er plötzlich am Boden war. Kílis gebrüllte Befehle. Der Gestank von verbranntem Fleisch. Schnee. Der goldenen See. Der Drache. Rose. Immer wieder Rose. Ihm wurde übel.
„Lass mich allein.“
„Du darfst nicht au-“
„Raus.“ Mari fest im Blick, tastete Fíli über seine Brust. Er fummelte Roses Anhänger hervor, aber der hatte sich in seinem Haar verfangen. Fluchend riss er daran.
Mari kaute auf seiner Unterlippe herum und kam langsam näher. „Dir geht’s nicht gut. Ich kann dir -“
„Sag mir nicht, wie’s mir geht“, presste Fíli hervor.
„Du klingst wie -“
„Verschwinde!“ Fíli warf die Decken von sich. Das Lederband riss. Beinahe wäre ihm Roses Talisman entglitten. Die hastige Bewegung bekam ihm nicht. Kraftlos fiel er zurück, den Anhänger fest in der Faust und Mari im Blick.
„Wir mussten dich zu viert festhalten“, murmelte er, während er die Decke wieder um Fílis nackte Beine stopfte. „Kíli hat kaum geschlafen und jetzt muss er sich schon wieder mit diesem dämlichen Schwarzschmied rumschlagen, der -“ Genau der kam durch die Tür, halb von einer Wache verdeckt. Mari fuhr herum. „Hat Kíli nicht gesagt, niemand -“
Akral schob sich an der Wache vorbei, seine Schwester im Schlepptau. „Mein König“, tönte er untertänigst. „Welch Freude, Euch wohlauf zu sehen. Ich bin untröstlich über diesen Vorfall und Euch auf ewig zu Dank verpflichtet. Was immer Ihr wünscht, sagt es mir nur …“ Dazu präsentierte er einen Krug und zwei Humpen.
„Der Junge wollte eben gehen“, erklärte Fíli mit einladender Geste. Vier Wachen nahmen Aufstellung. Mari schoben sie unter Protest hinaus.
Ovsha sah verändert aus. Sie sprach kaum, küsste überschwänglich Fílis Hand, füllte die Becher und klemmte Fíli Kissen in den Rücken, sodass er den Grog unfallfrei zum Mund führen konnte. Das Zeug war warm, stark und süß, also, dachte er sich, war er genau in der richtigen Position, um ein paar Krüge davon zu leeren. Zu mehr war er vorerst ja nicht fähig.
Akral prostete dem Retter seiner Schwester zu, biederte sich an und schickte Ovsha, Fílis Wünsche zu erfüllen. Hoffte wohl, ein kleiner Dienst, den er nicht einmal selbst erfüllte und das stete Nachfüllen eines Kruges rehabilitierten ihn. Dabei hatte Fíli nur keinen Nerv, über die wichtigen Dinge zu streiten. Jemand, der ihn nicht auf Anhieb durchschaute, war im gerade recht. Mochte Akral schwatzen.
Bald amüsierte es ihn, wie Akral, der stets trank, wenn er trank, sich beim Aufstehen verrenkte, bemüht, nichts zu verschütten und Fíli dabei nicht näherzukommen, als unbedingt nötig. Wenn er es doch tat, bewegte sich scheppernd eine Wache und Akral zuckte zurück. Dann schlurfte er zu Tür und tauschte den leeren Krug gegen einen vollen. Die jüngsten Ereignisse jagten Fíli kalte Schauer über den Rücken, doch in diesen Momenten genoss Akral seine ganze Aufmerksamkeit. Er plumpste zurück in den Sessel und schwadronierte mit den Händen, ja mit seinem ganzen Körper – davon hatte er reichlich – über seine ersten Gedanken des Tages.
Fíli trank. In seinen Ohren rauschte wieder sein eigenes Blut. Akral sprach von einem Ardash und von Azanulbizar und Fíli wusste, er sollte sich konzentrieren. Allein aus Respekt. Doch er schielte auf seine Finger. Da waren sein Siegelring und der Ring seines Vaters und das poröse Lederband mit verknoteten Haaren. Der Talisman in seiner Hand schien zu pulsieren. Er strich mit dem Daumen über das warme, speckige Holz. Ihm war, als höre er das Summen des Arkensteins. Das Wichtigste in solchen Momenten war, dass ihn jemand ablenkte. Rose konnte das. Mari nicht. Und Kíli … die Begeisterung, mit der Kíli den hölzernen Ersatz angesteckt hatte, stieß ihm sauer auf. Eine Idee von Rose. Er schnaubte. Hielt sie ihn wirklich für so schwach? Wie Kíli? Wann immer der seinen Ring ablegte, um ihn zu schonen, trank er einen zusätzlichen Krug Wein. Aber vielleicht wollte Rose nur den Arkenstein schützen? Nicht auszudenken, wenn etwas davon in die falschen Hände geriet. Ihm wurde heiß. Er hätte ihn niemals vom Thron entfernen und – noch schlimmer – brechen dürfen.
Akral füllte nach. Fíli nippte. Akral füllte nach und jammerte über sein trostloses Leben. Ob Fíli wenigstens Ovsha in Sicherheit bringen würde, wollte er wissen.
Zunächst sollte er Pfeifenkraut besorgen, das stark genug war, um die Schmerzen eines vor zwanzig Jahren gespaltenen Schädels zu betäuben.
Fíli hatte nicht vor, eine weitere Schwarzschmiedin in den Erebor zu schicken, solange Rose dort allein war. Hatte er sie eigentlich im Arm gehalten, oder nur sich an ihr fest? Und würde sie mit seinem Gewicht nicht noch schneller versinken? Sein Herz raste und seine Hände wurden feucht.
Mit ihr an seiner Seite hatte er jede Ratssitzung mit allen Ringträgern gemeistert. Davor konnte er kaum schlafen, weil er sich fürchtete und danach … auch nicht. Immerhin hatte er Kíli und Rose nach Maddie ein Versprechen gegeben. Rona oder der kleinen Maud unter die Augen zu treten, brachte er kaum fertig. Aber waren die Vorraussetzungen bei Maddie nicht völlig andere gewesen?
Fíli hatte es im Griff. Für Gewöhnlich zumindest. Heute hatte er seinen kleinen Bruder vorgeschoben, um an besonders starkes Kraut zu kommen. Wie tief konnte man sinken? Und wo blieb Ovsha?
Er trank aus und hielt Akral den Becher hin.
Die Tür wurde aufgerissen. Er musste nicht hinsehen. Dieses wütende Stampfen erkannte er unter hunderten. Akral plumpste zurück in seinen Sessel. Grog schwappte ihm über Bart und Wams und er fluchte wie ein Brunnenputzer.
Halbherzig hob Fíli zwei Finger, aber Akral brach eine lautstarke Diskussion mit Kíli vom Zaun, irgendetwas mit Bergbau und Garkara und dem dämlichen Hund, der seinen König nicht von einem Ork unterscheiden konnte, und als Akral endlich aus seinem Sessel kam, wollte er sich an Maris Schulter festhalten. Der machte einen Satz zur Seite, der Akral straucheln ließ.
„Ungehobelter Bengel“, nuschelte Akral. War seine Zunge schon die ganze Zeit so schwer? Fíli hatte beim vierten frischen Krug aufgehört, zu zählen und nicht weiter darauf geachtet.
„Dämlicher Schwarzschmied“, raunte Mari.
Fíli trank. Wenigstens ging es nicht um ihn. Oder Ovsha. Wo blieb die nur? Ein letztes Mal noch musste er seinen Kopf in den Nebel stecken. Dann musste das aufhören. Sein Volk wurde abgeschlachtet und er hatte ganze zwei Wochen entschlossen gehandelt.
„Genug!“, brüllte er. „Mahals Hammer, wir sind hier, um Orks zu köpfen, nicht Zwerge.“
„Nichts lieber als das“, sagte Kíli. Sobald er Akral los war, musterte er Fíli. „Wie geht’s dir?“
„Knie oder Kiefer?“, fragte Fíli.
Mit finsterer Miene marschierte Kíli zum Nachtkasten, trank Fílis kalte Weidenrinde und winkte Mari. „Mach ihm eine Frische und sieh nach der Wunde.“
Murrend betrachtete Fíli, wie Mari sich grimmig ans Werk machte. Kíli verunsicherte ihn mit seinem undurchdringlichem Blick und einen Moment hoffte und fürchtete er, Kíli könnte seine finstersten Gedanken lesen.
„Und?“, fragte er.
„Ungesicherte Minen, Schlägereien unter den Stämmen, ein Gefangener, der dich fast umgebracht hat. Akral. Und Orks.“
„Orks!“, rief Fíli. „Du glücklicher. Solltest bald aufbrechen.“
„Ich habe Torunt herbestellt.“ Kíli nickte zur Tür. „Hat er dir erzählt, dass er nur siebenundneunzig Mann stellen will? Wie stehen wir zur Kampfstärke der Schwarzschmiede? Und wie viele unserer Männer bewachen Torunts leere Hallen, während wir -“
„Du.“ Fíli grinste halbherzig. Rose war eine weiße Statue. Ehe sie erneut untergehen konnte, fixierte er seinen Bruder. In ihren Augen wurde das grau-grün zu braun, zu Augen, die ihm nicht weniger vertraut waren und ihn nicht weniger enttäuscht ansahen.
