Planänderung
von Sitala Helki
Kurzbeschreibung
Olivers Leben verläuft in festen Strukturen. Angefangen vom Tagesablauf bis hin zu seiner Idealvorstellung seines Lebens. Abweichungen machen ihm Angst. Er mag es schlicht, Konflikten geht er aus dem Weg. Einer der Gründe, warum er sich nie als bisexuell geoutet hat; andere wären seine Angst vor familiärer und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Doch, was soll er tun, wenn plötzlich ein Mann in sein Leben stolpert, der ihn alles in Frage stellen lässt? Und was, wenn er Dinge über ihn, sich selbst und seine Familie herausfindet, die ein ganz anderes Licht auf sein bisheriges Leben werfen?
GeschichteLiebesgeschichte / P18 / MaleSlash
30.07.2014
25.12.2014
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103.814
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Dieses Kapitel
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30.07.2014
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Guten Morgen ihr Lieben!
Heute geht es weiter! :)
Leider wird es die nächste Zeit auch weiterhin nur 1x wöchentlich ein neues Kapitel geben, da mich mein »Brot-und-Butter-Job« diesen Monat arg einspannt (was bedeutet: kaum Freizeit und damit auch kaum Schreibzeit).
Trotzdem wünsche ich euch viel Spaß!
Eure Sitala
Seit über vier Stunden sitzen wir im Wartebereich des Krankenhauses. Oma wird immer noch untersucht. Ludger ist das reinste Nervenbündel und macht sich laufend Vorwürfe.
»Ich wollte schon lange so eine Anti-Rutsch-Matte in die Dusche legen. Warum habe ich das nicht längst getan? Die liegt sogar schon im Schrank.«
»Wenn sie das Gleichgewicht verloren hat, hätte ihr das auch nicht geholfen«, versucht Adrian ihn zu beruhigen.
Ich tigere in dem viel zu kleinen und stickigen Raum auf und ab und beobachte das groteske Bild, wie Adrian Ludgers Hand hält, als seien sie miteinander verwandt.
Wenn ich mal für ein paar Minuten still sitzen könnte, würde er bestimmt auch meine Hand halten, aber diese Anspannung macht mich völlig kirre! So lange kann doch keine Untersuchung dauern!
»Ich geh mal nachfragen.« Kaum habe ich die Tür geöffnet, ist Adrian bei mir.
»Warte. Ich bin mir sicher, die Ärzte tun, was sie können und melden sich, sobald sie eine klare Aussage treffen können.«
Ja, natürlich tun sie das. Aber es geht hier um meine Oma! Er soll aufhören, so vernünftig zu sein! Verdammt!
»Mann!«, schreie ich, sodass nicht nur Adrian und Ludger zusammenzucken, sondern auch eine vorbeieilende Schwester.
Ich streiche mir mit den Händen über das Gesicht. »Ich halte das nicht mehr aus. Warum sagen die nicht wenigstens irgendetwas?«
»Komm her.« Adrian zieht mich an sich heran und hält mich fest. Ich stemme mich gegen die Umarmung. Ich halte diese Untätigkeit nicht aus!
»Lass mich«, knurre ich. Ich muss mich bewegen. Doch Adrians Griff wird fester.
»Nein. Bleib hier.« Seine Stimme ist ruhig und lässt keinen Widerspruch zu. Ich weiß ja, dass er recht hat, aber rationales Denken ist bei mir gerade Mangelware. Ich unternehme noch einen Versuch, doch Adrian ist deutlich stärker als ich. Dennoch presse ich meine geballten Fäuste gegen seinen Oberkörper. Ich bin kurz davor, ihn zu treten, um diese Wut zu kanalisieren, als sich jemand neben uns räuspert.
»Entschuldigen Sie. Herr Korth?«
Ich drehe mich zur Seite. Adrian lässt mich nicht los.
Ein Typ in einem weißen Kittel lächelt mich an. Irgendwoher kommt der mir bekannt vor.
»Mein Name ist Dr. Harald Köhler. Ich bin der behandelnde Arzt Ihrer Großmutter. Setzen Sie sich bitte.«
Oh nein! Das heißt selten etwas Gutes.
Ich stolpere mehr zum Stuhl, als dass ich gehe. Am liebsten würde ich mich auf Adrians Schoß setzen, aber das sähe wohl reichlich dämlich aus. Seine Hand zu halten muss reichen.
»Also, wir haben die Platzwunde genäht. Sie hat ziemlich viel Blut verloren. Außerdem hat sie eine Gehirnerschütterung erlitten und ihr rechtes Handgelenk ist gebrochen.«
Ich starre den Arzt an. Grundsätzlich sollte ich wohl verstehen, was er mir damit sagen will, aber die Information will gerade nicht durchsickern.
»Das heißt?«, frage ich mit rauer Stimme.
»Das heißt, dass ihr Schutzengel heute offensichtlich Überstunden gemacht hat. Sie hat zwar noch ein paar Prellungen, aber die sind vernachlässigbar. Sie wird noch ein paar Tage hier bleiben müssen, bis sich ihr Kreislauf von dem Blutverlust erholt hat. Aber dann kann sie wieder nach Hause.«
Ich atme tief durch und sehe zu Ludger. Der sieht so aus, als wüsste er nicht, ob er lachen oder weinen soll. Ich dagegen zerquetsche beinahe Adrians Hand.
»Warum hat das so lange gedauert?«, fragt Adrian. Eigentlich ist mir das jetzt inzwischen völlig egal, aber er hat schon recht. Das ist eine berechtigte Frage.
»Frau Korth hat einige Male das Bewusstsein verloren. Das ist bei einer solch starken Kopfverletzung nicht ungewöhnlich«, setzt er gleich hinterher, als er meinen entsetzten Blick sieht. »Wir wollten erst sichergehen, dass sie stabil ist. Außerdem ist unsere Röntgenabteilung zurzeit leider überlastet«, seufzt er.
»Es tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten.«
Ich nicke. Ist ja jetzt auch relativ egal. Hauptsache ist, es geht ihr gut.
»Okay. Dürfen wir zu ihr? Wann wird sie entlassen werden?«
Dr. Köhler steht bereits auf. »Nun, sie schläft jetzt. Sie dürfen für ein paar Minuten zu ihr. Ab morgen können Sie sie in den regulären Zeiten besuchen. Wenn alles ohne weitere Komplikationen verläuft, sollte sie zum nächsten Wochenende wieder nach Hause dürfen.«
»Vielen Dank!« Adrian streckt ihm seine Hand entgegen.
