Die Erfüllung
von Lady Sonea
Kurzbeschreibung
Es heißt, jeder Sklave findet seine Erfüllung darin, seinem Meister zu dienen. Für Takana ist dieses Prinzip jedoch ein abstrakter Begriff. Sein ganzes Leben lang hat er nur aus Furcht gehorcht. Als eines Nachts sein Meister von dem Mann getötet wird, der in den letzten fünf Jahren zu so etwas wie seinem Freund geworden ist, nimmt Takanas Leben jedoch eine ungeahnte Wendung. Und Takana erkennt, dass Furcht nicht das einzige Motiv ist, einem anderen zu folgen. Denn auch wenn sein Freund sein eigenes Leben weggeworfen hat, kann Takana diesen nicht aufgeben, da er ihm mehr als nur sein Leben zu verdanken hat – eine Geschichte über Lebensschuld, Loyalität und die etwas ungewöhnliche Freundschaft zweier Männer, die beide nicht aus ihrer Haut können. – Platz 4 beim Wettbewerb ’Bis ans Ende der Welt’.
KurzgeschichteFreundschaft, Schmerz/Trost / P16 / Gen
Hoher Lord Akkarin
Takan
16.04.2014
16.04.2014
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7.431
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16.04.2014
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In dieser Geschichte habe ich mich der Beziehung zwischen Akkarin und seinem Diener Takan angenommen – oder besser gesagt: wie es dazu gekommen ist.
Die Idee, dass jeder Sklave Erfüllung darin sucht, seinem Meister zu dienen, stammt aus der Vorgeschichte ’The Magician’s Apprentice’ (deutscher Titel: ’Magie’). Sie ist zudem ein wiederkehrendes Thema in meinem Headcanons.
Im Englischen nennt Dakova Akkarin oft seinen ’pet magician’. Ich war so frei, das mit ’kleiner Gildenmagier’ zu übersetzen.
Auch wenn es keine Vorgabe war, habe ich mich an den Canon gehalten und nur einige kleine Details hinzugefügt. Der OS basiert auf Akkarins Geschichte in Kapitel 7, ’The Black Magician Trilogy 3 – The High Lord’ (deutscher Titel: ’Die Meisterin’).
Diese Geschichte ist außerdem konsistent mit späteren Kapiteln von ’Unter tausend schwarzen Sonnen’.
Irgendetwas hatte Takana geweckt. Ein Geräusch, dessen war er sicher. War es ein leises Rascheln gewesen? Er runzelte die Stirn. Was es auch gewesen war – es konnte nichts Gutes bedeuten. Wenn die Dunkelheit ihren Mantel des Friedens und des Vergessens über die sachakanischen Ödländer ausgebreitet hatte, waren diese der stillste Ort, den er sich vorstellen konnte. Aber da war etwas gewesen – die Luft um ihn herum war nahezu übersättigt mit einem Gefühl von Bedrohung und brachte die feinen Härchen auf Takanas Armen dazu sich aufzurichten. Als Sklave eines Ichani lernte man schnell, ein Gespür für Gefahr zu entwickeln und Takana wusste, dass etwas nicht in Ordnung war. Und genau das hatte ihn geweckt.
Obwohl Takana die eisigen Nächte der Ödländer gewohnt war, begann er in seiner dünnen Kleidung zu frösteln. Dakovas letzter Kampf lag erst wenige Wochen zurück. Die Begegnung der beiden Ichani war außerordentlich brutal abgelaufen und als sich herausgestellt hatte, dass Takanas Meister unterliegen würde, hatte dieser in einem Akt der Verzweiflung seine magischen Quellen getötet. Nur zwei hatten überlebt.
Takana war einer von ihnen gewesen.
So wie der kyralische Gildenmagier, den Dakova seit einigen Jahren hielt.
Geschwächt hatte sich Takanas Meister mit seinen beiden verbleibenden Quellen in die Berge zurückgezogen. Sein Bruder hatte ihm neue Sklaven geschickt, an denen Dakova sich seitdem gestärkt hatte. Obwohl er inzwischen fast wieder so mächtig wie vor jenem Vorfall war, hätte Takana es lieber gesehen, wäre sein Meister in den Bergen geblieben. Sich darauf verlassend, dass Kariko jeden jagen würde, der es wagte, seinem Bruder zu schaden, war Dakova oft sorgloser, als Takana gutheißen konnte. Und so hatte dieser das Risiko ignoriert und war er zu einer Mine aufgebrochen, von der sein Ichani-Freund Harikava behauptet hatte, dass sich dort ein Mann versteckte, den Dakova tot sehen wollte: Ichani Vikacho.
Seit dem Überfall auf eine elynische Händlerkarawane viele Jahre zuvor war dieser Ichani Dakovas erklärter Todfeind. Damals hatte Vikacho die komplette Beute – darunter mehrere starke magische Quellen – für sich beansprucht. Für Dakova wäre die Händlerkarawane eine gute Gelegenheit gewesen, seine magischen und nichtmagischen Ressourcen wieder aufzufüllen, wäre der andere Ichani ihm nicht zuvorgekommen. Gute magische Quellen waren in Sachaka selten – insbesondere wenn man als Ausgestoßener in den Ödländern lebte. Voll Zorn hatte Takanas Meister den anderen Ichani daraufhin durch die Ödländer gejagt, bis er die Spur schließlich irgendwo im Gebirge verloren hatte.
In den darauffolgenden Jahren hatte Dakova wiederholt Jagd auf seinen Todfeind gemacht, ihn jedoch nie erwischt. Vikacho war gerissen und fürchtete zu sehr Karikos Zorn, sollte Dakova unterliegen. Umso erfreuter war Takanas Meister daher über Harikavas Tipp gewesen. Der andere Ichani hatte darauf beharrt, dass die Gelegenheit günstig sei, da Vikacho seinerseits von einem erst kürzlich stattgefundenen Kampf gegen einen anderen Ichani geschwächt war.
Überzeugt ihn zu besiegen, hatte Dakova die Mine am Tag zuvor erreicht. Während er am Eingang seinem Todfeind aufgelauert hatte, hatte er seine Sklaven das Innere erkunden lassen. Von Vikacho hatte jede Spur gefehlt, dafür hatte der Kyralier ein Vorratslager voll mit Luxusgütern, darunter mehrere Kisten elynischen Weines, den Dakova noch am selben Abend getrunken hatte, entdeckt.
Der Wein!
Takanas Herz setzte einen Schlag aus. Die Mine lag fernab von besiedeltem Gebiet. Wie überhaupt waren all die Vorräte dort hingekommen? War Ichani Vikacho vielleicht doch in der Mine gewesen und war nun herausgekommen, um seinen Feind zu vernichten?
Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken.
Da!
Da war es wieder gewesen! Ein leises Rascheln und Schritte.
Mit angehaltenem Atem lauschte Takana, wie sich die Schritte durch das Lager bewegten, während das Herz in seinen Hals gewandert war und er nur mit Mühe dem Drang widerstehen konnte, aufzuspringen und davonzurennen.
Bleib ruhig!, ermahnte Takana sich. Du darfst keine Aufmerksamkeit auf dich ziehen!
Doch dann siegte seine Neugier über die Furcht. Er musste es wissen.
Mit klopfendem Herzen öffnete Takana seine Augen gerade so weit, dass ein schmaler Spalt zwischen seinen Lidern entstand, und sah sich blinzelnd um. Zuerst schien alles normal im Lager, doch als der den Kopf vorsichtig in die Richtung wandte, aus der das Geräusch gekommen war, erstarrte er. Eine große Gestalt war über einen der neuen Sklaven gebeugt.
Vikacho!, fuhr es Takana durch den Kopf. Die plötzliche Panik war überwältigend. Er musste seinen Meister warnen, doch dann würde er als Nächstes an der Reihe sein. Der Ichani brauchte nur seine Magie zu benutzen und Takana würde es nicht einmal annähernd in die Nähe von Dakovas Zelt schaffen.
Als hätte die Gestalt seine Gedanken gehört, hob sie den Kopf und für einen kurzen Moment begegneten ihre Augen denen Takanas. Augen, die ihm in den vergangenen fünf Jahren nur allzu vertraut geworden waren.
Akkarin legte einen Finger auf seine Lippen. In einer eleganten Bewegung erhob er sich und Takana konnte sehen, dass er ein Messer in der Hand hielt. Takana erstarrte, als er erkannte, was das zu bedeuten hatte. Wie betäubt konnte er nur nicken.
Das kann nur ein Traum sein, dachte er, während er fassungslos beobachtete, wie Akkarin durch das Lager schritt und neben einem Sklaven, der nur wenige Schritt von ihm entfernt lag, erneut in die Hocke ging. Der Kyralier beugte sich hinab, zog sein Messer mit einem raschen Schnitt über das Handgelenk des Mannes und umschloss dieses dann mit seiner eigenen Hand, einen konzentrierten Ausdruck auf seinem Gesicht. Obwohl Takana schon oft gesehen hatte, was geschah, wenn man einer Quelle zu viel ihrer Magie nahm, war er entsetzt, als der Sklave erschlaffte.
Er ist nur ein Gildenmagier. Er kann keine höhere Magie beherrschen! Takana versuchte es zu begreifen und scheiterte. Dakova mochte Akkarin während eines Kampfes zur Verteidigung seiner Sklaven benutzen, doch er wäre dumm, würde er seinen wertvollsten Sklaven in das Geheimnis höherer Magie einweihen. Nur Sklaven, die ihrem Meister absolut ergeben waren, wurden hin und wieder in höherer Magie unterwiesen. Aber Akkarin gehorchte seinem Meister nur aus Furcht. Und das wusste Dakova.
Als Dakova den jungen, abenteuerlustigen Kyralier in den Ödländern gefunden hatte, hatte er rasch erkannt, dass er ein magisch starkes, aber wehrloses Exemplar von Magier erbeutet hatte. In Kyralia war höhere Magie verboten, weil die dort lebenden Magier sich vor der damit verbundenen Macht fürchteten, wusste Takana. Warum verstand er jedoch nicht. In Sachaka beherrschte jeder Magier höhere Magie. Vielleicht, so überlegte Takana, beinhaltete die in Sachaka verbreitete Meinung, dass Kyralier den schwächeren Willen besaßen, eine gewisse Wahrheit. Dakova hatte damals lange und ausgiebig über die Feigheit der Kyralier gelacht und Akkarin seinen Ichani-Freunden als seinen ’kleinen Gildenmagier’ vorgeführt.
Ohne höhere Magie und seiner eigenen Kraft Tag für Tag beraubt, war Akkarin nicht wehrhafter als die anderen Sklaven gewesen. Nichtsdestotrotz hatte er sich geweigert, sich seinem Meister zu fügen. Wenn Kyralier wirklich einen schwachen Willen hatten, so war das auf diesen nicht zugetroffen. Zumindest nicht, bis Dakova ihn gebrochen hatte. Es hatte mehrere Fluchtversuche, brutale Bestrafungen und unzählige Demütigungen gebraucht, bis der Kyralier sein Schicksal akzeptiert hatte.
Doch auch danach hatte Akkarin sich von anderen Sklaven unterschieden. Takana erinnerte sich, dass er Akkarin deswegen zu Beginn nicht sonderlich hatte leiden können. Dass sein Kochzelt fast abgebrannt war, spielte dabei ebenfalls keine geringe Rolle. Aber durch Akkarin hatte Takana gelernt, was Mitgefühl bedeutete. Als Takana sich den Arm gebrochen hatte, hatte der Kyralier den Bruch mit seiner Magie geheilt, bevor Dakova ihm diese erneut nehmen konnte. Anschließend hatte er in einer äußerst törichten Aktion ihren beider Meister davon abgehalten, seinen Koch für sein Ungeschick zu bestrafen und sich damit dessen geballten Zorn eingehandelt.
Das war etwas, das noch nie jemand für Takana getan hatte. Obwohl er nicht wollte, dass jemand sich für ihn opferte, hatte Akkarins Tat etwas zwischen ihnen verändert. Von da an hatten sie einander geholfen, wobei sie nicht selten Dakovas neuerlichen Zorn auf sich gezogen hatten. Akkarin hatte Takana beim Kochen assistiert und Takana hatte sich sein Gejammer wegen Isara angehört oder – was sogar noch häufiger gewesen war – seine Leidensmiene ertragen, wenn der Kyralier nicht reden wollte.
Ah, Isara! Warum musstest du ihm nur den Kopf verdrehen?
Takana hatte das ganze Drama um den Kyralier und Dakovas Bettsklavin von der ersten zaghaften Annäherung bis zu seinem bitteren Ende miterlebt. Er hatte Akkarin zugehört und ihn getröstet, wenn dieser ihm wieder einmal davon berichtet hatte, wie sein Meister ihn hatte zusehen lassen, wenn er sich mit Isara vergnügte und sie gequält hatte, um Akkarin gefügig zu machen. Obwohl Takana nicht wusste, wie sich anfühlte, was die Kyralier als ’Liebe’ bezeichneten, glaubte er durch Akkarins Erzählungen genug darüber erfahren zu haben, um niemals lieben zu wollen. Als Sklave tat man besser daran, keine allzu engen Bindungen einzugehen.
Ob Akkarin diese Lektion gelernt hatte? Hatten sein Schmerz und sein Zorn über Isaras Tod irgendwie dazu geführt, dass er das Geheimnis höherer Magie von selbst ergründet hatte und nun Rache an seinem Peiniger nahm?
Als der Kyralier auf das Zelt ihres Meisters zu schritt und darin verschwand, gefror Takana das Blut in den Adern. Ein Teil von ihm wollte aufspringen und den anderen Sklaven von dem, was er dort drin tun würde, abhalten, doch er war wie gelähmt.
Wollte er wirklich verhindern, dass Dakova diese Nacht überlebte?
