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Das Schicksal findet seinen Weg

Kurzbeschreibung
GeschichteAbenteuer, Liebesgeschichte / P16 / MaleSlash
11.01.2014
20.03.2020
23
148.399
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11.01.2014 6.849
 
Das Dröhnen in seinem Kopf wollte einfach nicht aufhören. Bäuchlings lag der Römer flach ausgestreckt auf seiner Nachtstätte und massierte sich in langsamen kreisenden Bewegungen die Schläfen. Die Augen hatte er an diesem Tag, wann er auch immer begonnen haben mochte, noch nicht geöffnet. Er spürte auch so schon zu Genüge, wie die warmen Sonnenstrahlen durch das kleine Fenster auf sein Gesicht fielen. Nein, Sonne brauchte er jetzt nicht. Eher Dunkelheit, aber aufzustehen, um die Fensterlade zu schließen, kam auch nicht in Frage. Ihm war zwar nicht wirklich schlecht, aber jede Bewegung löste einen zusätzlich stechenden Schmerz in seinem Kopf aus. Dann lieber weiter, wie ein Leiche liegen bleiben und hoffen, dass Esca irgendwann aufwachen und die Fensterlade schließen würde.

Während er weiter mit kreisenden Bewegungen seine Schläfen bearbeitete, überlegte er, was am Abend überhaupt geschehen war. Sie waren bei Theofanos gewesen, es gab Wein, reichlich Wein. Der Grieche hatte von seiner Flucht erzählt, es gab noch mehr Wein und Bier … dann kam nichts mehr. Er konnte sich weder daran erinnern wie er hierhergekommen war, noch was sonst an diesem Abend passiert war. In seinen Erinnerungen herrschte gähnende Schwärze. Dass aber irgendetwas vorgefallen sein musste, bezeugte eine große Beule an seiner rechten Kopfhälfte. Hatte er sich gestoßen? Oder war er gefallen? Außerdem war da noch der ausgesprochen merkwürdige Traum, den er gehabt hatte. Eine alte Frau war mit einem Zweispanner, der von kleinen gefleckten Ferkeln gezogen wurde, immer wieder über seinen Kopf gefahren und hatte dabei laut „Ruhe! Ruhe!“ geschrien. Alles sehr befremdend.

Die Zeit verflog und nichts tat sich im Zimmer. Warum bei Pluto wurde Esca von dem Licht nicht geweckt? Störte es ihn nicht? Während er weiter versuchte sich wenigstens an einzelne Details zu entsinnen, klopfte es reichlich unsanft an der Türe. Für Marcus fühlte es sich an, als ob jemand mit einem Hammer gegen seine Stirn schlug, kurz davor den Knochen zu durchbrechen. Er stöhnte leise. Das Klopfen wollte nicht aufhören und von Esca kam nicht der kleinste Ton.

Ging es ihm etwa schlechter als ihm gerade? Oder hörte er es einfach nicht? Was es auch war, die Person hinter der Tür kümmerte es nicht, dass sie nicht hereingerufen wurde. Immer stürmischer und laute wurde das Hämmern. Entnervt riss Marcus schließlich die Augen auf, um sie gleich wieder zukneifen zu müssen. Die Sonne war einfach noch zu grell für ihn. Seinen zweiten Anlauf ging er mit mehr Vorsicht an. Zuerst einmal, wollte er aus der liegenden Position rauskommen. Man empfing Gäste nur beim Mahl liegend. Deswegen stemmte er sich mit den Armen so hoch, dass er sich mit einem schnellen Ruck auf den Rücken drehen konnte, um dann den Oberkörper in eine einigermaßen aufrechte Position zu bringen. Alles in ihm schien dabei zu knacken, als hätte er auf Steinen geschlafen. Alsdann schirmte er mit der Linken seine Augen etwas ab, bevor er sie ganz langsam erneut öffnete.

Alles war in ein gleißendes Weiß getaucht und erst nach und nach wurden die Silhouetten der Gegenstände im Zimmer deutlich erkennbar. Hinten an der gegenüberliegenden Wand stand Escas Bett, eine einfache Liege wie seine auch, aber bei genauerem hinsehen … war sie leer! Marcus war versucht, sich einzureden, dass er einfach noch träumte, aber das Klopfen im Hintergrund sagte ihm deutlich, dass er das nicht tat. Esca war also schon aufgestanden. Noch seine Gedanken ordnend, rief er endlich, um der Lärmbelästigung ein Ende zu machen:

„So tretet doch ein, bei allen Göttern!“

Die Klinke wurde blitzartig runter gedrückt und eine Schweinenase erschien im Türrahmen. Decimus trat ein. Sein Gesicht deutete an, dass er nicht gerne so lange wartet, bis man ihn herein bat, als er aber den Römer sah, wunderte es ihn auch nicht mehr.

„Herr, verzeiht, aber ich habe von Eurem Freund die Weisung erhalten, Euch zu wecken noch bevor die Sonne wieder am Horizont verschwindet und ich denke, jetzt wäre ein guter Moment dafür.“ Begann der Caupo in möglichst freundlichem und beschwichtigendem Ton, da er die Ungehaltenheit in Marcus Stimme durchaus bemerkt hatte.