»Ich tue nur meinen Job«, erwidert der Arzt lächelnd und legt seinen Kopf etwas schief. In dem Moment, in dem er mir noch einmal zuzwinkert und sich umdreht, erkenne ich ihn.
»Scheiße!«, flüstere ich.
Adrian grinst. »Hast du ihn jetzt erst erkannt?«
Ich nicke. Der Gorilla! Der Typ, der mich geküsst hat.
Nachdem wir Oma kurz besucht haben, bringen wir Ludger nach Hause.
»Können wir dich wirklich alleine lassen?« Er sieht immer noch reichlich mitgenommen aus.
»Ja, das geht schon. Ich habe vorhin meine Tochter angerufen. Sie und ihre Frau wohnen nur zwei Orte weiter. Sie kommen nachher vorbei.«
Ihre Frau? Okay, das erklärt seine lockere Einstellung. Vielleicht sollte er sich mal mit Adrians Eltern zusammensetzen. Allerdings fürchte ich, dass das keinen Unterschied mehr machen würde.
»Okay. Aber melde dich, wenn irgendetwas ist, ja? Egal, zu welcher Tageszeit.«
Ludger nickt, noch immer recht blass.
Ich möchte eigentlich nicht zurück nach Hause fahren. Hier kann ich aber auch nicht wirklich etwas ausrichten. Außerdem muss ich morgen wieder arbeiten.
Sonja hatte sich vorhin schon verabschiedet. Also fahre ich mit Adrian zurück.
Er wirkt so ruhig, aber ich bin mir sicher, dass es in ihm drin ziemlich arbeiten muss. Ich hätte nie gedacht, dass seine Eltern so drauf sind. Immer noch.
Nachdem ich nachgesehen habe, ob ich auch nichts vergessen habe und wir uns von Ludger verabschiedet haben, ziehe ich ihn noch einmal zur Seite.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, warum denn nicht?«
»Na ja ...« Ich ziehe meine Unterlippe ein. »Das vorhin war ja nicht gerade ... schön«, deute ich mit dem Kopf in die Richtung, in der heute Morgen seine Eltern standen.
Adrians Blick wird starr. »Das stimmt wohl. Aber ich habe nichts anderes erwartet. Gut, zu behaupten, es hätte mir absolut nichts ausgemacht, wäre gelogen, aber ich komme damit klar. Und du?«
»Äh ... wie?«
»Nun, spätestens morgen weiß es das ganze Dorf, wenn nicht sogar jetzt schon.«
»Und wenn schon.«
»Und dein Onkel?«
Ich zucke zusammen. »Was soll mit dem sein?« Meine Stimme ist mit einem Schlag zittrig.
»Ich schätze mal, dass der eine oder andere hier noch Kontakt zu ihm hat. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er es erfährt.«
Scheiße! Das stimmt! Das ist eine Sache, die ich definitiv nicht bedacht habe. Ich möchte meine Unsicherheit, meine Angst überspielen. Die wegwerfende Handbewegung gleicht aber eher einem zittrigen Herumgefuchtel.
Auch das Lächeln, das ich versuche, misslingt. »Ist wohl nicht mehr zu ändern«, flüstere ich.
Adrian mustert mich einige Momente, bevor er sich umdreht. »Lass uns fahren.«
Die Rückfahrt verläuft recht schweigsam. Vor meinem geistigen Auge spielen sich die größten und zugegeben unrealistischsten Szenarien ab. Aber das Ergebnis bleibt bei allen gleich: Herbert wird mich verstoßen. Und dann? Berufliche Zukunft: weg. Familie? Ich würde nie wollen, dass Oma sich zwischen ihrem Sohn und mir entscheiden muss. Da wäre wohl die logische Konsequenz, mich zurückzuziehen.
Ich bekomme erst mit, dass wir in meine Straße eingebogen sind, als Adrian einparkt.
»Morgen Mittagessen?«, fragt er mit einem schiefen Lächeln.
Ich schlucke. »Kommst du nicht mehr mit rauf?« Irgendwie bin ich davon ausgegangen, dass er heute Nacht bei mir bleibt.
»Olli ...«, seufzt er. »Wir haben doch darüber gesprochen. Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.«
»Nein. Ich will doch gar nicht ... Bitte. Ich möchte jetzt nicht alleine sein. Wir können doch auch einfach nur ein wenig zusammen fernsehen. Wenigstens für eine halbe Stunde oder so.«
»Oh, Mann!«, seufzt er. »Diesem Blick kann ich doch sowieso nicht widerstehen. Okay, aber wirklich nicht lange. Ich muss früh ins Bett. Morgen habe ich eine Doppelschicht.«
»Danke!«
Aus der halben Stunde werden zwei ganze, während der wir zusammen auf meiner Couch kuscheln. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich Adrian nicht aufhalte.
Vielmehr hat er auf einmal ein recht starkes Mitteilungsbedürfnis.
»Oliver, ich bin dir wirklich dankbar, dass du heute für mich da warst. Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass ich immer noch einen letzten Funken Hoffnung hatte, dass meine Eltern ihren Entschluss von damals bereuen. Tja, das war’s dann wohl.«
Ich ziehe ihn stärker an mich und küsse ihn auf den Kopf. »Ich bin immer für dich da. Das verspreche ich dir. Selbst wenn es jetzt irgendwer an meinen Onkel heranträgt: Ändern kann ich es eh nicht mehr. Eigentlich möchte ich es auch nicht mehr. Ich hätte nie gedacht, wie befreiend es sich anfühlen kann, wenn man sich outet.« Ich lache leise. »Ich dachte immer, dass die Probleme dann erst anfangen - dass das die Lösung sein kann hätte ich nie im Leben geglaubt.«
»Hm«, macht Adrian, »du hast dich ganz schön verändert in der letzten Zeit.«
»Ja?«
»Ja, und damit meine ich nicht einmal die Entdeckung deiner Sexualität. Damals warst du so festgefahren in deinen Strukturen. Wer hätte gedacht, dass dahinter ein ganz normaler Kerl lauert?« Ich höre den Schalk in seiner Stimme sehr wohl.
»Ey!«, beschwere ich mich wenig ernst gemeint. »Ich schätze, du revidierst deine Meinung wieder, sobald du mich in meiner Morgenroutine störst und meine Reaktion zu spüren bekommst. Erst recht vor meinem ersten Kaffee.«
Adrian dreht seinen Kopf und grinst mich an. »Huh! Ich liebe Herausforderungen.«
Leider verabschiedet er sich wirklich kurz darauf. Dafür meldet sich noch einmal eine besorgte Sonja.
