Jenseits der Gegenwart
von - Leela -
Kurzbeschreibung
Ralph und Melissa berichten einmal mehr über eine von Lady Baden-Badens großen, überall bekannten Soireen. Doch diesmal offenbart sich Melissa eine Geschichte, mit der sie nicht gerechnet hätte…
KurzgeschichteAllgemein / P12 / Gen
Ingrid Bellamour
Lady Baden-Baden
Melissa Raccoon
Mister Barnes
Mister Knox
Ralph Raccoon
03.07.2014
03.07.2014
1
2.101
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03.07.2014
2.101
Diese kleine Geschichte wurde geschrieben für den Wettbewerb »Aufs Dach gestiegen« von Witness.
Hinweis: Ich richte mich nach der alten, klassischen Rechtschreibung.
Ich wünsche euch viel Vergnügen in meinem OneShot. ^^
Wer für längere Zeit zu Gast im immergrünen Wald war, der kam kaum daran vorbei, von mindestens einer von Lady Baden-Badens gesellschaftlichen Soireen zumindest einmal gehört zu haben. Wer im immergrünen Wald lebte, kam nicht umhin, bestimmt auch mindestens einmal auf einer ihrer exklusiven Feiern zu Gast zu sein.
Heute war wieder einer solcher feierlichen Anlässe. Lady Baden-Badens »Dachsoiree« wurde in diesem Jahr zum ersten Mal abgehalten. Extra hierfür war der hintere Teil des Daches ihres Herrenhauses, dort wo es für einen kleinen Bereich in ein Flachdach überging, welches man als Terrasse benutzen konnte, festlich hergerichtet worden. Es sollte ein großes Ereignis werden, doch dieses Mal war das Ereignis nur der »High Society« vorbehalten. Diese aber war zahlreich vertreten.
Lady Baden-Badens alter Freund, der Autor Edward Miller, war zu Gast, ebenso der namhafte Filmproduzent Mister Barnes. Lady Penelope Benjos nippte gedankenvoll an ihrem Champagner, und seitlich stand Großverdiener Cyril Sneer und unterhielt sich mit der Schauspielerin Ingrid Bellamour. Sogar Mister Mammoth und sein Assistent waren anwesend, um nur einige Namen von der Gästeliste zu nennen. Und mittendrin wirbelte die Hausherrin und sorgte dafür, daß es allen gutging.
Die imposante Henne bemühte sich nach Kräften um das Wohlergehen ihrer Gäste – insbesondere das leibliche Wohl. Das Personal hatte alle Hände voll zu tun, das Buffet ständig gefüllt zu halten, und die Lady selbst schenkte immer wieder Champagner aus, während sie sich mal hier, mal da mit den Leuten unterhielt. Es herrschte eine heitere, gelöste Stimmung, ganz so wie man es von den Partys der Lady gewohnt war.
Auch die Presse war natürlich bei diesem großen Ereignis zugegen. Ralph und Melissa von der hiesigen Tageszeitung, dem »Immergrünen Standard«, hatten sich extra für den Abend mit ihrer elegantesten Kleidung ausgestattet, um den expliziten Anforderungen der Feier gerecht zu werden. So fielen sie unter den Gästen lediglich dadurch auf, daß die Fotografin pausenlos Bilder schoß, und der Chefredakteur sich Notizen um Notizen für einen überragenden Titelbericht machte.
„Eigentlich wäre das etwas für Sophia gewesen. Sie schreibt doch sonst auch so gerne die Klatschspalten.“ raunte Melissa ihrem Ehemann in einer ruhigen Minute zu.
Ralph lachte. „Ja! Aber du weißt, Berichte für die Titelseite schreibe ich bevorzugt selbst!“
„Tja, dann mußt du noch ein bißchen in diesem schicken Anzug durchhalten!“ Die Raccoonfrau musterte ihn mit einem anerkennenden Blick der sagte, wie sehr ihr das Bild des feschen Raccoons vor ihr gefiel.