Dieser versteifte sich etwas, um nicht allzu sehr wie ein Kranker zu erscheinen. Ruhig aber bestimmt fragte er beim Wirt nach, seit wann und wohin Esca gegangen sei.

„Theofanos holte ihn heute Morgen mit den ersten Sonnenstrahlen ab. Wenn ich mich nicht irre, wollten sie zu den Thermen und auf den Markt. Vorher musste Theofanos aber noch zu seinen Schülern. Aber so ganz sicher kann ich es Euch auch nicht sagen.“

Der Römer nickte. Schon wieder der aufdringliche Grieche. Diesen Menschen würde er solange sie in Lindum wären, wohl jeden Tag mit seinem ewigen Götterlächeln sehen und ertragen müssen. Theofanos hatte gestern anscheinend nicht zu tief in die Amphore geguckt, wenn er in aller Frühe schon unterwegs war.

„Bringt mir Wasser zum trinken und eine Schüssel, damit ich mir das Gesicht waschen kann“, ordnete Marcus an. Es war nicht seine Art so lange im Bett zu liegen und dass sein Gefährte ihn einfach zurückgelassen hatte, sprach für sich. Außerdem sagte ihm sein Gefühl, dass der Grieche sein wahres Gesicht noch nicht offenbart hatte und das bereitete ihm mindestens genauso viele Sorgen, da Esca ihm blind zu vertrauen schien.

Nachdem der Wirt ihm alles gebracht hatte, erkundigte sich Marcus nach der genauen Stunde.

„Es ist bereits die neunte Stunde[1] vorbei. Die Thermen haben geöffnet, ich denke, wenn Ihr Theofanos und Euren Freund treffen wollt, solltet Ihr dort zuerst hingehen. Diese Badegänge nehmen ja doch meist mehr Zeit in Anspruch“, beriet ihn Decimus. Der Braunhaarige pflichtete ihm bei und sah zu, dass er sich so schnell wie möglich auf den Weg machte. Ohne noch Nahrung zu sich zu nehmen, lief er nach draußen, wo die Welt schon länger ihren gewohnten Gang nahm.

Die Hauptstraße war nicht weit entfernt und führte genau zu der kleinen Badeanlage. Diese war schon aus einiger Entfernung an ihrem Kuppeldach zu erkennen. Unterwegs fiel Marcus das erste Mal auf, dass die Hauptstraße mit unzähligen weißen Marmorsäulen gesäumt war. Fast schon etwas viel für eine so kleine Stadt, aber durchaus ansprechend.

Kurze Zeit später reihte er sich in die Schlange der wartenden Meute vor dem Eingang ein. Während er darauf harrte eingelassen zu werden, kamen ihm doch Zweifel daran, was er hier tat. Keiner hatte ihn eingeladen nachzukommen. Auch wenn seine Bedenken vielleicht nicht unbegründet waren, kam er sich jetzt wie ein Verfolger vor. Andererseits war es sein gutes Recht, sich als römischer Bürger in den Thermen aufzuhalten. Im Angesicht seines äußeren Zustands war es sowieso längst überfällig sich frisch zu machen. Das warme Wasser würde ihm bestimmt gut tun und die Gespräche der anderen Besucher würden ihm Einblicke in das Leben und die Politik geben. Ja, es gab definitiv mehr Gründe als nur Esca, um die Thermen zu besuchen. Allerdings musste er doch zugeben, dass er schnell klären wollte, was am Abend zuvor geschehen war, sich dann entschuldigen oder zumindest bedanken, falls es Probleme gab. Also war Esca doch das vorrangige Ziel. Das Leben war um einiges schwieriger geworden.

Endlich war er an der Reihe. Er zahlte den Einritt von einem Viertel As [2] und überlegte noch, ob er sich vor dem Bad noch sportlich betätigen sollte, da wurde er grob von einer kräftigen Hand an der Schulter gepackt und rumgerissen.

*


Lange bevor Marcus erwachte, war Theofanos zu ihnen gekommen und hatte leise an die Zimmertüre geklopft. Er war besorgt gewesen, ob seine Gäste, besonders Esca, heil in ihrer Unterkunft angekommen waren. Diese Sorge nahm ihm glücklicherweise gleich beim Eintreten Decimus, der es nicht lassen konnte über den völlig wehrlosen Marcus her zu ziehen.

Oben im Zimmer lag der Brigante auf seinem Bett und spürte das Brennen unter seinen Augen. Er hatte in der restlichen Nacht so gut wie kein Auge zugetan, nur die Decke angestarrt, ohne sich irgendwelche Gedanken machen zu können oder besser zu wollen. Gefördert wurde die Schlaf- und Gedankenlosigkeit durch Marcus monotones Geschnarche, das sich zwischenzeitlich zu einer solchen Lautstärke steigerte, dass er versucht war, seinen Gefährten zu wecken oder ihn einfach im Schlaf zu ersticken, damit es endlich aufhörte.