„Alles in Ordnung?“, wollte Kíli wissen.
Rasch rieb sich Fíli übers Gesicht und zog eine Grimasse. „Was hast du vor?“
„Ich dachte, ich gebe Onar die Hälfte Steinfüsse und alle zugesagten Schwarzschmiede mit. Und Akrals Bergmeister. Die Jäger gehen über den Kamm.“
„Hmh.“ Fíli nippte am Grog und hielt ihn Kíli hin. Der verzog das Gesicht „Was?“, fragte Fíli. „Ich kann schließlich nix essen.“ Rasch nahm er einen weiteren, großen Schluck und genoss die Wärme in der Brust. Mari knallte einen dampfenden Becher auf den Nachtkasten.
„Wisst ihr, dass er denkt“, kühn wackelte Fíli mit einer Augenbraue, „dass seine Schwester und ich -“ Er biss die Zähne zusammen. Mari zog unsanft an seinem Verband. Er sparte sich den Anblick. Kíli sah hin.
„Wie kommt er darauf?“, fragte Kíli, ohne aufzusehen.
„Ich hab’ mich zwischen sie und eine Klinge geworfen.“
„Großartig.“
„Was?“
„Habt ihr -?“ Da war kein Schalk in Kílis Blick.
„Also bitte“, rief Fíli glucksend. „Glaubst du das wirklich?“
Schnaubend betrachtete Kíli die Wunde und verschränkte die Arme, während Mari eine neue Auflage holte.
„Wann denn?“, brüllte Fíli und Kíli zuckte mit der Schulter und Fíli fühlte sich gleich weniger schlecht, dass er ihn nicht begleiten konnte.
„Du hättest dich nicht gleich aufschlitzen lassen brauchen“, meckerte Kíli. „Das sieht übel aus. Und wer ist wohl wichtiger?“
„Jeder ist wichtig“, stieß Fíli hervor.
„Die führt kein Heer.“ Dieses Mal hielt Kíli seinem Starren stand. „Und ist nicht mein einziger Bruder.“
„Ach, Nadadith“, sagte Fíli versöhnlich. Die Last auf seiner Brust war wieder da. „Du machst“, er unterdrückte ein Keuchen, „das, wie du von Anfang an wolltest.“ Wo blieb nur Ovsha?
„Ich würde lieber -“
„Deinem König die Hand halten? Benutz deinen Kopf. Ich hab’ eine Verantwortung, die weit über mein Blut hinausreicht.“
„Dann sieh zu, dass du dein Blut bei dir behältst.“ Kíli ballte die Fäuste, doch seine Augen hatten einen verräterischen Glanz. „Trink das.“ Unmissverständlich zeigte er auf den Weidenrindenbecher und dann auf Mari. „Und wirf ihn nicht raus, wenn ich ihm sage, er hat dir nicht von der Seite zu weichen.“
„Zu Befehl, Namadith“, sagte Fíli zackig.
Wenn Kíli allein mit Blicken Pfeile verschießen könnte, hätte sein letztes Stündlein geschlagen. Gegen seinen König musste Kíli klein beigeben, sonst brachte er sich um seinen Bart. Oder Schlimmeres. Gab es für Kíli Schlimmeres?
Fíli wusste es nicht. Aber was belehrte er ihn auch? Vor Kriegern! Eine Wache kam Kílis stürmischem Abgang in die Quere.
Torunt grüßte knapp und blieb bei der Tür stehen. Akral, stampfend, schwitzend, mit hochrotem Kopf, grüßte nicht, sondern fuchtelte und zeterte. Eine Weile beobachtete Fíli, wie Akral mit jedem seiner Worte in Torunt den Wunsch zu schüren schien, ihn ungespitzt in den Boden zu rammen. Als Kíli die Ärmel hochschob, reichte es ihm.
„Shazarah!“, brüllte er. Seine Wachen standen still und hoben ihre Hellebarden. Fíli rieb sich das Kinn. Torunts Kiefer bebte, aber er stieß Akral von sich und nahm Haltung an. Schwankend zog Akral den Kopf ein und scharrte mit den Hufen. Als Kíli sich vor ihm aufbaute, holte Fíli Luft.
„Ich erwarte, dass ihr Seite an Seite neben meinem Bruder gegen die Orks kämpft, die unser Volk abschlachten. Ist das ein Problem?“
Akral packte Kílis Schulter. „Natürlich nicht, mein König“, kokettierte er.
„Ist das ein Problem?“, brüllte Fíli.
„Nein, mein König“, knurrte Torunt.
„Herr Kíli wird die Aufteilung eurer Krieger beim Essen erläutern. Lasst mich allein.“ Fílis Zehen verkrampften unter der Decke, während er souverän von einem zum anderen schaute. „Alle!“
Mari protestierte wieder, aber Kíli legte einen Arm um seine Schultern und zog ihn mit. Schon an der Tür, stapfte Kíli zurück, schnappte sich den Aufguss vom Nachtkasten und hielt ihn Fíli unter die Nase. Durch dunkle Ponyfransen sah er ihn so finster an wie Thorin und statt Kíli den Becher aus der Hand zu schlagen, griff Fíli danach und trank, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Dann streckte er den Arm aus, ließ den Becher fallen und zeigte zur Tür.
Kíli nickte knapp und war weg.
Wo blieb Ovsha?
Fíli schloss die Augen, hörte den Atem der Wachen, Schritte, die an der Tür vorbeieilten, entferntes Gemurmel von hunderten Kriegern. Dann rief Rose in höchster Not seinen Namen.
Er fuhr hoch. Sein Hemd klebte an seiner Brust. Die Bilder verschwanden, sobald er die Augen aufriss, aber ihre Panik klang ihm noch im Ohr. Die Wachen schauten. Fíli winkte ab. An der Decke entdeckte er eine Spinnwebe, in der eine Fliege zappelte.
Was eben geschehen war, wusste er nicht mehr, aber der Traum davor, in dem er ihr Untergang gewesen war, machte ihn fertig. Ausgerechnet sie, die aus freien Stücken an seiner Seite endlose Tafeln und Sitzungen ertrug. Er wollte sie an sich ziehen. Sie strahlte ihn an. Sie strahlte immer. Heller als der Arkenstein.
Rose. Lukh-
Wenn er spät abends noch müde über Papieren vertieft die Zeit vergaß, schwang sie sich plötzlich auf seinen Schreibtisch, schaute ihm tief in die Augen und fuhr mit ihren nackten Zehen seinen Oberschenkel … in seinem Knie zog es fast so heftig wie in seiner Brust. Die ersten Male war er an Ort und Stelle über sie hergefallen, wild entschlossen, danach weiterzuarbeiten. Doch dazu war es nie gekommen. Seufzend rieb er sich die brennenden Augen. Wenn er jetzt nur in ihre schauen und sehen könnte, dass alles gut würde.
Rose.
Von allem, was nach Thorins plötzlichem Tod auf ihn eingeprasselt war, erinnerte er sich hauptsächlich an die Begegnung mit ihr und wie sie Dolgprasin hatte auflaufen lassen. Die ganze Zeit war ihm Kíli nicht von der Seite gewichen, aber wenn der schlief, dann schlief er. Eines musste er seinem Bruder lassen, seine Beobachtungsgabe war fantastisch. Nach der Krönung hätte er alles getan, um eine Nacht durchzuschlafen, aber dann war sie zu ihm gekommen, wie Kíli es versprochen hatte.
Er hätte sie nie darum gebeten.
Selten hatte sich etwas so befreiend angefühlt, wie die plötzlichen Tränen, nach einer einzigen zarten Geste. Mit ihr verloren die dunkelsten Stunden, in denen die Schatten nach ihm lechzten, ihren Schrecken. Wenn sie sich aneinanderschmiegten und gegen die Geister anredeten und sie ihm durchs Haar strich, bis sein Herz aufhörte, davonzulaufen … nie hatte er sich verstandener gefühlt. Jeder glaubte immer, er wäre nur an der einen Sache interessiert. Das war es nie gewesen. Nicht bei ihr. Nicht, dass er eine Gelegenheit verschmäht hätte – aber nur bei ihr war alles echt. Rose war wahrhaftig die Eine. Seine Vertraute. Seine Verbündete. Er liebte es, wenn sie ihren geschundenen Rücken an seine Brust drückte und sich mit seinem lahmen Arm zudeckte. War das nicht das größte Zeichen von Vertrauen?
'Wärst du einfach für ein paar Tage mit ihr in die verfluchte Seestadt gegangen, wärst du längst wieder quietschfidel in deinem Berg. Nichts von diesem Schlamassel wäre geschehen.‘
Wo blieb Ovsha?