Mit einem Mal war Takana sich dessen nicht mehr sicher. Es hieß ein guter Sklave fand seine Erfüllung darin, einem Magier zu dienen. Die Märchen waren voll davon und Takana kannte einige Sklaven, die von sich selbst behaupteten, ihre Erfüllung gefunden zu haben. So jedoch nicht Takana. Schon sein halbes Leben gehörte er Dakova, Takana hatte sich daran gewöhnt, ihm zu dienen. Aber Dakova war auch ein brutaler und grausamer Meister und bestrafte jeden seiner Sklaven für den kleinsten Ungehorsam mit kreativer Grausamkeit. Und wenn Takana an seinen Meister dachte, dann war da nichts als Furcht.
Nicht so wie bei dem Mann, dem er vor Dakova gehört hatte …
Takana war auf dem Anwesen eines Ashaki aufgewachsen. Seine Mutter hatte sich um den Haushalt des Meisters gekümmert, hatte geputzt und Wäsche gewaschen, sein Vater hatte für den Ashaki gekocht. Kaum, dass er laufen konnte, hatte Takana seine Tage in der Küche verbracht. Von den brodelnden Töpfen und zischen Pfannen, aus denen die köstlichsten Düfte aufstiegen, war eine unbeschreibliche Faszination ausgegangen. Eines Tages hatte sein Vater entschieden, dass Takana sich nützlich machen sollte, wenn er sich denn schon den ganzen Tag in der Küche herumtrieb. Zuerst waren es nur leichte Arbeiten gewesen, wie das Schälen und Schneiden von Tugorknollen und Monyos. Als er älter wurde, hatte er in den Töpfen rühren und beim Ausnehmen von Tieren helfen dürfen. Takana hatte schnell und mit Begeisterung gelernt. Mit zehn Jahren hatte er genug über das Handwerk seines Vaters gewusst, dass er seinen Meister allein hätte bekochen können.
Dann hatte Dakova das Anwesen überfallen. Er hatte Takanas Meister und jeden Sklaven, den er nicht gebrauchen konnte, getötet. Takana und sein Vater waren einige der wenigen, die er mit sich genommen hatte. Seine Mutter musste bei dem Überfall gestorben sein, denn Takana hatte sie nie wieder gesehen. Sein Vater war ihr wenige Monate später gefolgt, nachdem das harte Leben in den Ödländern ihn krankgemacht hatte. Dakova hatte ihn schließlich getötet. „Von nun an wirst du für mich kochen“, hatte er Takana erklärt, als er seinen blutverschmierten Dolch an einem Tuch saubergewischt hatte. „Gib dir Mühe und sieh zu, dass du nicht auch krank wirst, sonst endest du wie er.“
„Ja, Meister“, hatte Takana voll Furcht und unter Tränen erwidert. „Ich werde sehr gut für Euch kochen.“
Und das hatte er getan. Aus Furcht, andernfalls auf die gleiche, entsetzliche Weise zu sterben. In den darauf folgenden Jahren hatte er sein ganzes Wissen über die Kunst des Kochens eingesetzt, damit sein Meister ihn behielt. Doch Dakova war nicht leicht zufriedenzustellen. Takana hatte sich neue Kreationen ausdenken müssen, was mit den begrenzten Zutaten der Ödländer jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung gewesen war. Nur wenn sein Meister bei einem Überfall auf eine Händlerkarawane oder einen Ashaki Luxuslebensmittel, Wein und Gewürze erbeutet hatte, war es Takana möglich gewesen, seinem wahren Talent einigermaßen gerecht zu würden.
Obwohl die Furcht nach einer Weile weniger geworden war, war sie niemals vollständig gewichen. Takana glaubte, das war der Grund, warum er nie Erfüllung darin gefunden hatte, Dakova zu dienen, und er ahnte, er würde diese niemals finden, sollte Dakova die Nacht überleben.
Eine gefühlte Ewigkeit verging, in der Takana unfähig war, etwas anderes zu tun, als auf den Zelteingang zu starren – dann trat Akkarin wieder ins Freie. Im fahlen Licht des Mondes glaubte Takana zu sehen, wie er mit angewiderter Miene irgendetwas fortwarf. Als Akkarin sich ihm zuwandte, war jede Gefühlsregung aus seinen harschen Gesichtszügen gewichen, doch das, was Takana in seinen Augen sah, ließ ihn erschaudern. Was auch immer in dieser Nacht geschehen war – es hatte Akkarin verändert. Mit einem Mal fürchtete Takana den Mann, der in den vergangen fünf Jahren für ihn zu etwas geworden war, das seiner Definition von Freund am nächsten kam.
Vor Takans Schlafplatz blieb Akkarin stehen. Eine lange Weile starrte mit undurchdringlicher Miene auf ihn herab. Unfähig, sich zu bewegen, sah Takana zu ihm auf. Würde er ihn töten? Hatte er sich seinen Freund vielleicht nur bis zuletzt aufgespart?
„Du bist jetzt frei“, sagte Akkarin. „Nutze diese Chance und fang ein neues Leben an.“
Frei. Takana kannte dieses Wort, wusste, was es bedeutete. Doch er wusste nicht, wie es sich anfühlte. Er war als Sklave geboren worden. Er hatte gelernt, zu gehorchen. Aber nicht, eigene Entscheidungen zu treffen. Stattdessen war er in seinem Bestreben nach Erfüllung gescheitert, denn es war nicht erfüllend, seine Talente für etwas einzusetzen, das man verachtete und fürchtete.
Aber wenn er frei war, wie sollte er diese Erfüllung jemals finden?
Stumm sah er zu dem Mann vor sich auf. Nimm mich mit, wollte er sagen. Oder töte mich. Aber lass mich nicht zurück. Doch ein fassungsloses „Wieso beherrschst du höhere Magie?“ war alles, was aus ihm herauskam.
Ein schiefes Lächeln huschte über Akkarins harsche, ausgemergelte Züge. „Es war Vikacho. Ich habe gelogen, als ich sagte, er sei nicht in der Mine.“ Er lachte leise. „Dakova war über den Wein so erfreut, dass er vergessen hat, sich von meinen Worten zu überzeugen. Als er erkannte, dass der Wein Myk enthält, war es bereits zu spät.“
„Aber warum?“, brachte Takana hervor.
„Weil es der einzige Weg war.“
Takana konnte kaum glauben, was er da hörte. Das kann nur ein böser Traum sein.
Der Kyralier klopfte ihm kurz auf die Schulter. „Leb wohl, Takana. Ich stehe in deiner Schuld. Ich werde dir nie vergessen, wie viel für mich getan hast.“
Mit diesen Worten wandte er sich um und verschwand in der Nacht. Takana starrte ihm hinterher, unfähig zu begreifen, was gerade geschehen war.
Warum hast du mich zurückgelassen?, war alles, was er denken konnte. Wie kannst du unseren Meister töten und mich allein hier zurücklassen?
Indem Akkarin das getan hatte, hatte er ihm alles genommen.
Mit einem Mal bereute Takana, in dem Kyralier einen Freund gesehen zu haben. Sklaven hatten keine Freunde. Wenn der Meister eine wie auch immer geartete Beziehung nicht verbat oder für seine Zwecke ausnutzte, konnte einen immer noch ein früher Tod ereilen. Ließ man sich auf zu enge Bindungen ein, bedeutete das nur Leid. Takana hatte es bei Akkarin und Isara gesehen. Er war dumm gewesen, sich etwas anderes von dem Kyralier zu erhoffen.
Erst als der Himmel im Osten der trostlosen Ebene heller wurde und die sich über den Horizont schiebende Scheibe der Sonne die Schrecken der Nacht in einen wirren und verstörenden Traum verwandelten, löste Takana sich aus seiner Starre. Seine steifgefrorenen Glieder schmerzten, als er sich erhob und im Lager umsah.
Überall lagen die reglosen Körper der Sklaven. Im rötlichen Licht der ersten Sonnenstrahlen wirkte ihre fahle Haut nahezu lebendig, der friedliche Ausdruck auf ihren Gesichtern ließ Takana glauben, sie würden schlafen. Die oberflächlichen Schnitte an ihren Handgelenken waren die einzigen stummen Zeugen, dass sie tot waren.
Sie haben nichts gespürt, dachte Takana erleichtert. Das war der beste Tod, den man sich als Sklave wünschen konnte.
Plötzlich begriff er, dass er der Einzige war, den Akkarin verschont hatte.
Von einer nervösen Unruhe erfüllt, wandte Takana sich zu dem Zelt nahe den Überresten des heruntergebrannten Feuers, dessen Asche nun so kalt wie die Körper der Sklaven war. Er fürchtete sich vor dem, was er dort sehen wurde. Aber er musste es einfach wissen.
Du bist tapferer, als du denkst. Du hast gesehen, wie schnell alles zu Ende sein kann. Ich werde vielleicht nicht immer da sein und deine Hand halten.
Ob er es geahnt hatte? Hatte er das hier vielleicht geplant? Hastig verdrängte Takana seine düsteren Gedanken. Es war vorbei. Es durfte keine Bedeutung mehr haben.
All seinen Mut zusammennehmend schob Takana die Stoffbahnen zur Seite und trat in das Innere des Zeltes. Sein Meister lag auf dem Rücken, den Mund weit geöffnet. Quer über seinem Hals erblickte Takana einen langen und tiefen Schnitt, der für sich genommen ausgereicht hätte, ihn zu töten. Darüber war der blutige Abdruck einer Hand zu sehen. Getrocknetes Blut klebte an Dakovas Körper und tränkte die Decken und Felle, zwischen denen er lag.
Das war kein einfaches Nehmen von Kraft gewesen – das war eine Hinrichtung gewesen.
Für einen verrückten Augenblick glaubte Takana dennoch, ihn atmen zu sehen.
Zögernd kniete er neben seinem Meister nieder und berührte seinen Arm, als müsse er sich vergewissern, dass Dakova auch wirklich tot war.
Die Haut des Ichani war kalt und hart. So wie die der beiden Sklavinnen, die sein Bett an Isaras Stelle gewärmt hatten.
Nichts hätte Takana auf die Erleichterung, die er mit einem Mal verspürte, vorbereiten können. Der Mann, der ihn jahrelang bestraft und geschlagen und seine geheimsten Gedanken gelesen hatte und damit zum Zentrum seines Universums geworden war, war tot.
Und er war frei.
Und mit dieser Erkenntnis kam die Furcht. Die Freiheit barg viele Möglichkeiten. Zu viele. Doch was hatte Takana davon? Er war ein Sklave, er beherrschte keine Magie. Allein würde er in den Ödländern nicht lange überleben. Vielleicht, so überlegte er, würde Kariko ihn aufnehmen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Ichani hier auftauchte, wenn er keine Nachricht von seinem Bruder erhielt.
Denk nicht einmal daran!, befahl Takana sich. Kariko würde seine Gedanken lesen und herausfinden, wer seinen Bruder getötet hatte. Nun, wahrscheinlich würde er es auch so herausfinden, aber Takana wollte nicht derjenige sein, von dem er es erfuhr. Und wenn er an die Grausamkeit dieses Mannes dachte, dann konnte er sich Besseres vorstellen, als Karikos Sklave zu werden.
Ich bin frei, erinnerte er sich. Niemand zwingt mich, Kariko zu dienen, wenn ich das nicht will.
Aber wie sollte er als freier Mann jemals finden, wonach es ihm tief in seinem Herzen verlangte? Existierte das Prinzip der Erfüllung überhaupt für ihn oder war es nur ein abstraktes Konstrukt? Und musste man seine Erfüllung unbedingt darin finden, einem anderen Menschen zu dienen? Oder war es nicht vielmehr so, dass es darum ging, etwas mit Hingabe zu tun?
Seit dem ersten Tag in der Küche mit seinem Vater war Kochen Takanas Leidenschaft gewesen. Auf seine eigene Weise war es erfüllend gewesen. Doch es hatte immer etwas gefehlt, das er nicht hatte benennen können.
Takana war sich so sicher, dass es existierte. Die Märchen aus dem Land des sichelförmigen Mondes konnten nicht lügen.
Aber nicht an diesem Ort, erkannte er. Hier wartet nichts als der Tod auf mich.
Du bist tapferer, als du denkst, Takana …
Von einer ungeahnten Entschlossenheit erfüllt, stand er auf. Dabei fiel sein Blick auf etwas Glitzerndes zwischen den Fellen. Dakovas juwelenbesetzter Dolch.
Takana erstarrte. Er hatte nicht einmal ihn mitgenommen.
Und dann fügte sich auf einmal alles zusammen.
Behutsam hob er den Dolch auf und wickelte ihn in ein Stück Tuch, das er zwischen Dakovas Habseligkeiten fand. Dann verließ er das Zelt.
Während der nächsten Stunde durchsuchte Takana das Lager. Alles, was er gebrauchen konnte, stopfte er in einen Sack – egal ob Essen, Wasser, Decken oder seine Kochutensilien. Selbst den klobigen Holzblock, den Akkarin ihm einst für die Kochmesser geschnitzt hatte, zwängte er zwischen die anderen Sachen. Zuletzt steckte er den Dolch zwischen ein Päckchen mit Dörrfleisch.
Ein Kochmesser fehlte jedoch. Trotz der nagenden Furcht, Kariko könne kommen und ihn hier finden, durchsuchte Takana das Lager erneut. Die Messer waren alles, was ihm von seinem Vater geblieben war, er konnte sie nicht zurücklassen.
Er fand das Messer in der Nähe von Dakovas Zelt. Sich danach bückend runzelte er die Stirn. Sowohl der Griff als auch die Klinge waren blutverschmiert.
Und dann fügte sich auch das letzte Detail der vergangenen Nacht dem Gesamtbild hinzu.
Wahrscheinlich ist das die größte Dummheit, die ich je begangen habe, fuhr es ihm durch den Kopf. Zugleich wusste er jedoch, er würde keine Ruhe finden, wenn er es nicht tat.
