Chain Reaction
von - Leela -
Kurzbeschreibung
Ralph hat es nicht einfach bei seinem Nebenjob in der Kneipe. So sehr er sich auch bemüht, seinem Boss kann er es nicht Recht machen. Doch um sein Studium zu finanzieren, läßt er sogar den Streß mit Peisley über sich ergehen. Das ganze geht solange gut, bis zu dem einen speziellen, verhängnisvollen Abend…
GeschichteLiebesgeschichte / P12 / Gen
Bert Raccoon
Cedric Sneer
Melissa Raccoon
Ralph Raccoon
24.05.2014
24.05.2014
1
4.879
24.05.2014
4.879
Dies ist mein Beitrag zum Wettbewerb »Wiedersehen« von fiddler on the deck.
(Allgemeiner Hinweis: Ich richte mich grundsätzlich nach alter Rechtschreibung.)
Ich wünsche euch eine schöne Zeit beim Lesen.
„Ralph, herrgottnochmal, was trödelst du denn da rum? Die Dame an Tisch 12 wartet darauf, ihre Bestellung aufgeben zu können!“
Ralph zuckte unter der scharfen Stimme des stämmigen Dachses zusammen, der ihn von der Theke aus beobachtete, und bemühte sich, den Tisch, an dem er gerade stand, noch ein wenig schneller abzuräumen. „Ja, Mister Peisley…“ Während sein Arbeitgeber sich wieder auf den Tresen lehnte, seufzte der Waschbär still auf. Er hatte den Nebenjob in der Kneipe angenommen, um sein Studium finanzieren zu können. Anfangs war er froh darüber gewesen, als er die Stelle bekommen hatte. Allerdings schaffte es Peisley immer wieder, sein ohnehin schon angeknackstes Selbstbewußtsein mit einem gut gezielten verbalen Fußtritt so zu malträtieren, daß er fast gänzlichst darunter zusammenbrach.
Wie er es bis jetzt durchgehalten hatte, wußte er selbst nicht. Die Kneipe hatte nicht den besten Ruf, die Arbeitsbedingungen waren genauso miserabel wie die Bezahlung, und er ging schon mit einem üblen Gefühl in der Magengegend aus dem Haus, wenn er wußte, daß er eine neue Schicht anzutreten hatte. Doch er brauchte das Geld. Selbst wenn er noch zu Hause bei seinen Eltern wohnte, weil er sich eine eigene Wohnung nicht leisten konnte; seine Eltern konnten ihn nicht mehr unterstützen, das wußte er.
Seine Gedanken drehten sich wie immer im Kreis, während er sich bemühte, seine Schicht mehr schlecht als recht hinter sich zu bringen; vermutlich nur, um wie so oft im Anschluß, wenn er fix und fertig zu Hause ankam und ins Bett fiel, schon mit der Angst vor dem nächsten Abend einzuschlafen und darum zu kämpfen, sich nicht in den Schlaf zu weinen. Manches Mal war er so am Boden zerstört, daß er selbst glaubte, er könne nichts richtig machen.
Cedric und Bert, seine Freunde aus der Schulzeit, beteuerten ihm immer wieder, daß es nicht an ihm lag. Ralph machte gute Arbeit, so gut es ihm eben in dem ihm vorgegebenen Rahmen möglich war. Er trödelte nicht, im Gegenteil, er hetzte sich in der Kneipe die Hacken ab, um es jedem Recht zu machen. In der Regel gelang ihm das auch – sah man von Peisley ab, der dauerunzufrieden mit ihm zu sein schien und ihn lieber herumkommandierte, während er an der Theke stand, mit einigen Saufkumpanen über Sport und Frauen herzog und ihm lieber bei der Arbeit zusah, anstatt selber mal Block und Stift in die Hand zu nehmen.
„Wenn ich das Geld nicht so dringend bräuchte, würde ich den Job einfach sein lassen.“ bemerkte Ralph, als er, nachdem er die Bestellung der Straußenlady an Tisch 12 aufgenommen hatte, zu seinen Freunden kam, um ihnen die Erdnußbuttersoda und das Mineralwasser zu bringen, welche der Waschbär und der Aardvark bestellt hatten.
„Ich bewundere dich, daß du das überhaupt aushältst!“ sagte Cedric. „Ich meine, mein Paps ist ja bisweilen schon schwierig, aber gegen den Inhaber hier ist er ja ein richtig netter Gentleman.“
„Oh, laß das deinen Vater nicht hören!“ warf Bert warnend ein. „Sonst dreht er völlig durch, wenn du sein Image so verreißt.“
Die beiden lachten herzlich.
Im Grunde hätte Ralph mitgelacht. Doch wenn er hier im Dienst war, dann war ihm eher nach heulen zumute, bis er endlich Feierabend hatte, was meistens viel später war, als eigentlich vorgesehen.
Er hatte sicher nichts dagegen, auch nachdem die Kneipe geschlossen hatte noch mitzuarbeiten – es gab viele Dinge, die zu erledigen waren, wie aufräumen und saubermachen, oder die Kasse abrechnen. Letzteres machte der Chef natürlich selbst; und er bekam es auch immer hin, daß die Kasse so »stimmte«, daß Ralph sein Trinkgeld nicht ausbezahlt bekam. Er hatte seine Freunde schon dazu angehalten, ihm kein Trinkgeld mehr zu geben, sondern - wenn sie es denn gern tun wollten - es ihm so zukommen zu lassen, indem sie ihn einfach mal auf einen Drink einluden, oder so.
Er selbst durfte jedenfalls die ganze Drecksarbeit machen, bis spät in die Nacht. Und nicht selten litt sein Studium darunter. Oft fehlte ihm die Zeit zum Lernen, und er war so fix und fertig, daß er im Studium nichts richtig aufnehmen konnte, dafür war er dann am Abend so fix und fertig, daß er kaum den Job in der Kneipe schaffte. Ein einziges Mal hatte er es gewagt, krank zu werden. Peisley hatte ihn daraufhin angeschrieen und ihm damit gedroht, ihn rauszuwerfen. Ralph hatte zitternd versprochen, daß es nie wieder vorkommen würde. Er erinnerte sich noch gut an die Situation, und auch daran, wie sein Freund Bert fast explodiert wäre, als er ihm davon erzählt hatte. Sein Waschbärkumpel hatte sich so dermaßen aufgeregt, daß Ralph schon befürchtet hatte, er würde direkt zu Peisley laufen und ihn niederboxen. Bert hatte ihm eine regelrechte Standpredigt gehalten, wie er sich so etwas gefallen lassen könnte, wie er sich so ausbeuten lassen könnte, und überhaupt. Und er hatte Recht. Doch Ralph fand den Absprung nicht. Meistens endete es damit, daß er sich selber sagte, daß er es eben nicht besser konnte.
Jetzt jedenfalls brachte er - wie immer, in letzter Zeit - ein kleines gequältes Lächeln zustande; mehr ging nicht, obwohl Berts Kommentar zum Schießen gewesen war. Er sah sich schnell zu Peisley um und schob den Jungs eine kleine Schale mit Pommes Frites zu. Er starb tausend Tode, wenn er daran dachte, daß der Kneipenbesitzer mitbekommen könnte, daß er seinen Freunden diese umsonst zukommen ließ, aber das Recht nahm er sich einfach heraus für all das, was er hier durchmachen mußte. Beruhigt stellte er fest, daß Peisley gerade einmal wieder viel zu sehr in seine Schwätzereien mit seinen Sportkumpels vertieft war und ihn keines Blickes würdigte. Schließlich ging er seufzend wieder an die Arbeit.
„Hey!“ Peisleys Stimme ließ Ralph herumfahren und in den funkelnden Blick des Dachses schauen, der auf einen nicht abgeräumten Tisch deutete. „Kein Weg umsonst, Raccoon!“
Ralph atmete tief durch und räumte den Tisch ab, bevor er eine neue Bestellung aufnahm und zurück in die Küche ging.
Bert und Cedric beobachteten es von ihrem Platz aus besorgt.
„Daß er sich das so gefallen läßt!“ bemerkte Bert resigniert. „Warum schmeißt er den Job nicht endlich hin und läßt Peisley mal so richtig auflaufen? Ich hab’s ihm schon so oft gesagt! Kein anderer würde sich das so lange gefallen lassen!“
Cedric schüttelte den Kopf. „Ralph hat einfach nicht genug Selbstvertrauen, um Peisley mal die Meinung zu sagen. Der Arme. Er tut mir richtig leid. Er braucht das Geld so dringend, daß er alles in Kauf dafür nimmt.“
„Ja, er hängt sehr an seinem Studium. Wenn wir ihm nur helfen könnten…“ sinnierte Bert.
In ihre Überlegungen hinein ging die Tür hinter ihnen auf, und die beiden sahen sich davon aus ihren Gedanken abgelenkt um. Im Zugang zu der Kneipe stand eine junge Raccoon-Dame und sah sich neugierig um.