„Lasst mich allein“, stieß er hervor.
Die Wachen dachten nicht daran.
„Ich befehle es!“
Nichts.
In einem Zug schlug er die Decken zurück und setzte sich auf, schwang das heile Bein aus dem Bett, zog das lädierte hinterher. Mit einem Riesenschritt eilte der Anführer zu ihm. Fíli stand auf. Stand sicher. Sicherer als Akral. Bettruhe. Was für ein Unsinn. Er tat einen zaghaften Schritt mit Links – und fiel dem Mann in die Arme. Sein Bein war einfach eingeknickt. Mit aller Kraft kämpfte er gegen heiße Tränen, während dieser Krieger seinem, mit nichts als einem durchschwitzten Hemd bekleideten König, ins Bett half. Sein Name lag ihm auf der Zunge. Eine Tatsache, welche die Peinlichkeit dieser Situation keineswegs schmälerte.
Ein leises Stöhnen entwich ihm, als er zurück in die Kissen sank. Immerhin, der Verband war noch weiß. Trotzdem war das keine einfache Fleischwunde. Links. Immer links. Genau wie der verdammte Pfeil, den er immer noch mit sich herumtrug. Ruppig verlangte er nach Wein- und Wasserschlauch, trank einen langen Schluck und konzentrierte sich auf das warme Holz in seiner Faust. Seine Wangen glühten. Er kniff die Augen zu und rieb die Tränen fort. Die Wachen starrten stur geradeaus, hatten geschworen, nichts zu hören oder zu sehen, was keine Bedrohung darstellte, aber Fíli fühlte sich beobachtet. Nutzlos.
Schnaubend rieb er sich die Nase und spürte den Blick des Verantwortlichen auf sich. Zum ersten Mal überhaupt vermisste er Fraega. Wie erbärmlich war das? Auch wenn er an sein Gepäck käme, er hatte den letzten Rest ausgekratzt. Er hatte es vor Mahal, Durin und Thorin geschworen – diese letzte Reserve, dann war Schluss.
Was hätte er dafür gegeben, wenigstens neben Rose zu liegen. Er hatte ja tagelang nichts Besseres vor. Dann fiel ihm ein, wie sie Brekk zu Hilfe geeilt war, ihn mit bloßen Händen ausgegraben, seine Hand gehalten hatte … diese bohrende Eifersucht war ihm einst fremd gewesen. Was genau hatte sie gesagt, als er wach geworden und sie wieder da gewesen war? Was genau hatte er gesagt? Wenn er nur eine Prise übrig hätte. Nur noch eine.
Sie hatte den Berg verlassen wollen – und es getan, obwohl sie wusste, wie es ihm wirklich ging. Er hatte ihr alles gebeichtet und ihr dann alle Freiheiten gelassen, alles versucht, um Bard zu widerlegen – und sie hatte ihn zurückgelassen. Schon wieder.
'Sei wachsam, Junge. Wenn es darauf ankommt, wirst du allein sein.‘ Sein Onkel hatte ihm das einmal gesagt. Spät abends in der Bibliothek der Ered Luin. Er sah ihn vor sich. Einsam. Mitleidig? Es waren seine Prüfungsjahre gewesen. Seine Mutter nannte diese Zeit Flegeljahre. An jenem Abend hatte sie sich nicht mehr zu helfen gewusst und ihn Thorin überlassen. Der hatte ihn gepackt, in die Bibliothek geschleift und seinen Gürtel ausgezogen. ‘Sieh zu, dass deine Mutter dich hört‘, hatte Thorin gebrummt und den Studiertisch verdroschen und dann war seine schwielige Pranke auf Fílis noch viel zu schmale Schulter gefallen und er hatte diesen Satz gesagt.
Fíli hatte Thorin lange nicht verstanden, aber nie hatte er sich einsamer gefühlt als jetzt. Sei stark. Seine Augen brannten. Sei stark, verdammt.
„Habt Ihr Schmerzen, mein König?“, fragte der Wachmann.
„Es geht mir gut. Solange ihr kein Wettrennen plant.“
Anders als seine Jäger verzog dieser Mann keine Miene.
„Seid Ihr sicher, Herr?“
„Sicher.“ Fíli verkrampfte die Zehen, verkniff sich ein Zucken, ließ links rasch wieder locker und nickte. Was erlaubte dieser Kerl sich? Sicher waren drei Dinge:
Erstens: Er hatte versagt. Er wusste genau, was er tun sollte. Aber er tat es nicht. Wie immer.
Zweitens: Er war genau der geworden, der er nie hatte sein wollen. Von Anfang an hatte er ihr nichts verheimlicht, nichts beschönigt, aber diese heruntergekommene Seite von ihm tatsächlich zu sehen, hatte er ihr immer erspart. Bisher.
Und drittens, und das war wohl am schlimmsten: Er würde es wieder tun. Genau wie bei der verfluchten, wunderbaren Knolle. Hätte er die jetzt zur Hand, er würde sie ohne zu zögern schnupfen.
Ein kalter Schauer durchfuhr ihn. Er hatte ihren Eid gebrochen. Und noch einen. Und mehr als ein Versprechen. Er hatte sehr wohl Schmerzen. Aber das war nichts gegen dieses lähmende Ziehen tief in ihm und den Drachen auf seiner Brust – so schwer konnte nur ein Drache wiegen. Und das Vieh rutschte mit seinem dicken Hintern vergnügt auf ihn herum, nahm ihm die Luft zum Atmen, verhöhnte ihn für sein Scheitern.
Sein Respekt vor Thorin wuchs ins Unermessliche. Genau wie seine Scham, weil er, statt ihm beizustehen, all die Jahre davongelaufen war. Thorin hatte niemanden gehabt. Aber wie hätte er ihm offen unter die Augen treten können, mit dieser Ungeheuerlichkeit auf seinen Schultern? Wie oft war er kurz davor gewesen, das Risiko einzugehen, ihm von Naris Erpressung zu erzählen, auch wenn es ihn den Kopf gekostet hätte?
Die Konsequenzen für seine Familie hatten ihn stets abgehalten. Hätte er es an jenem Morgen wirklich über sich gebracht? Schlimm genug, dass Naris ihn zerstört hatte. Ob sie auch nur einmal in Erwägung gezogen hatte, was sie der Familie angetan hatte? Und ihrem eigenen Sohn?
Wenigstens Frerin hätte er beistehen können, aber auch diese Möglichkeit hatte das Biest zerschlagen.
Fest schloss er die Faust um Roses Geschenk, und drückte dieses Ding an sein Herz. Was wollte sie ihm damit sagen? Dass er es noch nicht völlig versaut hatte? Vielleicht wäre das besser. Zumindest für sie. Sie verdiente Besseres. Das hatte er immer gewusst, sonst hätte er nach der ersten Nacht niemals so lange gezögert. Aber das befreiende Gefühl, ihr nach diesem bescheidenen Tag begegnet zu sein, alles stehen und liegenzulassen und mit ihr zu lachen, hatte ihn unvorsichtig gemacht. Wie sie sich selbstverständlich bei ihm untergehakt hatte, wie er drauflos gequasselt hatte, unfähig, die richtigen Worte zu finden. Und wie atemberaubend dieser Kuss gewesen war. Wie weich seine Knie. So unbeschreiblich, dass er ihr unmöglich hatte widerstehen können. Der kurze Moment beim Aufwachen, eng umschlungen, die Nase in ihrem weichen Lavendelhaar – in jenem Moment war es endgültig um ihn geschehen. Der Augenblick mit dem berauschendsten Gefühl, das er davor und danach je gehabt hatte.
Es wäre ein leichtes gewesen, Kílis Rolle in dieser Sache sofort zu klären. Oder einfach liegenzubleiben und zu genießen. Aber Naris’ Stachel steckte tief und er war zu feige gewesen. Und zugleich nicht stark genug. Tagsüber ja, aber je später der Abend …
Man brachte ihm Krebspastete, von deren Geruch ihm flau wurde. Er ließ sie zurückgehen und stellte sicher, dass sein Bruder einen neuen Helm im Gepäck hatte. Zwischendurch nippte er am Wein und verschluckte sich. Nicht mal betrinken konnte er sich mehr anständig. Und wessen Schuld war das?
Lustlos schlürfte er schließlich eine Brühe mit Fleischeinlage. Allein diese einfache Bewegung strengte ihn an. Löffel zum Mund. Kauen. Schlucken. Atmen, mit dem Drachen auf der Brust. Löffel zum Mund …
Es war die Banalität des Essens, die ihn müde machte. Mühelos und mit Freuden würde er sein Schwert durch den Hals eines Orks ziehen. Den von Fraega. Nimloth. Dolgprasin. Naris. Allen voran, Naris.
