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~ Without Home ~

von JessyMaxx
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P16 / Gen
Gunther Rocky Blue
30.06.2014
29.07.2014
5
6.395
 
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3 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
 
30.06.2014 1.666
 
Ich bin zurück. Und mittlerweile 16 Jahre alt. Ich denke, kaum jemand von meinen damaligen Lesern ist hier noch aktiv. Aber um mich kennenzulernen, kann ich sagen, dass ich damals vor drei Jahren anfing, meine Geschichten hier zu veröffentlichen. Und jetzt bin ich zurück, um mein Versprechen einzuhalten, eine Fortsetzung zu ~Without Words~ zu schreiben. Viel Spaß beim Lesen des ersten Kapitels!

~~~


Früher konnte ich es nie nachvollziehen, wie es sein muss, ein Waisenkind zu sein. Es erfährt niemals, wie es ist, von den eigenen Eltern Liebe, Geborgenheit und Sicherheit zu bekommen, Tag für Tag und egal wie viele Fehler man begehst, diese Liebe hört niemals auf. Niemals und sie kommen abends immer in dein Kinderzimmer, nach jedem noch so schlimmen Streit und umarmen dich, sagen dir wie wichtig du für sie seiest. Und egal was für Beleidigungen man ihnen an den Kopf wirft, wie sehr man Hass auf sie empfindest, sie bieten einem immer ihre Anwesenheit an, sie wollen immer für dich da sein. Sie lieben dich mehr als alles andere, würden für dich kämpfen, für dich töten, für dich sterben.
Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt. Wenn niemand mehr hinter dir steht, dir keiner auf die Schulter klopft und sagt, es wird alles wieder gut. Jetzt weiß ich, dass ich niemals wieder diese Liebe und Sicherheit spüren werde.

Ich sitze im Wartezimmer des gleichen Krankenhauses, in dem auch meine Mutter ihre letzten Minuten verbrachte. Die gleichen Ärzte und Krankenschwestern huschen durch die Gänge wie damals, vor einigen Monaten. Sie murmeln alle irgendwelche Medikamentennamen, tragen Namen auf einem Zettel ein und bringen Tabletts mit kleinen dampfenden Suppenschüsseln zu den Patienten. Mein Dad ist einer von vielen, deren Körper an diesem Ort mit fremder Hilfe um sein Leben kämpft, dessen Herz niemals freiwillig Aufgeben mag. Auch wenn es sein Kopf schon getan hat. Auch wenn er bereits mit dem Leben abschließen will, sein Herz kämpft und kämpft mit jedem Schlag, welcher neues Blut durch seine Glieder pumpt.
Ich weiß, dass er nun liebend gerne sein Herz steuern möchte. Seinem Herz sagen, dass es nun aufhören darf, dass alles zwecklos ist. Aber niemand hört auf ihn. Weil sie alle denken, er sei verrückt, sein Leben beenden zu wollen. Sie verstehen ihn alle nicht. Ich verstehe ihn, ich weiß wie es ist, wenn man jeden einzelnen Herzschlag spüren kann und nach jedem dieser Schläge hofft, es war endlich der Letzte. Aber irgendwann wird einem dieses Hoffen Leid. Aus dem Hoffen soll endlich ein fester Entschluss werden und du nimmst diese Angelegenheit selbst in die Hand. Es gibt so viele Möglichkeiten. Egal welche du wählst, sie wird das Schlagen zum Stoppen bringen und deinem Herz endgültig klar machen, dass all seine Schläge die es in deinem Leben gemacht hat, jede Energie die es dir gegeben hat, alles schlussendlich nutzlos und ein Fehler war, weil es ja doch nichts gebracht hatte. Man wird geboren, jung, frisch, neu, ohne Charakter, mit einer so ereignisreichen Zukunft. Und sobald man geboren wird. Sobald man geboren wird, fängt man an zu sterben. Manche früher und manche später.
