Taken By Surprise
von - Leela -
Kurzbeschreibung
Auf einer Plakette am Schulhaus im immergrünen Wald steht: “We don't meet people by accident. They are meant to cross our path for a reason.” Wie wahr dieses Zitat ist, von dem niemand mehr weiß, von wem es stammt, stellt Ralph heute am eigenen Leibe fest…
GeschichteFamilie, Schmerz/Trost / P12 / Gen
Annie Ringtail
Bentley Raccoon
Bert Raccoon
Melissa Raccoon
Ralph Raccoon
09.06.2014
09.06.2014
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5.742
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09.06.2014
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Diese Geschichte wurde für den Wettbewerb »Begegnungen - Zufall oder Schicksal« von Thenaar eingereicht.
Hinweis: Ich richte mich nach der alten Rechtschreibung.
Und nun wünsche ich eine angenehme Lesezeit. ^^
„Sagt mal, kann es sein, daß Bentley sich jedes Mal mehr darüber freut, wenn wir ihn von der Schule abholen, als wenn seine Eltern es tun?“ fragte Melissa, als sie mit Ralph und Bert auf dem Weg zum Schulhaus war.
„Ich habe manchmal den Eindruck, er freut sich sogar mehr darüber, als wenn er allein nach Hause gehen würde, wie gewöhnlich!“ sinnierte Ralph.
„Natürlich freut er sich darüber!“ erklärte Bert. „Wenn wir ihn abholen, dann bedeutet das Abenteuer, Spaß und Spiel!“
„Naja, heute holen wir ihn nur ab, weil George und Nicole heute abend nicht da sind, und jemand auf ihn aufpassen muß.“ brachte Ralph trocken ein. „Es geht nur darum, daß er bei uns Mittag ißt, seine Hausaufgaben macht und früh ins Bett kommt, weil morgen wieder Schule ist! Ich weiß nicht, ob das wirklich so viel mit Abenteuer zu tun hat.“
„Ja, aber das mit dem Spiel ist nicht aus der Luft gegriffen!“ sinnierte Melissa. „Wir könnten heute abend wirklich etwas zusammen spielen!“
„Ja!“ stimmte Bert mit ein. „Das ist eine phantastische Idee!“
„Okay, ihr habt mich überzeugt!“ seufzte Ralph. „Wenn Bert mitspielt, dann wird es ein Abenteuer!“
Melissa konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Aber sie konnte ihren Mann verstehen. Bert hatte sich seit ihrer Schulzeit kaum verändert, und seit er bei dem Pärchen zur Untermiete wohnte, verging kein Tag, ohne daß etwas aufregendes passierte. Mittlerweile kam schon das Schulhaus in Sicht. Die Raccoonfrau kuschelte sich auf ihrem Weg zu dem kleinen Gebäude an Ralphs Seite. „Das war eine wundervolle Idee von dir, das mit einem gemeinsamen Spaziergang zu verbinden.“
Er legte den Arm um sie und bekundete tiefgründig: „Du glaubst doch wohl nicht, daß ich Bert und Bentley allein lassen würde, wenn ich die Verantwortung für den Bengel trage!“
Die Fotografin lachte. „Ja, auf ein Kind zu achten ist schon sehr anspruchsvoll. Ich muß ehrlich sagen, ich bewundere deinen Bruder, wie gut er das alles hinkriegt.“
„Wahrscheinlich ist er aber ganz froh, daß er heute abend mal Ruhe hat!“ lachte Ralph.
Von der Ferne beobachteten sie die ersten Kinder, die nach dem Schulschluß aus dem Gebäude in die verschiedensten Richtungen ihrem Zuhause entgegenströmten.
„Das wird sich wohl auch nie ändern. Sobald die Schulglocke ertönt, ist die Schule wie leergefegt.“ schmunzelte Ralph.
„Es sei denn, man muß nachsitzen.“ meinte Bert wie in einer Erinnerung.
„Oder man ist so wie Bentley…“ sinnierte Melissa.
„Ja. Hoffentlich kommt Bentley heute schneller vom Computer los!“ bemerkte Bert mit einem Hauch von Mißmut in der Stimme, der auf gewisse Erfahrungswerte schließen ließ.
„Du weißt doch, wie Bentley ist, Bert!“ erinnerte Ralph. „Wenn es um Computer geht, braucht nur jemand zu erwähnen, daß er Hilfe braucht, und schon vergißt er die Zeit.“
„Das ist ja das schlimme.“ kommentierte Bert.
„Aber es ist schön, daß er seinen Mitschülern immer ganz selbstlos hilft!“ wandte Melissa ein. „Daher sollten wir es ihm nicht auch noch verleiden, sondern lieber anerkennen.“
„Okay, da hast du Recht!“ lenkte Bert ein.
Als die drei Raccoons auf das Schulhaus zukamen, sahen sie schon die letzten Kinder in den wohlverdienten Nachmittag radeln. Alles war ruhig, von Bentley fehlte jede Spur. Die drei Freunde wechselten einen vielsagenden Blick. Forschend sahen sie zum Eingang hoch, und Bert lief ein kleines Stück vor. Das Pärchen folgte ihrem Kameraden in dem roten Pullover die Treppe hinauf.
Als sie näher kamen, konnten sie bereits Bentleys Stimme durch die offene Tür des Schulhauses hören: „Nein, das geht viel einfacher! Du brauchst keine Leerschritte zu machen, wenn du einen Zwischenraum haben willst. Wir sind hier doch nicht auf einer Schreibmaschine! Komm, ich zeig’s dir noch mal.“
„Laßt uns mal ein bißchen Präsenz zeigen, dann geht es vielleicht schneller!“ schmunzelte Ralph.
Die drei gingen gemächlich die letzten Stufen hoch, und Ralph und Melissa wollten schon in den Klassenraum gehen, als Bert plötzlich innehielt und den Redakteur, der näher bei ihm stand, beim Arm faßte. Als Ralph sich zu ihm umwandte, ging der Blick seines Freundes über das Geländer der Treppe hinweg auf den Schulhof. Der Raccoon mit dem weißen Schal stutzte, und als er automatisch dem ernsten Blick seines Kameraden folgte, bemerkte er ein Raccoonmädchen, das niedergeschlagen ein Stück von den Spielgeräten entfernt auf einem Baumstamm saß und starr vor sich hinsah. Die beiden Männer wechselten einen Blick, der Worte erübrigte. „Geh’ du schon rein, ich komme gleich nach.“ sagte Ralph. Bert nickte, und so trennten sich vorerst ihre Wege; während Bert Melissa folgte, huschte Ralph zum Schulhof herüber, wo das Mädchen einsam und unbeachtet saß.
Sie schien ihn nicht einmal zu registrieren, als er vorsichtig forschend zu ihr herüberging, oder sie beachtete ihn schlichtweg nicht; selbst, als er direkt vor ihr stand. Er musterte sie kurz besorgt. Er kannte sie flüchtig; sie war eine Klassenkameradin von Bentley, und manchmal unternahmen die beiden etwas zusammen. Eigentlich hatte er sie als ein lebensfrohes Energiebündel in Erinnerung. Nie hatte er sie so niedergeschlagen erlebt. Was mochte gerade in dem jungen Mädchen vorgehen…? „Darf ich dir Gesellschaft leisten?“ fragte er sie mit einer aufmunternden Herzlichkeit in der Stimme.
„Meinetwegen.“ erwiderte sie unverbindlich.
Er kniete sich vor ihr hin und lächelte sie an. „Wie heißt du denn? Ich bin Ralph!“
„Annie.“ brachte sie knapp hervor und wich seinem Blick aus.
Ihre schwermütige Stimmung schlug ihm ebenfalls auf das Gemüt. Doch vielleicht, so hoffte er, gelang es ihm, sie ein wenig aufzuheitern, bevor er sich mit Bert, Melissa und Bentley auf den Heimweg machte. Er legte bewußt einen zuversichtlichen Tonfall in seine Stimme, als er sagte: „Weißt du, Annie, es gibt kein Problem, das man nicht lösen kann. Willst du mir erzählen, was dich bedrückt, und dann schauen wir mal gemeinsam, ob wir etwas gegen deine Sorgen machen können?“
Annie starrte versunken vor sich hin, und Ralph dachte schon, sie wolle gar nicht mehr darauf reagieren, doch dann sagte sie: „Mein Problem kann wohl niemand lösen.“
„Sag’ doch so etwas nicht.“ erwiderte Ralph beruhigend. „Laß es mich doch wenigstens versuchen! Wenn du mir keine Chance gibst, dann kann ich dir nicht das Gegenteil beweisen, nicht wahr?“
Das Mädchen schwieg noch einen Augenblick, in dem sie förmlich durch ihn hindurch sah. Dann sah sie Ralph an, und ihr Blick traf ihn wie ein Schwerthieb mitten ins Herz. „Wenn man keine Eltern mehr hat, kann man sich dann neue aussuchen?“
Ralph entglitten die Gesichtszüge. Dies kam so unvorbereitet, daß er den Schock erst einmal verarbeiten mußte. Er wußte gar nicht, was er darauf sagen sollte; in dem Moment brach sie aber auch schon in Tränen aus. Der Chefredakteur der »immergrünen Zeitung« spürte, wie ihm das seelische Fundament unter den Füßen wegbrach. In diesem Augenblick dachte er nicht mehr nach, sondern handelte nur nach seinem Gefühl und nahm sie ohne Worte in die Arme. Tröstend, fast schon beschützend, drückte er sie leicht an sich, während er darum kämpfte, selbst die Fassung zu bewahren. Das kleine Raccoonmädchen klammerte sich an ihm fest, als wäre er ihr einziger Halt und schluchzte nun bitter, als hätte er ihr erst die Legitimation dazu gegeben, ihre Gefühle herauszulassen. Ralph spürte, wie sich eiserne Schlingen um sein Herz zusammenzogen. „Was ist nur passiert, Annie…?“ fragte er leise, im Grunde rhetorisch, ohne eine Antwort damit herauszufordern, obwohl es nichts gab, was ihn im Augenblick brennender interessiert hätte. Ihm war allerdings bewußt, daß er die Frage nicht so schnell würde aufklären können, wie er gerne gewollt hätte. Annie war augenblicklich gar nicht in der Lage dazu, darüber zu reden; sie brachte es zwischen dem Schluchzen knapp fertig zu atmen. Er besann sich darauf, für sie da zu sein und hoffte, daß seine Nähe ihr ein wenig guttat, während er selbst ohnmächtig die Augen schloß. Wie konnte es sein, daß sie gerade ihre Eltern verloren hatte, und niemand kümmerte sich um sie?