Seine Finger krallten sich um das Stück Holz. Rose …
Selbst wenn er in ihrem Arm die Augen aufschlug, sicher getrennt von jedem bisschen Arkenstein, es war die Knolle, der stets sein erster Gedanke galt. Sobald Rose sich fertig machte, pflegte er sich rasch mit einem Schluck Eilend auf den Tag vorzubereiten. In den vergangenen Monaten hatte er nachts Flachmann und Vorratsflasche mit dem klaren Brand aufgefüllt. Niemand hatte etwas bemerkt. Und dann hatte sie ihn doch so gesehen, wie sie ihn nie hätte sehen sollen.
Sie hätte er jederzeit jedem Rausch vorgezogen. Aber sie war nicht da, also trank er. Sie hatten ja alle keine Ahnung, wie viel Kraft es ihn täglich kostete, für sie den Schein zu wahren. Sie verstanden nicht, wie viel Disziplin es erforderte, gerade genug zu nehmen, dass es ihm gut ging. Gerade gut genug, dass ihm niemand auf die Schliche kam. So wie nach seinem Bund, als er die Arkensteine aus der Hand hatte geben müssen. Er hätte diese beiden Ereignisse trennen sollen. Aber ohne Rose war es unmöglich gewesen und später hätte er kaum noch einmal den Mut gefunden. Wie hatte Thorin das nur über sich gebracht, damals, in Anwesenheit von Thranduil?
Wo blieb Ovsha?
Fusel und Kraut zu mischen, war nicht klug. Dann geschahen seltsame Dinge, aber er brauchte diese Ruhe so dringend. Siedend heiß kam ihm, dass sie ihn doch schon einmal so gesehen hatten. Kíli, Mutter – und Rose.
Ihm wurde kalt. Während ihm die Knolle half, sich zu konzentrieren, benebelte das Kraut nur. Machte gleichgültig. Wenn es gutes war. Wenn er dazu genug trank, schaltete es sein Hirn ab. Seine Gefühle. Das war dämlich und gefährlich, aber genau das, was er jetzt brauchte.
Sobald er den Wein ansetzte, geisterte Frerin durch seine Gedanken. Damals, als er ihm noch eine Ahnung beschert hatte, wie sein könnte, mit einem Sohn am Amboss zu stehen. Sein Sohn … er schluckte den Kloß im Hals herunter.
Wie um alles in der Welt konnte man eigentlich so blind sein? Hätte er nur das Gespräch gesucht, statt sie gleich vor aller Ohren zu verbannen. Und was hatte er daraus gelernt?
Oder zu voll, um zu erkennen, dass wahrhaftig ein hinterhältiges Biest zu einem ins Bett kroch?
Er sollte sich zügeln. Nur noch diese eine Mal, dann war Schluss. Er trank einen Schluck und fühlte sich schlecht.
Aber der König von Durins Volk hatte keine Furcht zu haben. Keinen Herzschmerz, Schuldgefühle, Selbstmitleid. Er hatte sich für nichts zu schämen, zu erklären, oder zu entschuldigen. Bestenfalls vor Mahal. Was hatte er dem getan, dass der ihn so strafte? ‚Los, nimm deinen verfluchten Hammer und bring es zu Ende‘, schalt er den Schöpfer. ‚Worauf wartest du?‘
Die Wachen atmeten. Die Fliege zuckte. Wäre er noch bei Verstand, wenn er damals seinen Mann gestanden und Naris selbst genommen hätte? Dann hätte er ihr etwas zu sagen gehabt. Es würde keine Rolle spielen, welche von den beiden Irren sich an ihm vergangen hatte. Ob er Bringa nun gehabt hatte, oder nicht.
Aber dann hätte er sich um die Liebe seines Lebens gebracht. Schnaubend schob er ein Stück Fleisch mit der Zunge auf die andere Seite.
Kíli hatte ganze Arbeit geleistet. Sie beide gegen die Orks. Seit Kindertagen hatten sie sich das ausgemalt. Was, wenn er seinen kleinen Bruder zu diesen Bestien schickte, und die ihn erwischten? Wie sollte er je wieder seiner Mutter … ein Schluck Eilend dämpfte Wut und Panik in seiner Brust. Wenigstens war Rose in Sicherheit. Und Mari hier an seiner Seite.
Er schnaubte. Lieber ein offener Kampf, als mit unvollständigen Erinnerungen an Dinge, die wahr zu sein schienen und quälend wahrhaftigen Träumen, die niemals wahr werden durften, weit von zu Hause, allein an ein fremdes Bett gefesselt, stocknüchtern die Fassung wahren zu müssen. Unter den wachsamen Augen von vier Elitekriegern. Er zog die Nase hoch, rieb sich den Schnurrbart und nahm einen großen Schluck Eilend.
„Wer raucht eine Pfeife mit mir?“, fragte er.
Der Anführer erklärte mit gehorsamem Bedauern, dass sie im Dienst seien. Der Rest zuckte nicht einmal mit der Wimper. Als Prinz hatte er seine Krieger immer für eine Pfeife gewinnen können. Vorsorglich ließ er sich die Pfeife und den Rest vom einfachen Tabak reichen, aber allein wollte er nicht.
Wo blieb Ovsha?
„Karten?“, fragte er, als er die Sachen entgegennahm.
Dieselbe Ausrede. Und einen weiteren Mann wollte er nicht hier haben. Nur einen weiteren Schluck Eilend. Einen großen.
‚Reiß dich zusammen‘, schalt er sich mit der Stimme seiner Mutter, kniff kurz die Augen zu und knipste ein Lächeln an. Sein Kiefer knackte. Er warf den Löffel fort, trank die abgekühlte Brühe ohne das zähe Fleisch und spülte mit Eilend nach.
Die Fliege im Netz regte sich nicht mehr und der Kommandant hieß Fráfor. Das war es! Gardisten in der Rüstung von Eisenmännern. Zwei von ihnen standen regelmäßig am Thronsaal. Er kannte auch ihre Namen, aber er kam nicht darauf. Wie konnten ihm die entfallen, wie konnte ihm das überhaupt zwei Wochen lang entgangen sein? Vielleicht war Kíli doch die bessere Wahl für diese Aufgabe.
Mit dem nächsten Schluck wurden ihm all die schrecklichen Tatsachen endlich gleichgültiger, aber er war noch lange nicht betrunken genug. Ach was, betrunken! Es war erst Mittag und er war auf unbestimmte Zeit mit sich selbst gefangen, wozu sollte er maßhalten? Es war das Einzige, was er im Moment kontrollieren konnte.
Mit dem nächsten Schluck fiel ihm sein Fehler auf. Hier gab es keinen Nachschub. Die Schüssel krachte in die Wand. Die verkleideten Gardisten zuckten nicht einmal. Am liebsten hätte er sich mit einem von ihnen geprügelt. Oder allen auf einmal.
Aber ein König tat so etwas nicht und wie ein Anführer zu funktionieren, hatte er von Kindesbeinen an gelernt.
Wenn er nur endlich auf die Jagd hätte gehen können. In der Wildnis war es immer gegangen. Zu ihrem Reiseproviant hatte ein ganzer Schlauch Kräuterwein gehört. Aber inzwischen war in denen von Kíli, Mari und selbst Gimli nur noch Wasser. Er hatte ihn vor Kílis Enthüllung aufgebraucht. Aus Langweile, weil er keinen Schlaf gefunden hatte. Dämlicher Höhlentroll. Die Augen fielen ihm zu.
Rose. Er liebte sie so sehr, presste ihren Talisman auf seine Brust. Was war aus ihm geworden? Dieses Mal hatte er ihren Respekt verloren. Er hatte es in ihrem Blick gelesen, ehe er durchs Tor gegangen war und bei Mari und Kíli war er zumindest kurz davor. Die Notration hatte er vor diesem letzten Blick in ihre Augen gepackt.
Sie ging unter.
Erstarrt sah er zu.
Aus der Tiefe starrten ihn tote Augen an. Von Vigg, Bringa und Brekk.
Ihre nicht. Sie sank.
Und sank.
Ihm wurde eiskalt. Er musste sofort seinen Kopf zum Schweigen bringen. Eine Sache gab es da noch. Ein Versprechen mehr oder weniger – es spielte keine Rolle mehr.
„Fráfor“, sagte er, „das Bartöl aus meinem Gepäck. Eine blaue Phiole.“
Ich empfehle dazu "Snuff" von Slipknot, das lief beim Schreiben rauf und runter. Und geschrieben, seziert und neu zusammengesetzt hab ich lang daran. Dieser kleine Frankenstein hat Überlange und ist keine leichte Kost, aber ich hoffe, es hat sich gelohnt. Come in and find out - oder so.
♥-lichst meika
Beißender Geruch hing Fíli in der Nase. Sein Herz raste, als wollte es seine Gedanken einholen und seine Glieder fühlten sich bleischwer an. Er kniff die Augen zusammen, versuchte, rückwärts zu zählen, aber er verhaspelte sich. Seine Finger wanderten über seine Hand. Nur zwei Ringe. Sein Bein brannte. Nach nur zwei Tagen schon außer Gefecht, ohne einem einzigen Ork begegnet zu sein. Glanzleistung.