Als dann der Grieche schon in aller Frühe in ihrem Zimmer stand und ihn fragte, ob er Interesse daran hätte, ihn bei seinem Unterricht zu begleiten, später auf das Forum und dann in die Thermen zu gehen, hatte er nicht lange nachdenken müssen. Augenblicklich war er hellwach, bat noch Decimus sich etwas um Marcus zu kümmern und folgte Theofanos zu einem Privathaus im Süden Lindums. Tatsächlich hatte es der Grieche geschafft, sich eine Stelle bei einem reichen Senator zu besorgen und entging so den anstrengenden, mit bis zu dreißig Kindern, auf offener Straße oder in unbequemen Tarbernae stattfindenden Schulstunden. Vier Kinder unterrichtete er. Sie waren einigermaßen ruhig und beäugten Esca wie ein seltenes Studienobjekt, obwohl sie eigentlich an ihm nichts Besonderes feststellen konnten. Dass er sich aber mit ihrem magister auf Keltisch unterhalten konnte, beeindruckte sie und ließ sie auch einige Fragen an Esca richten. Vor allem wo er herkäme und welchen Stand er bekleide. Esca, der eine gewisse Affinität zu Kindern hegte, ließ alle Fragen zu und versuchte sie so gut es ging zu beantworten, ohne zu viel von sich zu erzählen.

Das war bis zum Mittag gewesen. Theofanos hatte die Stunde früher geschlossen, da ein richtiger Unterricht sowieso kaum möglich war, solange sich die Kinder auf den Briganten stürzten und befand sich jetzt mit diesem auf dem Forum, das geradezu überlief mit Menschen.

„Esca, ich rate dir als dein Freund es dir noch mal zu überlegen. Du weißt nicht, auf was für Ideen die Menschen kommen, wenn du weiterhin diese Farbe trägst“, versuchte der Schwarzhaarige Esca ins Gewissen zu reden, aber dieser ließ sich nicht umstimmen.

„Ich kenne deine Bedenken, dennoch möchte ich bei meiner Wahl bleiben“, beharrte er. Der Grieche schüttelte nur mit dem Kopf und verschränkte dabei seine Arme hinterm Rücken. Innerlich wusste er schon, dass er den sturen Mann nicht überreden können würde, trotzdem hoffte er umso mehr, dass Esca dann wenigstens von selbst zur Vernunft kommen würde. Doch es war nichts zu machen.

Der Vestarius, ein Kleiderhändler mit spitzer Nase und feinen Augenbrauen, hatte die Diskussion aufmerksam verfolgt. Da sich die Fronten verhärtet zu haben schienen, fragte er jetzt vorsichtig, wobei er seine Arme über denen zwei Stück Stoff in Purpur und Braun hingen, in die Höhe hob, ob es nun diese beiden sein sollten. Theofanos machte eine wegwerfende Handbewegung, der Vestarius verstand und verschwand augenblicklich in seinem Geschäft.

„Ich bedanke mich auch in Marcus Namen für die Tuniken. Er wird dir aber sicher später noch selbst danken“, wollte der Jüngere die Stimmung des Griechen etwas heben, aber der war schon wieder bei einer ganz anderen Sache, deswegen wechselte er ohne Vorwarnung das Thema.

„Und du sagst, du besitzt nicht mal eine Freilassungsurkunde?“ setzte der Grieche nach, der immer noch nicht fassen konnte, was er von dem Briganten erfahren hatte. Esca hatte weder den Namen von Marcus angenommen, noch hatten sie einen Vertrag oder in irgendeiner anderen Weise seine Freilassung amtlich gemacht. Für Esca war das ausgesprochen schlecht, auch wenn er sich natürlich jeder Zeit an Marcus wenden konnte, wenn es Fragen oder Probleme gäbe, aber aus Theofanos Sicht musste das sofort geändert werden. Der Brigante hatte allerdings wenig bis gar kein Interesse solche rechtlichen Schritte einzuleiten. Einerseits genügte ihm das Wissen um seine Freiheit, andererseits wollte er weder Marcus Namen annehmen und erst Recht kein römischer Bürger werden. Er war Brigante und damit war er alles, was er sein wollte. Das war auch der Grund, warum er es ablehnte eine andere dem römischen Status angemessene Farbe wie Purpur oder zumindest Grün, Blau oder Weiß zu tragen. Seine braune Kleidung war ihm genug, auch wenn sie eher zu den Arbeitern gehörte.

„Nein. Ich brauche auch keine“, antwortete ihm Esca knapp.

„Wenn ich zurückkehre, sind alle Rechte und Pflichten für mich erloschen. Warum also vorher dafür kämpfen?“ warf er dem Griechen vor. Der konnte sich bei so viel Sturheit gepaart mit Leichtsinn nur die Stirn massieren. Erschöpft sprach er ihm dennoch eine Warnung aus.