Es dauerte eine ganze Weile, bis das Mädchen sich einigermaßen wieder fing, auch wenn sie die schutzsuchende Haltung in seinen Armen nicht aufgab. In Ralphs Bewußtsein drehten sich die Gedanken im Chaos. Immerhin, auch wenn sie sich schon mal begegnet waren, er war für sie praktisch ein Fremder! Und doch hatte er das Gefühl, als wäre er gerade ihre einzige Zuflucht… Welches gütige Schicksal hatte ihn nur gerade jetzt mit Annie zusammengeführt?
Als es die Situation zuließ und sie in bißchen ruhiger wurde, gab er die kniende Position vor ihr auf, um sich neben sie auf den Baumstamm zu setzen, immer noch die Arme schützend um sie gelegt. Das Mädchen zitterte leicht, als es sich kraftlos an ihn lehnte. „Kannst du darüber reden? Oder lieber nicht?“ fragte er sanft.
Annie beruhigte sich nur langsam wieder. Nach ein paar Minuten antwortete sie stockend. „Meine Eltern… sind vor ein paar Wochen gestorben.“ erzählte sie schluchzend. „Es war dieser blöde Autounfall.“
Als sie das sagte, schossen plötzlich Erinnerungsbilder durch Ralphs Bewußtsein, die ihm den Atem nahmen. Er erinnerte sich an einen Autounfall! Er und Melissa hatten darüber im »Immergrünen Standard« berichtet. Ein anderer Fahrer hatte das Auto der Raccoonfamilie übersehen; es hatte einen Frontalcrash gegeben. Das Pärchen aus dem einen Wagen war dabei tödlich verunglückt; der Fahrer des anderen Fahrzeuges war mit einem Schock davongekommen. Sie konnte nur diesen Unfall meinen.
Es war einer der schlimmsten Unfälle gewesen, den der Redakteur und die Fotografin je in ihrer Laufbahn erlebt hatten. Er hatte Melissa noch nie so geschockt erlebt, wenn sie für die Zeitung die Fotos machen sollte, als zu dem Zeitpunkt, an dem sie am Ort des Geschehens angekommen waren. Er selbst war wie paralysiert gewesen, obwohl er sich bis dahin eingeredet hatte, daß ihn nichts würde in seinen Grundfesten erschüttern können. Sie waren beide minutenlang unfähig gewesen zu reagieren und das Bild vor sich zu verarbeiten. Es war ein Segen gewesen, daß die Tochter des Pärchens bei dem Unfall nicht dabei gewesen war.
All die Bilder und Eindrücke, die er bereits in einen hinteren Winkel seines Selbst verbannt hatte, waren auf einmal wieder so präsent, als wäre es gerade erst passiert. Er erinnerte sich sogar noch an die Todesanzeige, die sie abgedruckt hatten: »Audray und Kostja Ringtail«. Schmerzlich wurde ihm bewußt, wie sehr Annie ihn auf den Prüfstand gestellt hatte, anstatt umgekehrt. Dies war kein Kummer über eine schlechte Note oder weil sie sich mit einem Freund gestritten hatte. Ihr konnte er tatsächlich nicht helfen. Nicht mehr jedenfalls als mit dem, was er gerade tat, und er wußte, das war wenig im Vergleich zu dem, was sie wirklich gebraucht hätte.
„Wer kümmert sich denn jetzt um dich?“ erkundigte er sich weiter. Er mochte sie kaum allein lassen, es wunderte ihn allerdings auch ein bißchen, daß sie in diesem Zustand allein hier saß, ohne daß jemand für sie da war.
„Meine Tante und mein Onkel.“ sagte sie, noch immer mit tränenerstickter Stimme.
„Willst du denn gar nicht zu ihnen nach Hause gehen? Sicher machen sie sich schon Sorgen um dich!“ bemerkte er sanft.
Annie verzog mißmutig den Mund. „Schön wär’s.“ Auf Ralphs verdutzten Blick hin, den sie aus ihrer Position in seinen Armen nicht einmal bemerkte, erklärte sie mutlos: „Seit das passiert ist, dulden sie mich in ihrem Haus. Aber sie wollen mich nicht.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen…“ entfuhr es Ralph verblüfft.
„Es ist aber so.“ erwiderte sie verzagt. Ihr Blick ging in die Leere, als sie fast tonlos erklärte: „Ich soll in ein Heim. Es interessiert die gar nicht, was ich mache oder wie es mir geht. Sie wollen nur, daß ich schnell wieder aus dem Haus verschwinde.“ Sie atmete zitternd durch. „Wahrscheinlich komme ich in ein Heim weit weg von hier. Ich will aber nicht von hier weg. Meine Freunde sind doch das einzige, was mir noch geblieben ist.“ Sie fing erneut leise an zu weinen. „Ich will nur raus aus dem Haus.“ Sie vergrub sich wieder in Ralphs Fell, und ihr brach die Stimme weg, als sie ergänzte: „Ich fühle mich da nicht wohl…“
Ralph spürte, wie sich alles in ihm verkrampfte. Wie konnte jemand nur so herzlos sein? Er gab für sich zu, daß er nicht viel über das kleine Mädchen wußte, das sich gerade in seinen Armen die Seele aus dem Leib weinte; wenn er aber eines wußte, dann, daß dieses süße, liebenswerte Mädchen alles andere verdient hatte als Ablehnung. Er erinnerte sich daran, daß er Annie ab und zu mal gesehen hatte, ohne sie näher zu kennen; sei es unter den Zuschauern bei einem Sportwettbewerb, am Bahnhof, als dort der große Zauberer Tromboni erwartet worden war, oder bei einem Sommerfest, bei dem das kleine Mädchen ihm sogar einmal unwillkürlich zum Verhängnis geworden war, ohne es zu wissen. Wo auch immer er ihr begegnet war, sie hatte mit ihrer Lebensfreude ein bißchen Sonne ins Geschehen gebracht. Diese Neuigkeiten trafen ihn wie einen gezielten Faustschlag in die Magengegend. Wie konnte man das süße kleine Mädchen nicht haben wollen?
Er überlegte verzweifelt, was er tun konnte, um ihr zumindest ein bißchen zu helfen, wußte aber auch, daß seine Möglichkeiten begrenzt waren. Nur eines fiel ihm spontan ein. „Wenn du möchtest, dann kannst du nach der Schule auch mal mit Bentley zu uns kommen. Oder wenn Bentley keine Zeit hat, dann kommst du uns allein besuchen!“
Es dauerte sichtlich, bis sie seine Worte verarbeitet hatte. „Wirklich?“ fragte sie ungläubig.
„Natürlich!“ sagte er mit einem Lächeln, von dem er hoffte, daß sie nicht merken würde, wie sehr er sich gerade dazu durchringen mußte.
Sie brachte selbst ein Lächeln zustande, von dem er allerdings sehr wohl bemerkte, daß es gerade mit ihrem diffusen Gefühlsleben kollidierte. „Mal sehen, wieviel Zeit mir noch dafür bleibt. Sie versuchen ja schon die ganze Zeit, einen Platz für mich im Heim zu kriegen.“ erwiderte sie in sich gekehrt.
„Noch ist es aber nicht soweit.“ versuchte er, sie zu beruhigen. „Und so lange versuche einfach, das Beste daraus zu machen, was geht.“
Sie nickte leicht. „Und… ich darf wirklich… einfach so… zu Ihnen kommen?“ fragte sie, als wäre das das erste, was sie mit seiner Aussage verknüpfte.
Ralph konnte nicht anders, ihn schauderte ein wenig. Immerhin kannte sie ihn ja kaum. Auch wenn er bereits gemerkt hatte, daß sie sich offensichtlich bei ihm gut aufgehoben fühlte, schien es ihm fast so, als würde sie sich nicht zuletzt an jeden Strohhalm klammern, um aus dem Haus ihrer Tante fliehen zu können. „Ja, sicher.“ sagte er noch einmal deutlich zu. „Und du brauchst mich nicht so förmlich anzureden. Ich bin einfach Ralph, okay?“ Er registrierte selbst unwillkürlich, wie sanft seine Stimme geklungen hatte, als er sie darauf hinwies. „Tu mir nur einen Gefallen, und sag’ deiner Tante und deinem Onkel immer, wohin du gehst.“ fügte er ernst an. „Das ist nur fair. In Ordnung?“
„In Ordnung. Es wird sie sowieso nicht interessieren. Aber ich mach’s.“ versprach sie.
Ralph nahm es beruhigt zur Kenntnis. „Frag’ Bentley einfach mal, ob er nach der Schule mit dir zu uns kommen mag. Und dann schauen wir mal weiter. Was meinst du?“
Sie nickte, und konnte tatsächlich ein kleines glückliches Lächeln nicht vermeiden, als hätte er ihr gerade den Ausweg aus einer Hölle angeboten.
‚Vermutlich habe ich das sogar.’ schoß es ihm durch den Sinn.
Das Lächeln in ihrer Miene verschwand jedoch so schnell, wie es gekommen war. „Ich muß jetzt gehen. Ich muß noch Hausaufgaben machen…“
Er sah sie besorgt an. „Schaffst du es denn allein?“
Sie nickte lediglich. „Geht ja nicht anders.“
Ralph schwieg bedrückt. Er wußte, es bedeutete, daß es Zeit für sie wurde, sich zu verabschieden. Er hatte ein dumpfes Gefühl in der Magengegend, als sie aufstanden, doch ihm war klar, daß er im Augenblick nichts dagegen unternehmen konnte. Wenn sie auch nur ein bißchen übertrieben hatte, so führte er sich vor Augen, dann war es nicht unmöglich, daß sich ihre neue Familie gerade Sorgen um sie machte – und er wußte, dem gegenüber hatten seine eigenen Gefühle gerade Nachrang. „Dann wünsche ich dir alles Gute, und viel Kraft.“ sagte er, bevor sich ihre Wege trennten.
Sie ließ sich ein kleines gequältes Lächeln vernehmen. „Danke. Darin habe ich schon Übung.“ Schließlich atmete sie noch einmal durch und machte sich auf den Heimweg.
Er sah ihr beklommen nach, als sie den Weg hinunterging.
Sie hatte jedoch erst ein paar Meter hinter sich gebracht, als sie plötzlich anhielt, sich zu ihm umdrehte und nochmals auf ihn zurannte, um die Arme um ihn zu schlingen und sich noch einmal in sein Fell zu drücken. „Danke für alles!“ brachte sie gehaucht und von ehrlicher, tiefer Dankbarkeit hervor. Er wußte so schnell gar nicht, was er sagen sollte, doch da löste sie sich auch schon aus seinem Fell, schenkte ihm ein Lächeln, und lief endgültig den Weg hinunter.