Vorsichtig betastete er den Oberschenkel, stellte fest, dass er keine Hose trug und verzog das Gesicht. Dabei entfuhr ihm ein Stöhnen. Metall klimperte. Es raschelte. Mari war an seinen Sachen.
„Was machst du da?“
Hastig sprang Mari auf und schob den offenen Tornister mit dem Fuß fort. „Hast du Schmerzen?“, fragte er beiläufig.
„Ich verstehe, dass mein Bein wehtut“, murmelte Fíli. Sein Kiefer knackte. „Wieso bekomm’ ich den Mund kaum auf?“
Mari reckte sich und sah ihn endlich an. „Fast hättest du alles wieder aufgerissen“, sagte er. „Du warst wie von Sinnen. Als ob …“
Fíli schauderte. Während Mari nach Worten suchte, zog er die Augenbrauen zusammen. Mit mehr Wucht als Kílis Haken traf ihn das blasse Traumbild, welches ihm schrecklich real erschien. Dazu alles andere. Und wie er plötzlich am Boden war. Kílis gebrüllte Befehle. Der Gestank von verbranntem Fleisch. Schnee. Der goldenen See. Der Drache. Rose. Immer wieder Rose. Ihm wurde übel.
„Lass mich allein.“
„Du darfst nicht au-“
„Raus.“ Mari fest im Blick, tastete Fíli über seine Brust. Er fummelte Roses Anhänger hervor, aber der hatte sich in seinem Haar verfangen. Fluchend riss er daran.
Mari kaute auf seiner Unterlippe herum und kam langsam näher. „Dir geht’s nicht gut. Ich kann dir -“
„Sag mir nicht, wie’s mir geht“, presste Fíli hervor.
„Du klingst wie -“
„Verschwinde!“ Fíli warf die Decken von sich. Das Lederband riss. Beinahe wäre ihm Roses Talisman entglitten. Die hastige Bewegung bekam ihm nicht. Kraftlos fiel er zurück, den Anhänger fest in der Faust und Mari im Blick.
„Wir mussten dich zu viert festhalten“, murmelte er, während er die Decke wieder um Fílis nackte Beine stopfte. „Kíli hat kaum geschlafen und jetzt muss er sich schon wieder mit diesem dämlichen Schwarzschmied rumschlagen, der -“ Genau der kam durch die Tür, halb von einer Wache verdeckt. Mari fuhr herum. „Hat Kíli nicht gesagt, niemand -“
Akral schob sich an der Wache vorbei, seine Schwester im Schlepptau. „Mein König“, tönte er untertänigst. „Welch Freude, Euch wohlauf zu sehen. Ich bin untröstlich über diesen Vorfall und Euch auf ewig zu Dank verpflichtet. Was immer Ihr wünscht, sagt es mir nur …“ Dazu präsentierte er einen Krug und zwei Humpen.
„Der Junge wollte eben gehen“, erklärte Fíli mit einladender Geste. Vier Wachen nahmen Aufstellung. Mari schoben sie unter Protest hinaus.
Ovsha sah verändert aus. Sie sprach kaum, küsste überschwänglich Fílis Hand, füllte die Becher und klemmte Fíli Kissen in den Rücken, sodass er den Grog unfallfrei zum Mund führen konnte. Das Zeug war warm, stark und süß, also, dachte er sich, war er genau in der richtigen Position, um ein paar Krüge davon zu leeren. Zu mehr war er vorerst ja nicht fähig.
Akral prostete dem Retter seiner Schwester zu, biederte sich an und schickte Ovsha, Fílis Wünsche zu erfüllen. Hoffte wohl, ein kleiner Dienst, den er nicht einmal selbst erfüllte und das stete Nachfüllen eines Kruges rehabilitierten ihn. Dabei hatte Fíli nur keinen Nerv, über die wichtigen Dinge zu streiten. Jemand, der ihn nicht auf Anhieb durchschaute, war im gerade recht. Mochte Akral schwatzen.
Bald amüsierte es ihn, wie Akral, der stets trank, wenn er trank, sich beim Aufstehen verrenkte, bemüht, nichts zu verschütten und Fíli dabei nicht näherzukommen, als unbedingt nötig. Wenn er es doch tat, bewegte sich scheppernd eine Wache und Akral zuckte zurück. Dann schlurfte er zu Tür und tauschte den leeren Krug gegen einen vollen. Die jüngsten Ereignisse jagten Fíli kalte Schauer über den Rücken, doch in diesen Momenten genoss Akral seine ganze Aufmerksamkeit. Er plumpste zurück in den Sessel und schwadronierte mit den Händen, ja mit seinem ganzen Körper – davon hatte er reichlich – über seine ersten Gedanken des Tages.
Fíli trank. In seinen Ohren rauschte wieder sein eigenes Blut. Akral sprach von einem Ardash und von Azanulbizar und Fíli wusste, er sollte sich konzentrieren. Allein aus Respekt. Doch er schielte auf seine Finger. Da waren sein Siegelring und der Ring seines Vaters und das poröse Lederband mit verknoteten Haaren. Der Talisman in seiner Hand schien zu pulsieren. Er strich mit dem Daumen über das warme, speckige Holz. Ihm war, als höre er das Summen des Arkensteins. Das Wichtigste in solchen Momenten war, dass ihn jemand ablenkte. Rose konnte das. Mari nicht. Und Kíli … die Begeisterung, mit der Kíli den hölzernen Ersatz angesteckt hatte, stieß ihm sauer auf. Eine Idee von Rose. Er schnaubte. Hielt sie ihn wirklich für so schwach? Wie Kíli? Wann immer der seinen Ring ablegte, um ihn zu schonen, trank er einen zusätzlichen Krug Wein. Aber vielleicht wollte Rose nur den Arkenstein schützen? Nicht auszudenken, wenn etwas davon in die falschen Hände geriet. Ihm wurde heiß. Er hätte ihn niemals vom Thron entfernen und – noch schlimmer – brechen dürfen.
Akral füllte nach. Fíli nippte. Akral füllte nach und jammerte über sein trostloses Leben. Ob Fíli wenigstens Ovsha in Sicherheit bringen würde, wollte er wissen.
Zunächst sollte er Pfeifenkraut besorgen, das stark genug war, um die Schmerzen eines vor zwanzig Jahren gespaltenen Schädels zu betäuben.
Fíli hatte nicht vor, eine weitere Schwarzschmiedin in den Erebor zu schicken, solange Rose dort allein war. Hatte er sie eigentlich im Arm gehalten, oder nur sich an ihr fest? Und würde sie mit seinem Gewicht nicht noch schneller versinken? Sein Herz raste und seine Hände wurden feucht.
Mit ihr an seiner Seite hatte er jede Ratssitzung mit allen Ringträgern gemeistert. Davor konnte er kaum schlafen, weil er sich fürchtete und danach … auch nicht. Immerhin hatte er Kíli und Rose nach Maddie ein Versprechen gegeben. Rona oder der kleinen Maud unter die Augen zu treten, brachte er kaum fertig. Aber waren die Vorraussetzungen bei Maddie nicht völlig andere gewesen?
Fíli hatte es im Griff. Für Gewöhnlich zumindest. Heute hatte er seinen kleinen Bruder vorgeschoben, um an besonders starkes Kraut zu kommen. Wie tief konnte man sinken? Und wo blieb Ovsha?
Er trank aus und hielt Akral den Becher hin.
Die Tür wurde aufgerissen. Er musste nicht hinsehen. Dieses wütende Stampfen erkannte er unter hunderten. Akral plumpste zurück in seinen Sessel. Grog schwappte ihm über Bart und Wams und er fluchte wie ein Brunnenputzer.
Halbherzig hob Fíli zwei Finger, aber Akral brach eine lautstarke Diskussion mit Kíli vom Zaun, irgendetwas mit Bergbau und Garkara und dem dämlichen Hund, der seinen König nicht von einem Ork unterscheiden konnte, und als Akral endlich aus seinem Sessel kam, wollte er sich an Maris Schulter festhalten. Der machte einen Satz zur Seite, der Akral straucheln ließ.
„Ungehobelter Bengel“, nuschelte Akral. War seine Zunge schon die ganze Zeit so schwer? Fíli hatte beim vierten frischen Krug aufgehört, zu zählen und nicht weiter darauf geachtet.
„Dämlicher Schwarzschmied“, raunte Mari.
Fíli trank. Wenigstens ging es nicht um ihn. Oder Ovsha. Wo blieb die nur? Ein letztes Mal noch musste er seinen Kopf in den Nebel stecken. Dann musste das aufhören. Sein Volk wurde abgeschlachtet und er hatte ganze zwei Wochen entschlossen gehandelt.
„Genug!“, brüllte er. „Mahals Hammer, wir sind hier, um Orks zu köpfen, nicht Zwerge.“
„Nichts lieber als das“, sagte Kíli. Sobald er Akral los war, musterte er Fíli. „Wie geht’s dir?“
„Knie oder Kiefer?“, fragte Fíli.