Er steckte das Messer zu den anderen, dann warf er sich den Sack über die Schulter und folgte der Spur, die aus dem Lager herausführte. Während er rannte, verfluchte er Akkarin für so manches. Die Sonne stieg höher und höher und ihre Strahlen brannten gnadenlos auf die Ödländer, das Gepäck war schwer und Takana keine körperlichen Anstrengungen gewöhnt – die harte Arbeit hatte immer Akkarin erledigt. Alsbald begann sein Rücken zu schmerzen und seine Lungen zu brennen, doch Takana wagte es nicht, eine Pause einzulegen. Er hatte schon genug Zeit verloren.
Gegen Abend wurde das Gelände unwegsamer. Den Blick nun mehr gen Boden gerichtet, verlangsamte Takana sein Marschtempo. In der einsetzenden Dämmerung war die Spur im Sand immer schwieriger zu erkennen und als die Nacht heraufzog und ihre eisige Kälte die Hitze des Tages vertrieb und die Schatten länger und tiefer wurden, hatte Takana sie verloren.
Erschöpft und frustriert ließ Takana sich auf einen Felsen sinken.
Was mache ich jetzt?, fragte er sich. Seit Tagesanbruch war er ohne Pause unterwegs. Er war am Ende seiner Kräfte. Würde er die Nacht abwarten, so würde er hingegen wertvolle Zeit verlieren. Was, wenn Kariko die Jagd bereits aufgenommen hatte und direkt hierher kam? Nein, es war sicherer weiterzugehen. Vielleicht, wenn seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten …
Du bist tapferer, als du denkst, Takana …
Ich kann jetzt nicht mehr zurück, dachte Takana. Wenn ich aufgebe, habe ich bereits verloren.
Sich sein Gepäck über die Schulter werfend erhob er sich und machte sich wieder auf seinen Weg.
Während er weiterging, wurden die Felsen zu seinen beiden Seiten höher und rückten dichter zusammen, bis Takana erkannte, dass er sich in einer kleinen Schlucht befand. Oh, hoffentlich ist das kein totes Ende!, dachte er. Denn dann würde er ein weites Stück zurückgehen müssen und wertvolle Zeit verlieren. Der Gedanke erfüllte ihn mit Unbehagen. Was, wenn er Kariko dabei direkt in die Arme lief?
Ein Geräusch dicht hinter seinem Rücken ließ ihn zusammenzucken. Bevor Takana reagieren konnte, hatte sich ein Arm um ihn geschlungen, während eine Hand vor seinem Mund seinen unterdrückten Schrei erstickte. Von einer plötzlichen Panik ergriffen versuchte er, sich zu wehren, doch der Griff, mit dem der Angreifer ihn umklammert hielt, war zu fest.
„Was hast du dir dabei gedacht?“, knurrte eine vertraute Stimme.
Akkarin.
Takana spürte, wie er sich entspannte. Hätte der Kyralier ihn töten wollen, so hätte er das in der vergangenen Nacht getan.
Die Hand löste sich von seinem Mund. „Sprich! Warum bist du mir gefolgt?“
„Nach all den Jahren konnte ich dich nicht im Stich lassen“, brachte Takana hervor. In seine Erleichterung, dass es nicht Kariko war, mischte sich nun auch eine leise Verärgerung. „Was hast du dir dabei gedacht, einfach ohne Vorräte oder ein Messer zu verschwinden?“
Akkarin ließ ihn los. „Das ist meine Sache.“
Einen tiefen Atemzug nehmend wandte Takana sich um. Der Schrecken saß ihm noch immer in den Gliedern. Die Verwüstung in den Augen seines Freundes sagte ihm jedoch alles, was er wissen musste.
Er hatte richtig gelegen.
Er machte einen Schritt auf Akkarin zu. „Und ohne einen Freund zu gehen, ist auch deine Sache?“, fragte er sich zwingend, dem Blick des anderen Mannes, der ungewohnt kalt und bar jeder Emotion war, zu begegnen.
„Ja.“
Wer sagt, dass ich dein Freund sein will?
Der Blick in deinen Augen.
„Du wirst jetzt einen Freund brauchen. Mehr denn je.“
„Sklaven haben keine Freunde. Du hast doch selbst gesehen, wohin das führt.“
„Wir sind keine Sklaven mehr.“ Vorsichtig streckte Takana eine Hand aus und berührte den Arm des anderen Mannes. „Du hast uns beide befreit.“
„Richtig.“ In einer ruckartigen Bewegung entzog Akkarin sich seinem Griff. „Und deswegen hat diese Zeit letzte Nacht ein Ende gefunden. Wenn ich zurück nach Kyralia kehre, werde ich mit Sachaka abschließen.“
Das bedeutet so viel wie, dass er auch mit mir abschließen will, erkannte Takana entsetzt. Akkarins Zurückweisung war wie ein Schlag ins Gesicht. Mit nur wenigen Worten hatte er alles, was sie miteinander verband, für nichtig erklärt. Doch Takana wollte nicht akzeptieren, dass das alles war. Er war nicht wie ein Wahnsinniger durch die Ödländer gelaufen, nur um sich das sagen zu lassen.
Plötzlich spürte er einen ungeahnten Zorn in sich aufwallen. „Du bist so ein verdammter Gorin!“, brach es aus ihm heraus. „Denkst du etwa, dieses Land zu verlassen, macht die letzten fünf Jahre rückgängig?“
Akkarin zuckte zusammen. Sofort hatte er sich jedoch wieder unter Kontrolle. „Nein. Und deswegen brauche ich nicht noch etwas oder jemanden, das mich daran erinnert“, sagte er barsch. „Also nimm deinen Sack und geh!“
Er wandte sich ab und ging schnellen Schrittes den Pfad weiter. Nach seinem Gepäck greifend, beeilte Takana sich, den langen Schritten des anderen Mannes zu folgen. So leicht würde Akkarin ihn nicht loswerden.
Wer sagt, dass ich dein Freund sein will?
Der Blick in deinen Augen.
Irgendwie war es absurd, dass die Rollen nun vertauscht waren, fand Takana. Aber waren sie das wirklich? War es nicht eher so, dass zwischen ihnen nun etwas existierte, das unter Dakova gefehlt hatte?
Und dennoch können wir nicht aufhören zu streiten und sinnlose Diskussionen zu führen …
„Du magst dich aufgegeben haben, aber ich habe dich nicht aufgegeben!“, rief Takana dem Kyralier nach. „Du musst mich töten, um das zu ändern!“
Der Kyralier hielt inne.
„Und als Freund werde ich nicht zulassen, dass deine Erinnerungen dich zerstören, auch wenn dir das offenkundig egal ist“, fügte Takana ein wenig weicher hinzu.
Akkarin fuhr herum. Sein Gesichtsausdruck ließ Takana erschaudern. „Wenn du mein Freund sein willst, dann kann ich dir nur einen Rat geben: Lauf so schnell und so weit du nur kannst fort von mir und fang irgendwo ein neues Leben an. Dann wirst du Karikos Rache vielleicht entgehen.“
„So wie du es versuchst?“
Die dunklen Augen des Kyraliers blitzten gefährlich. Seine Furcht zurückdrängend entschied Takana jedoch, sich davon nicht entmutigen zu lassen. Sie brauchten einander. Ohne eine Quelle würde Akkarin immer schwächer werden, während Takana ohne Magie in den Ödländern sterben würde.
„Alleine werden wir beide nicht weit kommen“, sagte er. „Aber wenn wir zusammenbleiben, haben wir vielleicht eine Chance.“
Akkarin betrachtete ihn unwirsch, die Arme vor der Brust verschränkt. „Takana, was soll ich mit dir? Kariko wird sehr bald wissen, wer seinen Bruder getötet hat. Er wird mich jagen, du würdest bei meiner Flucht nur unnötiger Ballast sein.“
Würde Takana nicht allmählich ahnen, dass der andere Mann nur nach einer Ausflucht suchte, hätten seine Worte ihn getroffen. Sich an Akkarins kopflose Flucht die Nacht zuvor erinnernd, glaubte er jedoch, hinter die Fassade aus Kälte und Ablehnung zu blicken. „Der Einzige, vor dem du wegläufst, bist du selbst“, entgegnete er.
„Du hast gesehen, wie Kariko seine Sklaven behandelt. Willst du so enden?“
Takana schüttelte stumm den Kopf. Bei den Begegnungen der beiden Brüder hatte er genug gesehen, um das nicht zu wollen.
„Du kannst nicht mitkommen“, wiederholte Akkarin. Seine harschen Gesichtszüge verloren ein wenig von ihrer Härte. „Ich kann dich nicht beschützen. Ich konnte nicht einmal Isara beschützen. Ich könnte mir nie …“
Seine Stimme brach und Takana sah den Schmerz in den Augen seines Freundes.
Es war mehr als Besessenheit, erkannte Takana. Er hat sich Isara mit seinem Herzen unterworfen.
Ein plötzliches Mitgefühl verspürend machte er einen Schritt auf Akkarin zu. „Du hättest nicht viel tun können“, sagte er, erneut eine Hand nach dem Arm des Kyraliers ausstreckend. Akkarin zuckte unter der Berührung zusammen, doch dieses Mal zog er seinen Arm nicht zurück. „Es war ein Kampf zwischen höheren Magiern. Aber jetzt beherrschst du selbst höhere Magie. Du hast die Macht, andere zu beschützen. Lass mich deine Quelle sein.“
„In meinem Land ist höhere Magie verboten“, erinnerte Akkarin. Als er fortfuhr, verzerrten Qual und Schmerz sein Gesicht. „Und ich habe nicht vor, sie jemals wieder zu benutzen. Ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe, Takana.“
„Aber vielleicht wirst du sie irgendwann wieder benutzen müssen“, wandte Takana ein. „Was, wenn Kariko dich bis nach Kyralia jagt?“
„Das wird Kariko nicht wagen.“ Mit einem Mal war Akkarins Miene wieder verschlossen und hart. „Und sollte er es dennoch tun, wird das eine Erlösung sein.“
Takana zuckte unwillkürlich zusammen. „Ich weiß, wie viel Isara dir bedeutet hat“, sagte er sich innerlich für eine weitere Zurückweisung wappnend. „Aber sie hätte nicht gewollt, dass du dich aufgibst. Wirf dein Leben nicht weg.“
Für einen kurzen Augenblick glomm ein Ausdruck unendlicher Qual in Akkarins Augen auf, bevor die harte Fassade zurückkehrte. „Nenn mir einen Grund, warum mir mein Leben noch etwas wert sein sollte!“, knurrte er.
War das sein Ernst? Glaubte er wirklich, sein Leben war wertlos, bloß weil er für eine Handvoll Jahre etwas gewesen war, was Takana seit seiner Geburt war? Takana fand, der andere Mann konnte sich glücklich schätzen. „Du bist kaum älter als ich, du hast noch fast dein ganzes Leben vor dir. Du bist jetzt frei. Es kann noch so viel passieren, für das es sich zu leben lohnt.“
„Und was soll das sein? Komm mir jetzt nicht mit Frauen, Takana.“
Takana schüttelte den Kopf. Nach Isara und angesichts dessen, was Akkarin als seine ’dunkle Seite’ zu bezeichnen pflegte, wäre dies das denkbar schlechteste Argument gewesen, das er hätte bringen können. Das Grübeln über den Sinn von ’Erfüllung’ hatte seine Sicht auf die Dinge jedoch verändert. „Du würdest den Wert deines Lebens erkennen, würdest du dich selbst mögen“, sagte er stattdessen. „Und dann wirst du auch etwas finden, das dich erfüllt.“
„Es gibt nichts, wofür ich mich noch mögen könnte. Ich bin ein Monster. Ich habe freiwillig höhere Magie erlernt und ich habe damit getötet. Unschuldige, Takana.“
„Und dass du so denkst, beweist deine Menschlichkeit. Du hast es nicht getan, weil du es wolltest, sondern weil du es musstest. Das unterscheidet dich von Männern wie Dakova. Du bist nicht so schlecht, wie du denkst.“
„Doch Takana, das bin ich. Ich war selbstverliebt und ich habe einen hohen Preis dafür bezahlt. Und um dem zu entkommen, habe ich noch mehr getan, wofür weder ich noch irgendjemand sonst mich mögen sollte.“
„Ich mag dich“, entgegnete Takana unbeirrt. „Du bist für mich mehr als nur ein Freund. Es ist mir egal, ob du Dakovas Sklaven getötet hast.“
„Dann bist du töricht.“
Takana unterdrückte seine neuerliche Verärgerung. Es war immer dasselbe. Dieser Mann konnte so unglaublich stur sein. Waren alle Kyralier so? „Ich sehe genug in dir, das es wert ist, gemocht zu werden“, gab er zurück. „Lass mich dir helfen, dich wieder selbst zu mögen und deinem Leben eine neue Bedeutung zu geben. Lass mich dir helfen, über Sachaka hinwegzukommen.“ Er machte eine Pause und blickte dem anderen Mann fest in die Augen. „Lass es uns zumindest bis zur Grenze versuchen. Wenn sich herausstellt, dass ich mich geirrt habe, kannst du mich jederzeit wieder zurückschicken. Ich verspreche, deine Reise nicht zu verzögern.“
Akkarin schnitt eine Grimasse. „Da ich fürchte, dass ich dich töten müsste, um dich von deiner törichten Idee abzuhalten, bleibt mir wohl kaum eine Wahl“, sagte er trocken. „Ich werde dich mitnehmen. Auch wenn es sich vermutlich als Fehler herausstellt.“
Takanas Herz machte einen Sprung. „Das wird es nicht“, versprach er. Nach nach seinem Reisesack greifend, öffnete er die Schnürung. Dakovas Dolch steckte noch immer zwischen dem Dörrfleisch und seinem Kochgeschirr. Vorsichtig zog er ihn heraus. Dann legte er die Klinge über seine Handgelenke und ging auf die Knie, den Kopf gesenkt.