Er sah ihr noch atemlos nach, hatte er mit solch einer Reaktion nun überhaupt nicht gerechnet, und spürte, wie er die Arme um den Körper schlang, als würde er frieren. Was in den letzten Minuten hier passiert war, hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Nie hätte er vermutet, daß der Tag so enden würde…
Als Bert und Melissa mit Bentley nach einer schier endlosen Computernachhilfestunde endlich aus dem Schulgebäude kamen, sahen sie Ralph in sich versunken dort sitzen, wo zuvor Annie gesessen hatte. Fast mutete es so an, als hätte das Bild als solches sich nicht geändert; nur der Raccoon hatte gewechselt. Verwundert gingen sie zu ihm herüber.
„Ralph, ist alles in Ordnung?“ fragte Melissa, als sie sich an seine Seite setzte. Ihre Hoffnung, sie würde ihn durch ihre Worte lediglich aus seinen Gedanken wecken, zerschlug sich, als er statt dessen das Gesicht in den Pfoten vergrub. „Ralph, was ist passiert?“ entfuhr es ihr alarmiert, während sie näher zu ihm rückte und ihn sachte in ihre Arme zog.
Er ließ sich kraftlos gegen ihre Schulter sinken. „Etwas schlimmes, Melissa. Und ich weiß noch nicht, wie ich damit umgehen soll…“ war die präzise und zugleich erschütternde Antwort.
Betroffen wechselten Bert, Melissa und Bentley Blicke.
„Erzähl uns doch erst mal davon. Vielleicht können wir helfen!“ schlug Bert vor.
„Ohne eure Hilfe wird es auch nicht gehen!“ erklärte Ralph, als er erschöpft zu seinen Kameraden aufsah. „Ich habe schon eine vage Idee, aber das funktioniert nur, wenn ihr mich unterstützt.“
„Nun mach es nicht so spannend!“ forderte Melissa unruhig. „Was ist denn nun passiert?“
Er atmete durch und begann zu erzählen: „Ich habe mich eben mit einem Mädchen hier aus der Schule unterhalten. Sie hat ihre Eltern verloren.“
„Oh, das muß Annie Ringtail gewesen sein!“ warf Bentley ein. „Das war eine böse Geschichte. Ihre Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie war zwei Wochen lang nicht in der Schule, als das passiert ist.“
Ralph nickte und sah Melissa an. „Erinnerst du dich noch an den Unfall, über den wir vor ein paar Wochen berichtet haben, nahe den Bergen?“
„Wie könnte ich das vergessen?“ begann Melissa und schnappte nach Luft, als sich das Puzzle in ihrem Kopf zusammensetzte. „Oh nein! Sag’ nicht…“
Ralph nickte erneut. „Das waren Annies Eltern. Aber es kommt noch schlimmer!“
„Wie kann es denn jetzt noch schlimmer kommen?“ hauchte Bert erschüttert.
Der Redakteur wirkte so hilflos, wie ihn seine Freunde nie erlebt hatten. „Sie lebt jetzt bei ihrer Tante und ihrem Onkel. Anscheinend wollen die sie aber nicht haben, sondern in ein Heim abschieben. Sie ist dort schon todunglücklich, und wer weiß, wie es wird, wenn sie erst weggeschickt, und aus ihrer gewohnten Umgebung und ihrem Freundeskreis herausgerissen wird…“
„Annies Tante ist eine richtige High Society-Frau!“ erzählte Bentley, während er sich auf den Boden setzte. „Sie hat mal von ihr erzählt! Ihr Mann ist Firmenchef bei einer großen Automobilfabrik, die zu den Mammoth-Werken gehört. Ein ganz hohes Tier. Wenn sie dort mit ihren Eltern zu Besuch eingeladen war, dann war sie immer richtig angenervt, weil dort alles langweilig war, sie nichts machen durfte und sich keiner um sie gekümmert hat. Seit sie dort eingezogen ist, ist sie ganz anders geworden. So verschlossen. Ich glaube, ich habe sie seitdem nicht ein einziges Mal lächeln gesehen.“
„Na super! Und da soll sie jetzt also leben!“ kommentierte Bert mißmutig.
„Na, das soll sie ja eben nicht!“ sagte Ralph verzweifelt. „Genau das ist ja der Punkt! Oder zumindest ein Punkt in der Reihe von Mißständen. Sie muß gerade dort leben, und bekommt anscheinend die ganze Ablehnung zu spüren. Und die Alternative dazu ist ein Kinderheim, das sonstwo ist.“ Er sah verzagt vor sich auf die Wiese. „Ich weiß nicht, was ein so junges Mädchen verbrochen haben kann, daß das Schicksal ihr so übel mitspielt: Zuerst verliert sie ihre Eltern, dann kommt sie in eine Familie, die sie nicht haben will und wo sie sich nicht wohlfühlt, und dann soll sie auch noch weggeschickt werden, irgendwohin, wo sie nicht einmal mehr ihre Freunde hat.“
„Meinst du denn, daß es wirklich so schlimm bei ihrer Tante ist?“ fragte Melissa vorsichtig.
„Du hast Bentley doch gehört!“ mischte sich Bert ein. „Das reicht doch wohl als Bestätigung!“
„Ja, aber wenn ihre Tante sie jetzt aufgenommen hat, muß das nicht unbedingt heißen, daß sie sich jetzt nicht um sie kümmert.“ argumentierte Melissa. „Ein Besuch ist immerhin etwas anderes, als wenn sie dort richtig lebt. Wer weiß, wie es wirklich abgelaufen ist. Manchmal fassen Kinder Dinge auch nur sehr schlimm auf, gerade, wenn so etwas schreckliches passiert ist. Vielleicht hört sich gerade alles dramatischer an, als es ist!“
„Ich kann es dir nicht mit Bestimmtheit sagen.“ sagte Ralph ehrlich. „Aber so, wie ich sie hier eben erlebt habe, glaube ich nicht daran, daß sie überzogen hat. Wenn es ihr darum ginge, von dort wegzukommen, nur weil sie ihre Tante und ihren Onkel nicht mag, hätte sie sich nicht allein hierher zurückgezogen, um es mit sich abzumachen, sondern hätte sich Wege gesucht, es unter die Leute zu bringen.“ war er sich sicher. „Und die Geschichte mit dem Heim wird sie sich ganz sicher nicht ausgedacht haben. Davon abgesehen, selbst wenn ihre Tante und ihr Onkel nicht so schlimm sind, wie es sich gerade anhört, eins steht außer Frage: Sie fühlt sich dort nicht wohl! Das hat sie gesagt, und das hat mir auch schon ihre Reaktion auf mich gezeigt. Allein, als ich ihr angeboten habe, daß sie uns mal besuchen darf, schien sie so erleichtert. Es kann also nicht nur daran liegen, daß sie ihre Eltern vermißt. Und das allein ist Grund genug, um zu handeln.“
„Ja, aber was willst du jetzt tun?“ fragte Bert hilflos.
Ralph starrte vor sich hin. „Genau das weiß ich noch nicht. Aber wenn sie wirklich in ein Heim kommen soll…“ Er brach hilflos ab und sah zu seinen Freunden auf. „Wenn Annies Geschichte stimmt, dann gibt es nur eine Alternative, so oder so: Wir müssen eine neue Familie für sie finden. Eine, die sie wirklich liebt, und wo sie sich wohlfühlt. Und das am besten hier, in ihrer gewohnten Umgebung.“
„Das ist ein guter Gedanke.“ stimmte Melissa zu. „Jemand von uns sollte mit ihrer Familie darüber reden, dann können wir an einem Strang ziehen. Wenn sie Annie wirklich nicht bei sich haben wollen, kann das ja auch nur in ihrem Sinne sein. Hoffentlich haben wir noch ein bißchen Zeit darüber nachzudenken. Dann können wir uns alle mal Gedanken machen, wie wir das am besten angehen. Vielleicht können wir sogar über einen Zeitungsartikel etwas machen!“ Sie merkte, daß ihr Feedback Ralph bereits sehr beruhigte; allerdings schien es nur die halbe Miete zu sein, denn der Raccoon war so gedankenverloren, wie ihn die Freunde selten erlebt hatten. „Irgend etwas beschäftigt dich doch immer noch!“ erkannte seine Frau.
Ralph atmete tief durch. „Und da sind wir wieder beim Beginn unserer Unterhaltung.“
„Stimmt! Du sagtest, du hättest schon eine Idee!“ erinnerte sich die Fotografin. „Meinst du denn etwas konkretes?“
„Vielleicht. Aber das kann ich nicht allein entscheiden…“ Ralph biß die Zähne leicht zusammen, als traute er sich gar nicht, seine Gedanken anzusprechen.
Melissa musterte ihn forschend. „Nun erzähl‘ schon!“
Der Redakteur sah seine Frau unsicher an. „Sag mal, hast du dir jemals Kinder gewünscht?“
Sie stutzte erstaunt. „Äh, nein…“
Ralph sah demoralisiert vor sich. „Das habe ich befürchtet.“
Melissa ging in Gedanken ein paar Sequenzen zurück und sah ihn verblüfft an. „Du willst sie adoptieren, richtig?“
Sein Blick ging ziellos in die Ferne. „Wenn die Möglichkeit besteht, würde ich es gerne, ja. Es ist erst mal nur so eine Idee. Das würde aber voraussetzen, daß ihr euch auch mit dem Gedanken anfreunden könnt, daß sich dann ganz viel bei uns ändern würde. Deswegen sagte ich ja, die Entscheidung kann ich nicht allein treffen.“
„Wow, meinst du das ernst?“ entfuhr es Bert entgeistert. Ralphs Blick, als er seinen Jugendfreund ansah, sprach für sich, und so beantwortete er sich die Frage selbst: „Okay, du meinst es ernst!“
Melissa brauchte eine Sekunde, um sich zu fassen, dann warf sie vorsichtig ein: „Du bist dir aber darüber bewußt, was das für eine Verantwortung ist, oder?“ Es war nicht die Antwort, die Ralph hatte hören wollen! Das hatte Melissa schon vorher gewußt, und das sahen die Freunde ihm auch deutlich an. Sie zwang ihn mit einer sanften Geste sie anzusehen. „Hey, das war nicht mehr als eine Frage! Das ist ein großer Schritt, von dem du da sprichst. Es würde bedeuten, daß wir die Rolle der Eltern für Annie übernehmen würden, mit allen Konsequenzen!“
„Das ist mir bewußt, Melissa!“ erwiderte er leise. „Glaub‘ mir, ich denke seit einer gefühlten Ewigkeit über nichts anderes mehr nach! Ich weiß, daß es ein großer Schritt wäre, der unser Leben komplett verändern würde. Und genauso weiß ich, daß ich für sie da sein möchte. Wenn mir eines in den letzten Minuten deutlich bewußt geworden ist, dann das!“ Er wich ihrem Blick ein wenig aus. „Das könnte ich aber nur mit dir zusammen angehen…“
Melissa stockte kurz verblüfft der Atem. Sie musterte ihren Mann mit einem faszinierten Lächeln. Er schaffte es nicht einmal, ihr in die Augen zu sehen, als fürchte er sich vor ihrer Antwort. „Du hast die Kleine richtig ins Herz geschlossen, stimmt’s?“
Ralph brauchte kaum etwas zu sagen, das verlegene Lächeln sprach für sich. Dann sah er sie mit einem Ausdruck in den Augen an, der ihr unter die Haut ging. „Ganz ehrlich, Melissa: Wenn ich zu entscheiden hätte, dann würde ich sie bei uns aufnehmen. Sofort.“
Melissa atmete durch. „Das kommt jetzt ein bißchen plötzlich…“ gestand sie. Ihr Tonfall signalisierte zwar schon, daß sie nicht prinzipiell abgeneigt war, aber auch, daß sie sich nicht sicher war, ob sie sich der Verantwortung gewachsen fühlte.