Ralph grinste ebenfalls leicht. „Keine Sorge, das werde ich schon überleben!“
Melissa lächelte und zwinkerte ihm zu. Dann sah sie sich kurz um. „Ich werde mal dort rübergehen, auf die andere Seite des Daches. Von dort habe ich eine wunderschöne Sicht auf die Deko im Eingangsbereich. Das werden sicher ein paar tolle Fotos.“
„Ja, ist gut.“ bestätigte Ralph. Und so trennten sich die Wege des Pressepärchens vorerst, Melissa folgte ihrem aktuellen Gedanken, und Ralph ging zur entgegengesetzten Seite in der Hoffnung, beim Buffet ein paar interessante Neuigkeiten aufzuschnappen.
Der Tag ging langsam in den Abend über, und die Dachterrasse wurde von sanftem Lampionlicht erhellt. Die Gruppen der Gesprächspartner mischten sich von Zeit zu Zeit neu, bis die Frauen unter sich waren und angeheitert zu Champagner lachten, der Theaterautor sich angeregt mit dem Filmproduzenten unterhielt, und Cyril Sneer die Chance nutzte, mit Mister Mammoth ins Gespräch zu kommen. Ralph kam kaum damit hinterher, die interessantesten Neuigkeiten festzuhalten und wünschte sich fast schon Sophia zu seiner Unterstützung an seine Seite. Das Aardvarkmädchen, das üblicherweise für die Klatschspalte recherchierte, hatte eine unübertreffliche Gabe, mindestens drei Gespräche gleichzeitig verfolgen zu können, ohne aus dem Konzept zu geraten.
Melissa bemühte sich derweil, so viele optische Eindrücke wie möglich im Bild festzuhalten. Jedes Mal, wenn sich die Gesprächspartner neu sortierten, gab es neue, großartige Bilder, und auch das Ambiente der großartig hergerichteten Dachterrasse hatte immer wieder eine besondere neue Wirkung, die von der Fotografin mit der Kamera eingefangen wurde. Noch einmal hatte sie die nun mittlerweile ambientisch beleuchtete Deko bei der Eingangstür, die auf das Dach führte, im Bild festgehalten und ging nun an der Menge vorbei auf die andere Seite, um einen neuen Blickwinkel zu erhalten.
Die Gäste gingen ihrer ungeachtet ihre Wege, suchten neuen Anschluß, neue Themen, neue Leute und neuen Champagner, um einen heiteren Abend zu verbringen. Dabei bildeten die Damen und Herren aus der Oberschicht einen obskuren, aufgedrehten, murmelnden Reigen auf der Dachfläche zwischen der Hintergrundmusik und dem Buffet, der sich ständig veränderte.
Plötzlich bemerkte Melissa durch die Menge hindurch Mister Knox ein Stück entfernt an der Brüstung des Daches stehen. Nachdenklich hielt die Raccoon inne. Erst jetzt fiel ihr auf, daß der Ehemann der Lady seit langem schon nicht mehr in der Gesellschaft in Erscheinung getreten war. Sie musterte den Alligator mit dem Cowboyhut gedankenvoll. Von ihrer Position aus wirkte das Bild eigentümlich, so als würden sich zwei Bilder überlagern, die eigentlich gar nicht zusammengehörten. Es war, als würde die Soiree fernab des Hausherren stattfinden, und der imposante Alligator gar nicht zu dem Fest dazugehören.
Die Fotografin vergaß über ihre Gedanken sogar das fotografieren. Irgend etwas hielt sie unwillkürlich in ihren Gedanken fest und ließ sie den Mann an der Brüstung forschend mustern. Was mochte den Großverdiener und Gatten von Lady Baden-Baden wohl gerade einnehmen? Er wirkte nachdenklich; oder gedankenverloren? Vielleicht beschäftigte ihn etwas, betrübte ihn, oder er genoß einfach den Abend… Die Raccoonfrau haderte einen Moment mit sich. Eigentlich ging es sie ja auch gar nichts an. Aus irgend einem Grund, den sie selber nicht näher bestimmen konnte, löste sie sich dann allerdings doch aus der Gesellschaft und ging zu dem Geschäftsmann herüber.