„Achte auf dich, Esca. Mit deinem Denken wirst du dir sonst noch Probleme einhandeln, von denen du dir keine Vorstellung machen kannst.“ Damit sollte es eigentlich genug sein, doch an den Worten seines Freundes fiel ihm etwas auf, sodass er dann doch noch mal nachhackte:

„Du willst also in deine Heimat zurück?“

Irgendwie überrascht von dieser Frage hatte sich der Dunkelblonde ihm zugedreht, nachdem er erst die neusten Stoffe aus Palästina bewundert hatte. Etwas unsicher antwortete er:

„Ja, also ich plane zurück zu gehen. Ich will mich einem der noch freien Stämme anschließen. Ein Leben unter den Mördern meines Vaters ertrage ich nicht auf längere Sicht.“

Theofanos nickte, sagte aber nichts. Aber in seinen Gedanken ergab das Ganze jetzt ein Bild. Esca war mit Marcus in Lindum. Dort konnte dieser für Esca bürgen, wenn es Probleme wegen seines Ranges gäbe. Sobald aber ihre Reise zu Ende ging, würde er auf das Privileg, Sohn Roms zu sein, verzichten, um wieder bei seinen Stammesgenossen sein zu können. Ob Esca sich das gut überlegt hatte, konnte er nicht abschätzen.

Da sie sich nun anschwiegen und eine gewisse Spannung in der Luft lag, wollte der Jüngere etwas von seinem alten Freund wissen.

„Warum bist du nie zurückgegangen? Du bist frei, nichts hält dich hier?“ und machte dabei eine ausladende Bewegung mit den Armen als wolle er das ganze Land ergreifen, um zu zeigen, was für Möglichkeiten sich dem Schwarzhaarigen boten.

Der Grieche schmunzelte lediglich.

„Weißt du, Esca, ich bin schon so lange hier, dass ich diesen Ort mittlerweile als meine Heimat ansehe. Was soll ich auch in Griechenland, wo niemand auf mich wartet? Dann bleibe ich lieber hier. Hier habe ich mir ein neues Leben aufgebaut, habe Freunde und sicherlich auch ein paar Feinde, aber es gefällt mir. Deswegen, solltest du gehen, so kann ich es verstehen, denn ich würde auch nirgendwo bleiben wollen, wo ich mich nicht heimisch fühle. Hast du es Marcus schon gesagt? Kommt er mit?“

Schon wieder so eine unerwartete Frage. Der Ausflug sollte ihm ja eigentlich zur Ablenkung dienen, damit er gerade nicht mehr über so vieles und besonders über den Fortgang ihrer Reise nachdachte. Jedoch kam es ihm so vor als wollte eine höhere Macht es anders, oder Theofanos wollte es nicht.

„Nein. Ich werde später mit ihm reden. Im Moment verhält er sich auch eigenartig. Um ehrlich zu sein, bin ich sogar ganz froh, dass wir heute etwas unter uns sein können“, gab Esca schließlich zu, nicht ohne dabei in eine andere Richtung zu blicken, um das fröhliche Grinsen des Griechen nicht sehen zu müssen.

Der beließ es aber beim Grinsen, schluckte alle neckischen Kommentare herunter und endlich kam auch der Vestarius zurück. Die Tuniken ordentlich gefaltet, übergab er sie Theofanos, der ihn sogleich auszahlte.

„Ich zahle dir den Preis meiner Tunika zurück“, versprach Esca dem Griechen. „Gleich morgen höre ich mich um, ob ich hier Arbeit finde.“

Der Ältere jammerte innerlich. Esca verstand aber auch manchmal wirklich rein gar nichts. Der Grieche hätte sich am liebsten seine Haare ausgerissen, aber seine Erziehung und Weltanschauung geboten ihm Gelassenheit. Heute war mit dem Blonden einfach nicht zu sprechen. Ein unwilliges „Mh“ musste da genügen. Stattdessen wollte er überlegen, wo sie als nächstes hingingen. Gerade stand ihm der Sinn nach Obst, da sah er etwas aus seinem Augenwinkel: seinen Schatten. Sofort besserte sich seine Stimmung, denn er erkannte, dass die neunte Stunde angebrochen war. Sie konnten endlich die Thermen besuchen. Freudig zog er den Briganten, der sich noch wunderte, was denn so erfreulich war, hinter sich her.



Langsam löste der Grieche die Gürtelschnalle, dann streifte er sich die bläuliche Tunika vom Leib. Esca verfolgte den Vorgang aus dem Augenwinkel, selbst noch angezogen und unschlüssig es Theofanos gleich zu tun. Der Stoff fiel zu Boden und der Schwarzhaarige stand in seiner ganzen Männlichkeit da. Waden und Oberarme waren straff, der Bauch zwar nicht muskulös, aber auch nicht durch den übermäßigen Genuss von Speis und Trank rund oder unansehnlich. Er machte eine gute Figur. Vielleicht trieb er öfters Sport, auf jeden Fall sah er für sein Alter wirklich gut aus, dass erkannte sogar Esca auf einen Blick.