Bert schnappte nach Luft. „Cedric, das ist doch… Ich kann’s ja nicht glauben!“
„Melissa ist wieder da!“ freute sich der Aardvark. „Mensch, da wird Ralph sich aber freuen! Damals in der Schule waren sie doch nahezu unzertrennlich! Erinnerst du dich noch, wie fix und fertig er war, als sie vor drei Jahren gegangen ist, um ihr Studium aufzunehmen?“
„Ja, und ob! Wie könnte ich das vergessen? Phantastisch, dann hat der Tag ja doch etwas Gutes für Ralph! – Hey, Melissa!“ Bert winkte dem Mädchen mit der kurzen blauen Jeans und dem rosafarbenen Oberteil, die daraufhin zurücklächelte und zu den beiden Jungs herüberlief.
„Bert, Cedric! Ich hatte gehofft, euch zu sehen!“ Sie begrüßten sich mit einer herzlichen Umarmung.
„Komm’, setz dich zu uns!“ Bert bot ihr einen Platz an ihrem Tisch an. „Sag’, wie ist es dir ergangen bei deinem Studium?“
„Oh, das war eine interessante Zeit, Bert. Ich habe viele interessante Orte gesehen und viel fürs Leben gelernt.“ erzählte Melissa euphorisch.
Cedric lachte. „Seit wann bist du denn zurück?“ erkundigte er sich.
„Seit heute. Gestern war der letzte Studientag. Eigentlich haben wir noch zwei Wochen bis zum offiziellen Semesterende, aber ich hab’s nicht mehr ausgehalten. Ich habe den Zug heute früh genommen und bin am späten Nachmittag bei meinen Eltern eingetroffen.“ berichtete Melissa. „Dann habe ich erst mal ausgepackt. Tja, und dann dachte ich mir, als ich auf dem Weg zu Ralph war, ich schaue hier kurz mal rein um zu sehen, ob ich alte Freunde wiedertreffe.“
„Na, das hast du auf jeden Fall!“ freute sich Bert.
„Ja, es ist, als würde die Sonne aufgehen!“ stimmte Cedric zu.
Melissa sah ihn mit einem überforderten Grinsen an. „Du meine Güte. Ich wußte ja gar nicht, daß ihr mich so vermißt habt!“
„Haben wir auch nicht!“ meinte Bert, und Melissa konnte nicht umhin, daß ihr die Gesichtszüge entglitten. „Ich meine, vermißt haben wir dich schon!“ stammelte Bert, als ihm aufging, was er gerade gesagt hatte. „Und wie! Aber nicht so, wie Ralph dich vermißt hat!“
Ein träumerischer Glanz legte sich in Melissas Augen und sie konnte ein sehnsuchtsvolles Lächeln nicht vermeiden. „Was macht Ralph denn gerade so…?“ erkundigte sie sich.
„Nun, er…“
Cedric wollte gerade ansetzen zu erzählen, als hinter ihnen die Tür der Kneipenküche aufging, und Ralph mit einem Tablett an einen der Tische ging, um die Gäste zu bewirten.
Melissa sah sich um und schnappte atemlos nach Luft.
Cedric grinste leicht. „Das wollte ich dir gerade erzählen. Er arbeitet hier, um sein Studium zu finanzieren.“
Melissa hörte ihm nur noch halb zu. Ihre Aufmerksamkeit lag viel zu sehr auf dem attraktiven Raccoon, der gerade die Bestellungen auf dem Tisch in der schlecht beleuchteten Ecke weiter hinten verteilte.
„Herr Kellner?“ tonte es indes schon wieder aus dem Hintergrund. Die weibliche Stimme kam von Tisch 12.
„Ich bin sofort bei Ihnen!“ rief Ralph ihr zu. Dann wandte er sich um, um auf seinem Weg bereits etwas schmutziges Geschirr von einem anderen Tisch mitzunehmen, um Mister Peisleys Anforderungen gerecht zu werden, als sich ihre Blicke trafen, und er wie erstarrt innehielt.
Melissa lächelte ihn strahlend an.
Ralph stockte im Schritt und hielt unwillkürlich den Atem. Von einem zum anderen Moment spürte er sein Herz rasen, und für den Bruchteil einer Sekunde war selbst Peisley vergessen, als er sie weltenentrückt anlächelte. Allerdings nur so lange, bis sich die Stimme des Dachses wieder scharf in sein Bewußtsein fraß.
„Ralph! Du bist zum Arbeiten hier, nicht um dumm in der Gegend rumzustehen! Da warten Bestellungen auf dich, verdammt noch mal!“
Der Raccoon fühlte sich, als hätte er einen sauberen Tritt in die Magengegend abbekommen. Bislang hatte er alles irgendwie ausgehalten, doch warum hatte das gerade jetzt kommen müssen, vor ihr…? Seinen ersten Impuls, das dreckige Geschirr und die wartende Kundschaft einfach zu ignorieren und zu ihr herüberzulaufen, um sie endlich wieder in die Arme zu nehmen, schluckte er mit einem bitteren Gefühl herunter. Er unterdrückte einen Anflug von Tränen, riß sich zusammen und wandte sich schnell zu Tisch 12 um, wo die Straußenlady bereits darauf wartete, ihre Bestellung aufgeben zu können. „Was kann ich noch für Sie tun?“ fragte er freundlich, während sie gerade noch die Getränkekarte studierte.
„Einen türkischen Mokka, bitte!“
„Gerne.“ sagte er, und das meinte er ernst. Die Frau war nett, und für das, was Peisley mit ihm machte, konnte sie schließlich nichts. Er sah sich schnell nach neuen Gästen um und entdeckte das Luchspärchen an einem der hinteren Tische. Er wußte, wie sehr Peisley es haßte, wenn er Gäste warten ließ, und so hetzte er an dem Tisch seiner Freunde vorbei auf die andere Seite, nicht ohne Melissa einen verstohlenen, sehnsüchtigen Blick zuzuwerfen, die jede seiner Bewegungen genau beobachtete. Innerlich freute er sich bereits unbändig darauf, ihre Bestellung aufzunehmen, und so einen kleinen Moment in ihrer Nähe verweilen zu dürfen. Wenigstens das war etwas, was Peisley ihm nicht würde nehmen können! Doch dafür mußte er sich einen kleinen Augenblick seelisch vorbereiten; viel zu groß war die Euphorie, die das unverhoffte Wiedersehen mit sich brachte, und viel zu grotesk die Mischung mit dem Gefühl der Erniedrigung, das Peisley gerne in ihm auslöste, und das in dieser Situation noch unerträglicher wurde. Die Bestellung der neuen Gäste kam ihm da gerade recht, das würde ihm die nötige Zeit verschaffen, um sich zu sammeln und innerlich darauf vorzubereiten, das Mädchen seiner Träume gebührend und souverän zu begrüßen. Er stoppte fast schlitternd bei dem Tisch, an dem die Luchse saßen. „Kann ich Ihnen schon etwas bringen?“ fragte er das Pärchen und riß sich zusammen, um sich auf die Bestellung der beiden zu konzentrieren.
„Ja, zwei Margherita-Cocktails, bitte!“ bestellte der schneidige Luchsmann.
„Gerne. Darf es auch etwas zu essen sein?“
„Ja, aber wir schauen noch!“ erwiderte das Mädchen an seiner Seite.
Ralph nickte und huschte zurück zur Theke, um den türkischen Kaffee und die Margheritas zu fertigen.
In der Zwischenzeit forderten Cedric und Bert wieder Melissas Aufmerksamkeit.
„Ralph hat dich wirklich sehr vermißt, Melissa!“ erzählte Cedric weiter.
„Wirklich?“ fragte sie atemlos.
Der Aardvark nickte. „Und wie!“
„Ich habe ihn auch wahnsinnig vermißt.“ erwiderte sie seelenvoll. „Hoffentlich kann er sich gleich noch etwas zu uns setzen.“
„Darauf würde ich nicht hoffen. Er wird hier immer sehr gut eingespannt.“ kommentierte Bert. „Mister Peisley kennt da keine Gnade.“
„Wie schade.“ Sie sah sich zu Ralph um, dem die Hände unter Peisleys Blick zitterten; was Melissa von ihrem Platz aus allerdings nicht sehen konnte. „Wie lange muß er denn arbeiten?“
„Lange!“ sagte Cedric.
„Ich habe nicht den Eindruck, daß Ralph sich hier wohlfühlt.“ stellte sie nachdenklich fest.
„Kann er auch nicht.“ brachte Bert es auf den Punkt. „Die Arbeitsbedingungen sind miserabel. Ralph rackert sich hier ganz schön ab, für sein Studium. Hoffentlich habt ihr überhaupt noch Zeit, euch zu sehen. Die Aufmunterung kann er sicher gebrauchen.“
„Aber sagt mal, findet er denn nichts besseres?“ fragte Melissa, als sie sich betroffen wieder zu den beiden umdrehte. „Es muß doch noch mehr Jobs geben als diesen hier. Etwas, wo er auch die Anerkennung bekommt, die er verdient.“
„Du kennst doch Ralph.“ warf Cedric seufzend ein. „Wir haben es ihm auch schon so oft gesagt, aber dann kommt von ihm nur, er würde das schon schaffen, und wir sollen uns nicht einmischen. Ich glaube, er hat Angst davor, einen neuen Job anzunehmen, weil er befürchtet, daß er dann dort genauso behandelt wird, und er Angst hat, daß ihm dann noch mehr bestätigt wird, wie unfähig er ist. Und dabei stimmt das überhaupt nicht.“
„Nein. Das redet er sich nur ein. Und dieser Peisley spiegelt ihm das auch immer wieder.“ Bert war bereits wieder dabei, sich in Rage zu reden.