Sie wußte nicht, ob es Einbildung war, aber als sie neben den Alligator an die Brüstung trat, war es, als würden die Geräusche, die Musik und der Trubel der Feier abrupt in den Hintergrund treten, so als hätte jemand eine unsichtbare Tür geschlossen. Kurz sammelte sie sich, um sich aus der seltsamen, ehrfürchtigen Stille zu lösen. „Was für ein schöner Abend für die Dachsoiree!“ bemerkte die Fotografin, um einen möglichst unverfänglichen Auftakt für ein Gespräch zu finden.
Mister Knox schaute in die Ferne, als er gedankenvoll antwortete: „Ja, das ist es.“ Erst jetzt wurde der Raccoon bewußt, daß er sie durchaus längst registriert hatte. Gerade als Melissa fieberhaft nach den richtigen Worten überlegte, um das Gespräch nicht gleich nach dem zweiten Satz wieder abbrechen zu lassen, bemerkte er gedankenvoll: „Es ist merkwürdig; mir ist nie bewußt geworden, wie weit man von hier oben sehen kann.“
„Ja, es ist ein erstaunlicher Anblick!“ bestätigte die Raccoon, dankbar, daß der Anstoß des Gespräches von ihm gekommen war. „Man kann sogar bis zum Sneer-Anwesen sehen. Ich hatte vermutet, daß das Haus nicht hoch genug liegen würde, um so weit sehen zu können.“
„Dann geht es Ihnen wie mir!“ bekannte der Alligator zu ihrer Überraschung. Versunken fuhr er fort: „Wie merkwürdig. Wir haben schon oft hier oben gesessen und den Abend genossen, die Lady und ich. Aber ich bin nie auf den Einfall gekommen, mich hier herzustellen und über das Land zu sehen.“
„Manchmal kommt man auf die einfachsten Dinge nicht…“ bemerkte Melissa mit einem Lächeln, von dem sie nicht einmal wußte, ob er es überhaupt registrieren würde.
„Man kann sogar den Fluß von hier sehen…“ Mister Knox drehte sich etwas, so daß er sie ansehen konnte und lehnte sich gemütlich mit einem Arm auf die Brüstung. „Ich hätte nicht damit gerechnet, daß mich der Anblick dermaßen sentimental machen würde.“
„Ist das der Grund, warum Sie hier stehen? Der Blick über den Fluß?“ fragte Melissa, ohne zu wissen, woher ihr Gedanke überhaupt gekommen war.
Mister Knox schwieg einen Augenblick gedankenvoll, und die Fotografin hatte bereits das Gefühl, ein Fettnäpfchen erwischt zu haben. Nach einem Moment, der ihr wie eine Ewigkeit erschien, wandte er den Blick wieder in die Ferne. „Wußten Sie, daß ich ursprünglich vom Amazonas komme?“
Melissa hielt erstaunt inne. Noch nie hatte sie sich so privat mit einem Mitglied der gehobenen Klasse unterhalten – nicht einmal mit Cyril Sneer, obwohl sie mit dessen Sohn immerhin gut befreundet war. Sie konnte kaum glauben, daß er diese persönliche Information gerade ausgerechnet mit ihr, einer kleinen Angestellten der immergrünen Zeitung, teilte. „Ähm, nein…“ erwiderte sie etwas überfordert.
Sein Blick kehrte sich ins Innere, wie in einer Erinnerung. „Wir zogen weg, als ich ein Teenager war. ‚Im Norden lassen sich bessere Geschäfte machen!‘, sagte mein Vater.“
„Dann war Ihr Vater Geschäftsmann, so wie Sie!“ stellte Melissa fest.
„Ja. Und was für einer. Zuerst gingen wir nach Texas, wo mein Vater sein Imperium aufbaute. Durch viele geschäftliche Verbindungen gelangten wir später schließlich über Kanada hierher, in den immergrünen Wald. Zu dem Zeitpunkt war mein Vater aber schon eine Koryphäe in Geschäftskreisen und ließ sein Geld für sich arbeiten. All mein Wissen habe ich von ihm erlangt.“
„Und auch Ihre Leidenschaft fürs Geschäft, nehme ich an!“ mutmaßte die Raccoon, die langsam in ihrer Konversation mutiger wurde.