»Okay, es geht deiner Oma also soweit gut. Na, ein Glück. Ich habe mir schon Vorwürfe gemacht, weil ich ja irgendwie ... ähm ... wie konnte das eigentlich passieren? War ihr schwindelig?«
»Nein. Offenbar ist sie lediglich gestolpert. Hätte jedem passieren können. War nur unglücklich, wegen der Fliesen. Wieso Vorwürfe?«
»Na ja, ich habe ihr doch gesagt, dass du sturmfreie Bude brauchst. Du verstehst schon.«
Ich stöhne gequält. Der Gedanke, dass Oma weiß, dass Adrian und ich ...
Sonja lacht. »So, und jetzt erzähl endlich mal!«
»Wovon redest du?«
»Oliver«, erwidert sie lediglich mahnend, was mich seufzen lässt.
»Ja, okay. Wir haben uns wohl wieder versöhnt, denke ich.«
»Wie ›du denkst‹? Olli, was hast du jetzt schon wieder gemacht?«
Für einen kurzen Moment bin ich versucht, wortlos aufzulegen. Hallo? Warum denkt immer jeder, ich sei derjenige, der die Fehler begeht?
»Ich habe gar nichts gemacht! Wir haben uns ausgesprochen.« Mehr oder weniger. »Wir hatten Versöhnungssex. Mehrfach.« Ich grinse bei der Erinnerung.
»Aber?«, kommt es von Sonja.
Ich seufze. »Er vertraut mir nicht mehr.«
»Kann ich mir denken.«
»Wie bitte?!«
»Na, überleg doch mal: Du hast ihn wochenlang belogen. Klar, dass er da vorerst misstrauisch bleibt.«
»Aber das ist doch jetzt vorbei. Schließlich habe ich selbst den Grund für meine Unehrlichkeit beseitigt. Er weiß, dass ich ihn nicht mehr anlüge.«
»Weiß er das wirklich? Oliver, nur weil du das immer wieder beteuerst, wird sein Vertrauen nicht schlagartig wiederkommen. Auch wenn es hart klingt: Du hast deine Glaubwürdigkeit verloren. Du musst ihm zeigen, dass du dich ihm vollkommen öffnest.«
»Aha, und wie?«
»Ich weiß nicht. Erzähl ihm von dir, ohne dass er danach fragt; von deinen Gefühlen, lass Taten sprechen. Tu ihm etwas Gutes, ohne es ihm vorzuhalten. Er muss spüren, dass es von Herzen kommt, dass du es gerne tust. Etwas, das du auch getan hättest, wenn das alles nicht so gelaufen wäre.«
Klingt anstrengend.
Urplötzlich kommt mir eine Idee.
»Sonja! Du bist die Beste!«
»Ich weiß«, lacht sie. »Viel Erfolg!«
Ich kann diese Nacht kaum schlafen, so aufgeregt bin ich.
Als mein Wecker mich am Montagmorgen viel zu früh aus dem Schlaf reißt, greife ich grinsend nach meinem Handy und schicke Adrian eine Nachricht:
›Ich stehe auf Laugenstangen mit Nutella.‹
Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten.
›Wie bitte?! Urgs. Aber du bist nicht schwanger, oder? *grins*‹
Lachend springe ich aus dem Bett. Unter der Dusche singe ich lauthals und völlig schief ›Love is all around‹ und komme mir nicht einmal dämlich dabei vor. Wir schaffen das! Woher auch immer meine Zuversicht kommt, aber ich fühle mich so energiegeladen wie seit Wochen nicht mehr.
Zumindest bis ich in der Praxis ankomme. Frau Ehrenreich sieht reichlich übernächtigt aus und freundlicher hat sie mich auch schon einmal begrüßt. Mir schwant Übles.
»Guten Morgen!«, grüße ich sie möglichst neutral zurück.
Wortlos zieht sie mich in mein Büro und schließt hinter uns die Tür.
»Warum hast du nichts gesagt?«
Ich schlucke und spüre wie mir der Schweiß ausbricht. Mein Hochgefühl hat sie offenbar ebenfalls ausgesperrt. Mein Herz rast und außer einem gekrächzten »Wie?« bekomme ich nichts heraus.
»Zum Glück bin ich ans Telefon gegangen. Herberts Mutter hatte einen Unfall und du sagst nicht Bescheid?!«
Ein klitzekleiner Mini-Stein fällt mir von Herzen. Es geht nur um Omas Unfall? Oh nein! Das sollte mich nicht erleichtern! Und doch tut es das.
»Oh, ähm ... das war ... ich war doch selbst geschockt. Ich habe gar nicht daran gedacht ... ich ... es tut mir leid.«
Frau Ehrenreich atmet mehrfach durch und schließt kurz die Augen.
»Okay. Wie geht es ihr? Die Tochter von diesem Ludger hatte angerufen. Viel wusste sie auch nicht. Er macht sich offenbar permanent Vorwürfe.«
»Sie ist im Bad ausgerutscht und hatte eine Platzwunde am Kopf. Außerdem hat sie sich das rechte Handgelenk gebrochen. Aber ansonsten ist alles in Ordnung. In ein paar Tagen wird sie wieder entlassen.«
Erleichtert atmet sie auf. »Okay. Gut. Du musst es deinem Onkel sagen.«
Sie dreht sich bereits zur Tür.
»Er weiß es nicht?«
»Nein. Ich wollte ihn nicht aufregen.«
»Okay. Danke!«
Mit einem schlichten Nicken verabschiedet sie sich.
Je näher die Mittagspause rückt, desto aufgeregter werde ich. Adrian! Allein der Gedanke meißelt ein Grinsen in mein Gesicht. Kommt meinen Patienten vielleicht ein wenig makaber vor, aber da müssen sie durch.
Den Weg zur Kantine kann ich gar nicht schnell genug hinter mich bringen. In meinem Magen kribbelt es so sehr, dass ich gar nichts essen möchte. Nicht, dass das noch dieses tolle Gefühl abschwächt!
Trotzdem hole ich mir einen Salat. Aber eigentlich eher, um die Zeit zu überbrücken, bis Adrian kommt.
Eine Viertelstunde später werde ich langsam nervös. Er hat doch gesagt, dass wir uns zum Mittagessen treffen oder habe ich das falsch verstanden?
Mein Handy liegt neben meinem Teller auf dem Tisch. Gemeldet hat er sich aber nicht. Wieder beginnen die Zweifel an mir zu nagen: Will er vielleicht gar keine Beziehung mehr?