Diese simple Geste der Unterwerfung jagte einen Schauer über seinen Rücken, doch die vertraute Furcht blieb dieses Mal aus.
„Du hast da etwas in Dakovas Zelt vergessen, Meister.“
„Takana, was wird das?“
„Ich gehöre jetzt dir“, erwiderte Takana.
Akkarin seufzte. „Steh auf, Takana“, befahl er. „Ich habe dich nicht befreit, damit du dich mir unterwirfst. Und steck diesen Dolch weg.“
„Du hast Dakova getötet.“ Das Gefühl des Verletztseins beiseiteschiebend, reckte Takana ihm die Klinge entgegen. Warum wies er ihn zurück? Begriff er denn nicht, was es bedeutete, ein höherer Magier zu sein? „Er gehört dir. Du bist jetzt der Meister.“
Akkarin schürzte missbilligend die Lippen. Schweigend nahm er das Messer entgegen und steckte es in seinen Hosenbund. „Und jetzt hör auf damit. Du bist kein Sklave mehr.“
„Und deswegen habe ich die Freiheit zu wählen, wem ich dienen will.“ Noch nie zuvor war Takana sich einer Sache so sicher gewesen. Akkarin war mehr als nur ein Freund. Takana hatte ihm sein Leben und seine Freiheit zu verdanken. Die Freiheit zu entscheiden.
Er wollte diesem Mann dienen. Mit allem, was er zu geben bereit war. Nicht, weil er nicht ablegen konnte, was er war, oder weil er Akkarin mit seinen düsteren Gedanken nicht alleine lassen wollte, oder wegen dem, was sie verband, sondern weil er sich an seinem Ziel angelangt sah. Er wusste, es war richtig.
Aber indem Akkarin ihn zurückwies, erwies er ihm nichts von dem Respekt, für den Takana ihn so sehr schätzte. Indem er entschieden hatte, sich Akkarin zu unterwerfen, hatte er sich diesem auf eine Weise geöffnet, die über alles hinausging, was Takana je für einen anderen Menschen getan oder empfunden hatte.
Akkarin machte eine unwirsche Bewegung mit der Hand. „Komm“, sagte er. „Indem wir hier herumstehen, kommen wir nicht schneller zur Grenze.“
Für Takana war dies ein stilles Einverständnis. Er wusste, Akkarin würde niemals zugeben, dass er ihn brauchte. Weil er es hasste, schwach zu sein.
Sein Glück noch nicht so ganz fassen könnend stand er auf und folgte dem Kyralier mit dem Gepäck. Während sie durch die Nacht wanderten, sprachen sie kaum ein Wort. Aber es gab auch nichts zu reden, denn es war bereits alles gesagt worden. Es war Takana gelungen, die Mauer aus Schmerz, Bitterkeit und Abweisung, die Akkarin um sich errichtet hatte, zu durchbrechen. Zumindest ein kleines Stück.
Und war er seinem Ziel ein gewaltiges Stück nähergekommen.
Als die Sterne verblassten und ein fahler Dunst aus der Ebene der Ödländer aufstieg, gelang es Takana, seinen neuen Meister zu einer kurzen Rast zu überreden.
„Du musst etwas essen, Meister“, sagte er, als sie auf einem Felsvorsprung hielten. „Du bist seit gestern Nacht ohne Nahrung unterwegs.“
„Ich fand unterwegs Wasser.“ Dennoch erhob Akkarin keinen Protest, als Takana etwas Dörrfleisch und altes Brot hervorholte.
„Etwas Besseres kann ich dir leider nicht bieten, Meister“, entschuldigte Takana sich, als er vor Akkarin niederkniete und ihm sein Morgenmahl mit gesenktem Kopf reichte. „In Kyralia werde ich jeden Tag für dich kochen, wenn du das willst. Ich werde besser für dich kochen als für Dakova.“
Er war sicher, das Kochen würde ihm in Kyralia noch mehr Freude bereiten. Es hieß, die Magier dort lebten sehr wohlhabend, Takana würde mehr als genug Nahrungsmittel für seine Kreationen zur Verfügung haben. Doch vor allem würde er für den Mann kochen, dem zu dienen er entschieden hatte.
Akkarin nahm ihm das Essen aus der Hand. „Setz dich und iss“, sagte er unwirsch. Er riss das Brot in zwei Hälften und reichte Takana die eine. Dann rückte er ein Stück zur Seite und bedeutete Takana, sich neben ihn zu setzen. „Ich will nicht, dass du mich beim Essen bedienst.“
Zögernd nahm Takana das Brot entgegen und setzte sich. Das war nicht gerade eine Anweisung, die er gewohnt war, doch bei genauerem Betrachten erkannte er, dass er nichts anderes von einem Kyralier erwartet hatte. „Alles, was du willst, Meister“, erwiderte er. „Aber nimm wenigstens meine Kraft, bevor wir weiterziehen.“
„Ich habe bereits mehr davon als mir lieb ist.“
„Aber du könntest sie brauchen. Ohne sie wirst du schwächer werden.“
Akkarin verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich kann dir das nicht austreiben, nicht wahr?“
„Was?“, fragte Takana um ein unschuldiges Gesicht bemüht.
„Dass du in mir unbedingt deinen neuen Meister sehen willst.“
Takana schüttelte grinsend den Kopf.
„In Kyralia haben wir keine Sklaven“, teilte Akkarin ihm mit. „Wir haben Diener. Sie sind frei und wir behandeln sie mit Respekt. Wenn du so sehr darauf beharrst, dich mir zu unterwerfen, dann sei mein Diener. Das heißt kein Knien, kein zu Boden werfen und kein Bedienen beim Essen.“ Seine Stimme wurde streng, als er fortfuhr: „Und vor allem: kein Meister mehr.“
„Ich werde es versuchen, Meister“, sagte Takana um Ernsthaftigkeit bemüht. Dakova hätte ihn für so viel Ungehorsam zu bestrafen gewusst. Aber das hier war nicht Dakova. Das hier war ein Mann, der es wert war, dass man ihm folgte. „Aber ich kann es nicht versprechen.“
„Meinetwegen.“ Zu Takanas Erheiterung war der Kyralier entnervt. „Aber du wirst dich unterstehen, mich so zu nennen, wenn andere dabei sind.“
„Ja, Meister.“
Es ist ihm unangenehm, erkannte Takana. Anscheinend gab es noch einen anderen Unterschied zwischen den Magiern Sachakas und denen Kyralias, als höhere Magie. Er ahnte, Akkarin gab ihm nur nach, weil er sich für tyrannischer gehalten hätte, hätte er mit allen Mitteln versucht, Takana seine Entscheidung auszutreiben. Takana spürte, wie sich ein triumphierendes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Er hatte sich nicht in dem anderen Mann getäuscht. Er würde alles sein, von dem Akkarin wollte, dass er es war, weil es das war, was er selbst wollte.
„Takana klingt für kyralische Ohren wie ein Frauenname“, sagte Akkarin plötzlich. Seine Augenbrauen zogen sich nachdenklich zusammen. „Damit werden wir unerwünschte Aufmerksamkeit auf uns ziehen.“
Takana zuckte zusammen. Bedeutete das, Akkarin würde ihn zurücklassen?
„Ich werde ihn daher abkürzen“, fuhr Akkarin fort. „Was hältst du von Takan?“
Die Erleichterung war so groß, dass Takana nur nicken konnte. Er hätte jeden Namen akzeptiert. Er war nicht mehr länger der Sklave eines Ichani. Jetzt würde etwas Neues beginnen. Etwas Besseres.
„Takan ist gut, Meister“, sagte er.
Während der nächsten Tage wanderten sie weiter gen Westen. Die karge Landschaft der Ödländer bot nur wenig Abwechslung und sie ruhten nur, um etwas zu essen oder ihre Wasservorräte aufzufüllen. Akkarin heilte Takans Erschöpfung mit seiner Magie, denn er bestand darauf, die Grenze bald zu erreichen, um vor Kariko sicher zu sein.
Mit jedem Tag, dem sie Dakovas Bruder nicht begegneten, wähnte Takan sich sicherer vor dessen Verfolgung. Doch während Kyralia zugleich in immer greifbarere Nähe rückte, verfiel Akkarin zusehends in ein brütendes Schweigen, aus dem Takan ihn nur für eine kurze Weile herauszuholen vermochte. Anfangs dachte Takan noch es läge an ihm und dass Akkarin es sich mit ihm wieder anders überlegt hatte. Dann erkannte er jedoch, dass es mit Akkarins Rückkehr in seine Heimat zu tun hatte.
Es waren fünf Jahre vergangen – eine Zeit, die aus dem unbeschwerten und selbstgefälligen jungen Abenteurer, den Dakova fünf Jahre zuvor in den Ödländern gefunden hatte, einen völlig anderen Menschen gemacht hatte. Die Veränderung, die er durchgemacht hatte, war zu groß, um rückgängig gemacht zu werden. Doch Dakova und der Verlust Isaras trugen daran nicht die alleinige Schuld. Indem Akkarin höhere Magie erlernt und seinen Meister und dessen Sklaven getötet hatte, hatte der jener Mensch endgültig aufgehört zu existieren. Takan erkannte, er würde die Mauer, die Akkarin seitdem um sich errichtet hatte, nicht mehr einreißen können.
In Kyralia würde er jedoch der Einzige sein, dem Akkarin sich anvertrauen konnte. Vielleicht würde dieses Wissen genügen, dass Akkarin sich nicht ganz hinter seine Mauer zurückzog und an seinen Erlebnissen zugrunde ging.
Aber vielleicht war es auch nur, weil Akkarin das Machtgefälle zwischen ihnen ebenfalls spürte. Mit jedem Tag, der verging, konnte Takan spüren, wie sich ihre Beziehung veränderte. Doch was für ihn natürlich war, schien dem Kyralier schwerzufallen. Takan begriff jedoch nicht, warum. Akkarin war nicht dazu geboren, ein Sklave zu sein. Er war ein Mann, der führte und dem man bereitwillig folgte.
Vielleicht ist es seine Kultur, überlegte er. Oder es hat mit Isara und seiner ’dunklen Seite’ zu tun.
Eines Morgens als sich der dunkle Umhang, den die Nacht über die Welt gebreitet hatte, hinter den Horizont zurückzog, konnte Takan in den ersten Strahlen der Morgensonne erstmals eine gezackte Linie hinter dem Dunst im Westen ausmachen. Die Berge. Gegend Abend erreichten sie die ersten Ausläufer des Stahlgurtgebirges. Eine ganze Nacht, einen Tag und zwei weitere Tage und Nächte, wanderten sie höher und höher die schroffen Berge hinauf. Der Weg war beschwerlich und oft kletterten sie mehr als dass sie wanderten. Während der Stunden der Nacht konnten sie zudem nur wenig von ihrem Weg sehen, weil Akkarin es vorzog, ohne sein magisches Licht zu wandern. In der dritten Nacht stießen sie schließlich auf eine Straße und zum ersten Mal seit Tagen brauchte Takan einmal nicht auf den Boden zu seinen Füßen zu achten.
Staunend sah er sich um. Eine Mondsichel stieg über die gezackte Linie des Horizonts im Osten und tauchte die zerklüfteten Felsen in ein silbriges Licht. Es war einmal im Land des sichelförmigen Mondes …, dachte Takan sich plötzlich wieder an die Märchen erinnernd, die seine Mutter ihm vor dem Einschlafen erzählt hatte, als er noch klein gewesen war. Die alten Geschichten fanden immer zu einem guten Ende, doch sie endeten nie damit, dass der Held das Land des sichelförmigen Mondes verließ. Aber das hier war Takans Märchen, wie er plötzlich erkannte. Vielleicht musste es so enden, um gut zu werden.
Die Nacht wich einem neuen Tag, als die Straße flacher wurde und Akkarin plötzlich anhielt, den seltsamsten Ausdruck in seinem Gesicht, den Takan je bei ihm gesehen hatte.
„Wenn wir weitergehen, werden wir Kyralia betreten.“ Er machte eine Handbewegung auf die flacher werdenden Berge vor ihnen und Takan hielt überrascht den Atem an. Vor und unter ihnen bereiteten sich liebliche bewaldete Hänge aus. In ihren Tälern hing noch Nebel, doch Takan stellte sich glitzernde Flüsse darin vor, sobald die Sonne über die Bergrücken stieg und ihr goldenes Licht auf das Land warf, das von nun an sein Zuhause sein würde.
Wie es sich wohl für ihn anfühlt, nach so langer Zeit wieder hier zu sein?
„Ich will, dass du mir etwas versprichst.“
Alarmiert von dem ernsten Ton in Akkarins Stimme sah Takan auf. „Was, Meister?“
„Ich will dein Wort, dass du nach heute niemals wieder einen Fuß nach Sachaka setzt.“
Takan starrte den anderen Mann an. Von allem, was er von ihm haben konnte und was Takan bereit zu geben war, wollte Akkarin ausgerechnet das? „Das … das kann ich nicht versprechen, Meister.“
Akkarin musterte ihn streng. „Und wieso nicht?“
„Weil ich gehen würde, wenn du gehst.“
„Ich habe nicht vor, jemals wieder nach Sachaka zu reisen. Was das angeht, so hat dieser eine Besuch für ein ganzes Leben gereicht.“
„Und wenn du es musst?“
„Würde ich trotzdem nicht wollen, dass du zurück in das Land gehst, in dem uns beiden so viel Leid widerfahren ist. Also schwöre mir, was ich hören will, oder unsere Reise endet hier.“
Zögernd stellte Takan sein Gepäck ab und ging auf die Knie. Das konnte Akkarin nicht von ihm verlangen. Takan hätte alles für diesen Mann getan, er wäre sogar für ihn gestorben, doch diesem war es soeben gelungen, ihn in einen Konflikt zwischen seinem Gehorsam und seiner Loyalität zu bringen.