Knox schaute nachdenklich über die Wälder hinweg. „Und genau da bin ich mir nicht sicher!“
Melissa sah den Großunternehmer überrascht an. Zu ihrer Beruhigung war die Erkenntnis, daß die sich in ihrer Annahme anscheinend geirrt hatte, aber keineswegs unangenehm. Etwas vorsichtiger fragte sie: „Darf ich fragen, warum?“
„Ich habe mich nie für das große Geschäftemachen interessiert.“ offenbarte er ihr. „Eigentlich wollte ich - und jetzt lachen Sie bitte nicht - Tropenmediziner werden.“
„Warum sollte ich lachen?“ erwiderte Melissa. „Das hört sich nach einem tollen Beruf an. – Hat Ihr Vater Sie gezwungen, sein Imperium zu übernehmen?“
„Nein!“ erwiderte Knox und verblüffte sie damit ein weiteres Mal, da sie fest mit einer Bestätigung gerechnet hatte. „Ich habe mich selbst dafür entschieden.“ Er sah sie mit einem schwer zu definierenden Ausdruck in den Augen an. „Ich habe meine Heimat verlassen müssen, Melissa. Das ist mir sehr schwer gefallen. Das Unternehmen meines Vaters hat mich davon abgelenkt, und mittlerweile ist es so etwas wie eine Gewohnheit geworden.“
Melissa stockte der Atem. Was der Großverdiener und Eigentümer mehrerer Firmen ihr hier offenbarte, war mehr, als sie sich je vorzustellen gewagt hätte. Obwohl bislang nur wenige Informationen geflossen waren, sah sie den Alligator bereits aus einem völlig neuen Blickwinkel als zuvor. „Und Sie denken noch immer an Ihren Traum, Tropenarzt zu werden zurück?“ fragte sie sachte.
„Bislang nicht. Wie gesagt, die Gewohnheiten haben sich eingeschliffen. Doch heute abend…“ Er seufzte leicht. „Als ich heute über den Fluß blickte, da war alles wieder da; die Erinnerungen an meine alte Heimat, Kindheitsträume, längst vergessene Zukunftswünsche…“ Er machte eine gedankenvolle Pause. „Das Leben geht seltsame Wege, Melissa.“
„In der Tat…“ bemerkte sie leise.
Als hätten sie sich abgesprochen, wandten sich die beiden synchron zu der kleinen Dachfeier um, und beobachteten wie durch einen unsichtbaren Vorhang das Treiben, das fernab von ihnen stattzufinden schien.
Mister Knox wandte sich ihr wieder zu, und Melissa wußte, sie würde diesen Blick nie vergessen, als er sagte: „Es hat sehr gut getan, mit Ihnen darüber zu sprechen, Melissa. Es gibt wenige, mit denen ich es könnte; und so seltsam es klingen mag, wohl kaum mit jemandem von meinem Stand. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit.“
Melissa atmete innerlich durch. Ihr war bewußt, was er ihr gerade für ein Vertrauen entgegenbrachte, nicht zuletzt, da er wußte, daß sie zur Presse gehörte. Sie wußte um ihre Verantwortung, und ebenso wußte sie, daß das Gespräch nun beendet war. Sie schenkte dem Hausherren ein Lächeln. „Das ist gern geschehen.“
Der Alligator schenkte ihr das Lächeln zurück, und Melissa ließ ihn wieder in seinen Gedanken allein.
Die Raccoon trat zwei Schritte zurück in die Gesellschaft und wurde umgehend wieder von der Musik und dem Trubel der Hauptszenerie eingefangen. Noch immer stand der Alligator in seinem eigenen Bild fernab der Party an der Brüstung des Daches und schaute über das Land. Sie sah sich noch einmal mit einem Schmunzeln zu ihm um, und mit einem eigentümlich wohligen Gefühl dankte sie ihm still, daß sie für ein paar Minuten Teil seiner Gedanken hatte sein dürfen. Doch jetzt trat die Feier wieder in den Vordergrund und forderte sie auf eine andere Art und Weise.