Endlich sehe ich ihn um die Ecke biegen. Ich kann mich gerade so davon abhalten, aufzuspringen und wie ein verliebter Trottel nach ihm zu rufen und zu winken. Was unter anderem daran liegen mag, dass er in Begleitung eines anderen Typen kommt. Sie lachen gerade herzhaft und gehen gemeinsam zur Essensausgabe. Ihr Verhalten ist mir eindeutig zu vertraut.
Die beiden scherzen offenbar die ganze Zeit, selbst, als sie noch auf mich zukommen. Neben meinem Tisch bleiben sie stehen und Adrian stellt sein Tablett ab.
»Oliver, das ist Sven«, stellt er uns vor. Mir ist es gerade ziemlich egal, wie der Typ heißt. Und wenn er der Kaiser von China wäre. Obwohl Chinesen wohl in der Regel nicht so groß sind und so muskulös wie der Kerl hier.
»Mein neuer Kollege.«
»Ach, was. Kollege«, lacht dieser Sven. »Lakai trifft es wohl eher, du Sklaventreiber.« Wieder lachen sie beide. Na, die verstehen sich ja offensichtlich prächtig.
»Sven, das ist Oliver. Mein ...« Fragend sieht er mich an. Okay, ich erkenne meine Chance.
Ich schmiege mich an ihn und gebe ihm einen filmreifen Kuss. Als ich mich zu dem Typen umdrehe, lächle ich: »Sein Freund.«
Sven grinst und nickt Adrian zu. »Gute Wahl! Na, dann will ich euch nicht weiter stören. Bis später!«
Ich sehe dem Typ noch einen Moment hinterher. Ich muss zugeben: Der sieht schon heiß aus.
»Bist du eifersüchtig?«, fragt mich Adrian leise. Sein neckender Unterton zeigt deutlich, dass ich wohl recht offensichtlich geschaut haben muss.
»Ähm ...« Na, super! Jetzt werde ich auch noch rot!
Was hatte Sonja gesagt? Sei ehrlich. Erzähle von deinen Gefühlen.
Ich beiße mir auf die Unterlippe und nicke.
»Schuldig«, seufze ich und lehne mich erneut an ihn. »Ich möchte dich nicht teilen.«
Adrians Arme um mich geben mir eine ungewohnte Sicherheit.
»Das musst du auch nicht«, nuschelt er, bevor er leicht meine Schläfe küsst.
Ich drehe meinen Kopf, um ihn anzusehen. »Ich weiß.«
Lächelnd streichelt Adrian mit den Fingerspitzen meine Wangen und mein Kinn entlang, küsst mich sanft. »Danke.«
»Wofür?« Ich verstehe nicht, was er meint. Die Berührungen, der Kuss, der Blick - das alles vernebelt gerade auf angenehme Weise mein Hirn.
»Dass du ehrlich bist.«
»Was sollte eigentlich deine seltsame Nachricht heute Morgen?«, fragt Adrian grinsend, als wir wieder sitzen und weiteressen.
Ich schmunzle zurück. »Ich dachte, ich schreibe dir etwas, das du noch nicht von mir weißt. Eigentlich weiß das keiner, denn du hast schon recht: Die Vorstellung ist irgendwie eklig.«
Lächelnd greift er nach meiner Hand. »Das ist schön.«
Wärme durchflutet mich. Warum müssen wir bloß arbeiten? Viel schöner wäre es doch, jetzt gemeinsam im Bett zu liegen, mich an ihn zu kuscheln.
Ich seufze.
»Was?«, fragt Adrian leise lachend.
»Hm? Oh, ich habe nur gerade daran gedacht, was ich gerade viel lieber mit dir tun würde.« Er legt den Kopf schief, wartet offensichtlich, dass ich weiterspreche.
»Mit dir alleine sein, egal wo. Hauptsache nur wir zwei und ohne störenden Stoff.« Unwillkürlich halte ich den Atem an, als Adrian die Augen aufreißt.
»Olli! Verdammt! Erzähl mir doch so etwas nicht, wenn ich noch bis in die Nacht arbeiten muss!«
Sein Grinsen und Zwinkern lässt mich aufatmen.
»Tja, dann müssen wir mit der Ausführung wohl noch ein wenig warten.«
Adrian seufzt. »Ja, leider. Zwei Kollegen sind immer noch krank. Ich werde die nächsten Tage mehr arbeiten müssen.«
Okay. Ade, du schöner Plan!
»Hey, Olli! Guck nicht so! Das Wochenende habe ich auf jeden Fall frei.«
Ich schlucke. »Da muss ich aber zu Oma. Zumindest am Samstag.«
Adrian zuckt mit den Schultern. »Und? Dann komm ich mit.«
»Sicher?«
Ich meine, er tut zwar so, als habe er das alles so weggesteckt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er unter der Ablehnung seiner Eltern leidet.
»Klar, solange ich auf der Hinfahrt schlafen kann. Hab nämlich von Freitag auf Samstag Nachtschicht.«
»Kein Problem.«
Wir grinsen uns an wie zwei verliebte Teenager.
»Oh ha! Das ist ja nicht auszuhalten«, spottet Holger plötzlich neben uns. Stimmt, heute ist ja Montag!
»Guck doch weg, wenn’s dir nicht passt«, schlage ich belustigt vor.
»Ach was. Ich gönn’s euch ja. Bin ja nicht verbittert, zum Glück.«
Holger setzt sich neben Adrian und zwinkert mir zu. »Dann habt ihr euch also endlich wieder zusammengerauft, ja? Ollis Trauermiene und das Gejammer waren ja auch kaum noch auszuhalten.«
Das übliche Spiel beginnt: Holger klaut meine Cola und ich beschwere mich gespielt. Heute ist mir das im Grunde genommen so etwas von egal, aber diese Normalität fühlt sich einfach gut an.
»So schlimm?«, fragt Adrian. Er klingt ernsthaft ein wenig betroffen.
»Schlimmer«, erwidert Holger. »Aber ich kann mir vorstellen, dass er’s verdient hat.«
»Ey!«
Lachend isst Holger weiter. »Also ist das jetzt so richtig offiziell mit euch, ja?«
Einen Moment lang mustern Adrian und ich uns, bis ich nicke.
»Ja.« Adrians Lächeln lässt mein Herz gleich noch einmal schneller schlagen. Früher habe ich nie verstanden, was die Leute damit meinten, wenn sie sagten, sie würden beinahe platzen vor Liebe. Jetzt weiß ich es. Und es ist schöner als alles, was ich bisher in meinem Leben gefühlt habe.