„Das habe selbst ich bereits begriffen, und ich bin erst seit ein paar Minuten hier…“ stellte Melissa besorgt fest und sah zu Ralph an der Theke herüber. „Er hat sich nicht viel verändert.“
Der Raccoon mit dem weißen Schal war gerade fertig mit den aktuellen Bestellungen. Er drapierte die Tasse und die beiden Gläser auf einem Tablett und schaute zu den beiden Luchsen, die gerade zufrieden die Speisekarten aus den Pfoten gelegt hatten. So schnell wie möglich machte er sich mit dem Tablett auf den Weg – zuerst zu dem Pärchen, damit er gleich zeitnah ihre Bestellung aufnehmen konnte.
„Ralph! Miss Gisele wartet schon länger auf ihre Bestellung!“ bölkte die Stimme von Peisley von der Theke zu ihm herüber.
„Bin schon auf dem Weg!“ Ralph versuchte, sein letztes bißchen Würde aufrecht zu erhalten, bediente trotzdem erst das Luchspärchen und nahm ihre Bestellung auf, dann rannte er mit dem Tablett auf die andere Seite des Raumes; als er das Kabel von dem Fernseher übersah, das schon ein gefühltes halbes Jahr durch den Raum verlief – ungefähr so lange, seit die letzte Fußballsaison gelaufen war, für die er sich sowieso nicht interessierte. Jetzt wurde ihm die Fußballsaison noch nachträglich zum Verhängnis, als er stolperte, und nur einen Augenblick später nichts weiter tun konnte, als mit zusammengebissenen Zähnen zuzusehen, wie die Tasse türkischer Mokka wie in Zeitlupe durch die Luft flog.
Alle im Gästeraum hielten synchron den Atem an; selbst Peisley hielt ausnahmsweise seine Klappe, solange, bis sich der Inhalt der Tasse direkt über Melissas Shirt und ihre Hose ergoß, kurz bevor die Tasse scheppernd ein Stück weiter zu Boden ging.
Ralph hatte gerade so seinen Sturz abfangen können, doch der seelische Abgrund tat sich gerade erst vor ihm auf, als er das Mädchen seiner Träume mit von türkischem Mokka durchtränkter Kleidung dasitzen sah. Cedric war geistesgegenwärtig aufgesprungen und hatte ihr eine Serviette gereicht, als auch schon die wütende Stimme des Kneipenbesitzers über sie hinweg durch den ganzen Saal bis hin zu seinem Adressaten drang.
„Sag’ mal, bist du eigentlich für alles zu blöd? Das kann doch wohl nicht wahr sein! Nicht mal in der Lage, einen einfachen Mokka zu servieren! Jedes verschimmelte Toastbrot leistet bessere Arbeit als du! Sieh zu, daß du dich bei der jungen Dame und bei Miss Gisele entschuldigst! Du ruinierst den ganzen Ruf meiner Kneipe!“
Bert, Melissa und Cedric hatten, wie alle anderen auch, die Szene nur wie erstarrt beobachten können, als Melissa jetzt aber reagieren wollte, war es bereits zu spät, denn Ralph warf schon das Tablett beiseite und rannte aus der Kneipe ins Freie, ohne weiter auf seine Umwelt zu achten.
„Ralph, warte…“ rief Melissa noch, doch ihr zaghafter Ruf ging bereits in einer anderen Äußerung unter, die genau das Gegenteil ihrer liebevollen Stimme darstellte.
„Komm sofort zurück, du feiger, unzivilisierter Ignorant! Ich habe einen Ruf zu verlieren!“ wetterte Peisley, doch das bekam der unglückliche Raccoon schon gar nicht mehr mit.
In dem Augenblick passierte alles zeitgleich; Melissa sprang auf und lief Ralph hinterher, und Bert sprang ebenfalls auf, so vehement, daß der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, nach hinten umkippte. „Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt, Mister Peisley! Wenn hier jemand den Ruf des Etablissements ruiniert, dann sind Sie das, ganz allein!“ In seiner Miene spiegelte sich sein ganzer aufgestauter Ärger, als er den Kneipenbesitzer auszählte. „Ralph leistet hier phantastische Arbeit, und was muß er über sich ergehen lassen? Unfaire Arbeitszeiten, Streß ohne Ende, Beschimpfungen, er darf die ganze Arbeit machen, während Sie sich vergnügen und ihn rumkommandieren! Und hat es je ein Wort der Anerkennung gegeben? Nein! Sie zahlen ihm ja nicht mal das Trinkgeld aus, das er sich verdient hat! – Ralph ist sicher nicht schuld daran, wenn Ihre Kneipe keinen guten Ruf hat. Im Gegenteil! Im Grunde sollte ihretwegen niemand mehr hier herkommen! Wir würden es sicher nicht tun, um Ihnen das Geld auch noch in den Rachen zu schmeißen. Aber wenn Ralph hier nicht zumindest ab und zu ein paar Freunde sehen würde, wäre er ja ganz am Ende mit den Nerven. Eigentlich ist eine dicke fette Entschuldigung von Ihnen an Ralph fällig, inklusive der Auszahlung aller Trinkgelder, die Sie ihm seit Arbeitsbeginn unterschlagen haben und einer Entschädigung für das, was Sie ihm heute angetan haben! Sie Tyrann!“ Der Waschbär atmete durch und hob seinen Stuhl wieder auf, um sich zu setzen.
Für einen Augenblick herrschte Stille im Saal. Dann brach Applaus im Gästeraum aus. Alle Anwesenden an den Tischen stimmten mit ein, auch Miss Gisele und die beiden Luchse.
„Wow. Was für eine Ansprache, Bert.“ entfuhr es Cedric beeindruckt.
„Tut mir leid, aber da konnte ich gerade meinen Mund nicht mehr halten.“ gab Bert verbissen zurück. „Schlimmer kann es für Ralph ohnehin nicht mehr kommen; irgend jemand mußte diesem Peisley mal die Meinung sagen.“
Cedric schmunzelte, was deutlich seinen Stolz für Berts Aktion zum Ausdruck brachte. Dann mischte sich Nachdenklichkeit in seinen Blick. „Wie es Ralph wohl gerade gehen mag…“
Melissa war aus der Kneipe hinausgestürzt und sah sich aufgewühlt um, doch Ralph war bereits aus ihrem Blickfeld verschwunden. „Ralph? Ralph!“ Sie bekam keine Antwort. Sie rannte ein Stück den Weg herunter und sondierte verzweifelt alle Richtungen. ‚Wenn ich nur wüßte, wo er hingegangen ist…‘ Schnell ging sie im Geiste die Möglichkeiten durch. Sie vermutete, daß Ralph in diesem Zustand nicht nach Hause gelaufen sein würde, wo er sich mit seinen Eltern würde auseinandersetzen müssen. Als Kind hatte er das in solchen Situationen getan. Aber das würde er heute sicher zu vermeiden wissen. Sie war sich sicher, er würde im Augenblick allein sein wollen. ‚Und sicher wird er weit weg von der Kneipe sein wollen. Und wahrscheinlich gerade auch von mir…’ schoß es ihr durch den Sinn, und sie spürte, wie sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog.
Schnell rief sie sich in Gedanken einen Lageplan dieses Teils des Waldes auf. Hoffentlich war noch alles so, wie sie es hier in Erinnerung hatte… Sie erinnerte sich, daß nicht allzu weit entfernt im Wald ein kleines Amphitheater lag, mit Stufen, die aus dem Waldboden geformt waren und die Sitzbänke darstellten. Als Kinder waren sie oft dagewesen und hatten dort gespielt, manchmal kleine Theaterstücke improvisiert, und manchmal waren sie und Ralph dort gewesen, wenn sie gemeinsam etwas unternommen, gelernt oder sich einfach so vergnügt hatten. Dort waren sie auch gewesen, als sie ihm vor drei Jahren erzählt hatte, daß sie würde fortgehen müssen, weil sie die Chance auf ein großartiges Studium hatte. Es war nur eine vage Vermutung, da diese jedoch genauso gut wie jede andere war, beschloß sie, es dort zu versuchen.
Mit klopfendem Herzen und stiller Hoffnung suchte sie nach dem alten Waldpfad, der ihr ganz anders in Erinnerung geblieben war, nach einiger Zeit stellte sich jedoch das beruhigende Gefühl ein, daß sie auf dem richtigen Weg war – und als sie an die baumgesäumte Lichtung kam, traf sie fast der Schlag. Sie hatte sich nicht getäuscht. Ralph saß dort auf einer der Stufen, ihr den Rücken zugekehrt, das Gesicht in den verschränkten Armen vergraben und weinte sich die Seele aus dem Leib. Sie verlor weder Worte noch Zeit, rannte bestürzt zu ihm herüber, ließ sich neben ihm auf die Stufe sinken und zog ihn kompromißlos und selbst den Tränen nahe in ihre Arme.