„Ich weiß…“ meinte er, fast ein wenig zerknirscht. „Aber glaub‘ mir, das kam es für mich auch.“ Er sah Melissa gedankenvoll an. „Ich hätte nie vermutet, daß es mich so unvorbereitet erwischen könnte, aber seit die Kleine sich in meinen Armen in Tränen aufgelöst hat, habe ich absolut keinen Zweifel daran, daß wir für sie die Familie sein könnten, die sie braucht. Und warum sollten wir die Herausforderung nicht annehmen? Mal ehrlich, wenn andere Eltern das schaffen, warum sollten wir das nicht? Vor allem, weil wir auf diese Weise einem süßen jungen Mädchen helfen würden, das wirklich ein Zuhause braucht!“
Melissa konnte nicht anders, als liebevoll zu schmunzeln, allein bei seinem flehentlichen Tonfall, der sich gerade in ihre Seele fraß. Sie wußte genau, daß Ralph gerade extra rhetorisch alles gab, um sie zu überzeugen. „Aber ist es nicht ein bißchen verfrüht, sich darum Gedanken zu machen? Wir wissen ja noch gar nicht, ob das überhaupt geht.“ sinnierte sie.
Ralph machte eine hilflose Geste. „Ich weiß nicht, was es jetzt alles für Möglichkeiten gibt. Es gibt wahrscheinlich viele Varianten, in welche Richtung es jetzt gehen könnte. Aber wenn es geht, dann möchte ich zumindest vorbereitet sein, und deswegen muß ich das vorher mit euch klären.“
„Aber wenn Annie sowieso in ein Heim soll, dann bestünde die Möglichkeit für eine Adoption doch, oder?“ sinnierte Bert verständnislos.
„Theoretisch bestimmt, aber das hängt von ganz vielen Faktoren ab, die ich nicht allein bestimmen kann.“ erklärte Ralph verzweifelt. „Die Gesamtumstände, Behörden, Formalitäten, Annies Wohlbefinden, dann eure Meinungen… Ich weiß zum Beispiel auch nicht, ob es noch andere Verwandte gibt, die Vorrang hätten. Ich kenne mich mit der ganzen Thematik ja nicht aus.“ Er machte eine Pause zum Durchatmen, bevor er einlenkte: „Ich will mich auch gar nicht zu sehr darauf verbeißen, daß meine Idee wirklich funktioniert. Es ist nur eine Möglichkeit. Es muß nur eine vernünftige Lösung dabei rauskommen! Darauf kommt es jetzt an. Wenn es einen anderen Weg gibt, dann wäre es auch okay, solange Annie damit glücklich würde.“
Melissa sah Ralph nachdenklich an. Sie wußte, daß ihm das Statement gerade nicht leicht gefallen war, auch wenn er es grundehrlich gemeint hatte. „Und was ist mit deinem Seelenfrieden?“ forschte sie.
„Solange es Annie gutgeht, komme ich schon damit klar.“ erklärte er. So ganz überzeugend kam es für seine Freunde zwar nicht rüber, dafür ergänzte er aber mit ehrlichem Nachdruck: „Das Mädchen hat absoluten Vorrang.“
„Aber du sagtest doch, daß sie dich mag!“ erinnerte sich Bert. Er machte eine umfassende Geste. „Was gäbe es denn für bessere Voraussetzungen?“
Ralph schmunzelte. „Keine! Aber das sagen wir! Ich würde es mir wünschen, ja. Aber davon hängt es nun mal leider nicht allein ab. – Ich weiß nur eines mit Sicherheit: Ich werde dafür kämpfen, daß sie nicht in ein Heim kommt. So viel ist sicher! Wichtig ist erst einmal nur, daß sie ein vernünftiges Zuhause bekommt, wenn nicht bei uns, dann irgendwo anders hier.“
„Aber deine Lieblingsentscheidung wäre, daß Annie zu euch kommt!“ brachte es Bentley auf den Punkt.
Ralph nickte. „Wenn es nach mir geht, ja! Und eins schwöre ich euch, wenn es keinen anderen Weg gibt, und es die einzige Möglichkeit wäre, daß sie zu uns kommt, dann mache ich keine Kompromisse!“
Melissa schauderte unwillkürlich leicht, und sie konnte nicht genau sagen, ob es daran lag, daß sie sich nicht vorstellen mochte, daß es für das Raccoonmädchen kein Zuhause gab, oder daran, daß sie Ralph noch nie so entschlossen erlebt hatte.
Etwas ruhiger fuhr der Redakteur fort: „Ich weiß, ich fordere euch gerade viel ab. Eigentlich möchte ich euch auch noch gar keine Entscheidung abverlangen, aber wenn es wirklich in diese Richtung geht, dann bleibt vielleicht nicht mehr viel Zeit zum überlegen. Deswegen brauche ich eine ehrliche Meinung von euch. Könntet ihr euch denn vorstellen, das mit mir zusammen anzugehen, wenn es notwendig wird?“
Melissa lächelte ihn sanft an, bevor sie seine Pfoten in ihre nahm und sagte: „Natürlich!“
Ralph stand kurz davor, vor Erleichterung in Tränen auszubrechen, als er sie anlächelte.
„Cool, dann wird Annie ja meine Cousine!“ stellte Bentley fest.
„Na, prima, dann wäre das ja schon mal geklärt!“ grinste Melissa. „Noch wissen wir aber gar nicht, ob es so kommt, Bentley. Es ist erst mal nur eine Option!“
„Was machen wir, wenn es nicht geht?“ fragte Bert.
Melissa konnte ein kurzes bitteres Lächeln nicht verhindern. „Dann trösten wir alle gemeinschaftlich Ralph!“ kommentierte sie, und fing praktisch schon damit an, als sie die Arme um ihn legte und ihn sachte zu sich heranzog. Nach einer Pause meinte sie ernst: „Wir kriegen das schon irgendwie hin, oder?“
„Na, sicher tun wir das!“ bestätigte Bert. „Eure Begegnung war kein Zufall, das war Schicksal!“
Ralph lächelte, wenn auch ein bißchen gequält. „Ihr seid phantastisch. Ich hoffe nur, das klappt alles, zumindest so, daß es sich für Annie zum Guten wendet. Ich habe ihr jedenfalls erst mal zugesagt, daß sie uns jederzeit besuchen kann. Vielleicht hat das Mädchen dann erst mal so im Alltag etwas, worauf sie sich freuen kann. Vielleicht magst du sie ja mal zum Spielen einladen, Bentley!“
„Au, fein! Mit Annie ist es immer lustig!“ freute sich der Raccoonjunge.
„Na, damit wäre das ja auch schon geregelt!“ lachte Melissa. „Und der Rest wird sich auch schon fügen!“ ergänzte sie ernster, und mit einem zuversichtlichen Klang in der Stimme, der Ralph Hoffnung geben sollte. Bert nickte zustimmend, und so entrangen sie Ralph sogar ein ehrliches Lächeln. Noch immer hielt die Raccoonfrau ihren Mann sanft umfaßt und fragte leise: „Geht’s dir denn schon etwas besser?“
Ralph nickte leicht und konnte sich sogar ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er darüber nachdachte, daß sie in diesem Szenario fast schon die Rolle für ihn übernommen hatte, die er Minuten zuvor für Annie innegehabt hatte. Und er brauchte sie gerade bestimmt ebenso sehr. Unwillkürlich dachte er an das souveräne kleine Mädchen zurück, als sie sich schließlich allein aus Pflichtbewußtsein von ihm verabschiedet hatte, weil sie Hausaufgaben machen mußte. Obwohl er Melissas Nähe gerade sehr genoß, richtete er sich schweren Herzens auf, wie um ihr in ihrer Stärke in nichts nachzustehen. „Im Augenblick können wir wohl nicht mehr tun als zu schauen, wie sich die Dinge entwickeln. Auf jeden Fall beruhigt es mich, daß ihr hinter mir steht. Eigentlich kann dann doch nichts mehr schiefgehen, oder?“
Die drei Raccoons an seiner Seite merkten deutlich die Unsicherheit aus seiner Stimme heraus, die immer und immer wieder nach einer Bestätigung verlangte; und sie wußten, sie konnten sie ihm nicht ganz nehmen. Selten war ihm etwas so wichtig gewesen, wie dieses Mal, und noch konnte niemand absehen, wie es weitergehen würde. In einem war Melissa sich aber ziemlich sicher. „Wenn wir zusammenhalten und kämpfen, dann bestimmt nicht!“
„Genau!“ pflichtete Bert bei. „Das haben wir doch auch schon in ganz anderen Situationen bewiesen!“
Ralph konnte nicht anders, als bei der positiven Stimmung, die seine Kameraden verbreiteten, zu lachen. „Das stimmt. Und das werden wir dieses mal wieder, oder?“ Dieses Mal klang schon ein wenig mehr Entschlossenheit durch seine Stimme.
„Das ist die richtige Grundeinstellung, Ralphi!“ pflichtete Bert ihm bei. „Wir lassen uns nicht unterkriegen!“
„Wenn Annie zu euch kommt, dann wäre das für sie ein richtiger Glückstreffer!“ bekannte Bentley. „Das wäre schon kriminell, wenn das nicht ginge!“
Ralph und Melissa wechselten ein verlegenes Lächeln. Das deutliche Statement des Jungen hatte gerade sehr gutgetan.
„Siehst du?“ meinte Melissa zuversichtlich. „Es wird schon alles gut werden!“
Ralph nickte, nun schon ein wenig beruhigter.
„Gut. Dann laßt uns jetzt nach Hause gehen.“ schlug Melissa vor.
Die vier Raccoons standen auf und machten sich gemächlich auf den Heimweg. Die Gedanken an Abenteuer, Spiel und Spaß waren aber Nachdenklichkeit, Ernst und Besorgnis gewichen.