„Esca, mit Kleidern dürfen wir nicht in die Thermen. Es wird kühl hier. Bitte spute dich“, trieb ihn der Grieche an, der schon dabei war, seine Sachen in einem der loculi, den kleinen Wandnischen, zu verstauen. Sie standen im apodytherium, dem Umkleideraum, der gleich hinter der Eingangshalle lag. Dort zog es noch etwas von der Halle herein und bescherte den Männern eine Gänsehaut, gerade im Herbst war die Erkältungsgefahr nicht zu unterschätzen.

So ganz überzeugt war der Brigante aber noch nicht. Die Nacktheit war nicht das Problem, aber die vielen Fremden bereiteten ihm Unbehagen.

Früher hatten sie auch gebadet. Aber in den Flüssen und mit wenigen oder allein, wenn man eben wollte. So einen Menschenauflauf, so viel Lärm und der ganze Trubel um ihn herum gefielen ihm nicht. Am liebsten wäre er wieder raus gegangen, aber das konnte er Theofanos nicht antun, der schon wieder ohne ihn zu fragen, den Eintritt gezahlt hatte. Irgendwie musste er sich ihm erkenntlich zeigen, weil er wusste, dass der Grieche es ihm heimlich vorwarf, dass er ihm das Geld für die neue Tunika zurückzahlen wollte. Ihm blieb also nichts anderes übrig als sich ebenfalls zu entkleiden und die aufwendige Waschprozedur über sich ergehen zu lassen.

Während er also Mantel, Gürtel, Schuhe und was er sonst an sich trug, ablegte, wurden alle seine Bewegungen genauestens von Theofanos verfolgt. Er sah die frische Narbe vom Kampf, ein paar blaue Flecke, den zwar nicht hageren, aber wesentlich zierlicher wirkenden Körper und die Tattoos an seinen Oberarmen. Die Muster bestanden aus einer Kette von schwarz-bläulichen Kreisen, die oben und unten von einer Reihe geschwungener Quadrate gerahmt wurden. Sie zeigten, zu welchem Stamm Esca gehörte und waren für alle sichtbar. Wirklich für alle. Denn sobald sich der Brigante umgedreht und sich ihnen die nächsten Besucher genähert hatten, erkannten auch sie die Zeichnungen und ein aufgeregtes Getuschel setzte ein.

„Ich sagte doch, ich würde lieber im Fluss baden“, murmelte der Dunkelblonde, der schon geahnt hatte, dass sein Körperschmuck auffallen würde.

„Ach was, das bisschen Gerede“, wiegelte der Grieche ab „Du solltest mal hier sein, wenn ein Schwarzer baden will. So eine Stimmung hast du sonst nur im Circus. Komm, populus oblitus cito!“[3]

Damit wollte er schon in Richtung des caldariums, dem Heißwasserbecken, und die erste Station von Dreien, gehen, stoppte aber noch mal, kratzte sich geistesabwesend am Kinn und schnappte sich dann den gerade erschienen Sklaven, der seinen Kollegen mit dem Bewachen der Kleidung ablösen sollte. Die Sklaven, die hier für einen Hungerlohn arbeiten, waren ein weiterer Grund, warum Esca nicht ins Bad wollte, ihm kam es absolut falsch vor, von jemandem bedient zu werden, schließlich war er bis vor kurzen selbst einer von ihnen gewesen.

„Entschuldige mein Junge, ich habe mich gerade gefragt, ob du mir einen Gefallen tun könntest?“

Der hakennasige Mann mit dem leicht hinkenden Bein, drehte sich sichtlich lustlos zu dem Griechen, der ihn von der Seite angesprochen hatte, um. Wie ein Junge sah er nicht aus, aber immerhin war Theofanos freundlich zu ihm. Betont langsam und dabei mit dem Kopf nickend, nuschelte er:

„Natürlich Herr, immer Ihnen zu Dienen.“

Theofanos rieb sich die Hände, zog den Mann näher an sich und raunte ihm etwas zu. Esca nahm es zwar wahr und fand die Heimlichtuerei etwas kindisch, dachte sich aber nichts dabei. Theofanos hatte bestimmt wieder einen seiner fantastischen Ideen. Stattdessen inspizierte er misstrauisch den Raum, in den er gleich gehen sollte und aus dem ihm jetzt schon heiße Dämpfe entgegenschlugen.

Viel zu warm.

Bei solchen Temperaturen ging man ja ein, wer mochte denn in einem Topf wie ein rohes Stück Fleisch gekocht werden?

Theofanos hatte sein Gespräch beendet und trat neben ihn. In seinem Gesicht spiegelte sich wieder, wie sehr er sich auf die heißen Wannen freute. Seine Augen glänzten richtig. Er packte Esca am Handgelenk und riss ihn geradezu in den gefühlten fünfzig Grad heißen Raum. Sofort schossen dem Dunkelblonden die Schweißperlen auf die Stirn und seine Atmung schien auf einmal schwerer zu gehen. Als ihn dann Theofanos auch noch in das dampfende Riesenbecken trieb, wollte er beinahe aufschreien, so empfindlich reagierte seine Haut auf das Wasser. Die Menschengruppen die schwatzend, lachend und schreiend dabei um sie herum durch die Räume streiften, waren zusätzlich hinderlich. An Entspannung war für ihn nicht zu denken. Dem Griechen gefiel dieser Trubel, gelöst hatte er sich zurückgelehnt, die Arme weit ausgebreitet und genoss die Hitze, die seinen ganzen Körper einhüllte.