„Ich schwöre, niemals wieder einen Fuß nach Sachaka zu setzen“, gelobte er. Er runzelte kurz die Stirn, als er darüber nachdachte, wie er seine nächsten Worte am besten wählte. „Das heißt, sofern ich nicht dazu gezwungen werde.“
„Gut. Und jetzt steh wieder auf.“
Erleichtert erhob Takan sich. Akkarin schien den wahren Sinn seiner Worte nicht bemerkt zu haben. Sie kannten einander gut genug, dass er diesen Täuschungsversuch hätte erahnen müssen, doch nach Tagen ohne Schlaf wurden auch Magier nachlässig. Takan kam die Unaufmerksamkeit jedoch sehr gelegen. Denn für Akkarin würde er überallhin gehen.
Sogar zurück nach Sachaka.
Die Idee, dass jeder Sklave Erfüllung darin sucht, seinem Meister zu dienen, stammt aus der Vorgeschichte ’The Magician’s Apprentice’ (deutscher Titel: ’Magie’). Sie ist zudem ein wiederkehrendes Thema in meinem Headcanons.
Im Englischen nennt Dakova Akkarin oft seinen ’pet magician’. Ich war so frei, das mit ’kleiner Gildenmagier’ zu übersetzen.
Auch wenn es keine Vorgabe war, habe ich mich an den Canon gehalten und nur einige kleine Details hinzugefügt. Der OS basiert auf Akkarins Geschichte in Kapitel 7, ’The Black Magician Trilogy 3 – The High Lord’ (deutscher Titel: ’Die Meisterin’).
Diese Geschichte ist außerdem konsistent mit späteren Kapiteln von ’Unter tausend schwarzen Sonnen’.
***
Die Erfüllung
Irgendetwas hatte Takana geweckt. Ein Geräusch, dessen war er sicher. War es ein leises Rascheln gewesen? Er runzelte die Stirn. Was es auch gewesen war – es konnte nichts Gutes bedeuten. Wenn die Dunkelheit ihren Mantel des Friedens und des Vergessens über die sachakanischen Ödländer ausgebreitet hatte, waren diese der stillste Ort, den er sich vorstellen konnte. Aber da war etwas gewesen – die Luft um ihn herum war nahezu übersättigt mit einem Gefühl von Bedrohung und brachte die feinen Härchen auf Takanas Armen dazu sich aufzurichten. Als Sklave eines Ichani lernte man schnell, ein Gespür für Gefahr zu entwickeln und Takana wusste, dass etwas nicht in Ordnung war. Und genau das hatte ihn geweckt.
Obwohl Takana die eisigen Nächte der Ödländer gewohnt war, begann er in seiner dünnen Kleidung zu frösteln. Dakovas letzter Kampf lag erst wenige Wochen zurück. Die Begegnung der beiden Ichani war außerordentlich brutal abgelaufen und als sich herausgestellt hatte, dass Takanas Meister unterliegen würde, hatte dieser in einem Akt der Verzweiflung seine magischen Quellen getötet. Nur zwei hatten überlebt.
Takana war einer von ihnen gewesen.
So wie der kyralische Gildenmagier, den Dakova seit einigen Jahren hielt.
Geschwächt hatte sich Takanas Meister mit seinen beiden verbleibenden Quellen in die Berge zurückgezogen. Sein Bruder hatte ihm neue Sklaven geschickt, an denen Dakova sich seitdem gestärkt hatte. Obwohl er inzwischen fast wieder so mächtig wie vor jenem Vorfall war, hätte Takana es lieber gesehen, wäre sein Meister in den Bergen geblieben. Sich darauf verlassend, dass Kariko jeden jagen würde, der es wagte, seinem Bruder zu schaden, war Dakova oft sorgloser, als Takana gutheißen konnte. Und so hatte dieser das Risiko ignoriert und war er zu einer Mine aufgebrochen, von der sein Ichani-Freund Harikava behauptet hatte, dass sich dort ein Mann versteckte, den Dakova tot sehen wollte: Ichani Vikacho.
Seit dem Überfall auf eine elynische Händlerkarawane viele Jahre zuvor war dieser Ichani Dakovas erklärter Todfeind. Damals hatte Vikacho die komplette Beute – darunter mehrere starke magische Quellen – für sich beansprucht. Für Dakova wäre die Händlerkarawane eine gute Gelegenheit gewesen, seine magischen und nichtmagischen Ressourcen wieder aufzufüllen, wäre der andere Ichani ihm nicht zuvorgekommen. Gute magische Quellen waren in Sachaka selten – insbesondere wenn man als Ausgestoßener in den Ödländern lebte. Voll Zorn hatte Takanas Meister den anderen Ichani daraufhin durch die Ödländer gejagt, bis er die Spur schließlich irgendwo im Gebirge verloren hatte.
In den darauffolgenden Jahren hatte Dakova wiederholt Jagd auf seinen Todfeind gemacht, ihn jedoch nie erwischt. Vikacho war gerissen und fürchtete zu sehr Karikos Zorn, sollte Dakova unterliegen. Umso erfreuter war Takanas Meister daher über Harikavas Tipp gewesen. Der andere Ichani hatte darauf beharrt, dass die Gelegenheit günstig sei, da Vikacho seinerseits von einem erst kürzlich stattgefundenen Kampf gegen einen anderen Ichani geschwächt war.
Überzeugt ihn zu besiegen, hatte Dakova die Mine am Tag zuvor erreicht. Während er am Eingang seinem Todfeind aufgelauert hatte, hatte er seine Sklaven das Innere erkunden lassen. Von Vikacho hatte jede Spur gefehlt, dafür hatte der Kyralier ein Vorratslager voll mit Luxusgütern, darunter mehrere Kisten elynischen Weines, den Dakova noch am selben Abend getrunken hatte, entdeckt.
Der Wein!
Takanas Herz setzte einen Schlag aus. Die Mine lag fernab von besiedeltem Gebiet. Wie überhaupt waren all die Vorräte dort hingekommen? War Ichani Vikacho vielleicht doch in der Mine gewesen und war nun herausgekommen, um seinen Feind zu vernichten?
Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken.
Da!
Da war es wieder gewesen! Ein leises Rascheln und Schritte.
Mit angehaltenem Atem lauschte Takana, wie sich die Schritte durch das Lager bewegten, während das Herz in seinen Hals gewandert war und er nur mit Mühe dem Drang widerstehen konnte, aufzuspringen und davonzurennen.
Bleib ruhig!, ermahnte Takana sich. Du darfst keine Aufmerksamkeit auf dich ziehen!
Doch dann siegte seine Neugier über die Furcht. Er musste es wissen.
Mit klopfendem Herzen öffnete Takana seine Augen gerade so weit, dass ein schmaler Spalt zwischen seinen Lidern entstand, und sah sich blinzelnd um. Zuerst schien alles normal im Lager, doch als der den Kopf vorsichtig in die Richtung wandte, aus der das Geräusch gekommen war, erstarrte er. Eine große Gestalt war über einen der neuen Sklaven gebeugt.
Vikacho!, fuhr es Takana durch den Kopf. Die plötzliche Panik war überwältigend. Er musste seinen Meister warnen, doch dann würde er als Nächstes an der Reihe sein. Der Ichani brauchte nur seine Magie zu benutzen und Takana würde es nicht einmal annähernd in die Nähe von Dakovas Zelt schaffen.
Als hätte die Gestalt seine Gedanken gehört, hob sie den Kopf und für einen kurzen Moment begegneten ihre Augen denen Takanas. Augen, die ihm in den vergangenen fünf Jahren nur allzu vertraut geworden waren.
Akkarin legte einen Finger auf seine Lippen. In einer eleganten Bewegung erhob er sich und Takana konnte sehen, dass er ein Messer in der Hand hielt. Takana erstarrte, als er erkannte, was das zu bedeuten hatte. Wie betäubt konnte er nur nicken.
Das kann nur ein Traum sein, dachte er, während er fassungslos beobachtete, wie Akkarin durch das Lager schritt und neben einem Sklaven, der nur wenige Schritt von ihm entfernt lag, erneut in die Hocke ging. Der Kyralier beugte sich hinab, zog sein Messer mit einem raschen Schnitt über das Handgelenk des Mannes und umschloss dieses dann mit seiner eigenen Hand, einen konzentrierten Ausdruck auf seinem Gesicht. Obwohl Takana schon oft gesehen hatte, was geschah, wenn man einer Quelle zu viel ihrer Magie nahm, war er entsetzt, als der Sklave erschlaffte.
Er ist nur ein Gildenmagier. Er kann keine höhere Magie beherrschen! Takana versuchte es zu begreifen und scheiterte. Dakova mochte Akkarin während eines Kampfes zur Verteidigung seiner Sklaven benutzen, doch er wäre dumm, würde er seinen wertvollsten Sklaven in das Geheimnis höherer Magie einweihen. Nur Sklaven, die ihrem Meister absolut ergeben waren, wurden hin und wieder in höherer Magie unterwiesen. Aber Akkarin gehorchte seinem Meister nur aus Furcht. Und das wusste Dakova.
Als Dakova den jungen, abenteuerlustigen Kyralier in den Ödländern gefunden hatte, hatte er rasch erkannt, dass er ein magisch starkes, aber wehrloses Exemplar von Magier erbeutet hatte. In Kyralia war höhere Magie verboten, weil die dort lebenden Magier sich vor der damit verbundenen Macht fürchteten, wusste Takana. Warum verstand er jedoch nicht. In Sachaka beherrschte jeder Magier höhere Magie. Vielleicht, so überlegte Takana, beinhaltete die in Sachaka verbreitete Meinung, dass Kyralier den schwächeren Willen besaßen, eine gewisse Wahrheit. Dakova hatte damals lange und ausgiebig über die Feigheit der Kyralier gelacht und Akkarin seinen Ichani-Freunden als seinen ’kleinen Gildenmagier’ vorgeführt.
Ohne höhere Magie und seiner eigenen Kraft Tag für Tag beraubt, war Akkarin nicht wehrhafter als die anderen Sklaven gewesen. Nichtsdestotrotz hatte er sich geweigert, sich seinem Meister zu fügen. Wenn Kyralier wirklich einen schwachen Willen hatten, so war das auf diesen nicht zugetroffen. Zumindest nicht, bis Dakova ihn gebrochen hatte. Es hatte mehrere Fluchtversuche, brutale Bestrafungen und unzählige Demütigungen gebraucht, bis der Kyralier sein Schicksal akzeptiert hatte.
Doch auch danach hatte Akkarin sich von anderen Sklaven unterschieden. Takana erinnerte sich, dass er Akkarin deswegen zu Beginn nicht sonderlich hatte leiden können. Dass sein Kochzelt fast abgebrannt war, spielte dabei ebenfalls keine geringe Rolle. Aber durch Akkarin hatte Takana gelernt, was Mitgefühl bedeutete. Als Takana sich den Arm gebrochen hatte, hatte der Kyralier den Bruch mit seiner Magie geheilt, bevor Dakova ihm diese erneut nehmen konnte. Anschließend hatte er in einer äußerst törichten Aktion ihren beider Meister davon abgehalten, seinen Koch für sein Ungeschick zu bestrafen und sich damit dessen geballten Zorn eingehandelt.
Das war etwas, das noch nie jemand für Takana getan hatte. Obwohl er nicht wollte, dass jemand sich für ihn opferte, hatte Akkarins Tat etwas zwischen ihnen verändert. Von da an hatten sie einander geholfen, wobei sie nicht selten Dakovas neuerlichen Zorn auf sich gezogen hatten. Akkarin hatte Takana beim Kochen assistiert und Takana hatte sich sein Gejammer wegen Isara angehört oder – was sogar noch häufiger gewesen war – seine Leidensmiene ertragen, wenn der Kyralier nicht reden wollte.
Ah, Isara! Warum musstest du ihm nur den Kopf verdrehen?
Takana hatte das ganze Drama um den Kyralier und Dakovas Bettsklavin von der ersten zaghaften Annäherung bis zu seinem bitteren Ende miterlebt. Er hatte Akkarin zugehört und ihn getröstet, wenn dieser ihm wieder einmal davon berichtet hatte, wie sein Meister ihn hatte zusehen lassen, wenn er sich mit Isara vergnügte und sie gequält hatte, um Akkarin gefügig zu machen. Obwohl Takana nicht wusste, wie sich anfühlte, was die Kyralier als ’Liebe’ bezeichneten, glaubte er durch Akkarins Erzählungen genug darüber erfahren zu haben, um niemals lieben zu wollen. Als Sklave tat man besser daran, keine allzu engen Bindungen einzugehen.
Ob Akkarin diese Lektion gelernt hatte? Hatten sein Schmerz und sein Zorn über Isaras Tod irgendwie dazu geführt, dass er das Geheimnis höherer Magie von selbst ergründet hatte und nun Rache an seinem Peiniger nahm?
Als der Kyralier auf das Zelt ihres Meisters zu schritt und darin verschwand, gefror Takana das Blut in den Adern. Ein Teil von ihm wollte aufspringen und den anderen Sklaven von dem, was er dort drin tun würde, abhalten, doch er war wie gelähmt.
Wollte er wirklich verhindern, dass Dakova diese Nacht überlebte?
Mit einem Mal war Takana sich dessen nicht mehr sicher. Es hieß ein guter Sklave fand seine Erfüllung darin, einem Magier zu dienen. Die Märchen waren voll davon und Takana kannte einige Sklaven, die von sich selbst behaupteten, ihre Erfüllung gefunden zu haben. So jedoch nicht Takana. Schon sein halbes Leben gehörte er Dakova, Takana hatte sich daran gewöhnt, ihm zu dienen. Aber Dakova war auch ein brutaler und grausamer Meister und bestrafte jeden seiner Sklaven für den kleinsten Ungehorsam mit kreativer Grausamkeit. Und wenn Takana an seinen Meister dachte, dann war da nichts als Furcht.