Anm. d. Aut.:
- Zu der Szene zu Beginn von Ralphs und Annies Begegnung: Ralph weiß eigentlich, wie sie heißt, das weiß sie aber nicht. Die Frage setzt er hier rhetorisch ein, um sie aus der Reserve zu locken.
- Bezüge zu den Cartoonfolgen »The Great Escape!«, »Go for Gold!«, sowie meiner noch unveröffentlichten »Murphys Law«.
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Hinweis: Ich richte mich nach der alten Rechtschreibung.
Und nun wünsche ich eine angenehme Lesezeit. ^^
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Taken By Surprise
„Sagt mal, kann es sein, daß Bentley sich jedes Mal mehr darüber freut, wenn wir ihn von der Schule abholen, als wenn seine Eltern es tun?“ fragte Melissa, als sie mit Ralph und Bert auf dem Weg zum Schulhaus war.
„Ich habe manchmal den Eindruck, er freut sich sogar mehr darüber, als wenn er allein nach Hause gehen würde, wie gewöhnlich!“ sinnierte Ralph.
„Natürlich freut er sich darüber!“ erklärte Bert. „Wenn wir ihn abholen, dann bedeutet das Abenteuer, Spaß und Spiel!“
„Naja, heute holen wir ihn nur ab, weil George und Nicole heute abend nicht da sind, und jemand auf ihn aufpassen muß.“ brachte Ralph trocken ein. „Es geht nur darum, daß er bei uns Mittag ißt, seine Hausaufgaben macht und früh ins Bett kommt, weil morgen wieder Schule ist! Ich weiß nicht, ob das wirklich so viel mit Abenteuer zu tun hat.“
„Ja, aber das mit dem Spiel ist nicht aus der Luft gegriffen!“ sinnierte Melissa. „Wir könnten heute abend wirklich etwas zusammen spielen!“
„Ja!“ stimmte Bert mit ein. „Das ist eine phantastische Idee!“
„Okay, ihr habt mich überzeugt!“ seufzte Ralph. „Wenn Bert mitspielt, dann wird es ein Abenteuer!“
Melissa konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Aber sie konnte ihren Mann verstehen. Bert hatte sich seit ihrer Schulzeit kaum verändert, und seit er bei dem Pärchen zur Untermiete wohnte, verging kein Tag, ohne daß etwas aufregendes passierte. Mittlerweile kam schon das Schulhaus in Sicht. Die Raccoonfrau kuschelte sich auf ihrem Weg zu dem kleinen Gebäude an Ralphs Seite. „Das war eine wundervolle Idee von dir, das mit einem gemeinsamen Spaziergang zu verbinden.“
Er legte den Arm um sie und bekundete tiefgründig: „Du glaubst doch wohl nicht, daß ich Bert und Bentley allein lassen würde, wenn ich die Verantwortung für den Bengel trage!“
Die Fotografin lachte. „Ja, auf ein Kind zu achten ist schon sehr anspruchsvoll. Ich muß ehrlich sagen, ich bewundere deinen Bruder, wie gut er das alles hinkriegt.“
„Wahrscheinlich ist er aber ganz froh, daß er heute abend mal Ruhe hat!“ lachte Ralph.
Von der Ferne beobachteten sie die ersten Kinder, die nach dem Schulschluß aus dem Gebäude in die verschiedensten Richtungen ihrem Zuhause entgegenströmten.
„Das wird sich wohl auch nie ändern. Sobald die Schulglocke ertönt, ist die Schule wie leergefegt.“ schmunzelte Ralph.
„Es sei denn, man muß nachsitzen.“ meinte Bert wie in einer Erinnerung.
„Oder man ist so wie Bentley…“ sinnierte Melissa.
„Ja. Hoffentlich kommt Bentley heute schneller vom Computer los!“ bemerkte Bert mit einem Hauch von Mißmut in der Stimme, der auf gewisse Erfahrungswerte schließen ließ.
„Du weißt doch, wie Bentley ist, Bert!“ erinnerte Ralph. „Wenn es um Computer geht, braucht nur jemand zu erwähnen, daß er Hilfe braucht, und schon vergißt er die Zeit.“
„Das ist ja das schlimme.“ kommentierte Bert.
„Aber es ist schön, daß er seinen Mitschülern immer ganz selbstlos hilft!“ wandte Melissa ein. „Daher sollten wir es ihm nicht auch noch verleiden, sondern lieber anerkennen.“
„Okay, da hast du Recht!“ lenkte Bert ein.
Als die drei Raccoons auf das Schulhaus zukamen, sahen sie schon die letzten Kinder in den wohlverdienten Nachmittag radeln. Alles war ruhig, von Bentley fehlte jede Spur. Die drei Freunde wechselten einen vielsagenden Blick. Forschend sahen sie zum Eingang hoch, und Bert lief ein kleines Stück vor. Das Pärchen folgte ihrem Kameraden in dem roten Pullover die Treppe hinauf.
Als sie näher kamen, konnten sie bereits Bentleys Stimme durch die offene Tür des Schulhauses hören: „Nein, das geht viel einfacher! Du brauchst keine Leerschritte zu machen, wenn du einen Zwischenraum haben willst. Wir sind hier doch nicht auf einer Schreibmaschine! Komm, ich zeig’s dir noch mal.“
„Laßt uns mal ein bißchen Präsenz zeigen, dann geht es vielleicht schneller!“ schmunzelte Ralph.
Die drei gingen gemächlich die letzten Stufen hoch, und Ralph und Melissa wollten schon in den Klassenraum gehen, als Bert plötzlich innehielt und den Redakteur, der näher bei ihm stand, beim Arm faßte. Als Ralph sich zu ihm umwandte, ging der Blick seines Freundes über das Geländer der Treppe hinweg auf den Schulhof. Der Raccoon mit dem weißen Schal stutzte, und als er automatisch dem ernsten Blick seines Kameraden folgte, bemerkte er ein Raccoonmädchen, das niedergeschlagen ein Stück von den Spielgeräten entfernt auf einem Baumstamm saß und starr vor sich hinsah. Die beiden Männer wechselten einen Blick, der Worte erübrigte. „Geh’ du schon rein, ich komme gleich nach.“ sagte Ralph. Bert nickte, und so trennten sich vorerst ihre Wege; während Bert Melissa folgte, huschte Ralph zum Schulhof herüber, wo das Mädchen einsam und unbeachtet saß.
Sie schien ihn nicht einmal zu registrieren, als er vorsichtig forschend zu ihr herüberging, oder sie beachtete ihn schlichtweg nicht; selbst, als er direkt vor ihr stand. Er musterte sie kurz besorgt. Er kannte sie flüchtig; sie war eine Klassenkameradin von Bentley, und manchmal unternahmen die beiden etwas zusammen. Eigentlich hatte er sie als ein lebensfrohes Energiebündel in Erinnerung. Nie hatte er sie so niedergeschlagen erlebt. Was mochte gerade in dem jungen Mädchen vorgehen…? „Darf ich dir Gesellschaft leisten?“ fragte er sie mit einer aufmunternden Herzlichkeit in der Stimme.
„Meinetwegen.“ erwiderte sie unverbindlich.
Er kniete sich vor ihr hin und lächelte sie an. „Wie heißt du denn? Ich bin Ralph!“
„Annie.“ brachte sie knapp hervor und wich seinem Blick aus.
Ihre schwermütige Stimmung schlug ihm ebenfalls auf das Gemüt. Doch vielleicht, so hoffte er, gelang es ihm, sie ein wenig aufzuheitern, bevor er sich mit Bert, Melissa und Bentley auf den Heimweg machte. Er legte bewußt einen zuversichtlichen Tonfall in seine Stimme, als er sagte: „Weißt du, Annie, es gibt kein Problem, das man nicht lösen kann. Willst du mir erzählen, was dich bedrückt, und dann schauen wir mal gemeinsam, ob wir etwas gegen deine Sorgen machen können?“
Annie starrte versunken vor sich hin, und Ralph dachte schon, sie wolle gar nicht mehr darauf reagieren, doch dann sagte sie: „Mein Problem kann wohl niemand lösen.“
„Sag’ doch so etwas nicht.“ erwiderte Ralph beruhigend. „Laß es mich doch wenigstens versuchen! Wenn du mir keine Chance gibst, dann kann ich dir nicht das Gegenteil beweisen, nicht wahr?“
Das Mädchen schwieg noch einen Augenblick, in dem sie förmlich durch ihn hindurch sah. Dann sah sie Ralph an, und ihr Blick traf ihn wie ein Schwerthieb mitten ins Herz. „Wenn man keine Eltern mehr hat, kann man sich dann neue aussuchen?“
Ralph entglitten die Gesichtszüge. Dies kam so unvorbereitet, daß er den Schock erst einmal verarbeiten mußte. Er wußte gar nicht, was er darauf sagen sollte; in dem Moment brach sie aber auch schon in Tränen aus. Der Chefredakteur der »immergrünen Zeitung« spürte, wie ihm das seelische Fundament unter den Füßen wegbrach. In diesem Augenblick dachte er nicht mehr nach, sondern handelte nur nach seinem Gefühl und nahm sie ohne Worte in die Arme. Tröstend, fast schon beschützend, drückte er sie leicht an sich, während er darum kämpfte, selbst die Fassung zu bewahren. Das kleine Raccoonmädchen klammerte sich an ihm fest, als wäre er ihr einziger Halt und schluchzte nun bitter, als hätte er ihr erst die Legitimation dazu gegeben, ihre Gefühle herauszulassen. Ralph spürte, wie sich eiserne Schlingen um sein Herz zusammenzogen. „Was ist nur passiert, Annie…?“ fragte er leise, im Grunde rhetorisch, ohne eine Antwort damit herauszufordern, obwohl es nichts gab, was ihn im Augenblick brennender interessiert hätte. Ihm war allerdings bewußt, daß er die Frage nicht so schnell würde aufklären können, wie er gerne gewollt hätte. Annie war augenblicklich gar nicht in der Lage dazu, darüber zu reden; sie brachte es zwischen dem Schluchzen knapp fertig zu atmen. Er besann sich darauf, für sie da zu sein und hoffte, daß seine Nähe ihr ein wenig guttat, während er selbst ohnmächtig die Augen schloß. Wie konnte es sein, daß sie gerade ihre Eltern verloren hatte, und niemand kümmerte sich um sie?
Es dauerte eine ganze Weile, bis das Mädchen sich einigermaßen wieder fing, auch wenn sie die schutzsuchende Haltung in seinen Armen nicht aufgab. In Ralphs Bewußtsein drehten sich die Gedanken im Chaos. Immerhin, auch wenn sie sich schon mal begegnet waren, er war für sie praktisch ein Fremder! Und doch hatte er das Gefühl, als wäre er gerade ihre einzige Zuflucht… Welches gütige Schicksal hatte ihn nur gerade jetzt mit Annie zusammengeführt?