Ralph kam aufgeregt zu ihr herüber. „Melissa, das wird ein Knüllerbericht! Sneer plant neue Geschäfte mit Mammoth, Ingrid Bellamour soll die Hauptrolle in Barnes neuem Film bekommen, der nach einem Stück von Edward Miller gedreht wird, und Lady Penelope Benjos organisiert gerade eine große Benefizveranstaltung für das Kinderheim. Wenn das keine Neuigkeiten sind! – Und, hast du auch etwas Interessantes herausgefunden?“
Die Fotografin lächelte. „Nichts, was in unseren Zeitungsartikel gehört.“
Platz 5 von 19 eingereichten Beiträgen und 33 Anmeldungen.
Hinweis: Ich richte mich nach der alten, klassischen Rechtschreibung.
Ich wünsche euch viel Vergnügen in meinem OneShot. ^^
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Jenseits der Gegenwart
Wer für längere Zeit zu Gast im immergrünen Wald war, der kam kaum daran vorbei, von mindestens einer von Lady Baden-Badens gesellschaftlichen Soireen zumindest einmal gehört zu haben. Wer im immergrünen Wald lebte, kam nicht umhin, bestimmt auch mindestens einmal auf einer ihrer exklusiven Feiern zu Gast zu sein.
Heute war wieder einer solcher feierlichen Anlässe. Lady Baden-Badens »Dachsoiree« wurde in diesem Jahr zum ersten Mal abgehalten. Extra hierfür war der hintere Teil des Daches ihres Herrenhauses, dort wo es für einen kleinen Bereich in ein Flachdach überging, welches man als Terrasse benutzen konnte, festlich hergerichtet worden. Es sollte ein großes Ereignis werden, doch dieses Mal war das Ereignis nur der »High Society« vorbehalten. Diese aber war zahlreich vertreten.
Lady Baden-Badens alter Freund, der Autor Edward Miller, war zu Gast, ebenso der namhafte Filmproduzent Mister Barnes. Lady Penelope Benjos nippte gedankenvoll an ihrem Champagner, und seitlich stand Großverdiener Cyril Sneer und unterhielt sich mit der Schauspielerin Ingrid Bellamour. Sogar Mister Mammoth und sein Assistent waren anwesend, um nur einige Namen von der Gästeliste zu nennen. Und mittendrin wirbelte die Hausherrin und sorgte dafür, daß es allen gutging.
Die imposante Henne bemühte sich nach Kräften um das Wohlergehen ihrer Gäste – insbesondere das leibliche Wohl. Das Personal hatte alle Hände voll zu tun, das Buffet ständig gefüllt zu halten, und die Lady selbst schenkte immer wieder Champagner aus, während sie sich mal hier, mal da mit den Leuten unterhielt. Es herrschte eine heitere, gelöste Stimmung, ganz so wie man es von den Partys der Lady gewohnt war.
Auch die Presse war natürlich bei diesem großen Ereignis zugegen. Ralph und Melissa von der hiesigen Tageszeitung, dem »Immergrünen Standard«, hatten sich extra für den Abend mit ihrer elegantesten Kleidung ausgestattet, um den expliziten Anforderungen der Feier gerecht zu werden. So fielen sie unter den Gästen lediglich dadurch auf, daß die Fotografin pausenlos Bilder schoß, und der Chefredakteur sich Notizen um Notizen für einen überragenden Titelbericht machte.
„Eigentlich wäre das etwas für Sophia gewesen. Sie schreibt doch sonst auch so gerne die Klatschspalten.“ raunte Melissa ihrem Ehemann in einer ruhigen Minute zu.
Ralph lachte. „Ja! Aber du weißt, Berichte für die Titelseite schreibe ich bevorzugt selbst!“
„Tja, dann mußt du noch ein bißchen in diesem schicken Anzug durchhalten!“ Die Raccoonfrau musterte ihn mit einem anerkennenden Blick der sagte, wie sehr ihr das Bild des feschen Raccoons vor ihr gefiel.
Ralph grinste ebenfalls leicht. „Keine Sorge, das werde ich schon überleben!“
Melissa lächelte und zwinkerte ihm zu. Dann sah sie sich kurz um. „Ich werde mal dort rübergehen, auf die andere Seite des Daches. Von dort habe ich eine wunderschöne Sicht auf die Deko im Eingangsbereich. Das werden sicher ein paar tolle Fotos.“
„Ja, ist gut.“ bestätigte Ralph. Und so trennten sich die Wege des Pressepärchens vorerst, Melissa folgte ihrem aktuellen Gedanken, und Ralph ging zur entgegengesetzten Seite in der Hoffnung, beim Buffet ein paar interessante Neuigkeiten aufzuschnappen.