Nicht so wie bei dem Mann, dem er vor Dakova gehört hatte …
Takana war auf dem Anwesen eines Ashaki aufgewachsen. Seine Mutter hatte sich um den Haushalt des Meisters gekümmert, hatte geputzt und Wäsche gewaschen, sein Vater hatte für den Ashaki gekocht. Kaum, dass er laufen konnte, hatte Takana seine Tage in der Küche verbracht. Von den brodelnden Töpfen und zischen Pfannen, aus denen die köstlichsten Düfte aufstiegen, war eine unbeschreibliche Faszination ausgegangen. Eines Tages hatte sein Vater entschieden, dass Takana sich nützlich machen sollte, wenn er sich denn schon den ganzen Tag in der Küche herumtrieb. Zuerst waren es nur leichte Arbeiten gewesen, wie das Schälen und Schneiden von Tugorknollen und Monyos. Als er älter wurde, hatte er in den Töpfen rühren und beim Ausnehmen von Tieren helfen dürfen. Takana hatte schnell und mit Begeisterung gelernt. Mit zehn Jahren hatte er genug über das Handwerk seines Vaters gewusst, dass er seinen Meister allein hätte bekochen können.
Dann hatte Dakova das Anwesen überfallen. Er hatte Takanas Meister und jeden Sklaven, den er nicht gebrauchen konnte, getötet. Takana und sein Vater waren einige der wenigen, die er mit sich genommen hatte. Seine Mutter musste bei dem Überfall gestorben sein, denn Takana hatte sie nie wieder gesehen. Sein Vater war ihr wenige Monate später gefolgt, nachdem das harte Leben in den Ödländern ihn krankgemacht hatte. Dakova hatte ihn schließlich getötet. „Von nun an wirst du für mich kochen“, hatte er Takana erklärt, als er seinen blutverschmierten Dolch an einem Tuch saubergewischt hatte. „Gib dir Mühe und sieh zu, dass du nicht auch krank wirst, sonst endest du wie er.“
„Ja, Meister“, hatte Takana voll Furcht und unter Tränen erwidert. „Ich werde sehr gut für Euch kochen.“
Und das hatte er getan. Aus Furcht, andernfalls auf die gleiche, entsetzliche Weise zu sterben. In den darauf folgenden Jahren hatte er sein ganzes Wissen über die Kunst des Kochens eingesetzt, damit sein Meister ihn behielt. Doch Dakova war nicht leicht zufriedenzustellen. Takana hatte sich neue Kreationen ausdenken müssen, was mit den begrenzten Zutaten der Ödländer jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung gewesen war. Nur wenn sein Meister bei einem Überfall auf eine Händlerkarawane oder einen Ashaki Luxuslebensmittel, Wein und Gewürze erbeutet hatte, war es Takana möglich gewesen, seinem wahren Talent einigermaßen gerecht zu würden.
Obwohl die Furcht nach einer Weile weniger geworden war, war sie niemals vollständig gewichen. Takana glaubte, das war der Grund, warum er nie Erfüllung darin gefunden hatte, Dakova zu dienen, und er ahnte, er würde diese niemals finden, sollte Dakova die Nacht überleben.
Eine gefühlte Ewigkeit verging, in der Takana unfähig war, etwas anderes zu tun, als auf den Zelteingang zu starren – dann trat Akkarin wieder ins Freie. Im fahlen Licht des Mondes glaubte Takana zu sehen, wie er mit angewiderter Miene irgendetwas fortwarf. Als Akkarin sich ihm zuwandte, war jede Gefühlsregung aus seinen harschen Gesichtszügen gewichen, doch das, was Takana in seinen Augen sah, ließ ihn erschaudern. Was auch immer in dieser Nacht geschehen war – es hatte Akkarin verändert. Mit einem Mal fürchtete Takana den Mann, der in den vergangen fünf Jahren für ihn zu etwas geworden war, das seiner Definition von Freund am nächsten kam.
Vor Takans Schlafplatz blieb Akkarin stehen. Eine lange Weile starrte mit undurchdringlicher Miene auf ihn herab. Unfähig, sich zu bewegen, sah Takana zu ihm auf. Würde er ihn töten? Hatte er sich seinen Freund vielleicht nur bis zuletzt aufgespart?
„Du bist jetzt frei“, sagte Akkarin. „Nutze diese Chance und fang ein neues Leben an.“
Frei. Takana kannte dieses Wort, wusste, was es bedeutete. Doch er wusste nicht, wie es sich anfühlte. Er war als Sklave geboren worden. Er hatte gelernt, zu gehorchen. Aber nicht, eigene Entscheidungen zu treffen. Stattdessen war er in seinem Bestreben nach Erfüllung gescheitert, denn es war nicht erfüllend, seine Talente für etwas einzusetzen, das man verachtete und fürchtete.
Aber wenn er frei war, wie sollte er diese Erfüllung jemals finden?
Stumm sah er zu dem Mann vor sich auf. Nimm mich mit, wollte er sagen. Oder töte mich. Aber lass mich nicht zurück. Doch ein fassungsloses „Wieso beherrschst du höhere Magie?“ war alles, was aus ihm herauskam.
Ein schiefes Lächeln huschte über Akkarins harsche, ausgemergelte Züge. „Es war Vikacho. Ich habe gelogen, als ich sagte, er sei nicht in der Mine.“ Er lachte leise. „Dakova war über den Wein so erfreut, dass er vergessen hat, sich von meinen Worten zu überzeugen. Als er erkannte, dass der Wein Myk enthält, war es bereits zu spät.“
„Aber warum?“, brachte Takana hervor.
„Weil es der einzige Weg war.“
Takana konnte kaum glauben, was er da hörte. Das kann nur ein böser Traum sein.
Der Kyralier klopfte ihm kurz auf die Schulter. „Leb wohl, Takana. Ich stehe in deiner Schuld. Ich werde dir nie vergessen, wie viel für mich getan hast.“
Mit diesen Worten wandte er sich um und verschwand in der Nacht. Takana starrte ihm hinterher, unfähig zu begreifen, was gerade geschehen war.
Warum hast du mich zurückgelassen?, war alles, was er denken konnte. Wie kannst du unseren Meister töten und mich allein hier zurücklassen?
Indem Akkarin das getan hatte, hatte er ihm alles genommen.
Mit einem Mal bereute Takana, in dem Kyralier einen Freund gesehen zu haben. Sklaven hatten keine Freunde. Wenn der Meister eine wie auch immer geartete Beziehung nicht verbat oder für seine Zwecke ausnutzte, konnte einen immer noch ein früher Tod ereilen. Ließ man sich auf zu enge Bindungen ein, bedeutete das nur Leid. Takana hatte es bei Akkarin und Isara gesehen. Er war dumm gewesen, sich etwas anderes von dem Kyralier zu erhoffen.
***
Erst als der Himmel im Osten der trostlosen Ebene heller wurde und die sich über den Horizont schiebende Scheibe der Sonne die Schrecken der Nacht in einen wirren und verstörenden Traum verwandelten, löste Takana sich aus seiner Starre. Seine steifgefrorenen Glieder schmerzten, als er sich erhob und im Lager umsah.
Überall lagen die reglosen Körper der Sklaven. Im rötlichen Licht der ersten Sonnenstrahlen wirkte ihre fahle Haut nahezu lebendig, der friedliche Ausdruck auf ihren Gesichtern ließ Takana glauben, sie würden schlafen. Die oberflächlichen Schnitte an ihren Handgelenken waren die einzigen stummen Zeugen, dass sie tot waren.
Sie haben nichts gespürt, dachte Takana erleichtert. Das war der beste Tod, den man sich als Sklave wünschen konnte.
Plötzlich begriff er, dass er der Einzige war, den Akkarin verschont hatte.
Von einer nervösen Unruhe erfüllt, wandte Takana sich zu dem Zelt nahe den Überresten des heruntergebrannten Feuers, dessen Asche nun so kalt wie die Körper der Sklaven war. Er fürchtete sich vor dem, was er dort sehen wurde. Aber er musste es einfach wissen.
Du bist tapferer, als du denkst. Du hast gesehen, wie schnell alles zu Ende sein kann. Ich werde vielleicht nicht immer da sein und deine Hand halten.
Ob er es geahnt hatte? Hatte er das hier vielleicht geplant? Hastig verdrängte Takana seine düsteren Gedanken. Es war vorbei. Es durfte keine Bedeutung mehr haben.
All seinen Mut zusammennehmend schob Takana die Stoffbahnen zur Seite und trat in das Innere des Zeltes. Sein Meister lag auf dem Rücken, den Mund weit geöffnet. Quer über seinem Hals erblickte Takana einen langen und tiefen Schnitt, der für sich genommen ausgereicht hätte, ihn zu töten. Darüber war der blutige Abdruck einer Hand zu sehen. Getrocknetes Blut klebte an Dakovas Körper und tränkte die Decken und Felle, zwischen denen er lag.
Das war kein einfaches Nehmen von Kraft gewesen – das war eine Hinrichtung gewesen.
Für einen verrückten Augenblick glaubte Takana dennoch, ihn atmen zu sehen.
Zögernd kniete er neben seinem Meister nieder und berührte seinen Arm, als müsse er sich vergewissern, dass Dakova auch wirklich tot war.
Die Haut des Ichani war kalt und hart. So wie die der beiden Sklavinnen, die sein Bett an Isaras Stelle gewärmt hatten.
Nichts hätte Takana auf die Erleichterung, die er mit einem Mal verspürte, vorbereiten können. Der Mann, der ihn jahrelang bestraft und geschlagen und seine geheimsten Gedanken gelesen hatte und damit zum Zentrum seines Universums geworden war, war tot.
Und er war frei.
Und mit dieser Erkenntnis kam die Furcht. Die Freiheit barg viele Möglichkeiten. Zu viele. Doch was hatte Takana davon? Er war ein Sklave, er beherrschte keine Magie. Allein würde er in den Ödländern nicht lange überleben. Vielleicht, so überlegte er, würde Kariko ihn aufnehmen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Ichani hier auftauchte, wenn er keine Nachricht von seinem Bruder erhielt.
Denk nicht einmal daran!, befahl Takana sich. Kariko würde seine Gedanken lesen und herausfinden, wer seinen Bruder getötet hatte. Nun, wahrscheinlich würde er es auch so herausfinden, aber Takana wollte nicht derjenige sein, von dem er es erfuhr. Und wenn er an die Grausamkeit dieses Mannes dachte, dann konnte er sich Besseres vorstellen, als Karikos Sklave zu werden.
Ich bin frei, erinnerte er sich. Niemand zwingt mich, Kariko zu dienen, wenn ich das nicht will.
Aber wie sollte er als freier Mann jemals finden, wonach es ihm tief in seinem Herzen verlangte? Existierte das Prinzip der Erfüllung überhaupt für ihn oder war es nur ein abstraktes Konstrukt? Und musste man seine Erfüllung unbedingt darin finden, einem anderen Menschen zu dienen? Oder war es nicht vielmehr so, dass es darum ging, etwas mit Hingabe zu tun?
Seit dem ersten Tag in der Küche mit seinem Vater war Kochen Takanas Leidenschaft gewesen. Auf seine eigene Weise war es erfüllend gewesen. Doch es hatte immer etwas gefehlt, das er nicht hatte benennen können.
Takana war sich so sicher, dass es existierte. Die Märchen aus dem Land des sichelförmigen Mondes konnten nicht lügen.
Aber nicht an diesem Ort, erkannte er. Hier wartet nichts als der Tod auf mich.
Du bist tapferer, als du denkst, Takana …
Von einer ungeahnten Entschlossenheit erfüllt, stand er auf. Dabei fiel sein Blick auf etwas Glitzerndes zwischen den Fellen. Dakovas juwelenbesetzter Dolch.
Takana erstarrte. Er hatte nicht einmal ihn mitgenommen.
Und dann fügte sich auf einmal alles zusammen.
Behutsam hob er den Dolch auf und wickelte ihn in ein Stück Tuch, das er zwischen Dakovas Habseligkeiten fand. Dann verließ er das Zelt.
Während der nächsten Stunde durchsuchte Takana das Lager. Alles, was er gebrauchen konnte, stopfte er in einen Sack – egal ob Essen, Wasser, Decken oder seine Kochutensilien. Selbst den klobigen Holzblock, den Akkarin ihm einst für die Kochmesser geschnitzt hatte, zwängte er zwischen die anderen Sachen. Zuletzt steckte er den Dolch zwischen ein Päckchen mit Dörrfleisch.
Ein Kochmesser fehlte jedoch. Trotz der nagenden Furcht, Kariko könne kommen und ihn hier finden, durchsuchte Takana das Lager erneut. Die Messer waren alles, was ihm von seinem Vater geblieben war, er konnte sie nicht zurücklassen.
Er fand das Messer in der Nähe von Dakovas Zelt. Sich danach bückend runzelte er die Stirn. Sowohl der Griff als auch die Klinge waren blutverschmiert.
Und dann fügte sich auch das letzte Detail der vergangenen Nacht dem Gesamtbild hinzu.
Wahrscheinlich ist das die größte Dummheit, die ich je begangen habe, fuhr es ihm durch den Kopf. Zugleich wusste er jedoch, er würde keine Ruhe finden, wenn er es nicht tat.
Er steckte das Messer zu den anderen, dann warf er sich den Sack über die Schulter und folgte der Spur, die aus dem Lager herausführte. Während er rannte, verfluchte er Akkarin für so manches. Die Sonne stieg höher und höher und ihre Strahlen brannten gnadenlos auf die Ödländer, das Gepäck war schwer und Takana keine körperlichen Anstrengungen gewöhnt – die harte Arbeit hatte immer Akkarin erledigt. Alsbald begann sein Rücken zu schmerzen und seine Lungen zu brennen, doch Takana wagte es nicht, eine Pause einzulegen. Er hatte schon genug Zeit verloren.