»He!«, protestiert Holger.
»Hm, was?«, erwidere ich, ohne den Blick von Adrian zu nehmen.
»Wenn ihr so weitermacht, seid ihr gleich nur aufgrund eurer Blicke nackt.«
Hitze steigt mir ins Gesicht. »So schlimm?«
Holger zuckt nur grinsend mit den Schultern.
Heute geht es weiter! :)
Leider wird es die nächste Zeit auch weiterhin nur 1x wöchentlich ein neues Kapitel geben, da mich mein »Brot-und-Butter-Job« diesen Monat arg einspannt (was bedeutet: kaum Freizeit und damit auch kaum Schreibzeit).
Trotzdem wünsche ich euch viel Spaß!
Eure Sitala
XXIII
Ehrlich
Seit über vier Stunden sitzen wir im Wartebereich des Krankenhauses. Oma wird immer noch untersucht. Ludger ist das reinste Nervenbündel und macht sich laufend Vorwürfe.
»Ich wollte schon lange so eine Anti-Rutsch-Matte in die Dusche legen. Warum habe ich das nicht längst getan? Die liegt sogar schon im Schrank.«
»Wenn sie das Gleichgewicht verloren hat, hätte ihr das auch nicht geholfen«, versucht Adrian ihn zu beruhigen.
Ich tigere in dem viel zu kleinen und stickigen Raum auf und ab und beobachte das groteske Bild, wie Adrian Ludgers Hand hält, als seien sie miteinander verwandt.
Wenn ich mal für ein paar Minuten still sitzen könnte, würde er bestimmt auch meine Hand halten, aber diese Anspannung macht mich völlig kirre! So lange kann doch keine Untersuchung dauern!
»Ich geh mal nachfragen.« Kaum habe ich die Tür geöffnet, ist Adrian bei mir.
»Warte. Ich bin mir sicher, die Ärzte tun, was sie können und melden sich, sobald sie eine klare Aussage treffen können.«
Ja, natürlich tun sie das. Aber es geht hier um meine Oma! Er soll aufhören, so vernünftig zu sein! Verdammt!
»Mann!«, schreie ich, sodass nicht nur Adrian und Ludger zusammenzucken, sondern auch eine vorbeieilende Schwester.
Ich streiche mir mit den Händen über das Gesicht. »Ich halte das nicht mehr aus. Warum sagen die nicht wenigstens irgendetwas?«
»Komm her.« Adrian zieht mich an sich heran und hält mich fest. Ich stemme mich gegen die Umarmung. Ich halte diese Untätigkeit nicht aus!
»Lass mich«, knurre ich. Ich muss mich bewegen. Doch Adrians Griff wird fester.
»Nein. Bleib hier.« Seine Stimme ist ruhig und lässt keinen Widerspruch zu. Ich weiß ja, dass er recht hat, aber rationales Denken ist bei mir gerade Mangelware. Ich unternehme noch einen Versuch, doch Adrian ist deutlich stärker als ich. Dennoch presse ich meine geballten Fäuste gegen seinen Oberkörper. Ich bin kurz davor, ihn zu treten, um diese Wut zu kanalisieren, als sich jemand neben uns räuspert.
»Entschuldigen Sie. Herr Korth?«
Ich drehe mich zur Seite. Adrian lässt mich nicht los.
Ein Typ in einem weißen Kittel lächelt mich an. Irgendwoher kommt der mir bekannt vor.
»Mein Name ist Dr. Harald Köhler. Ich bin der behandelnde Arzt Ihrer Großmutter. Setzen Sie sich bitte.«
Oh nein! Das heißt selten etwas Gutes.
Ich stolpere mehr zum Stuhl, als dass ich gehe. Am liebsten würde ich mich auf Adrians Schoß setzen, aber das sähe wohl reichlich dämlich aus. Seine Hand zu halten muss reichen.
»Also, wir haben die Platzwunde genäht. Sie hat ziemlich viel Blut verloren. Außerdem hat sie eine Gehirnerschütterung erlitten und ihr rechtes Handgelenk ist gebrochen.«
Ich starre den Arzt an. Grundsätzlich sollte ich wohl verstehen, was er mir damit sagen will, aber die Information will gerade nicht durchsickern.
»Das heißt?«, frage ich mit rauer Stimme.
»Das heißt, dass ihr Schutzengel heute offensichtlich Überstunden gemacht hat. Sie hat zwar noch ein paar Prellungen, aber die sind vernachlässigbar. Sie wird noch ein paar Tage hier bleiben müssen, bis sich ihr Kreislauf von dem Blutverlust erholt hat. Aber dann kann sie wieder nach Hause.«
Ich atme tief durch und sehe zu Ludger. Der sieht so aus, als wüsste er nicht, ob er lachen oder weinen soll. Ich dagegen zerquetsche beinahe Adrians Hand.
»Warum hat das so lange gedauert?«, fragt Adrian. Eigentlich ist mir das jetzt inzwischen völlig egal, aber er hat schon recht. Das ist eine berechtigte Frage.
»Frau Korth hat einige Male das Bewusstsein verloren. Das ist bei einer solch starken Kopfverletzung nicht ungewöhnlich«, setzt er gleich hinterher, als er meinen entsetzten Blick sieht. »Wir wollten erst sichergehen, dass sie stabil ist. Außerdem ist unsere Röntgenabteilung zurzeit leider überlastet«, seufzt er.
»Es tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten.«
Ich nicke. Ist ja jetzt auch relativ egal. Hauptsache ist, es geht ihr gut.
»Okay. Dürfen wir zu ihr? Wann wird sie entlassen werden?«
Dr. Köhler steht bereits auf. »Nun, sie schläft jetzt. Sie dürfen für ein paar Minuten zu ihr. Ab morgen können Sie sie in den regulären Zeiten besuchen. Wenn alles ohne weitere Komplikationen verläuft, sollte sie zum nächsten Wochenende wieder nach Hause dürfen.«
»Vielen Dank!« Adrian streckt ihm seine Hand entgegen.
»Ich tue nur meinen Job«, erwidert der Arzt lächelnd und legt seinen Kopf etwas schief. In dem Moment, in dem er mir noch einmal zuzwinkert und sich umdreht, erkenne ich ihn.
»Scheiße!«, flüstere ich.
Adrian grinst. »Hast du ihn jetzt erst erkannt?«
Ich nicke. Der Gorilla! Der Typ, der mich geküsst hat.