Mit finsterer Miene marschierte Kíli zum Nachtkasten, trank Fílis kalte Weidenrinde und winkte Mari. „Mach ihm eine Frische und sieh nach der Wunde.“
Murrend betrachtete Fíli, wie Mari sich grimmig ans Werk machte. Kíli verunsicherte ihn mit seinem undurchdringlichem Blick und einen Moment hoffte und fürchtete er, Kíli könnte seine finstersten Gedanken lesen.
„Und?“, fragte er.
„Ungesicherte Minen, Schlägereien unter den Stämmen, ein Gefangener, der dich fast umgebracht hat. Akral. Und Orks.“
„Orks!“, rief Fíli. „Du glücklicher. Solltest bald aufbrechen.“
„Ich habe Torunt herbestellt.“ Kíli nickte zur Tür. „Hat er dir erzählt, dass er nur siebenundneunzig Mann stellen will? Wie stehen wir zur Kampfstärke der Schwarzschmiede? Und wie viele unserer Männer bewachen Torunts leere Hallen, während wir -“
„Du.“ Fíli grinste halbherzig. Rose war eine weiße Statue. Ehe sie erneut untergehen konnte, fixierte er seinen Bruder. In ihren Augen wurde das grau-grün zu braun, zu Augen, die ihm nicht weniger vertraut waren und ihn nicht weniger enttäuscht ansahen.
„Alles in Ordnung?“, wollte Kíli wissen.
Rasch rieb sich Fíli übers Gesicht und zog eine Grimasse. „Was hast du vor?“
„Ich dachte, ich gebe Onar die Hälfte Steinfüsse und alle zugesagten Schwarzschmiede mit. Und Akrals Bergmeister. Die Jäger gehen über den Kamm.“
„Hmh.“ Fíli nippte am Grog und hielt ihn Kíli hin. Der verzog das Gesicht „Was?“, fragte Fíli. „Ich kann schließlich nix essen.“ Rasch nahm er einen weiteren, großen Schluck und genoss die Wärme in der Brust. Mari knallte einen dampfenden Becher auf den Nachtkasten.
„Wisst ihr, dass er denkt“, kühn wackelte Fíli mit einer Augenbraue, „dass seine Schwester und ich -“ Er biss die Zähne zusammen. Mari zog unsanft an seinem Verband. Er sparte sich den Anblick. Kíli sah hin.
„Wie kommt er darauf?“, fragte Kíli, ohne aufzusehen.
„Ich hab’ mich zwischen sie und eine Klinge geworfen.“
„Großartig.“
„Was?“
„Habt ihr -?“ Da war kein Schalk in Kílis Blick.
„Also bitte“, rief Fíli glucksend. „Glaubst du das wirklich?“
Schnaubend betrachtete Kíli die Wunde und verschränkte die Arme, während Mari eine neue Auflage holte.
„Wann denn?“, brüllte Fíli und Kíli zuckte mit der Schulter und Fíli fühlte sich gleich weniger schlecht, dass er ihn nicht begleiten konnte.
„Du hättest dich nicht gleich aufschlitzen lassen brauchen“, meckerte Kíli. „Das sieht übel aus. Und wer ist wohl wichtiger?“
„Jeder ist wichtig“, stieß Fíli hervor.
„Die führt kein Heer.“ Dieses Mal hielt Kíli seinem Starren stand. „Und ist nicht mein einziger Bruder.“
„Ach, Nadadith“, sagte Fíli versöhnlich. Die Last auf seiner Brust war wieder da. „Du machst“, er unterdrückte ein Keuchen, „das, wie du von Anfang an wolltest.“ Wo blieb nur Ovsha?
„Ich würde lieber -“
„Deinem König die Hand halten? Benutz deinen Kopf. Ich hab’ eine Verantwortung, die weit über mein Blut hinausreicht.“
„Dann sieh zu, dass du dein Blut bei dir behältst.“ Kíli ballte die Fäuste, doch seine Augen hatten einen verräterischen Glanz. „Trink das.“ Unmissverständlich zeigte er auf den Weidenrindenbecher und dann auf Mari. „Und wirf ihn nicht raus, wenn ich ihm sage, er hat dir nicht von der Seite zu weichen.“
„Zu Befehl, Namadith“, sagte Fíli zackig.
Wenn Kíli allein mit Blicken Pfeile verschießen könnte, hätte sein letztes Stündlein geschlagen. Gegen seinen König musste Kíli klein beigeben, sonst brachte er sich um seinen Bart. Oder Schlimmeres. Gab es für Kíli Schlimmeres?
Fíli wusste es nicht. Aber was belehrte er ihn auch? Vor Kriegern! Eine Wache kam Kílis stürmischem Abgang in die Quere.
Torunt grüßte knapp und blieb bei der Tür stehen. Akral, stampfend, schwitzend, mit hochrotem Kopf, grüßte nicht, sondern fuchtelte und zeterte. Eine Weile beobachtete Fíli, wie Akral mit jedem seiner Worte in Torunt den Wunsch zu schüren schien, ihn ungespitzt in den Boden zu rammen. Als Kíli die Ärmel hochschob, reichte es ihm.
„Shazarah!“, brüllte er. Seine Wachen standen still und hoben ihre Hellebarden. Fíli rieb sich das Kinn. Torunts Kiefer bebte, aber er stieß Akral von sich und nahm Haltung an. Schwankend zog Akral den Kopf ein und scharrte mit den Hufen. Als Kíli sich vor ihm aufbaute, holte Fíli Luft.
„Ich erwarte, dass ihr Seite an Seite neben meinem Bruder gegen die Orks kämpft, die unser Volk abschlachten. Ist das ein Problem?“
Akral packte Kílis Schulter. „Natürlich nicht, mein König“, kokettierte er.
„Ist das ein Problem?“, brüllte Fíli.
„Nein, mein König“, knurrte Torunt.
„Herr Kíli wird die Aufteilung eurer Krieger beim Essen erläutern. Lasst mich allein.“ Fílis Zehen verkrampften unter der Decke, während er souverän von einem zum anderen schaute. „Alle!“
Mari protestierte wieder, aber Kíli legte einen Arm um seine Schultern und zog ihn mit. Schon an der Tür, stapfte Kíli zurück, schnappte sich den Aufguss vom Nachtkasten und hielt ihn Fíli unter die Nase. Durch dunkle Ponyfransen sah er ihn so finster an wie Thorin und statt Kíli den Becher aus der Hand zu schlagen, griff Fíli danach und trank, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Dann streckte er den Arm aus, ließ den Becher fallen und zeigte zur Tür.
Kíli nickte knapp und war weg.
Wo blieb Ovsha?
Fíli schloss die Augen, hörte den Atem der Wachen, Schritte, die an der Tür vorbeieilten, entferntes Gemurmel von hunderten Kriegern. Dann rief Rose in höchster Not seinen Namen.
Er fuhr hoch. Sein Hemd klebte an seiner Brust. Die Bilder verschwanden, sobald er die Augen aufriss, aber ihre Panik klang ihm noch im Ohr. Die Wachen schauten. Fíli winkte ab. An der Decke entdeckte er eine Spinnwebe, in der eine Fliege zappelte.
Was eben geschehen war, wusste er nicht mehr, aber der Traum davor, in dem er ihr Untergang gewesen war, machte ihn fertig. Ausgerechnet sie, die aus freien Stücken an seiner Seite endlose Tafeln und Sitzungen ertrug. Er wollte sie an sich ziehen. Sie strahlte ihn an. Sie strahlte immer. Heller als der Arkenstein.
Rose. Lukh-
Wenn er spät abends noch müde über Papieren vertieft die Zeit vergaß, schwang sie sich plötzlich auf seinen Schreibtisch, schaute ihm tief in die Augen und fuhr mit ihren nackten Zehen seinen Oberschenkel … in seinem Knie zog es fast so heftig wie in seiner Brust. Die ersten Male war er an Ort und Stelle über sie hergefallen, wild entschlossen, danach weiterzuarbeiten. Doch dazu war es nie gekommen. Seufzend rieb er sich die brennenden Augen. Wenn er jetzt nur in ihre schauen und sehen könnte, dass alles gut würde.
Rose.
Von allem, was nach Thorins plötzlichem Tod auf ihn eingeprasselt war, erinnerte er sich hauptsächlich an die Begegnung mit ihr und wie sie Dolgprasin hatte auflaufen lassen. Die ganze Zeit war ihm Kíli nicht von der Seite gewichen, aber wenn der schlief, dann schlief er. Eines musste er seinem Bruder lassen, seine Beobachtungsgabe war fantastisch. Nach der Krönung hätte er alles getan, um eine Nacht durchzuschlafen, aber dann war sie zu ihm gekommen, wie Kíli es versprochen hatte.
Er hätte sie nie darum gebeten.