Der Tag ging langsam in den Abend über, und die Dachterrasse wurde von sanftem Lampionlicht erhellt. Die Gruppen der Gesprächspartner mischten sich von Zeit zu Zeit neu, bis die Frauen unter sich waren und angeheitert zu Champagner lachten, der Theaterautor sich angeregt mit dem Filmproduzenten unterhielt, und Cyril Sneer die Chance nutzte, mit Mister Mammoth ins Gespräch zu kommen. Ralph kam kaum damit hinterher, die interessantesten Neuigkeiten festzuhalten und wünschte sich fast schon Sophia zu seiner Unterstützung an seine Seite. Das Aardvarkmädchen, das üblicherweise für die Klatschspalte recherchierte, hatte eine unübertreffliche Gabe, mindestens drei Gespräche gleichzeitig verfolgen zu können, ohne aus dem Konzept zu geraten.
Melissa bemühte sich derweil, so viele optische Eindrücke wie möglich im Bild festzuhalten. Jedes Mal, wenn sich die Gesprächspartner neu sortierten, gab es neue, großartige Bilder, und auch das Ambiente der großartig hergerichteten Dachterrasse hatte immer wieder eine besondere neue Wirkung, die von der Fotografin mit der Kamera eingefangen wurde. Noch einmal hatte sie die nun mittlerweile ambientisch beleuchtete Deko bei der Eingangstür, die auf das Dach führte, im Bild festgehalten und ging nun an der Menge vorbei auf die andere Seite, um einen neuen Blickwinkel zu erhalten.
Die Gäste gingen ihrer ungeachtet ihre Wege, suchten neuen Anschluß, neue Themen, neue Leute und neuen Champagner, um einen heiteren Abend zu verbringen. Dabei bildeten die Damen und Herren aus der Oberschicht einen obskuren, aufgedrehten, murmelnden Reigen auf der Dachfläche zwischen der Hintergrundmusik und dem Buffet, der sich ständig veränderte.
Plötzlich bemerkte Melissa durch die Menge hindurch Mister Knox ein Stück entfernt an der Brüstung des Daches stehen. Nachdenklich hielt die Raccoon inne. Erst jetzt fiel ihr auf, daß der Ehemann der Lady seit langem schon nicht mehr in der Gesellschaft in Erscheinung getreten war. Sie musterte den Alligator mit dem Cowboyhut gedankenvoll. Von ihrer Position aus wirkte das Bild eigentümlich, so als würden sich zwei Bilder überlagern, die eigentlich gar nicht zusammengehörten. Es war, als würde die Soiree fernab des Hausherren stattfinden, und der imposante Alligator gar nicht zu dem Fest dazugehören.
Die Fotografin vergaß über ihre Gedanken sogar das fotografieren. Irgend etwas hielt sie unwillkürlich in ihren Gedanken fest und ließ sie den Mann an der Brüstung forschend mustern. Was mochte den Großverdiener und Gatten von Lady Baden-Baden wohl gerade einnehmen? Er wirkte nachdenklich; oder gedankenverloren? Vielleicht beschäftigte ihn etwas, betrübte ihn, oder er genoß einfach den Abend… Die Raccoonfrau haderte einen Moment mit sich. Eigentlich ging es sie ja auch gar nichts an. Aus irgend einem Grund, den sie selber nicht näher bestimmen konnte, löste sie sich dann allerdings doch aus der Gesellschaft und ging zu dem Geschäftsmann herüber.
Sie wußte nicht, ob es Einbildung war, aber als sie neben den Alligator an die Brüstung trat, war es, als würden die Geräusche, die Musik und der Trubel der Feier abrupt in den Hintergrund treten, so als hätte jemand eine unsichtbare Tür geschlossen. Kurz sammelte sie sich, um sich aus der seltsamen, ehrfürchtigen Stille zu lösen. „Was für ein schöner Abend für die Dachsoiree!“ bemerkte die Fotografin, um einen möglichst unverfänglichen Auftakt für ein Gespräch zu finden.