Nachdem wir Oma kurz besucht haben, bringen wir Ludger nach Hause.
»Können wir dich wirklich alleine lassen?« Er sieht immer noch reichlich mitgenommen aus.
»Ja, das geht schon. Ich habe vorhin meine Tochter angerufen. Sie und ihre Frau wohnen nur zwei Orte weiter. Sie kommen nachher vorbei.«
Ihre Frau? Okay, das erklärt seine lockere Einstellung. Vielleicht sollte er sich mal mit Adrians Eltern zusammensetzen. Allerdings fürchte ich, dass das keinen Unterschied mehr machen würde.
»Okay. Aber melde dich, wenn irgendetwas ist, ja? Egal, zu welcher Tageszeit.«
Ludger nickt, noch immer recht blass.
Ich möchte eigentlich nicht zurück nach Hause fahren. Hier kann ich aber auch nicht wirklich etwas ausrichten. Außerdem muss ich morgen wieder arbeiten.
Sonja hatte sich vorhin schon verabschiedet. Also fahre ich mit Adrian zurück.
Er wirkt so ruhig, aber ich bin mir sicher, dass es in ihm drin ziemlich arbeiten muss. Ich hätte nie gedacht, dass seine Eltern so drauf sind. Immer noch.
Nachdem ich nachgesehen habe, ob ich auch nichts vergessen habe und wir uns von Ludger verabschiedet haben, ziehe ich ihn noch einmal zur Seite.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, warum denn nicht?«
»Na ja ...« Ich ziehe meine Unterlippe ein. »Das vorhin war ja nicht gerade ... schön«, deute ich mit dem Kopf in die Richtung, in der heute Morgen seine Eltern standen.
Adrians Blick wird starr. »Das stimmt wohl. Aber ich habe nichts anderes erwartet. Gut, zu behaupten, es hätte mir absolut nichts ausgemacht, wäre gelogen, aber ich komme damit klar. Und du?«
»Äh ... wie?«
»Nun, spätestens morgen weiß es das ganze Dorf, wenn nicht sogar jetzt schon.«
»Und wenn schon.«
»Und dein Onkel?«
Ich zucke zusammen. »Was soll mit dem sein?« Meine Stimme ist mit einem Schlag zittrig.
»Ich schätze mal, dass der eine oder andere hier noch Kontakt zu ihm hat. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er es erfährt.«
Scheiße! Das stimmt! Das ist eine Sache, die ich definitiv nicht bedacht habe. Ich möchte meine Unsicherheit, meine Angst überspielen. Die wegwerfende Handbewegung gleicht aber eher einem zittrigen Herumgefuchtel.
Auch das Lächeln, das ich versuche, misslingt. »Ist wohl nicht mehr zu ändern«, flüstere ich.
Adrian mustert mich einige Momente, bevor er sich umdreht. »Lass uns fahren.«
Die Rückfahrt verläuft recht schweigsam. Vor meinem geistigen Auge spielen sich die größten und zugegeben unrealistischsten Szenarien ab. Aber das Ergebnis bleibt bei allen gleich: Herbert wird mich verstoßen. Und dann? Berufliche Zukunft: weg. Familie? Ich würde nie wollen, dass Oma sich zwischen ihrem Sohn und mir entscheiden muss. Da wäre wohl die logische Konsequenz, mich zurückzuziehen.
Ich bekomme erst mit, dass wir in meine Straße eingebogen sind, als Adrian einparkt.
»Morgen Mittagessen?«, fragt er mit einem schiefen Lächeln.
Ich schlucke. »Kommst du nicht mehr mit rauf?« Irgendwie bin ich davon ausgegangen, dass er heute Nacht bei mir bleibt.
»Olli ...«, seufzt er. »Wir haben doch darüber gesprochen. Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.«
»Nein. Ich will doch gar nicht ... Bitte. Ich möchte jetzt nicht alleine sein. Wir können doch auch einfach nur ein wenig zusammen fernsehen. Wenigstens für eine halbe Stunde oder so.«
»Oh, Mann!«, seufzt er. »Diesem Blick kann ich doch sowieso nicht widerstehen. Okay, aber wirklich nicht lange. Ich muss früh ins Bett. Morgen habe ich eine Doppelschicht.«
»Danke!«
Aus der halben Stunde werden zwei ganze, während der wir zusammen auf meiner Couch kuscheln. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich Adrian nicht aufhalte.
Vielmehr hat er auf einmal ein recht starkes Mitteilungsbedürfnis.
»Oliver, ich bin dir wirklich dankbar, dass du heute für mich da warst. Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass ich immer noch einen letzten Funken Hoffnung hatte, dass meine Eltern ihren Entschluss von damals bereuen. Tja, das war’s dann wohl.«
Ich ziehe ihn stärker an mich und küsse ihn auf den Kopf. »Ich bin immer für dich da. Das verspreche ich dir. Selbst wenn es jetzt irgendwer an meinen Onkel heranträgt: Ändern kann ich es eh nicht mehr. Eigentlich möchte ich es auch nicht mehr. Ich hätte nie gedacht, wie befreiend es sich anfühlen kann, wenn man sich outet.« Ich lache leise. »Ich dachte immer, dass die Probleme dann erst anfangen - dass das die Lösung sein kann hätte ich nie im Leben geglaubt.«
»Hm«, macht Adrian, »du hast dich ganz schön verändert in der letzten Zeit.«
»Ja?«
»Ja, und damit meine ich nicht einmal die Entdeckung deiner Sexualität. Damals warst du so festgefahren in deinen Strukturen. Wer hätte gedacht, dass dahinter ein ganz normaler Kerl lauert?« Ich höre den Schalk in seiner Stimme sehr wohl.
»Ey!«, beschwere ich mich wenig ernst gemeint. »Ich schätze, du revidierst deine Meinung wieder, sobald du mich in meiner Morgenroutine störst und meine Reaktion zu spüren bekommst. Erst recht vor meinem ersten Kaffee.«
Adrian dreht seinen Kopf und grinst mich an. »Huh! Ich liebe Herausforderungen.«
Leider verabschiedet er sich wirklich kurz darauf. Dafür meldet sich noch einmal eine besorgte Sonja.
»Okay, es geht deiner Oma also soweit gut. Na, ein Glück. Ich habe mir schon Vorwürfe gemacht, weil ich ja irgendwie ... ähm ... wie konnte das eigentlich passieren? War ihr schwindelig?«
»Nein. Offenbar ist sie lediglich gestolpert. Hätte jedem passieren können. War nur unglücklich, wegen der Fliesen. Wieso Vorwürfe?«
»Na ja, ich habe ihr doch gesagt, dass du sturmfreie Bude brauchst. Du verstehst schon.«
Ich stöhne gequält. Der Gedanke, dass Oma weiß, dass Adrian und ich ...