Selten hatte sich etwas so befreiend angefühlt, wie die plötzlichen Tränen, nach einer einzigen zarten Geste. Mit ihr verloren die dunkelsten Stunden, in denen die Schatten nach ihm lechzten, ihren Schrecken. Wenn sie sich aneinanderschmiegten und gegen die Geister anredeten und sie ihm durchs Haar strich, bis sein Herz aufhörte, davonzulaufen … nie hatte er sich verstandener gefühlt. Jeder glaubte immer, er wäre nur an der einen Sache interessiert. Das war es nie gewesen. Nicht bei ihr. Nicht, dass er eine Gelegenheit verschmäht hätte – aber nur bei ihr war alles echt. Rose war wahrhaftig die Eine. Seine Vertraute. Seine Verbündete. Er liebte es, wenn sie ihren geschundenen Rücken an seine Brust drückte und sich mit seinem lahmen Arm zudeckte. War das nicht das größte Zeichen von Vertrauen?
'Wärst du einfach für ein paar Tage mit ihr in die verfluchte Seestadt gegangen, wärst du längst wieder quietschfidel in deinem Berg. Nichts von diesem Schlamassel wäre geschehen.‘
Wo blieb Ovsha?
„Lasst mich allein“, stieß er hervor.
Die Wachen dachten nicht daran.
„Ich befehle es!“
Nichts.
In einem Zug schlug er die Decken zurück und setzte sich auf, schwang das heile Bein aus dem Bett, zog das lädierte hinterher. Mit einem Riesenschritt eilte der Anführer zu ihm. Fíli stand auf. Stand sicher. Sicherer als Akral. Bettruhe. Was für ein Unsinn. Er tat einen zaghaften Schritt mit Links – und fiel dem Mann in die Arme. Sein Bein war einfach eingeknickt. Mit aller Kraft kämpfte er gegen heiße Tränen, während dieser Krieger seinem, mit nichts als einem durchschwitzten Hemd bekleideten König, ins Bett half. Sein Name lag ihm auf der Zunge. Eine Tatsache, welche die Peinlichkeit dieser Situation keineswegs schmälerte.
Ein leises Stöhnen entwich ihm, als er zurück in die Kissen sank. Immerhin, der Verband war noch weiß. Trotzdem war das keine einfache Fleischwunde. Links. Immer links. Genau wie der verdammte Pfeil, den er immer noch mit sich herumtrug. Ruppig verlangte er nach Wein- und Wasserschlauch, trank einen langen Schluck und konzentrierte sich auf das warme Holz in seiner Faust. Seine Wangen glühten. Er kniff die Augen zu und rieb die Tränen fort. Die Wachen starrten stur geradeaus, hatten geschworen, nichts zu hören oder zu sehen, was keine Bedrohung darstellte, aber Fíli fühlte sich beobachtet. Nutzlos.
Schnaubend rieb er sich die Nase und spürte den Blick des Verantwortlichen auf sich. Zum ersten Mal überhaupt vermisste er Fraega. Wie erbärmlich war das? Auch wenn er an sein Gepäck käme, er hatte den letzten Rest ausgekratzt. Er hatte es vor Mahal, Durin und Thorin geschworen – diese letzte Reserve, dann war Schluss.
Was hätte er dafür gegeben, wenigstens neben Rose zu liegen. Er hatte ja tagelang nichts Besseres vor. Dann fiel ihm ein, wie sie Brekk zu Hilfe geeilt war, ihn mit bloßen Händen ausgegraben, seine Hand gehalten hatte … diese bohrende Eifersucht war ihm einst fremd gewesen. Was genau hatte sie gesagt, als er wach geworden und sie wieder da gewesen war? Was genau hatte er gesagt? Wenn er nur eine Prise übrig hätte. Nur noch eine.
Sie hatte den Berg verlassen wollen – und es getan, obwohl sie wusste, wie es ihm wirklich ging. Er hatte ihr alles gebeichtet und ihr dann alle Freiheiten gelassen, alles versucht, um Bard zu widerlegen – und sie hatte ihn zurückgelassen. Schon wieder.
'Sei wachsam, Junge. Wenn es darauf ankommt, wirst du allein sein.‘ Sein Onkel hatte ihm das einmal gesagt. Spät abends in der Bibliothek der Ered Luin. Er sah ihn vor sich. Einsam. Mitleidig? Es waren seine Prüfungsjahre gewesen. Seine Mutter nannte diese Zeit Flegeljahre. An jenem Abend hatte sie sich nicht mehr zu helfen gewusst und ihn Thorin überlassen. Der hatte ihn gepackt, in die Bibliothek geschleift und seinen Gürtel ausgezogen. ‘Sieh zu, dass deine Mutter dich hört‘, hatte Thorin gebrummt und den Studiertisch verdroschen und dann war seine schwielige Pranke auf Fílis noch viel zu schmale Schulter gefallen und er hatte diesen Satz gesagt.
Fíli hatte Thorin lange nicht verstanden, aber nie hatte er sich einsamer gefühlt als jetzt. Sei stark. Seine Augen brannten. Sei stark, verdammt.
„Habt Ihr Schmerzen, mein König?“, fragte der Wachmann.
„Es geht mir gut. Solange ihr kein Wettrennen plant.“
Anders als seine Jäger verzog dieser Mann keine Miene.
„Seid Ihr sicher, Herr?“
„Sicher.“ Fíli verkrampfte die Zehen, verkniff sich ein Zucken, ließ links rasch wieder locker und nickte. Was erlaubte dieser Kerl sich? Sicher waren drei Dinge:
Erstens: Er hatte versagt. Er wusste genau, was er tun sollte. Aber er tat es nicht. Wie immer.
Zweitens: Er war genau der geworden, der er nie hatte sein wollen. Von Anfang an hatte er ihr nichts verheimlicht, nichts beschönigt, aber diese heruntergekommene Seite von ihm tatsächlich zu sehen, hatte er ihr immer erspart. Bisher.
Und drittens, und das war wohl am schlimmsten: Er würde es wieder tun. Genau wie bei der verfluchten, wunderbaren Knolle. Hätte er die jetzt zur Hand, er würde sie ohne zu zögern schnupfen.
Ein kalter Schauer durchfuhr ihn. Er hatte ihren Eid gebrochen. Und noch einen. Und mehr als ein Versprechen. Er hatte sehr wohl Schmerzen. Aber das war nichts gegen dieses lähmende Ziehen tief in ihm und den Drachen auf seiner Brust – so schwer konnte nur ein Drache wiegen. Und das Vieh rutschte mit seinem dicken Hintern vergnügt auf ihn herum, nahm ihm die Luft zum Atmen, verhöhnte ihn für sein Scheitern.
Sein Respekt vor Thorin wuchs ins Unermessliche. Genau wie seine Scham, weil er, statt ihm beizustehen, all die Jahre davongelaufen war. Thorin hatte niemanden gehabt. Aber wie hätte er ihm offen unter die Augen treten können, mit dieser Ungeheuerlichkeit auf seinen Schultern? Wie oft war er kurz davor gewesen, das Risiko einzugehen, ihm von Naris Erpressung zu erzählen, auch wenn es ihn den Kopf gekostet hätte?
Die Konsequenzen für seine Familie hatten ihn stets abgehalten. Hätte er es an jenem Morgen wirklich über sich gebracht? Schlimm genug, dass Naris ihn zerstört hatte. Ob sie auch nur einmal in Erwägung gezogen hatte, was sie der Familie angetan hatte? Und ihrem eigenen Sohn?
Wenigstens Frerin hätte er beistehen können, aber auch diese Möglichkeit hatte das Biest zerschlagen.
Fest schloss er die Faust um Roses Geschenk, und drückte dieses Ding an sein Herz. Was wollte sie ihm damit sagen? Dass er es noch nicht völlig versaut hatte? Vielleicht wäre das besser. Zumindest für sie. Sie verdiente Besseres. Das hatte er immer gewusst, sonst hätte er nach der ersten Nacht niemals so lange gezögert. Aber das befreiende Gefühl, ihr nach diesem bescheidenen Tag begegnet zu sein, alles stehen und liegenzulassen und mit ihr zu lachen, hatte ihn unvorsichtig gemacht. Wie sie sich selbstverständlich bei ihm untergehakt hatte, wie er drauflos gequasselt hatte, unfähig, die richtigen Worte zu finden. Und wie atemberaubend dieser Kuss gewesen war. Wie weich seine Knie. So unbeschreiblich, dass er ihr unmöglich hatte widerstehen können. Der kurze Moment beim Aufwachen, eng umschlungen, die Nase in ihrem weichen Lavendelhaar – in jenem Moment war es endgültig um ihn geschehen. Der Augenblick mit dem berauschendsten Gefühl, das er davor und danach je gehabt hatte.
Es wäre ein leichtes gewesen, Kílis Rolle in dieser Sache sofort zu klären. Oder einfach liegenzubleiben und zu genießen. Aber Naris’ Stachel steckte tief und er war zu feige gewesen. Und zugleich nicht stark genug. Tagsüber ja, aber je später der Abend …
Man brachte ihm Krebspastete, von deren Geruch ihm flau wurde. Er ließ sie zurückgehen und stellte sicher, dass sein Bruder einen neuen Helm im Gepäck hatte. Zwischendurch nippte er am Wein und verschluckte sich. Nicht mal betrinken konnte er sich mehr anständig. Und wessen Schuld war das?