Als es die Situation zuließ und sie in bißchen ruhiger wurde, gab er die kniende Position vor ihr auf, um sich neben sie auf den Baumstamm zu setzen, immer noch die Arme schützend um sie gelegt. Das Mädchen zitterte leicht, als es sich kraftlos an ihn lehnte. „Kannst du darüber reden? Oder lieber nicht?“ fragte er sanft.
Annie beruhigte sich nur langsam wieder. Nach ein paar Minuten antwortete sie stockend. „Meine Eltern… sind vor ein paar Wochen gestorben.“ erzählte sie schluchzend. „Es war dieser blöde Autounfall.“
Als sie das sagte, schossen plötzlich Erinnerungsbilder durch Ralphs Bewußtsein, die ihm den Atem nahmen. Er erinnerte sich an einen Autounfall! Er und Melissa hatten darüber im »Immergrünen Standard« berichtet. Ein anderer Fahrer hatte das Auto der Raccoonfamilie übersehen; es hatte einen Frontalcrash gegeben. Das Pärchen aus dem einen Wagen war dabei tödlich verunglückt; der Fahrer des anderen Fahrzeuges war mit einem Schock davongekommen. Sie konnte nur diesen Unfall meinen.
Es war einer der schlimmsten Unfälle gewesen, den der Redakteur und die Fotografin je in ihrer Laufbahn erlebt hatten. Er hatte Melissa noch nie so geschockt erlebt, wenn sie für die Zeitung die Fotos machen sollte, als zu dem Zeitpunkt, an dem sie am Ort des Geschehens angekommen waren. Er selbst war wie paralysiert gewesen, obwohl er sich bis dahin eingeredet hatte, daß ihn nichts würde in seinen Grundfesten erschüttern können. Sie waren beide minutenlang unfähig gewesen zu reagieren und das Bild vor sich zu verarbeiten. Es war ein Segen gewesen, daß die Tochter des Pärchens bei dem Unfall nicht dabei gewesen war.
All die Bilder und Eindrücke, die er bereits in einen hinteren Winkel seines Selbst verbannt hatte, waren auf einmal wieder so präsent, als wäre es gerade erst passiert. Er erinnerte sich sogar noch an die Todesanzeige, die sie abgedruckt hatten: »Audray und Kostja Ringtail«. Schmerzlich wurde ihm bewußt, wie sehr Annie ihn auf den Prüfstand gestellt hatte, anstatt umgekehrt. Dies war kein Kummer über eine schlechte Note oder weil sie sich mit einem Freund gestritten hatte. Ihr konnte er tatsächlich nicht helfen. Nicht mehr jedenfalls als mit dem, was er gerade tat, und er wußte, das war wenig im Vergleich zu dem, was sie wirklich gebraucht hätte.
„Wer kümmert sich denn jetzt um dich?“ erkundigte er sich weiter. Er mochte sie kaum allein lassen, es wunderte ihn allerdings auch ein bißchen, daß sie in diesem Zustand allein hier saß, ohne daß jemand für sie da war.
„Meine Tante und mein Onkel.“ sagte sie, noch immer mit tränenerstickter Stimme.
„Willst du denn gar nicht zu ihnen nach Hause gehen? Sicher machen sie sich schon Sorgen um dich!“ bemerkte er sanft.
Annie verzog mißmutig den Mund. „Schön wär’s.“ Auf Ralphs verdutzten Blick hin, den sie aus ihrer Position in seinen Armen nicht einmal bemerkte, erklärte sie mutlos: „Seit das passiert ist, dulden sie mich in ihrem Haus. Aber sie wollen mich nicht.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen…“ entfuhr es Ralph verblüfft.
„Es ist aber so.“ erwiderte sie verzagt. Ihr Blick ging in die Leere, als sie fast tonlos erklärte: „Ich soll in ein Heim. Es interessiert die gar nicht, was ich mache oder wie es mir geht. Sie wollen nur, daß ich schnell wieder aus dem Haus verschwinde.“ Sie atmete zitternd durch. „Wahrscheinlich komme ich in ein Heim weit weg von hier. Ich will aber nicht von hier weg. Meine Freunde sind doch das einzige, was mir noch geblieben ist.“ Sie fing erneut leise an zu weinen. „Ich will nur raus aus dem Haus.“ Sie vergrub sich wieder in Ralphs Fell, und ihr brach die Stimme weg, als sie ergänzte: „Ich fühle mich da nicht wohl…“
Ralph spürte, wie sich alles in ihm verkrampfte. Wie konnte jemand nur so herzlos sein? Er gab für sich zu, daß er nicht viel über das kleine Mädchen wußte, das sich gerade in seinen Armen die Seele aus dem Leib weinte; wenn er aber eines wußte, dann, daß dieses süße, liebenswerte Mädchen alles andere verdient hatte als Ablehnung. Er erinnerte sich daran, daß er Annie ab und zu mal gesehen hatte, ohne sie näher zu kennen; sei es unter den Zuschauern bei einem Sportwettbewerb, am Bahnhof, als dort der große Zauberer Tromboni erwartet worden war, oder bei einem Sommerfest, bei dem das kleine Mädchen ihm sogar einmal unwillkürlich zum Verhängnis geworden war, ohne es zu wissen. Wo auch immer er ihr begegnet war, sie hatte mit ihrer Lebensfreude ein bißchen Sonne ins Geschehen gebracht. Diese Neuigkeiten trafen ihn wie einen gezielten Faustschlag in die Magengegend. Wie konnte man das süße kleine Mädchen nicht haben wollen?
Er überlegte verzweifelt, was er tun konnte, um ihr zumindest ein bißchen zu helfen, wußte aber auch, daß seine Möglichkeiten begrenzt waren. Nur eines fiel ihm spontan ein. „Wenn du möchtest, dann kannst du nach der Schule auch mal mit Bentley zu uns kommen. Oder wenn Bentley keine Zeit hat, dann kommst du uns allein besuchen!“
Es dauerte sichtlich, bis sie seine Worte verarbeitet hatte. „Wirklich?“ fragte sie ungläubig.
„Natürlich!“ sagte er mit einem Lächeln, von dem er hoffte, daß sie nicht merken würde, wie sehr er sich gerade dazu durchringen mußte.
Sie brachte selbst ein Lächeln zustande, von dem er allerdings sehr wohl bemerkte, daß es gerade mit ihrem diffusen Gefühlsleben kollidierte. „Mal sehen, wieviel Zeit mir noch dafür bleibt. Sie versuchen ja schon die ganze Zeit, einen Platz für mich im Heim zu kriegen.“ erwiderte sie in sich gekehrt.
„Noch ist es aber nicht soweit.“ versuchte er, sie zu beruhigen. „Und so lange versuche einfach, das Beste daraus zu machen, was geht.“
Sie nickte leicht. „Und… ich darf wirklich… einfach so… zu Ihnen kommen?“ fragte sie, als wäre das das erste, was sie mit seiner Aussage verknüpfte.
Ralph konnte nicht anders, ihn schauderte ein wenig. Immerhin kannte sie ihn ja kaum. Auch wenn er bereits gemerkt hatte, daß sie sich offensichtlich bei ihm gut aufgehoben fühlte, schien es ihm fast so, als würde sie sich nicht zuletzt an jeden Strohhalm klammern, um aus dem Haus ihrer Tante fliehen zu können. „Ja, sicher.“ sagte er noch einmal deutlich zu. „Und du brauchst mich nicht so förmlich anzureden. Ich bin einfach Ralph, okay?“ Er registrierte selbst unwillkürlich, wie sanft seine Stimme geklungen hatte, als er sie darauf hinwies. „Tu mir nur einen Gefallen, und sag’ deiner Tante und deinem Onkel immer, wohin du gehst.“ fügte er ernst an. „Das ist nur fair. In Ordnung?“
„In Ordnung. Es wird sie sowieso nicht interessieren. Aber ich mach’s.“ versprach sie.
Ralph nahm es beruhigt zur Kenntnis. „Frag’ Bentley einfach mal, ob er nach der Schule mit dir zu uns kommen mag. Und dann schauen wir mal weiter. Was meinst du?“
Sie nickte, und konnte tatsächlich ein kleines glückliches Lächeln nicht vermeiden, als hätte er ihr gerade den Ausweg aus einer Hölle angeboten.
‚Vermutlich habe ich das sogar.’ schoß es ihm durch den Sinn.
Das Lächeln in ihrer Miene verschwand jedoch so schnell, wie es gekommen war. „Ich muß jetzt gehen. Ich muß noch Hausaufgaben machen…“
Er sah sie besorgt an. „Schaffst du es denn allein?“
Sie nickte lediglich. „Geht ja nicht anders.“
Ralph schwieg bedrückt. Er wußte, es bedeutete, daß es Zeit für sie wurde, sich zu verabschieden. Er hatte ein dumpfes Gefühl in der Magengegend, als sie aufstanden, doch ihm war klar, daß er im Augenblick nichts dagegen unternehmen konnte. Wenn sie auch nur ein bißchen übertrieben hatte, so führte er sich vor Augen, dann war es nicht unmöglich, daß sich ihre neue Familie gerade Sorgen um sie machte – und er wußte, dem gegenüber hatten seine eigenen Gefühle gerade Nachrang. „Dann wünsche ich dir alles Gute, und viel Kraft.“ sagte er, bevor sich ihre Wege trennten.
Sie ließ sich ein kleines gequältes Lächeln vernehmen. „Danke. Darin habe ich schon Übung.“ Schließlich atmete sie noch einmal durch und machte sich auf den Heimweg.
Er sah ihr beklommen nach, als sie den Weg hinunterging.
Sie hatte jedoch erst ein paar Meter hinter sich gebracht, als sie plötzlich anhielt, sich zu ihm umdrehte und nochmals auf ihn zurannte, um die Arme um ihn zu schlingen und sich noch einmal in sein Fell zu drücken. „Danke für alles!“ brachte sie gehaucht und von ehrlicher, tiefer Dankbarkeit hervor. Er wußte so schnell gar nicht, was er sagen sollte, doch da löste sie sich auch schon aus seinem Fell, schenkte ihm ein Lächeln, und lief endgültig den Weg hinunter.
Er sah ihr noch atemlos nach, hatte er mit solch einer Reaktion nun überhaupt nicht gerechnet, und spürte, wie er die Arme um den Körper schlang, als würde er frieren. Was in den letzten Minuten hier passiert war, hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Nie hätte er vermutet, daß der Tag so enden würde…
Als Bert und Melissa mit Bentley nach einer schier endlosen Computernachhilfestunde endlich aus dem Schulgebäude kamen, sahen sie Ralph in sich versunken dort sitzen, wo zuvor Annie gesessen hatte. Fast mutete es so an, als hätte das Bild als solches sich nicht geändert; nur der Raccoon hatte gewechselt. Verwundert gingen sie zu ihm herüber.