Ralph wußte so schnell gar nicht, wie ihm geschah, und noch einen Augenblick später erst registrierte er, daß sie es war. Überrascht schnappte er nach Luft und konnte kaum das merkwürdige Gefühl kompensieren, daß sich bei ihrer Berührung durch seinen ganzen Körper zog. Unwillkürlich verkrampfte er sich etwas, doch er hätte nicht einmal dann die Kraft gehabt, sich aus ihrer Umarmung zu lösen, wenn er es gewollt hätte. In ihm bekämpften sich der Wunsch, daß dieses schöne Gefühl, in ihren Armen zu liegen, nie aufhören würde mit dem Gedanken, was für eine jämmerliche Figur er gerade abgab, vor dem Mädchen, das er seit der Schule schon geliebt hatte, und zu dem seine Liebe über all die Jahre, in denen sie nicht dagewesen war, nie versiegt war. Nie hätte eine andere ihren Platz einnehmen können, und das war etwas, was ihm nie bewußter hätte sein können als jetzt, als sie ihn nach dieser ganzen Misere hier in den Armen hielt. Noch immer schluchzte er kraftlos vor sich hin. „Das ist der schlimmste Tag meines Lebens.“ brachte er dazwischen hervor.
„Für mich ist es der schönste Tag meines Lebens.“ erwiderte Melissa sanft. „Weil ich dich endlich wiedergesehen habe.“ Sie legte die Wange an sein Fell und schloß die Augen. „Ich hätte mir nur gewünscht, daß ich dich lachen sehe.“
Ralph atmete stockend durch. „Nachdem ich dir türkischen Mokka über die Klamotten gegossen habe?“
Melissa grinste unwillkürlich. „Ja! Das war doch einfach zum Schießen!“ Selbst ihre fröhliche Stimme konnte seinem Schluchzen nicht entgegenwirken. „Komm schon, Ralph.“ fügte sie beruhigend an. „Das ist doch alles nicht so schlimm.“ Sie drückte ihn sanft an sich, und ihre Stimme änderte sich von einem amüsierten zu einem ernsten Tonfall, als sie fortfuhr: „Nur eines solltest du bald tun: Gib diesen undankbaren Job auf.“ Sie löste die Umarmung ein wenig, zwang ihn mit einer sanften Geste, sie anzusehen und erklärte ernst: „Nichts ist es wert, daß du dich so behandeln läßt. Und wenn Bert und Cedric dir das durchgehen lassen, dann ist das ihr Problem. Ich werde es nicht! Und willst du wissen, warum? Weil ich dich liebe!“ Sie sah ihm an, daß sie ihn gerade völlig überforderte, erlöste ihn aber aus der unvermittelten Erwartungshaltung, indem sie ihn einfach fest in die Arme nahm. „Ich hab’ dich so vermißt, Ralph…“
„Ehrlich?“ fragte er atemlos, fast so, als könne er es gar nicht glauben, während er wie berauscht und mit einem leichten Zittern ihre Geste erwiderte.
„Ehrlich.“ bestätigte sie. „Es ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht an dich gedacht habe.“ Sie schloß die Augen und schmiegte sich an ihn, bevor sie leise fortfuhr: „Ich habe so oft darüber nachgedacht, was du wohl mittlerweile so machst, was aus dir geworden ist, und mich so darauf gefreut, daß wir uns endlich wiedersehen.“
„Naja, was aus mir geworden ist, hast du ja gesehen.“ erwiderte er verzagt.
„Mmhm.“ bestätigte Melissa mit einem Schmunzeln und sah ihm liebevoll in die Augen. „Der attraktivste Raccoon, der mir je begegnet ist. Und der immer noch viel zu sehr an sich selbst zweifelt.“ Sie sah ihn nachdenklich an. „Was ist nur los mit dir? Du hast so viel vorzuweisen, warum fällt es dir so schwer, an dich selbst zu glauben?“
Er wich ihrem Blick aus. „Ich weiß es nicht, Melissa…“ erwiderte er unglücklich.
„Das hast du nicht nötig, Ralph!“ erklärte sie mit Nachdruck, während sie ihm sanft über die Wange strich, um den Blickkontakt wieder herzustellen. „Du ganz sicher nicht!“ Unter ihrem liebevollen Blick brachte er sogar ein Lächeln zustande, auch wenn er ihrem Blick kaum standhalten konnte. Sie schmunzelte leicht und musterte sie ihn gedankenvoll. „In den letzten drei Jahren habe ich oft darüber nachgedacht, ob du dich wohl sehr verändert hast. Ich habe mich gefragt, ob du immer noch so schüchtern bist, oder selbstbewußter, oder vielleicht ganz anders. Ich hatte Angst, du könntest dich völlig verändert haben, nicht mehr so sein wie früher, so liebenswert, sympathisch und einfach süß. Aber am meisten Angst hatte ich davor, daß ich zurückkomme und feststelle, daß ich nicht mehr in dein Leben passe. Daß du mich nicht mehr willst, oder ein selbstbewußter Raccoon geworden bist, der mittlerweile eine Freundin hat, oder sich eine Familie aufgebaut hat…“
Ralph zog ein Schmollen und sah verzagt vor sich hin. „Und jetzt bist du zurück, um festzustellen, daß du den größten Trottel aller Zeiten…“ Weiter kam er nicht, denn sie lehnte sich kurzerhand zu ihm vor und küßte ihn, und unterbrach auf diese Weise seine Rede. Ein Gefühl, einem elektrischen Schauer gleich, arbeitete sich durch seinen Körper, überfordernd und wunderschön zugleich, bevor er sie zitternd in seine Arme zog. Als sie ihn schließlich aus dem Kuß entließ, sah er sie atemlos an.
„Ich will solchen Unsinn nicht mehr hören!“ erklärte sie kompromißlos. „Küß mich lieber noch mal. Und danach gehst du zu Peisley und kündigst deinen Job!“
Ralph lächelte verträumt. „Ich hätte einen besseren Vorschlag. Wir bleiben einfach hier und genießen den Abend zusammen. Peisley hat mich garantiert ohnehin schon gefeuert. Und ich möchte den Abend lieber nur mit dir allein verbringen. Peisley hat es nicht verdient, daß ich ihn heute Abend auch nur noch eines Gedankens würdige. Nicht, wenn ich dich statt dessen hier in meinen Armen halten kann.“
Melissa grinste. „Das ist die richtige Einstellung!“
Ralph lächelte verlegen. Dann fiel sein Blick verschämt auf ihr Top mit den Spuren türkischen Mokkas. „Das tut mir so leid, Melissa.“
„Ich verrate dir was!“ erwiderte sie tiefgründig, ohne den Blick aus seinen Augen zu lösen. „Das kann man waschen!“ Sie rieb ihre Nase sanft an seiner. „Was ist jetzt mit dem versprochenen Kuß?“
Er atmete berauscht durch und antwortete, indem er ihrer Bitte nachkam, und dieses Mal nahmen sie sich sehr viel Zeit, um den Augenblick zu genießen und in dem Kuß zu versinken, bevor sie sich in einer engen Umarmung zusammenschmiegten. Sie verlagerte etwas die Position und kuschelte sich an ihn. Er spürte seinen Puls rasen und verschränkte die Arme fest um sie in der Hoffnung, dem Zittern entgegenwirken zu können. „Du ahnst nicht, wie sehr ich dich liebe, Melissa!“ hauchte er.
„Wenn es noch mehr ist als das, was du mich spüren läßt, bekomme ich Angst, Ralph!“ lachte sie.
Er konnte nicht anders, als in ihr Lachen einzustimmen, und zum ersten Mal seit sie zurückgekehrt war, hatte Melissa das Gefühl, daß es ihm richtig gutging. Es war wie eine Erlösung für sie, endlich das zu bekommen, was sie sich die ganze Zeit über gewünscht hatte: Den Mann, den sie liebte, glücklich zu sehen.
Er schmiegte sich sehnsüchtig an sie und ließ die Gedanken schweifen, das erste Mal seit langem überglücklich und fern jeder Verzweiflung, obwohl er sich jetzt einen neuen Job suchen mußte, um sein Studium finanzieren zu können. Aber darüber konnte er später nachdenken. Heute Abend galt all seine Aufmerksamkeit nur der wundervollen Frau, die ihn gerade in ihren Armen hielt. „Ich glaube, wenn du im Gastraum sitzen und mich anlächeln würdest, dann könnte Peisley mich solange niedermachen wie er will, das würde mir nichts ausmachen.“ sinnierte er.
Sie drückte ihn sanft an sich und schloß die Augen. „Ich hätte schon viel früher zurückkommen müssen.“
Ralph seufzte. „Oh ja. Aber nicht wegen Peisley.“
Anm. d. Aut.: Die Geschichte mit dem »türkische Mokka« kommt ursprünglich direkt aus der Episode »Der grenzenlose Himmel«, in der Ralph erwähnt, daß er, als er und Melissa sich kennenlernten, türkischen Mokka über sie gegossen hat. Dies hier ist meine Interpretation der Geschichte, wobei ich das Kennenlernen hier allerdings als Wiedersehen umgesetzt habe, da sich die beiden laut der Folge »Die alte Schule« auch schon als Kinder kannten, und es somit mit dieser Variante mehr Sinn ergibt.