Sonja lacht. »So, und jetzt erzähl endlich mal!«
»Wovon redest du?«
»Oliver«, erwidert sie lediglich mahnend, was mich seufzen lässt.
»Ja, okay. Wir haben uns wohl wieder versöhnt, denke ich.«
»Wie ›du denkst‹? Olli, was hast du jetzt schon wieder gemacht?«
Für einen kurzen Moment bin ich versucht, wortlos aufzulegen. Hallo? Warum denkt immer jeder, ich sei derjenige, der die Fehler begeht?
»Ich habe gar nichts gemacht! Wir haben uns ausgesprochen.« Mehr oder weniger. »Wir hatten Versöhnungssex. Mehrfach.« Ich grinse bei der Erinnerung.
»Aber?«, kommt es von Sonja.
Ich seufze. »Er vertraut mir nicht mehr.«
»Kann ich mir denken.«
»Wie bitte?!«
»Na, überleg doch mal: Du hast ihn wochenlang belogen. Klar, dass er da vorerst misstrauisch bleibt.«
»Aber das ist doch jetzt vorbei. Schließlich habe ich selbst den Grund für meine Unehrlichkeit beseitigt. Er weiß, dass ich ihn nicht mehr anlüge.«
»Weiß er das wirklich? Oliver, nur weil du das immer wieder beteuerst, wird sein Vertrauen nicht schlagartig wiederkommen. Auch wenn es hart klingt: Du hast deine Glaubwürdigkeit verloren. Du musst ihm zeigen, dass du dich ihm vollkommen öffnest.«
»Aha, und wie?«
»Ich weiß nicht. Erzähl ihm von dir, ohne dass er danach fragt; von deinen Gefühlen, lass Taten sprechen. Tu ihm etwas Gutes, ohne es ihm vorzuhalten. Er muss spüren, dass es von Herzen kommt, dass du es gerne tust. Etwas, das du auch getan hättest, wenn das alles nicht so gelaufen wäre.«
Klingt anstrengend.
Urplötzlich kommt mir eine Idee.
»Sonja! Du bist die Beste!«
»Ich weiß«, lacht sie. »Viel Erfolg!«
Ich kann diese Nacht kaum schlafen, so aufgeregt bin ich.
Als mein Wecker mich am Montagmorgen viel zu früh aus dem Schlaf reißt, greife ich grinsend nach meinem Handy und schicke Adrian eine Nachricht:
›Ich stehe auf Laugenstangen mit Nutella.‹
Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten.
›Wie bitte?! Urgs. Aber du bist nicht schwanger, oder? *grins*‹
Lachend springe ich aus dem Bett. Unter der Dusche singe ich lauthals und völlig schief ›Love is all around‹ und komme mir nicht einmal dämlich dabei vor. Wir schaffen das! Woher auch immer meine Zuversicht kommt, aber ich fühle mich so energiegeladen wie seit Wochen nicht mehr.
Zumindest bis ich in der Praxis ankomme. Frau Ehrenreich sieht reichlich übernächtigt aus und freundlicher hat sie mich auch schon einmal begrüßt. Mir schwant Übles.
»Guten Morgen!«, grüße ich sie möglichst neutral zurück.
Wortlos zieht sie mich in mein Büro und schließt hinter uns die Tür.
»Warum hast du nichts gesagt?«
Ich schlucke und spüre wie mir der Schweiß ausbricht. Mein Hochgefühl hat sie offenbar ebenfalls ausgesperrt. Mein Herz rast und außer einem gekrächzten »Wie?« bekomme ich nichts heraus.
»Zum Glück bin ich ans Telefon gegangen. Herberts Mutter hatte einen Unfall und du sagst nicht Bescheid?!«
Ein klitzekleiner Mini-Stein fällt mir von Herzen. Es geht nur um Omas Unfall? Oh nein! Das sollte mich nicht erleichtern! Und doch tut es das.
»Oh, ähm ... das war ... ich war doch selbst geschockt. Ich habe gar nicht daran gedacht ... ich ... es tut mir leid.«
Frau Ehrenreich atmet mehrfach durch und schließt kurz die Augen.
»Okay. Wie geht es ihr? Die Tochter von diesem Ludger hatte angerufen. Viel wusste sie auch nicht. Er macht sich offenbar permanent Vorwürfe.«
»Sie ist im Bad ausgerutscht und hatte eine Platzwunde am Kopf. Außerdem hat sie sich das rechte Handgelenk gebrochen. Aber ansonsten ist alles in Ordnung. In ein paar Tagen wird sie wieder entlassen.«
Erleichtert atmet sie auf. »Okay. Gut. Du musst es deinem Onkel sagen.«
Sie dreht sich bereits zur Tür.
»Er weiß es nicht?«
»Nein. Ich wollte ihn nicht aufregen.«
»Okay. Danke!«
Mit einem schlichten Nicken verabschiedet sie sich.
Je näher die Mittagspause rückt, desto aufgeregter werde ich. Adrian! Allein der Gedanke meißelt ein Grinsen in mein Gesicht. Kommt meinen Patienten vielleicht ein wenig makaber vor, aber da müssen sie durch.
Den Weg zur Kantine kann ich gar nicht schnell genug hinter mich bringen. In meinem Magen kribbelt es so sehr, dass ich gar nichts essen möchte. Nicht, dass das noch dieses tolle Gefühl abschwächt!
Trotzdem hole ich mir einen Salat. Aber eigentlich eher, um die Zeit zu überbrücken, bis Adrian kommt.
Eine Viertelstunde später werde ich langsam nervös. Er hat doch gesagt, dass wir uns zum Mittagessen treffen oder habe ich das falsch verstanden?
Mein Handy liegt neben meinem Teller auf dem Tisch. Gemeldet hat er sich aber nicht. Wieder beginnen die Zweifel an mir zu nagen: Will er vielleicht gar keine Beziehung mehr?
Endlich sehe ich ihn um die Ecke biegen. Ich kann mich gerade so davon abhalten, aufzuspringen und wie ein verliebter Trottel nach ihm zu rufen und zu winken. Was unter anderem daran liegen mag, dass er in Begleitung eines anderen Typen kommt. Sie lachen gerade herzhaft und gehen gemeinsam zur Essensausgabe. Ihr Verhalten ist mir eindeutig zu vertraut.