Gegen Abend wurde das Gelände unwegsamer. Den Blick nun mehr gen Boden gerichtet, verlangsamte Takana sein Marschtempo. In der einsetzenden Dämmerung war die Spur im Sand immer schwieriger zu erkennen und als die Nacht heraufzog und ihre eisige Kälte die Hitze des Tages vertrieb und die Schatten länger und tiefer wurden, hatte Takana sie verloren.
Erschöpft und frustriert ließ Takana sich auf einen Felsen sinken.
Was mache ich jetzt?, fragte er sich. Seit Tagesanbruch war er ohne Pause unterwegs. Er war am Ende seiner Kräfte. Würde er die Nacht abwarten, so würde er hingegen wertvolle Zeit verlieren. Was, wenn Kariko die Jagd bereits aufgenommen hatte und direkt hierher kam? Nein, es war sicherer weiterzugehen. Vielleicht, wenn seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten …
Du bist tapferer, als du denkst, Takana …
Ich kann jetzt nicht mehr zurück, dachte Takana. Wenn ich aufgebe, habe ich bereits verloren.
Sich sein Gepäck über die Schulter werfend erhob er sich und machte sich wieder auf seinen Weg.
Während er weiterging, wurden die Felsen zu seinen beiden Seiten höher und rückten dichter zusammen, bis Takana erkannte, dass er sich in einer kleinen Schlucht befand. Oh, hoffentlich ist das kein totes Ende!, dachte er. Denn dann würde er ein weites Stück zurückgehen müssen und wertvolle Zeit verlieren. Der Gedanke erfüllte ihn mit Unbehagen. Was, wenn er Kariko dabei direkt in die Arme lief?
Ein Geräusch dicht hinter seinem Rücken ließ ihn zusammenzucken. Bevor Takana reagieren konnte, hatte sich ein Arm um ihn geschlungen, während eine Hand vor seinem Mund seinen unterdrückten Schrei erstickte. Von einer plötzlichen Panik ergriffen versuchte er, sich zu wehren, doch der Griff, mit dem der Angreifer ihn umklammert hielt, war zu fest.
„Was hast du dir dabei gedacht?“, knurrte eine vertraute Stimme.
Akkarin.
Takana spürte, wie er sich entspannte. Hätte der Kyralier ihn töten wollen, so hätte er das in der vergangenen Nacht getan.
Die Hand löste sich von seinem Mund. „Sprich! Warum bist du mir gefolgt?“
„Nach all den Jahren konnte ich dich nicht im Stich lassen“, brachte Takana hervor. In seine Erleichterung, dass es nicht Kariko war, mischte sich nun auch eine leise Verärgerung. „Was hast du dir dabei gedacht, einfach ohne Vorräte oder ein Messer zu verschwinden?“
Akkarin ließ ihn los. „Das ist meine Sache.“
Einen tiefen Atemzug nehmend wandte Takana sich um. Der Schrecken saß ihm noch immer in den Gliedern. Die Verwüstung in den Augen seines Freundes sagte ihm jedoch alles, was er wissen musste.
Er hatte richtig gelegen.
Er machte einen Schritt auf Akkarin zu. „Und ohne einen Freund zu gehen, ist auch deine Sache?“, fragte er sich zwingend, dem Blick des anderen Mannes, der ungewohnt kalt und bar jeder Emotion war, zu begegnen.
„Ja.“
Wer sagt, dass ich dein Freund sein will?
Der Blick in deinen Augen.
„Du wirst jetzt einen Freund brauchen. Mehr denn je.“
„Sklaven haben keine Freunde. Du hast doch selbst gesehen, wohin das führt.“
„Wir sind keine Sklaven mehr.“ Vorsichtig streckte Takana eine Hand aus und berührte den Arm des anderen Mannes. „Du hast uns beide befreit.“
„Richtig.“ In einer ruckartigen Bewegung entzog Akkarin sich seinem Griff. „Und deswegen hat diese Zeit letzte Nacht ein Ende gefunden. Wenn ich zurück nach Kyralia kehre, werde ich mit Sachaka abschließen.“
Das bedeutet so viel wie, dass er auch mit mir abschließen will, erkannte Takana entsetzt. Akkarins Zurückweisung war wie ein Schlag ins Gesicht. Mit nur wenigen Worten hatte er alles, was sie miteinander verband, für nichtig erklärt. Doch Takana wollte nicht akzeptieren, dass das alles war. Er war nicht wie ein Wahnsinniger durch die Ödländer gelaufen, nur um sich das sagen zu lassen.
Plötzlich spürte er einen ungeahnten Zorn in sich aufwallen. „Du bist so ein verdammter Gorin!“, brach es aus ihm heraus. „Denkst du etwa, dieses Land zu verlassen, macht die letzten fünf Jahre rückgängig?“
Akkarin zuckte zusammen. Sofort hatte er sich jedoch wieder unter Kontrolle. „Nein. Und deswegen brauche ich nicht noch etwas oder jemanden, das mich daran erinnert“, sagte er barsch. „Also nimm deinen Sack und geh!“
Er wandte sich ab und ging schnellen Schrittes den Pfad weiter. Nach seinem Gepäck greifend, beeilte Takana sich, den langen Schritten des anderen Mannes zu folgen. So leicht würde Akkarin ihn nicht loswerden.
Wer sagt, dass ich dein Freund sein will?
Der Blick in deinen Augen.
Irgendwie war es absurd, dass die Rollen nun vertauscht waren, fand Takana. Aber waren sie das wirklich? War es nicht eher so, dass zwischen ihnen nun etwas existierte, das unter Dakova gefehlt hatte?
Und dennoch können wir nicht aufhören zu streiten und sinnlose Diskussionen zu führen …
„Du magst dich aufgegeben haben, aber ich habe dich nicht aufgegeben!“, rief Takana dem Kyralier nach. „Du musst mich töten, um das zu ändern!“
Der Kyralier hielt inne.
„Und als Freund werde ich nicht zulassen, dass deine Erinnerungen dich zerstören, auch wenn dir das offenkundig egal ist“, fügte Takana ein wenig weicher hinzu.
Akkarin fuhr herum. Sein Gesichtsausdruck ließ Takana erschaudern. „Wenn du mein Freund sein willst, dann kann ich dir nur einen Rat geben: Lauf so schnell und so weit du nur kannst fort von mir und fang irgendwo ein neues Leben an. Dann wirst du Karikos Rache vielleicht entgehen.“
„So wie du es versuchst?“
Die dunklen Augen des Kyraliers blitzten gefährlich. Seine Furcht zurückdrängend entschied Takana jedoch, sich davon nicht entmutigen zu lassen. Sie brauchten einander. Ohne eine Quelle würde Akkarin immer schwächer werden, während Takana ohne Magie in den Ödländern sterben würde.
„Alleine werden wir beide nicht weit kommen“, sagte er. „Aber wenn wir zusammenbleiben, haben wir vielleicht eine Chance.“
Akkarin betrachtete ihn unwirsch, die Arme vor der Brust verschränkt. „Takana, was soll ich mit dir? Kariko wird sehr bald wissen, wer seinen Bruder getötet hat. Er wird mich jagen, du würdest bei meiner Flucht nur unnötiger Ballast sein.“
Würde Takana nicht allmählich ahnen, dass der andere Mann nur nach einer Ausflucht suchte, hätten seine Worte ihn getroffen. Sich an Akkarins kopflose Flucht die Nacht zuvor erinnernd, glaubte er jedoch, hinter die Fassade aus Kälte und Ablehnung zu blicken. „Der Einzige, vor dem du wegläufst, bist du selbst“, entgegnete er.
„Du hast gesehen, wie Kariko seine Sklaven behandelt. Willst du so enden?“
Takana schüttelte stumm den Kopf. Bei den Begegnungen der beiden Brüder hatte er genug gesehen, um das nicht zu wollen.
„Du kannst nicht mitkommen“, wiederholte Akkarin. Seine harschen Gesichtszüge verloren ein wenig von ihrer Härte. „Ich kann dich nicht beschützen. Ich konnte nicht einmal Isara beschützen. Ich könnte mir nie …“
Seine Stimme brach und Takana sah den Schmerz in den Augen seines Freundes.
Es war mehr als Besessenheit, erkannte Takana. Er hat sich Isara mit seinem Herzen unterworfen.
Ein plötzliches Mitgefühl verspürend machte er einen Schritt auf Akkarin zu. „Du hättest nicht viel tun können“, sagte er, erneut eine Hand nach dem Arm des Kyraliers ausstreckend. Akkarin zuckte unter der Berührung zusammen, doch dieses Mal zog er seinen Arm nicht zurück. „Es war ein Kampf zwischen höheren Magiern. Aber jetzt beherrschst du selbst höhere Magie. Du hast die Macht, andere zu beschützen. Lass mich deine Quelle sein.“
„In meinem Land ist höhere Magie verboten“, erinnerte Akkarin. Als er fortfuhr, verzerrten Qual und Schmerz sein Gesicht. „Und ich habe nicht vor, sie jemals wieder zu benutzen. Ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe, Takana.“
„Aber vielleicht wirst du sie irgendwann wieder benutzen müssen“, wandte Takana ein. „Was, wenn Kariko dich bis nach Kyralia jagt?“
„Das wird Kariko nicht wagen.“ Mit einem Mal war Akkarins Miene wieder verschlossen und hart. „Und sollte er es dennoch tun, wird das eine Erlösung sein.“
Takana zuckte unwillkürlich zusammen. „Ich weiß, wie viel Isara dir bedeutet hat“, sagte er sich innerlich für eine weitere Zurückweisung wappnend. „Aber sie hätte nicht gewollt, dass du dich aufgibst. Wirf dein Leben nicht weg.“
Für einen kurzen Augenblick glomm ein Ausdruck unendlicher Qual in Akkarins Augen auf, bevor die harte Fassade zurückkehrte. „Nenn mir einen Grund, warum mir mein Leben noch etwas wert sein sollte!“, knurrte er.
War das sein Ernst? Glaubte er wirklich, sein Leben war wertlos, bloß weil er für eine Handvoll Jahre etwas gewesen war, was Takana seit seiner Geburt war? Takana fand, der andere Mann konnte sich glücklich schätzen. „Du bist kaum älter als ich, du hast noch fast dein ganzes Leben vor dir. Du bist jetzt frei. Es kann noch so viel passieren, für das es sich zu leben lohnt.“
„Und was soll das sein? Komm mir jetzt nicht mit Frauen, Takana.“
Takana schüttelte den Kopf. Nach Isara und angesichts dessen, was Akkarin als seine ’dunkle Seite’ zu bezeichnen pflegte, wäre dies das denkbar schlechteste Argument gewesen, das er hätte bringen können. Das Grübeln über den Sinn von ’Erfüllung’ hatte seine Sicht auf die Dinge jedoch verändert. „Du würdest den Wert deines Lebens erkennen, würdest du dich selbst mögen“, sagte er stattdessen. „Und dann wirst du auch etwas finden, das dich erfüllt.“
„Es gibt nichts, wofür ich mich noch mögen könnte. Ich bin ein Monster. Ich habe freiwillig höhere Magie erlernt und ich habe damit getötet. Unschuldige, Takana.“
„Und dass du so denkst, beweist deine Menschlichkeit. Du hast es nicht getan, weil du es wolltest, sondern weil du es musstest. Das unterscheidet dich von Männern wie Dakova. Du bist nicht so schlecht, wie du denkst.“
„Doch Takana, das bin ich. Ich war selbstverliebt und ich habe einen hohen Preis dafür bezahlt. Und um dem zu entkommen, habe ich noch mehr getan, wofür weder ich noch irgendjemand sonst mich mögen sollte.“
„Ich mag dich“, entgegnete Takana unbeirrt. „Du bist für mich mehr als nur ein Freund. Es ist mir egal, ob du Dakovas Sklaven getötet hast.“
„Dann bist du töricht.“
Takana unterdrückte seine neuerliche Verärgerung. Es war immer dasselbe. Dieser Mann konnte so unglaublich stur sein. Waren alle Kyralier so? „Ich sehe genug in dir, das es wert ist, gemocht zu werden“, gab er zurück. „Lass mich dir helfen, dich wieder selbst zu mögen und deinem Leben eine neue Bedeutung zu geben. Lass mich dir helfen, über Sachaka hinwegzukommen.“ Er machte eine Pause und blickte dem anderen Mann fest in die Augen. „Lass es uns zumindest bis zur Grenze versuchen. Wenn sich herausstellt, dass ich mich geirrt habe, kannst du mich jederzeit wieder zurückschicken. Ich verspreche, deine Reise nicht zu verzögern.“
Akkarin schnitt eine Grimasse. „Da ich fürchte, dass ich dich töten müsste, um dich von deiner törichten Idee abzuhalten, bleibt mir wohl kaum eine Wahl“, sagte er trocken. „Ich werde dich mitnehmen. Auch wenn es sich vermutlich als Fehler herausstellt.“
Takanas Herz machte einen Sprung. „Das wird es nicht“, versprach er. Nach nach seinem Reisesack greifend, öffnete er die Schnürung. Dakovas Dolch steckte noch immer zwischen dem Dörrfleisch und seinem Kochgeschirr. Vorsichtig zog er ihn heraus. Dann legte er die Klinge über seine Handgelenke und ging auf die Knie, den Kopf gesenkt.
Diese simple Geste der Unterwerfung jagte einen Schauer über seinen Rücken, doch die vertraute Furcht blieb dieses Mal aus.
„Du hast da etwas in Dakovas Zelt vergessen, Meister.“
„Takana, was wird das?“
„Ich gehöre jetzt dir“, erwiderte Takana.