(Allgemeiner Hinweis: Ich richte mich grundsätzlich nach alter Rechtschreibung.)
Ich wünsche euch eine schöne Zeit beim Lesen.
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Chain Reaction
„Ralph, herrgottnochmal, was trödelst du denn da rum? Die Dame an Tisch 12 wartet darauf, ihre Bestellung aufgeben zu können!“
Ralph zuckte unter der scharfen Stimme des stämmigen Dachses zusammen, der ihn von der Theke aus beobachtete, und bemühte sich, den Tisch, an dem er gerade stand, noch ein wenig schneller abzuräumen. „Ja, Mister Peisley…“ Während sein Arbeitgeber sich wieder auf den Tresen lehnte, seufzte der Waschbär still auf. Er hatte den Nebenjob in der Kneipe angenommen, um sein Studium finanzieren zu können. Anfangs war er froh darüber gewesen, als er die Stelle bekommen hatte. Allerdings schaffte es Peisley immer wieder, sein ohnehin schon angeknackstes Selbstbewußtsein mit einem gut gezielten verbalen Fußtritt so zu malträtieren, daß er fast gänzlichst darunter zusammenbrach.
Wie er es bis jetzt durchgehalten hatte, wußte er selbst nicht. Die Kneipe hatte nicht den besten Ruf, die Arbeitsbedingungen waren genauso miserabel wie die Bezahlung, und er ging schon mit einem üblen Gefühl in der Magengegend aus dem Haus, wenn er wußte, daß er eine neue Schicht anzutreten hatte. Doch er brauchte das Geld. Selbst wenn er noch zu Hause bei seinen Eltern wohnte, weil er sich eine eigene Wohnung nicht leisten konnte; seine Eltern konnten ihn nicht mehr unterstützen, das wußte er.
Seine Gedanken drehten sich wie immer im Kreis, während er sich bemühte, seine Schicht mehr schlecht als recht hinter sich zu bringen; vermutlich nur, um wie so oft im Anschluß, wenn er fix und fertig zu Hause ankam und ins Bett fiel, schon mit der Angst vor dem nächsten Abend einzuschlafen und darum zu kämpfen, sich nicht in den Schlaf zu weinen. Manches Mal war er so am Boden zerstört, daß er selbst glaubte, er könne nichts richtig machen.
Cedric und Bert, seine Freunde aus der Schulzeit, beteuerten ihm immer wieder, daß es nicht an ihm lag. Ralph machte gute Arbeit, so gut es ihm eben in dem ihm vorgegebenen Rahmen möglich war. Er trödelte nicht, im Gegenteil, er hetzte sich in der Kneipe die Hacken ab, um es jedem Recht zu machen. In der Regel gelang ihm das auch – sah man von Peisley ab, der dauerunzufrieden mit ihm zu sein schien und ihn lieber herumkommandierte, während er an der Theke stand, mit einigen Saufkumpanen über Sport und Frauen herzog und ihm lieber bei der Arbeit zusah, anstatt selber mal Block und Stift in die Hand zu nehmen.
„Wenn ich das Geld nicht so dringend bräuchte, würde ich den Job einfach sein lassen.“ bemerkte Ralph, als er, nachdem er die Bestellung der Straußenlady an Tisch 12 aufgenommen hatte, zu seinen Freunden kam, um ihnen die Erdnußbuttersoda und das Mineralwasser zu bringen, welche der Waschbär und der Aardvark bestellt hatten.
„Ich bewundere dich, daß du das überhaupt aushältst!“ sagte Cedric. „Ich meine, mein Paps ist ja bisweilen schon schwierig, aber gegen den Inhaber hier ist er ja ein richtig netter Gentleman.“
„Oh, laß das deinen Vater nicht hören!“ warf Bert warnend ein. „Sonst dreht er völlig durch, wenn du sein Image so verreißt.“
Die beiden lachten herzlich.
Im Grunde hätte Ralph mitgelacht. Doch wenn er hier im Dienst war, dann war ihm eher nach heulen zumute, bis er endlich Feierabend hatte, was meistens viel später war, als eigentlich vorgesehen.
Er hatte sicher nichts dagegen, auch nachdem die Kneipe geschlossen hatte noch mitzuarbeiten – es gab viele Dinge, die zu erledigen waren, wie aufräumen und saubermachen, oder die Kasse abrechnen. Letzteres machte der Chef natürlich selbst; und er bekam es auch immer hin, daß die Kasse so »stimmte«, daß Ralph sein Trinkgeld nicht ausbezahlt bekam. Er hatte seine Freunde schon dazu angehalten, ihm kein Trinkgeld mehr zu geben, sondern - wenn sie es denn gern tun wollten - es ihm so zukommen zu lassen, indem sie ihn einfach mal auf einen Drink einluden, oder so.
Er selbst durfte jedenfalls die ganze Drecksarbeit machen, bis spät in die Nacht. Und nicht selten litt sein Studium darunter. Oft fehlte ihm die Zeit zum Lernen, und er war so fix und fertig, daß er im Studium nichts richtig aufnehmen konnte, dafür war er dann am Abend so fix und fertig, daß er kaum den Job in der Kneipe schaffte. Ein einziges Mal hatte er es gewagt, krank zu werden. Peisley hatte ihn daraufhin angeschrieen und ihm damit gedroht, ihn rauszuwerfen. Ralph hatte zitternd versprochen, daß es nie wieder vorkommen würde. Er erinnerte sich noch gut an die Situation, und auch daran, wie sein Freund Bert fast explodiert wäre, als er ihm davon erzählt hatte. Sein Waschbärkumpel hatte sich so dermaßen aufgeregt, daß Ralph schon befürchtet hatte, er würde direkt zu Peisley laufen und ihn niederboxen. Bert hatte ihm eine regelrechte Standpredigt gehalten, wie er sich so etwas gefallen lassen könnte, wie er sich so ausbeuten lassen könnte, und überhaupt. Und er hatte Recht. Doch Ralph fand den Absprung nicht. Meistens endete es damit, daß er sich selber sagte, daß er es eben nicht besser konnte.
Jetzt jedenfalls brachte er - wie immer, in letzter Zeit - ein kleines gequältes Lächeln zustande; mehr ging nicht, obwohl Berts Kommentar zum Schießen gewesen war. Er sah sich schnell zu Peisley um und schob den Jungs eine kleine Schale mit Pommes Frites zu. Er starb tausend Tode, wenn er daran dachte, daß der Kneipenbesitzer mitbekommen könnte, daß er seinen Freunden diese umsonst zukommen ließ, aber das Recht nahm er sich einfach heraus für all das, was er hier durchmachen mußte. Beruhigt stellte er fest, daß Peisley gerade einmal wieder viel zu sehr in seine Schwätzereien mit seinen Sportkumpels vertieft war und ihn keines Blickes würdigte. Schließlich ging er seufzend wieder an die Arbeit.
„Hey!“ Peisleys Stimme ließ Ralph herumfahren und in den funkelnden Blick des Dachses schauen, der auf einen nicht abgeräumten Tisch deutete. „Kein Weg umsonst, Raccoon!“
Ralph atmete tief durch und räumte den Tisch ab, bevor er eine neue Bestellung aufnahm und zurück in die Küche ging.
Bert und Cedric beobachteten es von ihrem Platz aus besorgt.
„Daß er sich das so gefallen läßt!“ bemerkte Bert resigniert. „Warum schmeißt er den Job nicht endlich hin und läßt Peisley mal so richtig auflaufen? Ich hab’s ihm schon so oft gesagt! Kein anderer würde sich das so lange gefallen lassen!“
Cedric schüttelte den Kopf. „Ralph hat einfach nicht genug Selbstvertrauen, um Peisley mal die Meinung zu sagen. Der Arme. Er tut mir richtig leid. Er braucht das Geld so dringend, daß er alles in Kauf dafür nimmt.“
„Ja, er hängt sehr an seinem Studium. Wenn wir ihm nur helfen könnten…“ sinnierte Bert.
In ihre Überlegungen hinein ging die Tür hinter ihnen auf, und die beiden sahen sich davon aus ihren Gedanken abgelenkt um. Im Zugang zu der Kneipe stand eine junge Raccoon-Dame und sah sich neugierig um.
Bert schnappte nach Luft. „Cedric, das ist doch… Ich kann’s ja nicht glauben!“
„Melissa ist wieder da!“ freute sich der Aardvark. „Mensch, da wird Ralph sich aber freuen! Damals in der Schule waren sie doch nahezu unzertrennlich! Erinnerst du dich noch, wie fix und fertig er war, als sie vor drei Jahren gegangen ist, um ihr Studium aufzunehmen?“
„Ja, und ob! Wie könnte ich das vergessen? Phantastisch, dann hat der Tag ja doch etwas Gutes für Ralph! – Hey, Melissa!“ Bert winkte dem Mädchen mit der kurzen blauen Jeans und dem rosafarbenen Oberteil, die daraufhin zurücklächelte und zu den beiden Jungs herüberlief.