„Ralph, ist alles in Ordnung?“ fragte Melissa, als sie sich an seine Seite setzte. Ihre Hoffnung, sie würde ihn durch ihre Worte lediglich aus seinen Gedanken wecken, zerschlug sich, als er statt dessen das Gesicht in den Pfoten vergrub. „Ralph, was ist passiert?“ entfuhr es ihr alarmiert, während sie näher zu ihm rückte und ihn sachte in ihre Arme zog.
Er ließ sich kraftlos gegen ihre Schulter sinken. „Etwas schlimmes, Melissa. Und ich weiß noch nicht, wie ich damit umgehen soll…“ war die präzise und zugleich erschütternde Antwort.
Betroffen wechselten Bert, Melissa und Bentley Blicke.
„Erzähl uns doch erst mal davon. Vielleicht können wir helfen!“ schlug Bert vor.
„Ohne eure Hilfe wird es auch nicht gehen!“ erklärte Ralph, als er erschöpft zu seinen Kameraden aufsah. „Ich habe schon eine vage Idee, aber das funktioniert nur, wenn ihr mich unterstützt.“
„Nun mach es nicht so spannend!“ forderte Melissa unruhig. „Was ist denn nun passiert?“
Er atmete durch und begann zu erzählen: „Ich habe mich eben mit einem Mädchen hier aus der Schule unterhalten. Sie hat ihre Eltern verloren.“
„Oh, das muß Annie Ringtail gewesen sein!“ warf Bentley ein. „Das war eine böse Geschichte. Ihre Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie war zwei Wochen lang nicht in der Schule, als das passiert ist.“
Ralph nickte und sah Melissa an. „Erinnerst du dich noch an den Unfall, über den wir vor ein paar Wochen berichtet haben, nahe den Bergen?“
„Wie könnte ich das vergessen?“ begann Melissa und schnappte nach Luft, als sich das Puzzle in ihrem Kopf zusammensetzte. „Oh nein! Sag’ nicht…“
Ralph nickte erneut. „Das waren Annies Eltern. Aber es kommt noch schlimmer!“
„Wie kann es denn jetzt noch schlimmer kommen?“ hauchte Bert erschüttert.
Der Redakteur wirkte so hilflos, wie ihn seine Freunde nie erlebt hatten. „Sie lebt jetzt bei ihrer Tante und ihrem Onkel. Anscheinend wollen die sie aber nicht haben, sondern in ein Heim abschieben. Sie ist dort schon todunglücklich, und wer weiß, wie es wird, wenn sie erst weggeschickt, und aus ihrer gewohnten Umgebung und ihrem Freundeskreis herausgerissen wird…“
„Annies Tante ist eine richtige High Society-Frau!“ erzählte Bentley, während er sich auf den Boden setzte. „Sie hat mal von ihr erzählt! Ihr Mann ist Firmenchef bei einer großen Automobilfabrik, die zu den Mammoth-Werken gehört. Ein ganz hohes Tier. Wenn sie dort mit ihren Eltern zu Besuch eingeladen war, dann war sie immer richtig angenervt, weil dort alles langweilig war, sie nichts machen durfte und sich keiner um sie gekümmert hat. Seit sie dort eingezogen ist, ist sie ganz anders geworden. So verschlossen. Ich glaube, ich habe sie seitdem nicht ein einziges Mal lächeln gesehen.“
„Na super! Und da soll sie jetzt also leben!“ kommentierte Bert mißmutig.
„Na, das soll sie ja eben nicht!“ sagte Ralph verzweifelt. „Genau das ist ja der Punkt! Oder zumindest ein Punkt in der Reihe von Mißständen. Sie muß gerade dort leben, und bekommt anscheinend die ganze Ablehnung zu spüren. Und die Alternative dazu ist ein Kinderheim, das sonstwo ist.“ Er sah verzagt vor sich auf die Wiese. „Ich weiß nicht, was ein so junges Mädchen verbrochen haben kann, daß das Schicksal ihr so übel mitspielt: Zuerst verliert sie ihre Eltern, dann kommt sie in eine Familie, die sie nicht haben will und wo sie sich nicht wohlfühlt, und dann soll sie auch noch weggeschickt werden, irgendwohin, wo sie nicht einmal mehr ihre Freunde hat.“
„Meinst du denn, daß es wirklich so schlimm bei ihrer Tante ist?“ fragte Melissa vorsichtig.
„Du hast Bentley doch gehört!“ mischte sich Bert ein. „Das reicht doch wohl als Bestätigung!“
„Ja, aber wenn ihre Tante sie jetzt aufgenommen hat, muß das nicht unbedingt heißen, daß sie sich jetzt nicht um sie kümmert.“ argumentierte Melissa. „Ein Besuch ist immerhin etwas anderes, als wenn sie dort richtig lebt. Wer weiß, wie es wirklich abgelaufen ist. Manchmal fassen Kinder Dinge auch nur sehr schlimm auf, gerade, wenn so etwas schreckliches passiert ist. Vielleicht hört sich gerade alles dramatischer an, als es ist!“
„Ich kann es dir nicht mit Bestimmtheit sagen.“ sagte Ralph ehrlich. „Aber so, wie ich sie hier eben erlebt habe, glaube ich nicht daran, daß sie überzogen hat. Wenn es ihr darum ginge, von dort wegzukommen, nur weil sie ihre Tante und ihren Onkel nicht mag, hätte sie sich nicht allein hierher zurückgezogen, um es mit sich abzumachen, sondern hätte sich Wege gesucht, es unter die Leute zu bringen.“ war er sich sicher. „Und die Geschichte mit dem Heim wird sie sich ganz sicher nicht ausgedacht haben. Davon abgesehen, selbst wenn ihre Tante und ihr Onkel nicht so schlimm sind, wie es sich gerade anhört, eins steht außer Frage: Sie fühlt sich dort nicht wohl! Das hat sie gesagt, und das hat mir auch schon ihre Reaktion auf mich gezeigt. Allein, als ich ihr angeboten habe, daß sie uns mal besuchen darf, schien sie so erleichtert. Es kann also nicht nur daran liegen, daß sie ihre Eltern vermißt. Und das allein ist Grund genug, um zu handeln.“
„Ja, aber was willst du jetzt tun?“ fragte Bert hilflos.
Ralph starrte vor sich hin. „Genau das weiß ich noch nicht. Aber wenn sie wirklich in ein Heim kommen soll…“ Er brach hilflos ab und sah zu seinen Freunden auf. „Wenn Annies Geschichte stimmt, dann gibt es nur eine Alternative, so oder so: Wir müssen eine neue Familie für sie finden. Eine, die sie wirklich liebt, und wo sie sich wohlfühlt. Und das am besten hier, in ihrer gewohnten Umgebung.“
„Das ist ein guter Gedanke.“ stimmte Melissa zu. „Jemand von uns sollte mit ihrer Familie darüber reden, dann können wir an einem Strang ziehen. Wenn sie Annie wirklich nicht bei sich haben wollen, kann das ja auch nur in ihrem Sinne sein. Hoffentlich haben wir noch ein bißchen Zeit darüber nachzudenken. Dann können wir uns alle mal Gedanken machen, wie wir das am besten angehen. Vielleicht können wir sogar über einen Zeitungsartikel etwas machen!“ Sie merkte, daß ihr Feedback Ralph bereits sehr beruhigte; allerdings schien es nur die halbe Miete zu sein, denn der Raccoon war so gedankenverloren, wie ihn die Freunde selten erlebt hatten. „Irgend etwas beschäftigt dich doch immer noch!“ erkannte seine Frau.
Ralph atmete tief durch. „Und da sind wir wieder beim Beginn unserer Unterhaltung.“
„Stimmt! Du sagtest, du hättest schon eine Idee!“ erinnerte sich die Fotografin. „Meinst du denn etwas konkretes?“
„Vielleicht. Aber das kann ich nicht allein entscheiden…“ Ralph biß die Zähne leicht zusammen, als traute er sich gar nicht, seine Gedanken anzusprechen.
Melissa musterte ihn forschend. „Nun erzähl‘ schon!“
Der Redakteur sah seine Frau unsicher an. „Sag mal, hast du dir jemals Kinder gewünscht?“
Sie stutzte erstaunt. „Äh, nein…“
Ralph sah demoralisiert vor sich. „Das habe ich befürchtet.“
Melissa ging in Gedanken ein paar Sequenzen zurück und sah ihn verblüfft an. „Du willst sie adoptieren, richtig?“
Sein Blick ging ziellos in die Ferne. „Wenn die Möglichkeit besteht, würde ich es gerne, ja. Es ist erst mal nur so eine Idee. Das würde aber voraussetzen, daß ihr euch auch mit dem Gedanken anfreunden könnt, daß sich dann ganz viel bei uns ändern würde. Deswegen sagte ich ja, die Entscheidung kann ich nicht allein treffen.“
„Wow, meinst du das ernst?“ entfuhr es Bert entgeistert. Ralphs Blick, als er seinen Jugendfreund ansah, sprach für sich, und so beantwortete er sich die Frage selbst: „Okay, du meinst es ernst!“
Melissa brauchte eine Sekunde, um sich zu fassen, dann warf sie vorsichtig ein: „Du bist dir aber darüber bewußt, was das für eine Verantwortung ist, oder?“ Es war nicht die Antwort, die Ralph hatte hören wollen! Das hatte Melissa schon vorher gewußt, und das sahen die Freunde ihm auch deutlich an. Sie zwang ihn mit einer sanften Geste sie anzusehen. „Hey, das war nicht mehr als eine Frage! Das ist ein großer Schritt, von dem du da sprichst. Es würde bedeuten, daß wir die Rolle der Eltern für Annie übernehmen würden, mit allen Konsequenzen!“
„Das ist mir bewußt, Melissa!“ erwiderte er leise. „Glaub‘ mir, ich denke seit einer gefühlten Ewigkeit über nichts anderes mehr nach! Ich weiß, daß es ein großer Schritt wäre, der unser Leben komplett verändern würde. Und genauso weiß ich, daß ich für sie da sein möchte. Wenn mir eines in den letzten Minuten deutlich bewußt geworden ist, dann das!“ Er wich ihrem Blick ein wenig aus. „Das könnte ich aber nur mit dir zusammen angehen…“
Melissa stockte kurz verblüfft der Atem. Sie musterte ihren Mann mit einem faszinierten Lächeln. Er schaffte es nicht einmal, ihr in die Augen zu sehen, als fürchte er sich vor ihrer Antwort. „Du hast die Kleine richtig ins Herz geschlossen, stimmt’s?“
Ralph brauchte kaum etwas zu sagen, das verlegene Lächeln sprach für sich. Dann sah er sie mit einem Ausdruck in den Augen an, der ihr unter die Haut ging. „Ganz ehrlich, Melissa: Wenn ich zu entscheiden hätte, dann würde ich sie bei uns aufnehmen. Sofort.“
Melissa atmete durch. „Das kommt jetzt ein bißchen plötzlich…“ gestand sie. Ihr Tonfall signalisierte zwar schon, daß sie nicht prinzipiell abgeneigt war, aber auch, daß sie sich nicht sicher war, ob sie sich der Verantwortung gewachsen fühlte.