Mister Knox schaute in die Ferne, als er gedankenvoll antwortete: „Ja, das ist es.“ Erst jetzt wurde der Raccoon bewußt, daß er sie durchaus längst registriert hatte. Gerade als Melissa fieberhaft nach den richtigen Worten überlegte, um das Gespräch nicht gleich nach dem zweiten Satz wieder abbrechen zu lassen, bemerkte er gedankenvoll: „Es ist merkwürdig; mir ist nie bewußt geworden, wie weit man von hier oben sehen kann.“
„Ja, es ist ein erstaunlicher Anblick!“ bestätigte die Raccoon, dankbar, daß der Anstoß des Gespräches von ihm gekommen war. „Man kann sogar bis zum Sneer-Anwesen sehen. Ich hatte vermutet, daß das Haus nicht hoch genug liegen würde, um so weit sehen zu können.“
„Dann geht es Ihnen wie mir!“ bekannte der Alligator zu ihrer Überraschung. Versunken fuhr er fort: „Wie merkwürdig. Wir haben schon oft hier oben gesessen und den Abend genossen, die Lady und ich. Aber ich bin nie auf den Einfall gekommen, mich hier herzustellen und über das Land zu sehen.“
„Manchmal kommt man auf die einfachsten Dinge nicht…“ bemerkte Melissa mit einem Lächeln, von dem sie nicht einmal wußte, ob er es überhaupt registrieren würde.
„Man kann sogar den Fluß von hier sehen…“ Mister Knox drehte sich etwas, so daß er sie ansehen konnte und lehnte sich gemütlich mit einem Arm auf die Brüstung. „Ich hätte nicht damit gerechnet, daß mich der Anblick dermaßen sentimental machen würde.“
„Ist das der Grund, warum Sie hier stehen? Der Blick über den Fluß?“ fragte Melissa, ohne zu wissen, woher ihr Gedanke überhaupt gekommen war.
Mister Knox schwieg einen Augenblick gedankenvoll, und die Fotografin hatte bereits das Gefühl, ein Fettnäpfchen erwischt zu haben. Nach einem Moment, der ihr wie eine Ewigkeit erschien, wandte er den Blick wieder in die Ferne. „Wußten Sie, daß ich ursprünglich vom Amazonas komme?“
Melissa hielt erstaunt inne. Noch nie hatte sie sich so privat mit einem Mitglied der gehobenen Klasse unterhalten – nicht einmal mit Cyril Sneer, obwohl sie mit dessen Sohn immerhin gut befreundet war. Sie konnte kaum glauben, daß er diese persönliche Information gerade ausgerechnet mit ihr, einer kleinen Angestellten der immergrünen Zeitung, teilte. „Ähm, nein…“ erwiderte sie etwas überfordert.
Sein Blick kehrte sich ins Innere, wie in einer Erinnerung. „Wir zogen weg, als ich ein Teenager war. ‚Im Norden lassen sich bessere Geschäfte machen!‘, sagte mein Vater.“
„Dann war Ihr Vater Geschäftsmann, so wie Sie!“ stellte Melissa fest.
„Ja. Und was für einer. Zuerst gingen wir nach Texas, wo mein Vater sein Imperium aufbaute. Durch viele geschäftliche Verbindungen gelangten wir später schließlich über Kanada hierher, in den immergrünen Wald. Zu dem Zeitpunkt war mein Vater aber schon eine Koryphäe in Geschäftskreisen und ließ sein Geld für sich arbeiten. All mein Wissen habe ich von ihm erlangt.“
„Und auch Ihre Leidenschaft fürs Geschäft, nehme ich an!“ mutmaßte die Raccoon, die langsam in ihrer Konversation mutiger wurde.