„Bert, Cedric! Ich hatte gehofft, euch zu sehen!“ Sie begrüßten sich mit einer herzlichen Umarmung.
„Komm’, setz dich zu uns!“ Bert bot ihr einen Platz an ihrem Tisch an. „Sag’, wie ist es dir ergangen bei deinem Studium?“
„Oh, das war eine interessante Zeit, Bert. Ich habe viele interessante Orte gesehen und viel fürs Leben gelernt.“ erzählte Melissa euphorisch.
Cedric lachte. „Seit wann bist du denn zurück?“ erkundigte er sich.
„Seit heute. Gestern war der letzte Studientag. Eigentlich haben wir noch zwei Wochen bis zum offiziellen Semesterende, aber ich hab’s nicht mehr ausgehalten. Ich habe den Zug heute früh genommen und bin am späten Nachmittag bei meinen Eltern eingetroffen.“ berichtete Melissa. „Dann habe ich erst mal ausgepackt. Tja, und dann dachte ich mir, als ich auf dem Weg zu Ralph war, ich schaue hier kurz mal rein um zu sehen, ob ich alte Freunde wiedertreffe.“
„Na, das hast du auf jeden Fall!“ freute sich Bert.
„Ja, es ist, als würde die Sonne aufgehen!“ stimmte Cedric zu.
Melissa sah ihn mit einem überforderten Grinsen an. „Du meine Güte. Ich wußte ja gar nicht, daß ihr mich so vermißt habt!“
„Haben wir auch nicht!“ meinte Bert, und Melissa konnte nicht umhin, daß ihr die Gesichtszüge entglitten. „Ich meine, vermißt haben wir dich schon!“ stammelte Bert, als ihm aufging, was er gerade gesagt hatte. „Und wie! Aber nicht so, wie Ralph dich vermißt hat!“
Ein träumerischer Glanz legte sich in Melissas Augen und sie konnte ein sehnsuchtsvolles Lächeln nicht vermeiden. „Was macht Ralph denn gerade so…?“ erkundigte sie sich.
„Nun, er…“
Cedric wollte gerade ansetzen zu erzählen, als hinter ihnen die Tür der Kneipenküche aufging, und Ralph mit einem Tablett an einen der Tische ging, um die Gäste zu bewirten.
Melissa sah sich um und schnappte atemlos nach Luft.
Cedric grinste leicht. „Das wollte ich dir gerade erzählen. Er arbeitet hier, um sein Studium zu finanzieren.“
Melissa hörte ihm nur noch halb zu. Ihre Aufmerksamkeit lag viel zu sehr auf dem attraktiven Raccoon, der gerade die Bestellungen auf dem Tisch in der schlecht beleuchteten Ecke weiter hinten verteilte.
„Herr Kellner?“ tonte es indes schon wieder aus dem Hintergrund. Die weibliche Stimme kam von Tisch 12.
„Ich bin sofort bei Ihnen!“ rief Ralph ihr zu. Dann wandte er sich um, um auf seinem Weg bereits etwas schmutziges Geschirr von einem anderen Tisch mitzunehmen, um Mister Peisleys Anforderungen gerecht zu werden, als sich ihre Blicke trafen, und er wie erstarrt innehielt.
Melissa lächelte ihn strahlend an.
Ralph stockte im Schritt und hielt unwillkürlich den Atem. Von einem zum anderen Moment spürte er sein Herz rasen, und für den Bruchteil einer Sekunde war selbst Peisley vergessen, als er sie weltenentrückt anlächelte. Allerdings nur so lange, bis sich die Stimme des Dachses wieder scharf in sein Bewußtsein fraß.
„Ralph! Du bist zum Arbeiten hier, nicht um dumm in der Gegend rumzustehen! Da warten Bestellungen auf dich, verdammt noch mal!“
Der Raccoon fühlte sich, als hätte er einen sauberen Tritt in die Magengegend abbekommen. Bislang hatte er alles irgendwie ausgehalten, doch warum hatte das gerade jetzt kommen müssen, vor ihr…? Seinen ersten Impuls, das dreckige Geschirr und die wartende Kundschaft einfach zu ignorieren und zu ihr herüberzulaufen, um sie endlich wieder in die Arme zu nehmen, schluckte er mit einem bitteren Gefühl herunter. Er unterdrückte einen Anflug von Tränen, riß sich zusammen und wandte sich schnell zu Tisch 12 um, wo die Straußenlady bereits darauf wartete, ihre Bestellung aufgeben zu können. „Was kann ich noch für Sie tun?“ fragte er freundlich, während sie gerade noch die Getränkekarte studierte.
„Einen türkischen Mokka, bitte!“
„Gerne.“ sagte er, und das meinte er ernst. Die Frau war nett, und für das, was Peisley mit ihm machte, konnte sie schließlich nichts. Er sah sich schnell nach neuen Gästen um und entdeckte das Luchspärchen an einem der hinteren Tische. Er wußte, wie sehr Peisley es haßte, wenn er Gäste warten ließ, und so hetzte er an dem Tisch seiner Freunde vorbei auf die andere Seite, nicht ohne Melissa einen verstohlenen, sehnsüchtigen Blick zuzuwerfen, die jede seiner Bewegungen genau beobachtete. Innerlich freute er sich bereits unbändig darauf, ihre Bestellung aufzunehmen, und so einen kleinen Moment in ihrer Nähe verweilen zu dürfen. Wenigstens das war etwas, was Peisley ihm nicht würde nehmen können! Doch dafür mußte er sich einen kleinen Augenblick seelisch vorbereiten; viel zu groß war die Euphorie, die das unverhoffte Wiedersehen mit sich brachte, und viel zu grotesk die Mischung mit dem Gefühl der Erniedrigung, das Peisley gerne in ihm auslöste, und das in dieser Situation noch unerträglicher wurde. Die Bestellung der neuen Gäste kam ihm da gerade recht, das würde ihm die nötige Zeit verschaffen, um sich zu sammeln und innerlich darauf vorzubereiten, das Mädchen seiner Träume gebührend und souverän zu begrüßen. Er stoppte fast schlitternd bei dem Tisch, an dem die Luchse saßen. „Kann ich Ihnen schon etwas bringen?“ fragte er das Pärchen und riß sich zusammen, um sich auf die Bestellung der beiden zu konzentrieren.
„Ja, zwei Margherita-Cocktails, bitte!“ bestellte der schneidige Luchsmann.
„Gerne. Darf es auch etwas zu essen sein?“
„Ja, aber wir schauen noch!“ erwiderte das Mädchen an seiner Seite.
Ralph nickte und huschte zurück zur Theke, um den türkischen Kaffee und die Margheritas zu fertigen.
In der Zwischenzeit forderten Cedric und Bert wieder Melissas Aufmerksamkeit.
„Ralph hat dich wirklich sehr vermißt, Melissa!“ erzählte Cedric weiter.
„Wirklich?“ fragte sie atemlos.
Der Aardvark nickte. „Und wie!“
„Ich habe ihn auch wahnsinnig vermißt.“ erwiderte sie seelenvoll. „Hoffentlich kann er sich gleich noch etwas zu uns setzen.“
„Darauf würde ich nicht hoffen. Er wird hier immer sehr gut eingespannt.“ kommentierte Bert. „Mister Peisley kennt da keine Gnade.“
„Wie schade.“ Sie sah sich zu Ralph um, dem die Hände unter Peisleys Blick zitterten; was Melissa von ihrem Platz aus allerdings nicht sehen konnte. „Wie lange muß er denn arbeiten?“
„Lange!“ sagte Cedric.
„Ich habe nicht den Eindruck, daß Ralph sich hier wohlfühlt.“ stellte sie nachdenklich fest.
„Kann er auch nicht.“ brachte Bert es auf den Punkt. „Die Arbeitsbedingungen sind miserabel. Ralph rackert sich hier ganz schön ab, für sein Studium. Hoffentlich habt ihr überhaupt noch Zeit, euch zu sehen. Die Aufmunterung kann er sicher gebrauchen.“
„Aber sagt mal, findet er denn nichts besseres?“ fragte Melissa, als sie sich betroffen wieder zu den beiden umdrehte. „Es muß doch noch mehr Jobs geben als diesen hier. Etwas, wo er auch die Anerkennung bekommt, die er verdient.“
„Du kennst doch Ralph.“ warf Cedric seufzend ein. „Wir haben es ihm auch schon so oft gesagt, aber dann kommt von ihm nur, er würde das schon schaffen, und wir sollen uns nicht einmischen. Ich glaube, er hat Angst davor, einen neuen Job anzunehmen, weil er befürchtet, daß er dann dort genauso behandelt wird, und er Angst hat, daß ihm dann noch mehr bestätigt wird, wie unfähig er ist. Und dabei stimmt das überhaupt nicht.“
„Nein. Das redet er sich nur ein. Und dieser Peisley spiegelt ihm das auch immer wieder.“ Bert war bereits wieder dabei, sich in Rage zu reden.