Die beiden scherzen offenbar die ganze Zeit, selbst, als sie noch auf mich zukommen. Neben meinem Tisch bleiben sie stehen und Adrian stellt sein Tablett ab.
»Oliver, das ist Sven«, stellt er uns vor. Mir ist es gerade ziemlich egal, wie der Typ heißt. Und wenn er der Kaiser von China wäre. Obwohl Chinesen wohl in der Regel nicht so groß sind und so muskulös wie der Kerl hier.
»Mein neuer Kollege.«
»Ach, was. Kollege«, lacht dieser Sven. »Lakai trifft es wohl eher, du Sklaventreiber.« Wieder lachen sie beide. Na, die verstehen sich ja offensichtlich prächtig.
»Sven, das ist Oliver. Mein ...« Fragend sieht er mich an. Okay, ich erkenne meine Chance.
Ich schmiege mich an ihn und gebe ihm einen filmreifen Kuss. Als ich mich zu dem Typen umdrehe, lächle ich: »Sein Freund.«
Sven grinst und nickt Adrian zu. »Gute Wahl! Na, dann will ich euch nicht weiter stören. Bis später!«
Ich sehe dem Typ noch einen Moment hinterher. Ich muss zugeben: Der sieht schon heiß aus.
»Bist du eifersüchtig?«, fragt mich Adrian leise. Sein neckender Unterton zeigt deutlich, dass ich wohl recht offensichtlich geschaut haben muss.
»Ähm ...« Na, super! Jetzt werde ich auch noch rot!
Was hatte Sonja gesagt? Sei ehrlich. Erzähle von deinen Gefühlen.
Ich beiße mir auf die Unterlippe und nicke.
»Schuldig«, seufze ich und lehne mich erneut an ihn. »Ich möchte dich nicht teilen.«
Adrians Arme um mich geben mir eine ungewohnte Sicherheit.
»Das musst du auch nicht«, nuschelt er, bevor er leicht meine Schläfe küsst.
Ich drehe meinen Kopf, um ihn anzusehen. »Ich weiß.«
Lächelnd streichelt Adrian mit den Fingerspitzen meine Wangen und mein Kinn entlang, küsst mich sanft. »Danke.«
»Wofür?« Ich verstehe nicht, was er meint. Die Berührungen, der Kuss, der Blick - das alles vernebelt gerade auf angenehme Weise mein Hirn.
»Dass du ehrlich bist.«
»Was sollte eigentlich deine seltsame Nachricht heute Morgen?«, fragt Adrian grinsend, als wir wieder sitzen und weiteressen.
Ich schmunzle zurück. »Ich dachte, ich schreibe dir etwas, das du noch nicht von mir weißt. Eigentlich weiß das keiner, denn du hast schon recht: Die Vorstellung ist irgendwie eklig.«
Lächelnd greift er nach meiner Hand. »Das ist schön.«
Wärme durchflutet mich. Warum müssen wir bloß arbeiten? Viel schöner wäre es doch, jetzt gemeinsam im Bett zu liegen, mich an ihn zu kuscheln.
Ich seufze.
»Was?«, fragt Adrian leise lachend.
»Hm? Oh, ich habe nur gerade daran gedacht, was ich gerade viel lieber mit dir tun würde.« Er legt den Kopf schief, wartet offensichtlich, dass ich weiterspreche.
»Mit dir alleine sein, egal wo. Hauptsache nur wir zwei und ohne störenden Stoff.« Unwillkürlich halte ich den Atem an, als Adrian die Augen aufreißt.
»Olli! Verdammt! Erzähl mir doch so etwas nicht, wenn ich noch bis in die Nacht arbeiten muss!«
Sein Grinsen und Zwinkern lässt mich aufatmen.
»Tja, dann müssen wir mit der Ausführung wohl noch ein wenig warten.«
Adrian seufzt. »Ja, leider. Zwei Kollegen sind immer noch krank. Ich werde die nächsten Tage mehr arbeiten müssen.«
Okay. Ade, du schöner Plan!
»Hey, Olli! Guck nicht so! Das Wochenende habe ich auf jeden Fall frei.«
Ich schlucke. »Da muss ich aber zu Oma. Zumindest am Samstag.«
Adrian zuckt mit den Schultern. »Und? Dann komm ich mit.«
»Sicher?«
Ich meine, er tut zwar so, als habe er das alles so weggesteckt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er unter der Ablehnung seiner Eltern leidet.
»Klar, solange ich auf der Hinfahrt schlafen kann. Hab nämlich von Freitag auf Samstag Nachtschicht.«
»Kein Problem.«
Wir grinsen uns an wie zwei verliebte Teenager.
»Oh ha! Das ist ja nicht auszuhalten«, spottet Holger plötzlich neben uns. Stimmt, heute ist ja Montag!
»Guck doch weg, wenn’s dir nicht passt«, schlage ich belustigt vor.
»Ach was. Ich gönn’s euch ja. Bin ja nicht verbittert, zum Glück.«
Holger setzt sich neben Adrian und zwinkert mir zu. »Dann habt ihr euch also endlich wieder zusammengerauft, ja? Ollis Trauermiene und das Gejammer waren ja auch kaum noch auszuhalten.«
Das übliche Spiel beginnt: Holger klaut meine Cola und ich beschwere mich gespielt. Heute ist mir das im Grunde genommen so etwas von egal, aber diese Normalität fühlt sich einfach gut an.
»So schlimm?«, fragt Adrian. Er klingt ernsthaft ein wenig betroffen.
»Schlimmer«, erwidert Holger. »Aber ich kann mir vorstellen, dass er’s verdient hat.«
»Ey!«
Lachend isst Holger weiter. »Also ist das jetzt so richtig offiziell mit euch, ja?«
Einen Moment lang mustern Adrian und ich uns, bis ich nicke.
»Ja.« Adrians Lächeln lässt mein Herz gleich noch einmal schneller schlagen. Früher habe ich nie verstanden, was die Leute damit meinten, wenn sie sagten, sie würden beinahe platzen vor Liebe. Jetzt weiß ich es. Und es ist schöner als alles, was ich bisher in meinem Leben gefühlt habe.
»He!«, protestiert Holger.
»Hm, was?«, erwidere ich, ohne den Blick von Adrian zu nehmen.
»Wenn ihr so weitermacht, seid ihr gleich nur aufgrund eurer Blicke nackt.«
Hitze steigt mir ins Gesicht. »So schlimm?«
Holger zuckt nur grinsend mit den Schultern.