Um sich schneller an die extrem warme Temperatur zu gewöhnen, goss Esca sich vorsichtig immer wieder mit den zu Kuhlen geformten Händen Wasser über den Kopf, aber es wollte nicht richtig klappen. Unruhig rutschte er auf seinem Platz rum und verfolgte sehnsüchtig eine Gruppe Knaben, die sich durch die Männergrüppchen durchwanden und in den nächsten Raum verschwanden. Dem Schwarzhaarigen fiel die Unruhe seines Begleiters natürlich auf, ignorierte es erst, aber dann tat ihm der Brigante doch zu leid. Klar, wer das britannische Wetter gewohnt war, dem konnte es hier nicht so gut wie einem Griechen, der an sich nur Sonne kannte, gefallen. Endlich tauchte er einmal unter, stand daraufhin auf und kletterte geschickt nach draußen. Esca gleich hinterher, heilfroh endlich aus dieser Unterwelt zu entkommen.

Leicht auf dem feuchten Boden rutschend erreichten sie den nächste Raum, das tepidarium, das Warmwasserbecken. Dieses war für den Blonden schon wesentlich erträglicher. Nicht mehr ganz so drückend heiß, eher wie ein angenehmer Sommertag. Hier kam sogar Esca dazu sich etwas zu entspannen, obwohl der Lärmpegel hier fast noch höher war als im ersten Raum. Trotzdem kam ihm jetzt endlich das Bedürfnis sich von dem noch vorhandenen Schmutz zu befreien. Mit einem Stück Seife schäumte er sich ordentlich ein. Theofanos studierte ihn dabei. Er war sogar so konzentriert, dass er ganz die Zeit vergaß, doch wie von Zeus Blitz persönlich getroffen, fuhr er so plötzlich auf, dass Esca vor Schreck die Seife ins Wasser fallen ließ. Durch das Gewusel an Stimmen verkündete der Bartträger:

„Esca, ich habe die Zeit ganz vergessen, wir müssen uns jetzt beeilen! Ich habe noch etwas Wichtiges mit dir vor!“ und winkte ihm aufgeregt zu. Der Brigante, der die Aufregung nicht ganz verstand, erhob sich sofort, jetzt sogar etwas wehmütig das Becken zu verlassen und bahnte sich seinen Weg zwischen Equites, Männern des Ritterstandes[4] , die er natürlich ohne ihre Robe nicht zuordnen konnte, vorbei immer hinter Theofanos her. Der schien die geflügelten Schuhe des Merkurs zu tragen und verursachte so fast ein paar Zusammenstöße mit anderen Badegästen, wenn sie nicht schnell genug Platz machten. Esca schlidderte, zunehmend verwirrter hinterher.

„Dürfte ich wohl erfahren, was wir noch so wichtiges zu tun haben?“ rief er dem Griechen hinterher, der schon wie ein kleiner Junge mit einem Hüpfer in dem nächsten Becken verschwand und dafür missbilligende Rufe der umstehenden Männer erntete. Esca musste ein Lachen unterdrücken, hätte es ihm fast gerne nachgemacht, aber da er schon wieder die skeptischen Blicke spürte, stieg er lieber gesittet rein und  bei allen Naturgeistern! Das Wasser war so kalt, wie das in den Flüssen seiner Heimat und durch seinen aufgeheizten Körper gleich doppelt so kalt. Die Römer waren wirklich merkwürdig sich so etwas anzutun. Doch viel Zeit sich über die römischen Sitten zu ärgern blieb ihm nicht, sogleich wurde er wieder am Arm ergriffen, einmal durch die gesamten Baderäume gezogen. Als sie dann frierend draußen waren, meinte Theofanos:

„So nun nur noch Haare schneiden, Ölen, eine Massage und der Bart und dann weiter“ zählte der Grieche an den Fingern auf und sein eindringlicher Blick verriet, dass er keine Widerworte duldete. Dem Briganten wurde das alles etwas zu viel, dieser ganze Trubel um das Baden war wirklich überzogen, aber alles Sträuben half nichts.