„Das habe selbst ich bereits begriffen, und ich bin erst seit ein paar Minuten hier…“ stellte Melissa besorgt fest und sah zu Ralph an der Theke herüber. „Er hat sich nicht viel verändert.“
Der Raccoon mit dem weißen Schal war gerade fertig mit den aktuellen Bestellungen. Er drapierte die Tasse und die beiden Gläser auf einem Tablett und schaute zu den beiden Luchsen, die gerade zufrieden die Speisekarten aus den Pfoten gelegt hatten. So schnell wie möglich machte er sich mit dem Tablett auf den Weg – zuerst zu dem Pärchen, damit er gleich zeitnah ihre Bestellung aufnehmen konnte.
„Ralph! Miss Gisele wartet schon länger auf ihre Bestellung!“ bölkte die Stimme von Peisley von der Theke zu ihm herüber.
„Bin schon auf dem Weg!“ Ralph versuchte, sein letztes bißchen Würde aufrecht zu erhalten, bediente trotzdem erst das Luchspärchen und nahm ihre Bestellung auf, dann rannte er mit dem Tablett auf die andere Seite des Raumes; als er das Kabel von dem Fernseher übersah, das schon ein gefühltes halbes Jahr durch den Raum verlief – ungefähr so lange, seit die letzte Fußballsaison gelaufen war, für die er sich sowieso nicht interessierte. Jetzt wurde ihm die Fußballsaison noch nachträglich zum Verhängnis, als er stolperte, und nur einen Augenblick später nichts weiter tun konnte, als mit zusammengebissenen Zähnen zuzusehen, wie die Tasse türkischer Mokka wie in Zeitlupe durch die Luft flog.
Alle im Gästeraum hielten synchron den Atem an; selbst Peisley hielt ausnahmsweise seine Klappe, solange, bis sich der Inhalt der Tasse direkt über Melissas Shirt und ihre Hose ergoß, kurz bevor die Tasse scheppernd ein Stück weiter zu Boden ging.
Ralph hatte gerade so seinen Sturz abfangen können, doch der seelische Abgrund tat sich gerade erst vor ihm auf, als er das Mädchen seiner Träume mit von türkischem Mokka durchtränkter Kleidung dasitzen sah. Cedric war geistesgegenwärtig aufgesprungen und hatte ihr eine Serviette gereicht, als auch schon die wütende Stimme des Kneipenbesitzers über sie hinweg durch den ganzen Saal bis hin zu seinem Adressaten drang.
„Sag’ mal, bist du eigentlich für alles zu blöd? Das kann doch wohl nicht wahr sein! Nicht mal in der Lage, einen einfachen Mokka zu servieren! Jedes verschimmelte Toastbrot leistet bessere Arbeit als du! Sieh zu, daß du dich bei der jungen Dame und bei Miss Gisele entschuldigst! Du ruinierst den ganzen Ruf meiner Kneipe!“
Bert, Melissa und Cedric hatten, wie alle anderen auch, die Szene nur wie erstarrt beobachten können, als Melissa jetzt aber reagieren wollte, war es bereits zu spät, denn Ralph warf schon das Tablett beiseite und rannte aus der Kneipe ins Freie, ohne weiter auf seine Umwelt zu achten.
„Ralph, warte…“ rief Melissa noch, doch ihr zaghafter Ruf ging bereits in einer anderen Äußerung unter, die genau das Gegenteil ihrer liebevollen Stimme darstellte.
„Komm sofort zurück, du feiger, unzivilisierter Ignorant! Ich habe einen Ruf zu verlieren!“ wetterte Peisley, doch das bekam der unglückliche Raccoon schon gar nicht mehr mit.
In dem Augenblick passierte alles zeitgleich; Melissa sprang auf und lief Ralph hinterher, und Bert sprang ebenfalls auf, so vehement, daß der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, nach hinten umkippte. „Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt, Mister Peisley! Wenn hier jemand den Ruf des Etablissements ruiniert, dann sind Sie das, ganz allein!“ In seiner Miene spiegelte sich sein ganzer aufgestauter Ärger, als er den Kneipenbesitzer auszählte. „Ralph leistet hier phantastische Arbeit, und was muß er über sich ergehen lassen? Unfaire Arbeitszeiten, Streß ohne Ende, Beschimpfungen, er darf die ganze Arbeit machen, während Sie sich vergnügen und ihn rumkommandieren! Und hat es je ein Wort der Anerkennung gegeben? Nein! Sie zahlen ihm ja nicht mal das Trinkgeld aus, das er sich verdient hat! – Ralph ist sicher nicht schuld daran, wenn Ihre Kneipe keinen guten Ruf hat. Im Gegenteil! Im Grunde sollte ihretwegen niemand mehr hier herkommen! Wir würden es sicher nicht tun, um Ihnen das Geld auch noch in den Rachen zu schmeißen. Aber wenn Ralph hier nicht zumindest ab und zu ein paar Freunde sehen würde, wäre er ja ganz am Ende mit den Nerven. Eigentlich ist eine dicke fette Entschuldigung von Ihnen an Ralph fällig, inklusive der Auszahlung aller Trinkgelder, die Sie ihm seit Arbeitsbeginn unterschlagen haben und einer Entschädigung für das, was Sie ihm heute angetan haben! Sie Tyrann!“ Der Waschbär atmete durch und hob seinen Stuhl wieder auf, um sich zu setzen.
Für einen Augenblick herrschte Stille im Saal. Dann brach Applaus im Gästeraum aus. Alle Anwesenden an den Tischen stimmten mit ein, auch Miss Gisele und die beiden Luchse.
„Wow. Was für eine Ansprache, Bert.“ entfuhr es Cedric beeindruckt.
„Tut mir leid, aber da konnte ich gerade meinen Mund nicht mehr halten.“ gab Bert verbissen zurück. „Schlimmer kann es für Ralph ohnehin nicht mehr kommen; irgend jemand mußte diesem Peisley mal die Meinung sagen.“
Cedric schmunzelte, was deutlich seinen Stolz für Berts Aktion zum Ausdruck brachte. Dann mischte sich Nachdenklichkeit in seinen Blick. „Wie es Ralph wohl gerade gehen mag…“
Melissa war aus der Kneipe hinausgestürzt und sah sich aufgewühlt um, doch Ralph war bereits aus ihrem Blickfeld verschwunden. „Ralph? Ralph!“ Sie bekam keine Antwort. Sie rannte ein Stück den Weg herunter und sondierte verzweifelt alle Richtungen. ‚Wenn ich nur wüßte, wo er hingegangen ist…‘ Schnell ging sie im Geiste die Möglichkeiten durch. Sie vermutete, daß Ralph in diesem Zustand nicht nach Hause gelaufen sein würde, wo er sich mit seinen Eltern würde auseinandersetzen müssen. Als Kind hatte er das in solchen Situationen getan. Aber das würde er heute sicher zu vermeiden wissen. Sie war sich sicher, er würde im Augenblick allein sein wollen. ‚Und sicher wird er weit weg von der Kneipe sein wollen. Und wahrscheinlich gerade auch von mir…’ schoß es ihr durch den Sinn, und sie spürte, wie sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog.
Schnell rief sie sich in Gedanken einen Lageplan dieses Teils des Waldes auf. Hoffentlich war noch alles so, wie sie es hier in Erinnerung hatte… Sie erinnerte sich, daß nicht allzu weit entfernt im Wald ein kleines Amphitheater lag, mit Stufen, die aus dem Waldboden geformt waren und die Sitzbänke darstellten. Als Kinder waren sie oft dagewesen und hatten dort gespielt, manchmal kleine Theaterstücke improvisiert, und manchmal waren sie und Ralph dort gewesen, wenn sie gemeinsam etwas unternommen, gelernt oder sich einfach so vergnügt hatten. Dort waren sie auch gewesen, als sie ihm vor drei Jahren erzählt hatte, daß sie würde fortgehen müssen, weil sie die Chance auf ein großartiges Studium hatte. Es war nur eine vage Vermutung, da diese jedoch genauso gut wie jede andere war, beschloß sie, es dort zu versuchen.
Mit klopfendem Herzen und stiller Hoffnung suchte sie nach dem alten Waldpfad, der ihr ganz anders in Erinnerung geblieben war, nach einiger Zeit stellte sich jedoch das beruhigende Gefühl ein, daß sie auf dem richtigen Weg war – und als sie an die baumgesäumte Lichtung kam, traf sie fast der Schlag. Sie hatte sich nicht getäuscht. Ralph saß dort auf einer der Stufen, ihr den Rücken zugekehrt, das Gesicht in den verschränkten Armen vergraben und weinte sich die Seele aus dem Leib. Sie verlor weder Worte noch Zeit, rannte bestürzt zu ihm herüber, ließ sich neben ihm auf die Stufe sinken und zog ihn kompromißlos und selbst den Tränen nahe in ihre Arme.