Akkarin seufzte. „Steh auf, Takana“, befahl er. „Ich habe dich nicht befreit, damit du dich mir unterwirfst. Und steck diesen Dolch weg.“
„Du hast Dakova getötet.“ Das Gefühl des Verletztseins beiseiteschiebend, reckte Takana ihm die Klinge entgegen. Warum wies er ihn zurück? Begriff er denn nicht, was es bedeutete, ein höherer Magier zu sein? „Er gehört dir. Du bist jetzt der Meister.“
Akkarin schürzte missbilligend die Lippen. Schweigend nahm er das Messer entgegen und steckte es in seinen Hosenbund. „Und jetzt hör auf damit. Du bist kein Sklave mehr.“
„Und deswegen habe ich die Freiheit zu wählen, wem ich dienen will.“ Noch nie zuvor war Takana sich einer Sache so sicher gewesen. Akkarin war mehr als nur ein Freund. Takana hatte ihm sein Leben und seine Freiheit zu verdanken. Die Freiheit zu entscheiden.
Er wollte diesem Mann dienen. Mit allem, was er zu geben bereit war. Nicht, weil er nicht ablegen konnte, was er war, oder weil er Akkarin mit seinen düsteren Gedanken nicht alleine lassen wollte, oder wegen dem, was sie verband, sondern weil er sich an seinem Ziel angelangt sah. Er wusste, es war richtig.
Aber indem Akkarin ihn zurückwies, erwies er ihm nichts von dem Respekt, für den Takana ihn so sehr schätzte. Indem er entschieden hatte, sich Akkarin zu unterwerfen, hatte er sich diesem auf eine Weise geöffnet, die über alles hinausging, was Takana je für einen anderen Menschen getan oder empfunden hatte.
Akkarin machte eine unwirsche Bewegung mit der Hand. „Komm“, sagte er. „Indem wir hier herumstehen, kommen wir nicht schneller zur Grenze.“
Für Takana war dies ein stilles Einverständnis. Er wusste, Akkarin würde niemals zugeben, dass er ihn brauchte. Weil er es hasste, schwach zu sein.
Sein Glück noch nicht so ganz fassen könnend stand er auf und folgte dem Kyralier mit dem Gepäck. Während sie durch die Nacht wanderten, sprachen sie kaum ein Wort. Aber es gab auch nichts zu reden, denn es war bereits alles gesagt worden. Es war Takana gelungen, die Mauer aus Schmerz, Bitterkeit und Abweisung, die Akkarin um sich errichtet hatte, zu durchbrechen. Zumindest ein kleines Stück.
Und war er seinem Ziel ein gewaltiges Stück nähergekommen.
***
Als die Sterne verblassten und ein fahler Dunst aus der Ebene der Ödländer aufstieg, gelang es Takana, seinen neuen Meister zu einer kurzen Rast zu überreden.
„Du musst etwas essen, Meister“, sagte er, als sie auf einem Felsvorsprung hielten. „Du bist seit gestern Nacht ohne Nahrung unterwegs.“
„Ich fand unterwegs Wasser.“ Dennoch erhob Akkarin keinen Protest, als Takana etwas Dörrfleisch und altes Brot hervorholte.
„Etwas Besseres kann ich dir leider nicht bieten, Meister“, entschuldigte Takana sich, als er vor Akkarin niederkniete und ihm sein Morgenmahl mit gesenktem Kopf reichte. „In Kyralia werde ich jeden Tag für dich kochen, wenn du das willst. Ich werde besser für dich kochen als für Dakova.“
Er war sicher, das Kochen würde ihm in Kyralia noch mehr Freude bereiten. Es hieß, die Magier dort lebten sehr wohlhabend, Takana würde mehr als genug Nahrungsmittel für seine Kreationen zur Verfügung haben. Doch vor allem würde er für den Mann kochen, dem zu dienen er entschieden hatte.
Akkarin nahm ihm das Essen aus der Hand. „Setz dich und iss“, sagte er unwirsch. Er riss das Brot in zwei Hälften und reichte Takana die eine. Dann rückte er ein Stück zur Seite und bedeutete Takana, sich neben ihn zu setzen. „Ich will nicht, dass du mich beim Essen bedienst.“
Zögernd nahm Takana das Brot entgegen und setzte sich. Das war nicht gerade eine Anweisung, die er gewohnt war, doch bei genauerem Betrachten erkannte er, dass er nichts anderes von einem Kyralier erwartet hatte. „Alles, was du willst, Meister“, erwiderte er. „Aber nimm wenigstens meine Kraft, bevor wir weiterziehen.“
„Ich habe bereits mehr davon als mir lieb ist.“
„Aber du könntest sie brauchen. Ohne sie wirst du schwächer werden.“
Akkarin verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich kann dir das nicht austreiben, nicht wahr?“
„Was?“, fragte Takana um ein unschuldiges Gesicht bemüht.
„Dass du in mir unbedingt deinen neuen Meister sehen willst.“
Takana schüttelte grinsend den Kopf.
„In Kyralia haben wir keine Sklaven“, teilte Akkarin ihm mit. „Wir haben Diener. Sie sind frei und wir behandeln sie mit Respekt. Wenn du so sehr darauf beharrst, dich mir zu unterwerfen, dann sei mein Diener. Das heißt kein Knien, kein zu Boden werfen und kein Bedienen beim Essen.“ Seine Stimme wurde streng, als er fortfuhr: „Und vor allem: kein Meister mehr.“
„Ich werde es versuchen, Meister“, sagte Takana um Ernsthaftigkeit bemüht. Dakova hätte ihn für so viel Ungehorsam zu bestrafen gewusst. Aber das hier war nicht Dakova. Das hier war ein Mann, der es wert war, dass man ihm folgte. „Aber ich kann es nicht versprechen.“
„Meinetwegen.“ Zu Takanas Erheiterung war der Kyralier entnervt. „Aber du wirst dich unterstehen, mich so zu nennen, wenn andere dabei sind.“
„Ja, Meister.“
Es ist ihm unangenehm, erkannte Takana. Anscheinend gab es noch einen anderen Unterschied zwischen den Magiern Sachakas und denen Kyralias, als höhere Magie. Er ahnte, Akkarin gab ihm nur nach, weil er sich für tyrannischer gehalten hätte, hätte er mit allen Mitteln versucht, Takana seine Entscheidung auszutreiben. Takana spürte, wie sich ein triumphierendes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Er hatte sich nicht in dem anderen Mann getäuscht. Er würde alles sein, von dem Akkarin wollte, dass er es war, weil es das war, was er selbst wollte.
„Takana klingt für kyralische Ohren wie ein Frauenname“, sagte Akkarin plötzlich. Seine Augenbrauen zogen sich nachdenklich zusammen. „Damit werden wir unerwünschte Aufmerksamkeit auf uns ziehen.“
Takana zuckte zusammen. Bedeutete das, Akkarin würde ihn zurücklassen?
„Ich werde ihn daher abkürzen“, fuhr Akkarin fort. „Was hältst du von Takan?“
Die Erleichterung war so groß, dass Takana nur nicken konnte. Er hätte jeden Namen akzeptiert. Er war nicht mehr länger der Sklave eines Ichani. Jetzt würde etwas Neues beginnen. Etwas Besseres.
„Takan ist gut, Meister“, sagte er.
***
Während der nächsten Tage wanderten sie weiter gen Westen. Die karge Landschaft der Ödländer bot nur wenig Abwechslung und sie ruhten nur, um etwas zu essen oder ihre Wasservorräte aufzufüllen. Akkarin heilte Takans Erschöpfung mit seiner Magie, denn er bestand darauf, die Grenze bald zu erreichen, um vor Kariko sicher zu sein.
Mit jedem Tag, dem sie Dakovas Bruder nicht begegneten, wähnte Takan sich sicherer vor dessen Verfolgung. Doch während Kyralia zugleich in immer greifbarere Nähe rückte, verfiel Akkarin zusehends in ein brütendes Schweigen, aus dem Takan ihn nur für eine kurze Weile herauszuholen vermochte. Anfangs dachte Takan noch es läge an ihm und dass Akkarin es sich mit ihm wieder anders überlegt hatte. Dann erkannte er jedoch, dass es mit Akkarins Rückkehr in seine Heimat zu tun hatte.
Es waren fünf Jahre vergangen – eine Zeit, die aus dem unbeschwerten und selbstgefälligen jungen Abenteurer, den Dakova fünf Jahre zuvor in den Ödländern gefunden hatte, einen völlig anderen Menschen gemacht hatte. Die Veränderung, die er durchgemacht hatte, war zu groß, um rückgängig gemacht zu werden. Doch Dakova und der Verlust Isaras trugen daran nicht die alleinige Schuld. Indem Akkarin höhere Magie erlernt und seinen Meister und dessen Sklaven getötet hatte, hatte der jener Mensch endgültig aufgehört zu existieren. Takan erkannte, er würde die Mauer, die Akkarin seitdem um sich errichtet hatte, nicht mehr einreißen können.
In Kyralia würde er jedoch der Einzige sein, dem Akkarin sich anvertrauen konnte. Vielleicht würde dieses Wissen genügen, dass Akkarin sich nicht ganz hinter seine Mauer zurückzog und an seinen Erlebnissen zugrunde ging.
Aber vielleicht war es auch nur, weil Akkarin das Machtgefälle zwischen ihnen ebenfalls spürte. Mit jedem Tag, der verging, konnte Takan spüren, wie sich ihre Beziehung veränderte. Doch was für ihn natürlich war, schien dem Kyralier schwerzufallen. Takan begriff jedoch nicht, warum. Akkarin war nicht dazu geboren, ein Sklave zu sein. Er war ein Mann, der führte und dem man bereitwillig folgte.
Vielleicht ist es seine Kultur, überlegte er. Oder es hat mit Isara und seiner ’dunklen Seite’ zu tun.
Eines Morgens als sich der dunkle Umhang, den die Nacht über die Welt gebreitet hatte, hinter den Horizont zurückzog, konnte Takan in den ersten Strahlen der Morgensonne erstmals eine gezackte Linie hinter dem Dunst im Westen ausmachen. Die Berge. Gegend Abend erreichten sie die ersten Ausläufer des Stahlgurtgebirges. Eine ganze Nacht, einen Tag und zwei weitere Tage und Nächte, wanderten sie höher und höher die schroffen Berge hinauf. Der Weg war beschwerlich und oft kletterten sie mehr als dass sie wanderten. Während der Stunden der Nacht konnten sie zudem nur wenig von ihrem Weg sehen, weil Akkarin es vorzog, ohne sein magisches Licht zu wandern. In der dritten Nacht stießen sie schließlich auf eine Straße und zum ersten Mal seit Tagen brauchte Takan einmal nicht auf den Boden zu seinen Füßen zu achten.
Staunend sah er sich um. Eine Mondsichel stieg über die gezackte Linie des Horizonts im Osten und tauchte die zerklüfteten Felsen in ein silbriges Licht. Es war einmal im Land des sichelförmigen Mondes …, dachte Takan sich plötzlich wieder an die Märchen erinnernd, die seine Mutter ihm vor dem Einschlafen erzählt hatte, als er noch klein gewesen war. Die alten Geschichten fanden immer zu einem guten Ende, doch sie endeten nie damit, dass der Held das Land des sichelförmigen Mondes verließ. Aber das hier war Takans Märchen, wie er plötzlich erkannte. Vielleicht musste es so enden, um gut zu werden.
Die Nacht wich einem neuen Tag, als die Straße flacher wurde und Akkarin plötzlich anhielt, den seltsamsten Ausdruck in seinem Gesicht, den Takan je bei ihm gesehen hatte.
„Wenn wir weitergehen, werden wir Kyralia betreten.“ Er machte eine Handbewegung auf die flacher werdenden Berge vor ihnen und Takan hielt überrascht den Atem an. Vor und unter ihnen bereiteten sich liebliche bewaldete Hänge aus. In ihren Tälern hing noch Nebel, doch Takan stellte sich glitzernde Flüsse darin vor, sobald die Sonne über die Bergrücken stieg und ihr goldenes Licht auf das Land warf, das von nun an sein Zuhause sein würde.
Wie es sich wohl für ihn anfühlt, nach so langer Zeit wieder hier zu sein?
„Ich will, dass du mir etwas versprichst.“
Alarmiert von dem ernsten Ton in Akkarins Stimme sah Takan auf. „Was, Meister?“
„Ich will dein Wort, dass du nach heute niemals wieder einen Fuß nach Sachaka setzt.“
Takan starrte den anderen Mann an. Von allem, was er von ihm haben konnte und was Takan bereit zu geben war, wollte Akkarin ausgerechnet das? „Das … das kann ich nicht versprechen, Meister.“
Akkarin musterte ihn streng. „Und wieso nicht?“
„Weil ich gehen würde, wenn du gehst.“
„Ich habe nicht vor, jemals wieder nach Sachaka zu reisen. Was das angeht, so hat dieser eine Besuch für ein ganzes Leben gereicht.“
„Und wenn du es musst?“
„Würde ich trotzdem nicht wollen, dass du zurück in das Land gehst, in dem uns beiden so viel Leid widerfahren ist. Also schwöre mir, was ich hören will, oder unsere Reise endet hier.“
Zögernd stellte Takan sein Gepäck ab und ging auf die Knie. Das konnte Akkarin nicht von ihm verlangen. Takan hätte alles für diesen Mann getan, er wäre sogar für ihn gestorben, doch diesem war es soeben gelungen, ihn in einen Konflikt zwischen seinem Gehorsam und seiner Loyalität zu bringen.
„Ich schwöre, niemals wieder einen Fuß nach Sachaka zu setzen“, gelobte er. Er runzelte kurz die Stirn, als er darüber nachdachte, wie er seine nächsten Worte am besten wählte. „Das heißt, sofern ich nicht dazu gezwungen werde.“
„Gut. Und jetzt steh wieder auf.“
Erleichtert erhob Takan sich. Akkarin schien den wahren Sinn seiner Worte nicht bemerkt zu haben. Sie kannten einander gut genug, dass er diesen Täuschungsversuch hätte erahnen müssen, doch nach Tagen ohne Schlaf wurden auch Magier nachlässig. Takan kam die Unaufmerksamkeit jedoch sehr gelegen. Denn für Akkarin würde er überallhin gehen.
Sogar zurück nach Sachaka.
***