*


„Purpur“, stöhnte es in ihm. Die angebliche Lieblingsfarbe der Römer in Sachen Kleidung. Wie er sie hasste. Welcher gestandene Mann wollte denn aussehen wie sein Weib? Welcher Legionär würde Purpur dem Rot vorziehen? Er war versucht, die Tunika dem Sklaven einfach zurückzugeben und ihm zu sagen, dass er behaupten solle, er hätte ihn nicht getroffen. Aber diese Lüge würde wahrscheinlich nichts nützen, denn so wie er den Griechen einschätzte, würde sie trotzdem bei ihm landen. Eine praktische Seite hatte es zudem auch, er müsste sich selbst erst mal keine Neue besorgen, denn dass das alte Lumpenhemd nicht mehr gesellschaftsfähig war, sah sogar ein Blinder. Er packte also das neue Gewand ganz weit hinten in die Nische, damit sie mit den alten Sachen nicht in Berührung kam und womöglich ihren Geruch auf diese übertrug. Beim Auskleiden wurde dann auch die große Narbe an seinem rechten Bein wieder sichtbar. Er würde sie wohl bis ans Ende seines Lebens behalten und ihn immer an sein Treffen mit Esca erinnern.

Er schüttelte den Gedanken ab. Er sollte nicht zu lange trödeln. Er war immer noch nicht ganz auf der Höhe und seine Lust das Bad zu besuchen, schwand umso länger er sich darin befand. So machte er, dass er flugs in das caldarium kam. Interesse an sportlicher Betätigung hatte er keine mehr, im Gegensatz zu vielen Männern die man noch von draußen hörte, wie sie stöhnten und sich gegenseitig erbauende Rufe zuwarfen. Sein schlechtes Gewissen meldete sich, dass seine letzten sportlichen Aktivitäten doch schon eine Weile her waren.

Gut, es war so weit, Marcus hatte gar keine Lust mehr auf das Bad. Einfach nur die ehemaligen Sklaven finden und dann möglichst bald etwas essen. Denn sein Magen meldete, dass die nächtliche Speise mittlerweile verdaut war und er Nachschub forderte. Irgendwie nervte ihn gerade alles.



Auch ihm raubte die Temperatur in dem kleinen stickigen Raum fast den Atem. Rasch kletterte er in das dampfende Bad und ohne auch nur im Traum dran zu denken sich eine Minute Ruhe zu gönnen, durchquerte er es wie ein Jäger auf der Suche nach seiner Beute. Dabei drehte er sich um die eigene Achse, damit er auf keinen Fall die zwei Ausflügler zwischen den Massen nackter Leiber übersah. So arbeitete er sich von Raum zu Raum und von Becken zu Becken bis er schließlich einsehen musste, dass sie nicht mehr da waren.

Sie hatten nicht auf ihn gewartet. Gut, sie konnten ja auch nicht wissen, dass er kam, aber irgendwie hatte er es doch gehofft.

Etwas enttäuscht und ratlos, wo er jetzt noch suchen sollte oder ob er einfach zurück ins hospitium gehen sollte, setzte er sich an den Beckenrand und begann, sich reichlich lustlos zu säubern. Dafür erhielt er bewunderndes Getuschel, denn er war im frigidarium, dem kältesten Becken, in dem die wenigsten lange verweilten. Aber Marcus nahm die Kälte gar nicht wahr. Nicht mal die Schreie eines Mannes, dem die Achselhaare gezupft wurden, fanden bei ihm gehör. Deswegen vernahm er auch nicht das Platschen zweier Füße, die sich ihm rasch nährten. Sie waren schwarz und gehörten zu einem Sklaven mit sehr dunkler Haut, der sich mit etwas Abstand schräg hinter ihn stellte. Mit einem leisen Räuspern wollte er auf sich aufmerksam machen und beim dritten Versuch, schaute Marcus dann auch endlich zu ihm herauf.

„Salve Herr! Wollen Massage haben? Können auch Öl und Haare schneiden“, bot ihm der breit grinsende Mann an, der fast noch ein Junge war. Marcus war gar nicht in Stimmung, sich jetzt verwöhnen zu lassen, außerdem hatte sich seine Einstellung zu Sklaven und deren Arbeit, seitdem er Escas Freund und nicht mehr sein Herr war, deutlich geändert. Jetzt von Sklaven bedient zu werden, war ihm wirklich unangenehm. Seltsam eigentlich, dass Esca sich überreden ließ, an einen Ort wie diesen zu gehen…

„Nun Herr, wollen oder wollen nicht?“ fragte der Sklave jetzt etwas ungeduldig nach und machte ein erwartungsvolles Gesicht.

„Erhältst du Lohn für deine Arbeit?“ Der junge Mann guckte erstaunt und schüttelte nur mit dem Kopf.

„Mh“, machte Marcus. Jetzt schien der Sklave schon fast Angst zu bekommen und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Hatte er etwas Falsches gesagt?

„Also“, begann der Braunhaarige, „Rasieren kann ich mich selbst, Ölen brauche ich nicht, aber eine Massage wäre wohl angebracht und Haare schneiden. Wäre es in Ordnung, wenn du dafür eine Sesterze von mir erhältst?“

Es war so weit, die Augen des Sklaven wurden so groß, dass sie aus ihren Höhlen zu fallen drohten, von seinem Glück völlig überwältigt stotterte er:

„Die Götter sein heute zu gnädig zu armen Thabo. Heute schon zwei Herren, die wollen Geld geben. Thabo sehr dankbar!“ und hob die Arme gen Himmel um seine Freude noch zu betonen.