Ralph wußte so schnell gar nicht, wie ihm geschah, und noch einen Augenblick später erst registrierte er, daß sie es war. Überrascht schnappte er nach Luft und konnte kaum das merkwürdige Gefühl kompensieren, daß sich bei ihrer Berührung durch seinen ganzen Körper zog. Unwillkürlich verkrampfte er sich etwas, doch er hätte nicht einmal dann die Kraft gehabt, sich aus ihrer Umarmung zu lösen, wenn er es gewollt hätte. In ihm bekämpften sich der Wunsch, daß dieses schöne Gefühl, in ihren Armen zu liegen, nie aufhören würde mit dem Gedanken, was für eine jämmerliche Figur er gerade abgab, vor dem Mädchen, das er seit der Schule schon geliebt hatte, und zu dem seine Liebe über all die Jahre, in denen sie nicht dagewesen war, nie versiegt war. Nie hätte eine andere ihren Platz einnehmen können, und das war etwas, was ihm nie bewußter hätte sein können als jetzt, als sie ihn nach dieser ganzen Misere hier in den Armen hielt. Noch immer schluchzte er kraftlos vor sich hin. „Das ist der schlimmste Tag meines Lebens.“ brachte er dazwischen hervor.
„Für mich ist es der schönste Tag meines Lebens.“ erwiderte Melissa sanft. „Weil ich dich endlich wiedergesehen habe.“ Sie legte die Wange an sein Fell und schloß die Augen. „Ich hätte mir nur gewünscht, daß ich dich lachen sehe.“
Ralph atmete stockend durch. „Nachdem ich dir türkischen Mokka über die Klamotten gegossen habe?“
Melissa grinste unwillkürlich. „Ja! Das war doch einfach zum Schießen!“ Selbst ihre fröhliche Stimme konnte seinem Schluchzen nicht entgegenwirken. „Komm schon, Ralph.“ fügte sie beruhigend an. „Das ist doch alles nicht so schlimm.“ Sie drückte ihn sanft an sich, und ihre Stimme änderte sich von einem amüsierten zu einem ernsten Tonfall, als sie fortfuhr: „Nur eines solltest du bald tun: Gib diesen undankbaren Job auf.“ Sie löste die Umarmung ein wenig, zwang ihn mit einer sanften Geste, sie anzusehen und erklärte ernst: „Nichts ist es wert, daß du dich so behandeln läßt. Und wenn Bert und Cedric dir das durchgehen lassen, dann ist das ihr Problem. Ich werde es nicht! Und willst du wissen, warum? Weil ich dich liebe!“ Sie sah ihm an, daß sie ihn gerade völlig überforderte, erlöste ihn aber aus der unvermittelten Erwartungshaltung, indem sie ihn einfach fest in die Arme nahm. „Ich hab’ dich so vermißt, Ralph…“
„Ehrlich?“ fragte er atemlos, fast so, als könne er es gar nicht glauben, während er wie berauscht und mit einem leichten Zittern ihre Geste erwiderte.
„Ehrlich.“ bestätigte sie. „Es ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht an dich gedacht habe.“ Sie schloß die Augen und schmiegte sich an ihn, bevor sie leise fortfuhr: „Ich habe so oft darüber nachgedacht, was du wohl mittlerweile so machst, was aus dir geworden ist, und mich so darauf gefreut, daß wir uns endlich wiedersehen.“
„Naja, was aus mir geworden ist, hast du ja gesehen.“ erwiderte er verzagt.
„Mmhm.“ bestätigte Melissa mit einem Schmunzeln und sah ihm liebevoll in die Augen. „Der attraktivste Raccoon, der mir je begegnet ist. Und der immer noch viel zu sehr an sich selbst zweifelt.“ Sie sah ihn nachdenklich an. „Was ist nur los mit dir? Du hast so viel vorzuweisen, warum fällt es dir so schwer, an dich selbst zu glauben?“
Er wich ihrem Blick aus. „Ich weiß es nicht, Melissa…“ erwiderte er unglücklich.
„Das hast du nicht nötig, Ralph!“ erklärte sie mit Nachdruck, während sie ihm sanft über die Wange strich, um den Blickkontakt wieder herzustellen. „Du ganz sicher nicht!“ Unter ihrem liebevollen Blick brachte er sogar ein Lächeln zustande, auch wenn er ihrem Blick kaum standhalten konnte. Sie schmunzelte leicht und musterte sie ihn gedankenvoll. „In den letzten drei Jahren habe ich oft darüber nachgedacht, ob du dich wohl sehr verändert hast. Ich habe mich gefragt, ob du immer noch so schüchtern bist, oder selbstbewußter, oder vielleicht ganz anders. Ich hatte Angst, du könntest dich völlig verändert haben, nicht mehr so sein wie früher, so liebenswert, sympathisch und einfach süß. Aber am meisten Angst hatte ich davor, daß ich zurückkomme und feststelle, daß ich nicht mehr in dein Leben passe. Daß du mich nicht mehr willst, oder ein selbstbewußter Raccoon geworden bist, der mittlerweile eine Freundin hat, oder sich eine Familie aufgebaut hat…“
Ralph zog ein Schmollen und sah verzagt vor sich hin. „Und jetzt bist du zurück, um festzustellen, daß du den größten Trottel aller Zeiten…“ Weiter kam er nicht, denn sie lehnte sich kurzerhand zu ihm vor und küßte ihn, und unterbrach auf diese Weise seine Rede. Ein Gefühl, einem elektrischen Schauer gleich, arbeitete sich durch seinen Körper, überfordernd und wunderschön zugleich, bevor er sie zitternd in seine Arme zog. Als sie ihn schließlich aus dem Kuß entließ, sah er sie atemlos an.
„Ich will solchen Unsinn nicht mehr hören!“ erklärte sie kompromißlos. „Küß mich lieber noch mal. Und danach gehst du zu Peisley und kündigst deinen Job!“
Ralph lächelte verträumt. „Ich hätte einen besseren Vorschlag. Wir bleiben einfach hier und genießen den Abend zusammen. Peisley hat mich garantiert ohnehin schon gefeuert. Und ich möchte den Abend lieber nur mit dir allein verbringen. Peisley hat es nicht verdient, daß ich ihn heute Abend auch nur noch eines Gedankens würdige. Nicht, wenn ich dich statt dessen hier in meinen Armen halten kann.“
Melissa grinste. „Das ist die richtige Einstellung!“
Ralph lächelte verlegen. Dann fiel sein Blick verschämt auf ihr Top mit den Spuren türkischen Mokkas. „Das tut mir so leid, Melissa.“
„Ich verrate dir was!“ erwiderte sie tiefgründig, ohne den Blick aus seinen Augen zu lösen. „Das kann man waschen!“ Sie rieb ihre Nase sanft an seiner. „Was ist jetzt mit dem versprochenen Kuß?“
Er atmete berauscht durch und antwortete, indem er ihrer Bitte nachkam, und dieses Mal nahmen sie sich sehr viel Zeit, um den Augenblick zu genießen und in dem Kuß zu versinken, bevor sie sich in einer engen Umarmung zusammenschmiegten. Sie verlagerte etwas die Position und kuschelte sich an ihn. Er spürte seinen Puls rasen und verschränkte die Arme fest um sie in der Hoffnung, dem Zittern entgegenwirken zu können. „Du ahnst nicht, wie sehr ich dich liebe, Melissa!“ hauchte er.
„Wenn es noch mehr ist als das, was du mich spüren läßt, bekomme ich Angst, Ralph!“ lachte sie.
Er konnte nicht anders, als in ihr Lachen einzustimmen, und zum ersten Mal seit sie zurückgekehrt war, hatte Melissa das Gefühl, daß es ihm richtig gutging. Es war wie eine Erlösung für sie, endlich das zu bekommen, was sie sich die ganze Zeit über gewünscht hatte: Den Mann, den sie liebte, glücklich zu sehen.
Er schmiegte sich sehnsüchtig an sie und ließ die Gedanken schweifen, das erste Mal seit langem überglücklich und fern jeder Verzweiflung, obwohl er sich jetzt einen neuen Job suchen mußte, um sein Studium finanzieren zu können. Aber darüber konnte er später nachdenken. Heute Abend galt all seine Aufmerksamkeit nur der wundervollen Frau, die ihn gerade in ihren Armen hielt. „Ich glaube, wenn du im Gastraum sitzen und mich anlächeln würdest, dann könnte Peisley mich solange niedermachen wie er will, das würde mir nichts ausmachen.“ sinnierte er.
Sie drückte ihn sanft an sich und schloß die Augen. „Ich hätte schon viel früher zurückkommen müssen.“
Ralph seufzte. „Oh ja. Aber nicht wegen Peisley.“
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Anm. d. Aut.: Die Geschichte mit dem »türkische Mokka« kommt ursprünglich direkt aus der Episode »Der grenzenlose Himmel«, in der Ralph erwähnt, daß er, als er und Melissa sich kennenlernten, türkischen Mokka über sie gegossen hat. Dies hier ist meine Interpretation der Geschichte, wobei ich das Kennenlernen hier allerdings als Wiedersehen umgesetzt habe, da sich die beiden laut der Folge »Die alte Schule« auch schon als Kinder kannten, und es somit mit dieser Variante mehr Sinn ergibt.