Und manche wollen diesen Schritt aus der Welt selbst kontrollieren können. Sie haben keine Angst. Du hast keine Angst. Keine Angst vor dem Tod, weshalb auch? Du hast keine Angst, mit dem Weg des Todes aus deinen Problemen zu flüchten, deine Sorgen zu vergessen und in das Reich der Gelassenheit zu tauchen. Du hast keine Angst ins Paradies zu gehen, oder?
Ich nicht. Ich habe keine Angst davor. Mein Dad auch nicht. Meine Mutter aber...

"Rocky, ist alles okay?"

Ich löse meinen starren Blick von der silbernen Uhr mir gegenüber und sehe zu Gunther. Der blonde Junge, der seit einer Woche eine wichtige Rolle in meinem Leben spielt. Ein weiteres Gewicht auf meiner Leben-und-Tod-Waage. Er hat sich auf der "Leben"-Seite hinabgelassen und will mir den Weg in die friedliche Freiheit noch schwerer machen. Mein Vater hat keine einzige Last, die ihn von dem Tod wegdrängen kann. Seine Familie ist endgültig zerbrochen. Seine Arbeitskollegen mögen ihn nur, sobald der Chef in der Nähe ist. Und seine Hobbies hat er alle aufgegeben. Ich wünschte, ich wäre an seiner Stelle. Hätte nicht meinen Rotschopf und den glitzernden Jungen an mir kleben. Dass sie endlich das Seil loslassen würden, welches mich an das Leben bindet. Wieso tun sie das eigentlich? Es gibt an mir nichts mehr, weshalb man mich lieben könnte. Auch nicht die Hoffnung auf die alte Rocky. Es gibt sie nicht mehr. Sie hat sich verkrochen, ist abgehauen und hat die jetzige Rocky mit all den Problemen im Stich gelassen. Und sie wird nie wieder aus ihrem Versteck herauskommen, weil sich auch die Probleme nicht wieder verziehen werden. Sie werden auf ewig da bleiben und Rocky terrorisieren. Weil diese Probleme die einzigen sind, die Rocky in ihrem Wunsch unterstützen. Sie feuern sie an, treiben sie dazu endlich aus dieser widerlichen Welt zu gehen. Und wenn Rocky dann nicht auf sie hört, weil ihre letzten verbleibenden Freunde auf sie einreden, dann suchen sich die Probleme neue Verbündete, es werden Katastrophen. Und Rocky kapiert es immer noch nicht. Immer noch hört sie auf ihre Freunde, obwohl diese ihr so viele Lügen auftischen." Es wird alles wieder gut. Rocky, du schaffst das. ". Das alles sagen sie, ohne die Unwahrheit dahinter zu erkennen. Sie müssen lernen, aufzugeben. Endlich einzusehen, dass Rocky nur eine Lösung akzeptiert. Und nur diese eine Lösung will.

"Rocky Blue, du kannst jetzt eintreten ", kommt eine dieser dauergrinsenden Krankenschwestern auf mich zu.

Obwohl ich sie zum ersten Mal sehe, weiß ich, wie gerne sie mich mit ' Ach Liebes, es wird alles wieder gut! ' vollträllern möchte. Sie arbeitet wohl noch nicht lange hier, denn würde sie, wüsste sie, wie sehr alles nicht wieder gut wird. Menschenkenntnisse und ein paar Erfahrungen reichen aus um zu wissen, dass einige Suizidgefährdete mehr als nur einen Versuch aus dieser Welt ausüben. Meinem Dad traue ich das zu. Und ich selbst warte nur noch auf den Moment, in dem ich wieder auf dem Dach stehen werde.

Ich nicke und erhebe mich von dem unbequemen Stuhl auf dem schon tausende andere Menschen auf ihren allerliebsten Freund, Verwandten, Bekannten gewartet hatten. Mein Dad ist für dieses Krankenhaus auch nur ein Patient, den sie schnellstmöglich heilen wollen, damit sein Bett für den Nächsten frei werden kann und unsere lieben Ärzte ihr Geld einkassieren können.

"Hier entlang bitte. Er ist nicht wach und muss künstlich beatmet werden. Aber er wird wohl in den nächsten Tagen wieder bei Bewusstsein sein", erklärt sie weiter und hält mir eine Tür zu einem Zimmer offen.