Lustlos schlürfte er schließlich eine Brühe mit Fleischeinlage. Allein diese einfache Bewegung strengte ihn an. Löffel zum Mund. Kauen. Schlucken. Atmen, mit dem Drachen auf der Brust. Löffel zum Mund …
Es war die Banalität des Essens, die ihn müde machte. Mühelos und mit Freuden würde er sein Schwert durch den Hals eines Orks ziehen. Den von Fraega. Nimloth. Dolgprasin. Naris. Allen voran, Naris.
Seine Finger krallten sich um das Stück Holz. Rose …
Selbst wenn er in ihrem Arm die Augen aufschlug, sicher getrennt von jedem bisschen Arkenstein, es war die Knolle, der stets sein erster Gedanke galt. Sobald Rose sich fertig machte, pflegte er sich rasch mit einem Schluck Eilend auf den Tag vorzubereiten. In den vergangenen Monaten hatte er nachts Flachmann und Vorratsflasche mit dem klaren Brand aufgefüllt. Niemand hatte etwas bemerkt. Und dann hatte sie ihn doch so gesehen, wie sie ihn nie hätte sehen sollen.
Sie hätte er jederzeit jedem Rausch vorgezogen. Aber sie war nicht da, also trank er. Sie hatten ja alle keine Ahnung, wie viel Kraft es ihn täglich kostete, für sie den Schein zu wahren. Sie verstanden nicht, wie viel Disziplin es erforderte, gerade genug zu nehmen, dass es ihm gut ging. Gerade gut genug, dass ihm niemand auf die Schliche kam. So wie nach seinem Bund, als er die Arkensteine aus der Hand hatte geben müssen. Er hätte diese beiden Ereignisse trennen sollen. Aber ohne Rose war es unmöglich gewesen und später hätte er kaum noch einmal den Mut gefunden. Wie hatte Thorin das nur über sich gebracht, damals, in Anwesenheit von Thranduil?
Wo blieb Ovsha?
Fusel und Kraut zu mischen, war nicht klug. Dann geschahen seltsame Dinge, aber er brauchte diese Ruhe so dringend. Siedend heiß kam ihm, dass sie ihn doch schon einmal so gesehen hatten. Kíli, Mutter – und Rose.
Ihm wurde kalt. Während ihm die Knolle half, sich zu konzentrieren, benebelte das Kraut nur. Machte gleichgültig. Wenn es gutes war. Wenn er dazu genug trank, schaltete es sein Hirn ab. Seine Gefühle. Das war dämlich und gefährlich, aber genau das, was er jetzt brauchte.
Sobald er den Wein ansetzte, geisterte Frerin durch seine Gedanken. Damals, als er ihm noch eine Ahnung beschert hatte, wie sein könnte, mit einem Sohn am Amboss zu stehen. Sein Sohn … er schluckte den Kloß im Hals herunter.
Wie um alles in der Welt konnte man eigentlich so blind sein? Hätte er nur das Gespräch gesucht, statt sie gleich vor aller Ohren zu verbannen. Und was hatte er daraus gelernt?
Oder zu voll, um zu erkennen, dass wahrhaftig ein hinterhältiges Biest zu einem ins Bett kroch?
Er sollte sich zügeln. Nur noch diese eine Mal, dann war Schluss. Er trank einen Schluck und fühlte sich schlecht.
Aber der König von Durins Volk hatte keine Furcht zu haben. Keinen Herzschmerz, Schuldgefühle, Selbstmitleid. Er hatte sich für nichts zu schämen, zu erklären, oder zu entschuldigen. Bestenfalls vor Mahal. Was hatte er dem getan, dass der ihn so strafte? ‚Los, nimm deinen verfluchten Hammer und bring es zu Ende‘, schalt er den Schöpfer. ‚Worauf wartest du?‘
Die Wachen atmeten. Die Fliege zuckte. Wäre er noch bei Verstand, wenn er damals seinen Mann gestanden und Naris selbst genommen hätte? Dann hätte er ihr etwas zu sagen gehabt. Es würde keine Rolle spielen, welche von den beiden Irren sich an ihm vergangen hatte. Ob er Bringa nun gehabt hatte, oder nicht.
Aber dann hätte er sich um die Liebe seines Lebens gebracht. Schnaubend schob er ein Stück Fleisch mit der Zunge auf die andere Seite.
Kíli hatte ganze Arbeit geleistet. Sie beide gegen die Orks. Seit Kindertagen hatten sie sich das ausgemalt. Was, wenn er seinen kleinen Bruder zu diesen Bestien schickte, und die ihn erwischten? Wie sollte er je wieder seiner Mutter … ein Schluck Eilend dämpfte Wut und Panik in seiner Brust. Wenigstens war Rose in Sicherheit. Und Mari hier an seiner Seite.
Er schnaubte. Lieber ein offener Kampf, als mit unvollständigen Erinnerungen an Dinge, die wahr zu sein schienen und quälend wahrhaftigen Träumen, die niemals wahr werden durften, weit von zu Hause, allein an ein fremdes Bett gefesselt, stocknüchtern die Fassung wahren zu müssen. Unter den wachsamen Augen von vier Elitekriegern. Er zog die Nase hoch, rieb sich den Schnurrbart und nahm einen großen Schluck Eilend.
„Wer raucht eine Pfeife mit mir?“, fragte er.
Der Anführer erklärte mit gehorsamem Bedauern, dass sie im Dienst seien. Der Rest zuckte nicht einmal mit der Wimper. Als Prinz hatte er seine Krieger immer für eine Pfeife gewinnen können. Vorsorglich ließ er sich die Pfeife und den Rest vom einfachen Tabak reichen, aber allein wollte er nicht.
Wo blieb Ovsha?
„Karten?“, fragte er, als er die Sachen entgegennahm.
Dieselbe Ausrede. Und einen weiteren Mann wollte er nicht hier haben. Nur einen weiteren Schluck Eilend. Einen großen.
‚Reiß dich zusammen‘, schalt er sich mit der Stimme seiner Mutter, kniff kurz die Augen zu und knipste ein Lächeln an. Sein Kiefer knackte. Er warf den Löffel fort, trank die abgekühlte Brühe ohne das zähe Fleisch und spülte mit Eilend nach.
Die Fliege im Netz regte sich nicht mehr und der Kommandant hieß Fráfor. Das war es! Gardisten in der Rüstung von Eisenmännern. Zwei von ihnen standen regelmäßig am Thronsaal. Er kannte auch ihre Namen, aber er kam nicht darauf. Wie konnten ihm die entfallen, wie konnte ihm das überhaupt zwei Wochen lang entgangen sein? Vielleicht war Kíli doch die bessere Wahl für diese Aufgabe.
Mit dem nächsten Schluck wurden ihm all die schrecklichen Tatsachen endlich gleichgültiger, aber er war noch lange nicht betrunken genug. Ach was, betrunken! Es war erst Mittag und er war auf unbestimmte Zeit mit sich selbst gefangen, wozu sollte er maßhalten? Es war das Einzige, was er im Moment kontrollieren konnte.
Mit dem nächsten Schluck fiel ihm sein Fehler auf. Hier gab es keinen Nachschub. Die Schüssel krachte in die Wand. Die verkleideten Gardisten zuckten nicht einmal. Am liebsten hätte er sich mit einem von ihnen geprügelt. Oder allen auf einmal.
Aber ein König tat so etwas nicht und wie ein Anführer zu funktionieren, hatte er von Kindesbeinen an gelernt.
Wenn er nur endlich auf die Jagd hätte gehen können. In der Wildnis war es immer gegangen. Zu ihrem Reiseproviant hatte ein ganzer Schlauch Kräuterwein gehört. Aber inzwischen war in denen von Kíli, Mari und selbst Gimli nur noch Wasser. Er hatte ihn vor Kílis Enthüllung aufgebraucht. Aus Langweile, weil er keinen Schlaf gefunden hatte. Dämlicher Höhlentroll. Die Augen fielen ihm zu.
Rose. Er liebte sie so sehr, presste ihren Talisman auf seine Brust. Was war aus ihm geworden? Dieses Mal hatte er ihren Respekt verloren. Er hatte es in ihrem Blick gelesen, ehe er durchs Tor gegangen war und bei Mari und Kíli war er zumindest kurz davor. Die Notration hatte er vor diesem letzten Blick in ihre Augen gepackt.
Sie ging unter.
Erstarrt sah er zu.
Aus der Tiefe starrten ihn tote Augen an. Von Vigg, Bringa und Brekk.
Ihre nicht. Sie sank.
Und sank.
Ihm wurde eiskalt. Er musste sofort seinen Kopf zum Schweigen bringen. Eine Sache gab es da noch. Ein Versprechen mehr oder weniger – es spielte keine Rolle mehr.
„Fráfor“, sagte er, „das Bartöl aus meinem Gepäck. Eine blaue Phiole.“