Knox schaute nachdenklich über die Wälder hinweg. „Und genau da bin ich mir nicht sicher!“
Melissa sah den Großunternehmer überrascht an. Zu ihrer Beruhigung war die Erkenntnis, daß die sich in ihrer Annahme anscheinend geirrt hatte, aber keineswegs unangenehm. Etwas vorsichtiger fragte sie: „Darf ich fragen, warum?“
„Ich habe mich nie für das große Geschäftemachen interessiert.“ offenbarte er ihr. „Eigentlich wollte ich - und jetzt lachen Sie bitte nicht - Tropenmediziner werden.“
„Warum sollte ich lachen?“ erwiderte Melissa. „Das hört sich nach einem tollen Beruf an. – Hat Ihr Vater Sie gezwungen, sein Imperium zu übernehmen?“
„Nein!“ erwiderte Knox und verblüffte sie damit ein weiteres Mal, da sie fest mit einer Bestätigung gerechnet hatte. „Ich habe mich selbst dafür entschieden.“ Er sah sie mit einem schwer zu definierenden Ausdruck in den Augen an. „Ich habe meine Heimat verlassen müssen, Melissa. Das ist mir sehr schwer gefallen. Das Unternehmen meines Vaters hat mich davon abgelenkt, und mittlerweile ist es so etwas wie eine Gewohnheit geworden.“
Melissa stockte der Atem. Was der Großverdiener und Eigentümer mehrerer Firmen ihr hier offenbarte, war mehr, als sie sich je vorzustellen gewagt hätte. Obwohl bislang nur wenige Informationen geflossen waren, sah sie den Alligator bereits aus einem völlig neuen Blickwinkel als zuvor. „Und Sie denken noch immer an Ihren Traum, Tropenarzt zu werden zurück?“ fragte sie sachte.
„Bislang nicht. Wie gesagt, die Gewohnheiten haben sich eingeschliffen. Doch heute abend…“ Er seufzte leicht. „Als ich heute über den Fluß blickte, da war alles wieder da; die Erinnerungen an meine alte Heimat, Kindheitsträume, längst vergessene Zukunftswünsche…“ Er machte eine gedankenvolle Pause. „Das Leben geht seltsame Wege, Melissa.“
„In der Tat…“ bemerkte sie leise.
Als hätten sie sich abgesprochen, wandten sich die beiden synchron zu der kleinen Dachfeier um, und beobachteten wie durch einen unsichtbaren Vorhang das Treiben, das fernab von ihnen stattzufinden schien.
Mister Knox wandte sich ihr wieder zu, und Melissa wußte, sie würde diesen Blick nie vergessen, als er sagte: „Es hat sehr gut getan, mit Ihnen darüber zu sprechen, Melissa. Es gibt wenige, mit denen ich es könnte; und so seltsam es klingen mag, wohl kaum mit jemandem von meinem Stand. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit.“
Melissa atmete innerlich durch. Ihr war bewußt, was er ihr gerade für ein Vertrauen entgegenbrachte, nicht zuletzt, da er wußte, daß sie zur Presse gehörte. Sie wußte um ihre Verantwortung, und ebenso wußte sie, daß das Gespräch nun beendet war. Sie schenkte dem Hausherren ein Lächeln. „Das ist gern geschehen.“
Der Alligator schenkte ihr das Lächeln zurück, und Melissa ließ ihn wieder in seinen Gedanken allein.
Die Raccoon trat zwei Schritte zurück in die Gesellschaft und wurde umgehend wieder von der Musik und dem Trubel der Hauptszenerie eingefangen. Noch immer stand der Alligator in seinem eigenen Bild fernab der Party an der Brüstung des Daches und schaute über das Land. Sie sah sich noch einmal mit einem Schmunzeln zu ihm um, und mit einem eigentümlich wohligen Gefühl dankte sie ihm still, daß sie für ein paar Minuten Teil seiner Gedanken hatte sein dürfen. Doch jetzt trat die Feier wieder in den Vordergrund und forderte sie auf eine andere Art und Weise.
Ralph kam aufgeregt zu ihr herüber. „Melissa, das wird ein Knüllerbericht! Sneer plant neue Geschäfte mit Mammoth, Ingrid Bellamour soll die Hauptrolle in Barnes neuem Film bekommen, der nach einem Stück von Edward Miller gedreht wird, und Lady Penelope Benjos organisiert gerade eine große Benefizveranstaltung für das Kinderheim. Wenn das keine Neuigkeiten sind! – Und, hast du auch etwas Interessantes herausgefunden?“
Die Fotografin lächelte. „Nichts, was in unseren Zeitungsartikel gehört.“
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