Ich nicke und trete langsam hinein. Sie schaut mir kurz nach und schließt dann die Tür. Ich soll wohl eine Möglichkeit bekommen, mit meinem Dad alleine zu sein. Und was bringt mir diese Zeit? Außer, dass ich meine Entschuldigungen vor mich hin flüstere und er mir nicht mal zuhört, weil er schläft?!

Dennoch verweigere ich diesen kleinen Besuch nicht. Er soll ruhig meine Anwesenheit spüren, merken, dass er jemandem weh getan hat. Obwohl es ja gar nicht stimmt. Er hat mir kein Stück wehgetan. Ob er hier unten auf der Erde wie ein Toter verweilt oder gleich verschwindet. Es tut mir nicht weh.

Es tut weh. Es tut so weh. Ich habe meine Mutter verloren und meinen Vater nun auch. Ich habe meine Eltern verloren. Ich habe beide an einem einzigen Tag verloren und niemand kann sie mir wiedergeben. Niemand kann mir meine Familie wiedergeben. Ich setze mich auf den einfachen weißen Stuhl neben das Bett meines Vaters. Lauter Geräte stehen um ihn herum und an seinem Mund ist ein komischen Beatmungsmaskenteil. Ich weiß, dass er sich wünscht, ich würde die Geräte abschalten, die Atemhilfe stoppen und ihn gehen lassen. Aber dann würde ich ihm einen Gefallen tun. Und das mache ich nicht. Weil er mir weh getan hat.

" Du hast mich geschlagen, Daddy..", flüstere ich und schaue zu seinen geschlossenen Augen.

Es regt sich etwas. Er hört mich tatsächlich. Er weiß, dass ich hier bin. Er weiß, dass ich gesprochen habe. Dass sich seine Schläge so sehr in meine Erinnerung und meine Seele gefressen haben, dass ich meine Stummheit überwinden kann. Dass sie in den Hintergrund gerückt ist und seine Tat das Schlimmste in meiner aktuellen Situation ist.
Ich werde nicht mehr vergessen können. Bis zu meinem Tode, egal wann dieser ist, werde ich den Moment in Erinnerung haben, in dem er seine Hand mit Zorn gegen mein Gesicht anwendete. In dem er vergisst, wer ich bin. Die Situation, in der ich nicht mehr seine Tochter bin. Nur noch die Schuldige für all seine Probleme, seine Feindin.

" Ich bin an Allem schuld ", sage ich ohne Betonung.

Ich weiß ganz genau, wie sehr ihn meine Worte treffen. Er kann die Bedeutung jedes einzelnen Buchstabens genau identifizieren. Es sind seine eigenen Worte, die ich wiederholt habe. Ich habe ihm gezeigt, dass ich seine Gedanken kenne. Und jetzt kann er es nicht mehr leugnen. Laut ihm bin ich schuld, schuld, dass er sich das Leben nehmen will.
Ich schaue noch immer zu ihm, zu seinen Augen, wie sie sich unter dem Lid umher wälzen und mir eine Geschichte erzählen wollen. Wie sie mich vollquatschen, mich anschreien. Mich beschuldigen.

Eine Träne entweicht aus seinen geschlossenen Augen. Da wird wohl jemand nicht mit den Tatsachen fertig.
Ich aber auch nicht. Sein Anblick ist für mein Gehirn einfach zu akzeptieren. ' Dein Vater liegt nach einem Selbstmordversuch im Krankenhaus' signalisiert es mir. Aber mein Herz verarbeitet den ganzen Hintergrund noch einmal, durchgeht alle Gründe für diese Situation. Mein Gehirn sieht, mein Herz erklärt. Ich breche zusammen, in Tränen, in Schuld, in Erkenntnis.
Hätte ich damals nicht geworfen, wäre meine Familie noch immer glücklich gewesen.

~~~

Ich würde mich sehr freuen, wenn ich eine Mail oder ein Review von jemandem erhalte, der ~Without Words~ damals auch schon gelesen hat! Auch von anderen Lesern ist Kritik oder Lob selbstverständlich erwünscht ;)

Liebe Grüße, JessyMaxx
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