„Ich weiß…“ meinte er, fast ein wenig zerknirscht. „Aber glaub‘ mir, das kam es für mich auch.“ Er sah Melissa gedankenvoll an. „Ich hätte nie vermutet, daß es mich so unvorbereitet erwischen könnte, aber seit die Kleine sich in meinen Armen in Tränen aufgelöst hat, habe ich absolut keinen Zweifel daran, daß wir für sie die Familie sein könnten, die sie braucht. Und warum sollten wir die Herausforderung nicht annehmen? Mal ehrlich, wenn andere Eltern das schaffen, warum sollten wir das nicht? Vor allem, weil wir auf diese Weise einem süßen jungen Mädchen helfen würden, das wirklich ein Zuhause braucht!“
Melissa konnte nicht anders, als liebevoll zu schmunzeln, allein bei seinem flehentlichen Tonfall, der sich gerade in ihre Seele fraß. Sie wußte genau, daß Ralph gerade extra rhetorisch alles gab, um sie zu überzeugen. „Aber ist es nicht ein bißchen verfrüht, sich darum Gedanken zu machen? Wir wissen ja noch gar nicht, ob das überhaupt geht.“ sinnierte sie.
Ralph machte eine hilflose Geste. „Ich weiß nicht, was es jetzt alles für Möglichkeiten gibt. Es gibt wahrscheinlich viele Varianten, in welche Richtung es jetzt gehen könnte. Aber wenn es geht, dann möchte ich zumindest vorbereitet sein, und deswegen muß ich das vorher mit euch klären.“
„Aber wenn Annie sowieso in ein Heim soll, dann bestünde die Möglichkeit für eine Adoption doch, oder?“ sinnierte Bert verständnislos.
„Theoretisch bestimmt, aber das hängt von ganz vielen Faktoren ab, die ich nicht allein bestimmen kann.“ erklärte Ralph verzweifelt. „Die Gesamtumstände, Behörden, Formalitäten, Annies Wohlbefinden, dann eure Meinungen… Ich weiß zum Beispiel auch nicht, ob es noch andere Verwandte gibt, die Vorrang hätten. Ich kenne mich mit der ganzen Thematik ja nicht aus.“ Er machte eine Pause zum Durchatmen, bevor er einlenkte: „Ich will mich auch gar nicht zu sehr darauf verbeißen, daß meine Idee wirklich funktioniert. Es ist nur eine Möglichkeit. Es muß nur eine vernünftige Lösung dabei rauskommen! Darauf kommt es jetzt an. Wenn es einen anderen Weg gibt, dann wäre es auch okay, solange Annie damit glücklich würde.“
Melissa sah Ralph nachdenklich an. Sie wußte, daß ihm das Statement gerade nicht leicht gefallen war, auch wenn er es grundehrlich gemeint hatte. „Und was ist mit deinem Seelenfrieden?“ forschte sie.
„Solange es Annie gutgeht, komme ich schon damit klar.“ erklärte er. So ganz überzeugend kam es für seine Freunde zwar nicht rüber, dafür ergänzte er aber mit ehrlichem Nachdruck: „Das Mädchen hat absoluten Vorrang.“
„Aber du sagtest doch, daß sie dich mag!“ erinnerte sich Bert. Er machte eine umfassende Geste. „Was gäbe es denn für bessere Voraussetzungen?“
Ralph schmunzelte. „Keine! Aber das sagen wir! Ich würde es mir wünschen, ja. Aber davon hängt es nun mal leider nicht allein ab. – Ich weiß nur eines mit Sicherheit: Ich werde dafür kämpfen, daß sie nicht in ein Heim kommt. So viel ist sicher! Wichtig ist erst einmal nur, daß sie ein vernünftiges Zuhause bekommt, wenn nicht bei uns, dann irgendwo anders hier.“
„Aber deine Lieblingsentscheidung wäre, daß Annie zu euch kommt!“ brachte es Bentley auf den Punkt.
Ralph nickte. „Wenn es nach mir geht, ja! Und eins schwöre ich euch, wenn es keinen anderen Weg gibt, und es die einzige Möglichkeit wäre, daß sie zu uns kommt, dann mache ich keine Kompromisse!“
Melissa schauderte unwillkürlich leicht, und sie konnte nicht genau sagen, ob es daran lag, daß sie sich nicht vorstellen mochte, daß es für das Raccoonmädchen kein Zuhause gab, oder daran, daß sie Ralph noch nie so entschlossen erlebt hatte.
Etwas ruhiger fuhr der Redakteur fort: „Ich weiß, ich fordere euch gerade viel ab. Eigentlich möchte ich euch auch noch gar keine Entscheidung abverlangen, aber wenn es wirklich in diese Richtung geht, dann bleibt vielleicht nicht mehr viel Zeit zum überlegen. Deswegen brauche ich eine ehrliche Meinung von euch. Könntet ihr euch denn vorstellen, das mit mir zusammen anzugehen, wenn es notwendig wird?“
Melissa lächelte ihn sanft an, bevor sie seine Pfoten in ihre nahm und sagte: „Natürlich!“
Ralph stand kurz davor, vor Erleichterung in Tränen auszubrechen, als er sie anlächelte.
„Cool, dann wird Annie ja meine Cousine!“ stellte Bentley fest.
„Na, prima, dann wäre das ja schon mal geklärt!“ grinste Melissa. „Noch wissen wir aber gar nicht, ob es so kommt, Bentley. Es ist erst mal nur eine Option!“
„Was machen wir, wenn es nicht geht?“ fragte Bert.
Melissa konnte ein kurzes bitteres Lächeln nicht verhindern. „Dann trösten wir alle gemeinschaftlich Ralph!“ kommentierte sie, und fing praktisch schon damit an, als sie die Arme um ihn legte und ihn sachte zu sich heranzog. Nach einer Pause meinte sie ernst: „Wir kriegen das schon irgendwie hin, oder?“
„Na, sicher tun wir das!“ bestätigte Bert. „Eure Begegnung war kein Zufall, das war Schicksal!“
Ralph lächelte, wenn auch ein bißchen gequält. „Ihr seid phantastisch. Ich hoffe nur, das klappt alles, zumindest so, daß es sich für Annie zum Guten wendet. Ich habe ihr jedenfalls erst mal zugesagt, daß sie uns jederzeit besuchen kann. Vielleicht hat das Mädchen dann erst mal so im Alltag etwas, worauf sie sich freuen kann. Vielleicht magst du sie ja mal zum Spielen einladen, Bentley!“
„Au, fein! Mit Annie ist es immer lustig!“ freute sich der Raccoonjunge.
„Na, damit wäre das ja auch schon geregelt!“ lachte Melissa. „Und der Rest wird sich auch schon fügen!“ ergänzte sie ernster, und mit einem zuversichtlichen Klang in der Stimme, der Ralph Hoffnung geben sollte. Bert nickte zustimmend, und so entrangen sie Ralph sogar ein ehrliches Lächeln. Noch immer hielt die Raccoonfrau ihren Mann sanft umfaßt und fragte leise: „Geht’s dir denn schon etwas besser?“
Ralph nickte leicht und konnte sich sogar ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er darüber nachdachte, daß sie in diesem Szenario fast schon die Rolle für ihn übernommen hatte, die er Minuten zuvor für Annie innegehabt hatte. Und er brauchte sie gerade bestimmt ebenso sehr. Unwillkürlich dachte er an das souveräne kleine Mädchen zurück, als sie sich schließlich allein aus Pflichtbewußtsein von ihm verabschiedet hatte, weil sie Hausaufgaben machen mußte. Obwohl er Melissas Nähe gerade sehr genoß, richtete er sich schweren Herzens auf, wie um ihr in ihrer Stärke in nichts nachzustehen. „Im Augenblick können wir wohl nicht mehr tun als zu schauen, wie sich die Dinge entwickeln. Auf jeden Fall beruhigt es mich, daß ihr hinter mir steht. Eigentlich kann dann doch nichts mehr schiefgehen, oder?“
Die drei Raccoons an seiner Seite merkten deutlich die Unsicherheit aus seiner Stimme heraus, die immer und immer wieder nach einer Bestätigung verlangte; und sie wußten, sie konnten sie ihm nicht ganz nehmen. Selten war ihm etwas so wichtig gewesen, wie dieses Mal, und noch konnte niemand absehen, wie es weitergehen würde. In einem war Melissa sich aber ziemlich sicher. „Wenn wir zusammenhalten und kämpfen, dann bestimmt nicht!“
„Genau!“ pflichtete Bert bei. „Das haben wir doch auch schon in ganz anderen Situationen bewiesen!“
Ralph konnte nicht anders, als bei der positiven Stimmung, die seine Kameraden verbreiteten, zu lachen. „Das stimmt. Und das werden wir dieses mal wieder, oder?“ Dieses Mal klang schon ein wenig mehr Entschlossenheit durch seine Stimme.
„Das ist die richtige Grundeinstellung, Ralphi!“ pflichtete Bert ihm bei. „Wir lassen uns nicht unterkriegen!“
„Wenn Annie zu euch kommt, dann wäre das für sie ein richtiger Glückstreffer!“ bekannte Bentley. „Das wäre schon kriminell, wenn das nicht ginge!“
Ralph und Melissa wechselten ein verlegenes Lächeln. Das deutliche Statement des Jungen hatte gerade sehr gutgetan.
„Siehst du?“ meinte Melissa zuversichtlich. „Es wird schon alles gut werden!“
Ralph nickte, nun schon ein wenig beruhigter.
„Gut. Dann laßt uns jetzt nach Hause gehen.“ schlug Melissa vor.
Die vier Raccoons standen auf und machten sich gemächlich auf den Heimweg. Die Gedanken an Abenteuer, Spiel und Spaß waren aber Nachdenklichkeit, Ernst und Besorgnis gewichen.
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Anm. d. Aut.:
- Zu der Szene zu Beginn von Ralphs und Annies Begegnung: Ralph weiß eigentlich, wie sie heißt, das weiß sie aber nicht. Die Frage setzt er hier rhetorisch ein, um sie aus der Reserve zu locken.
- Bezüge zu den Cartoonfolgen »The Great Escape!«, »Go for Gold!«, sowie meiner noch unveröffentlichten »Murphys Law«.
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