Marcus war hellhörig geworden. Zwei Herren sagte er?

„Thabo, so war doch dein Name? Wer hat dir noch Geld gegeben?“ bohrte er nach, ihn dabei beobachtend, wie er einen kleinen Freudentanz aufführte. Der Sklave unterbrach seine Darbietung, stellte sich wieder ordentlich hin und sagte dann: „Meister Theofanos, aber nur, weil fremder Mann bei ihm sonst nicht wollte Haare schneiden. Deswegen hat Meister Theofanos Thabo Geld gegeben, damit ich Fremden Haare schneiden können“, erklärte er wahrheitsgemäß.

Also doch. Wie er es sich gedacht hatte. Der Grieche war der nette Geldgeber und das bockige Verhalten des Fremden passte zu Esca. Der Grieche würde noch merken, dass der Brigante nicht so handzahm war, wie er vielleicht dachte. Irgendwie machte ihm der Gedanken Freude. Er hatte aber noch eine weitaus wichtigere Frage an Thabo.

„Weißt du auch wo sie hingegangen sind?“ Wollte er von ihm wissen. Dieser nickte eifrig.

„In Bibliothek, Herr. Habe gehört wie Meister Theofanos zu Fremden das sagte.“

Marcus überlegte einen Moment und sprach dann:

„Thabo, ich hoffe du hast geschickte und flinke Hände. Ich muss auch schnell zur Bibliothek, deswegen müssen wir jetzt so gut es geht zusammenarbeiten. Sie ist doch wahrscheinlich gleich hier an den Thermen angegliedert, oder?“

Der Sklave bejagte, und wies den Weg hinaus auf die Straße.

„Gleich um Ecke, da noch eine Türe, da Bibliothek“ erläuterte er zusätzlich und legte dabei den Kopf schief. Heute war ein wirklich merkwürdiger Tag. So viele Menschen, die nett zu ihm waren und jetzt sogar mit ihm „zusammenarbeiten“ wollten. Er musste wohl aufpassen, dass er sich nicht daran gewöhnte und die Götter ihn dann dafür bestraften. Um den Göttern zu zeigen, dass er ihnen dankbar war und weil er von Natur aus gründlich arbeitete und ihm auch noch diese Fremden so sympathisch waren, gab er sich heute besonders viel Mühe.

*


Stille. Nur das Rascheln von Papyrus und die Menschen draußen waren zu hören. Außer den ehemaligen Sklaven war niemand in der Bibliothek. Alle waren in den Thermen, auf dem Markt oder schon auf dem Weg zum Abendmahl. So liebte es der Grieche. Nur ein Mann und seine Lektüre. Er stand in der hinteren Ecke der kleinen Bibliothek, neben einer Art Regal, wo die scrinia, rechteckige hölzerne Behälter für die volumina[5], aufbewahrt und gestapelt wurden. Von hier aus konnte er Esca, der vor ihm an einem Tisch saß, dicht über ein volumen gebeugt, gut beaufsichtigen. Es freute ihn seinen Freund, und auf eine unbestimmte Weise auch seinen Schüler, so fleißig zu sehen. Ein zufriedenes Lächeln huschte dabei immer mal wieder über sein Gesicht. Ja, er war überzeugt, hier hatte er Esca eine wahre Herzensangelegenheit erfüllt.

Escas Lippen bewegten sich immer wieder leicht, stumme Buchstaben bildeten stumme Wörter und erzählten unbekannte Geschichten. Er war sogar so auf den Text konzentriert, dass er nicht mal das Quietschen der Türe wahrnahm, die sich in diesem Augenblick öffnete. Ein weiterer Besucher war gekommen. In seiner purpurenden Tunika, mit frisch geschnittenem Haar und Bart, machte der Römer jetzt einiges her. Als er sah, dass Esca … ja was eigentlich? Auf alle Fälle so beschäftigt war, wollte er ihn nicht stören und entschloss sich es dem Griechen gleich zu tun und die hintere Ecke des Zimmers aufzusuchen.

Auf leisen Sohlen schlich er am Briganten vorbei bis zu Theofanos, der ihn mit einem kurzen stummen Nicken grüßte. Marcus erwiderte und flüsterte ihm dann auch sogleich zu:

„Ihr habt die Thermen früh verlassen.“

Ein erneutes Nicken. Eigentlich mochte es der Grieche nicht, wenn man in der Bibliothek redete, da sie aber unter sich waren, machte er eine Ausnahme, wenn auch nicht gerne.

„Ich wollte Esca schon gleich gestern die Bibliothek zeigen, aber es war schon so spät. Ihr wart erschöpft von der Reise und da dachte ich, dass ich es lieber auf heute verschiebe.“

„Weshalb? Esca kann doch gar nicht lesen? Wusstet Ihr das nicht? Was tut er da überhaupt?“

„Er prägt sich die Buchstaben ein, die ich ihm vorhin gezeigt habe“, erklärte Theofanos nicht ohne Stolz in der Stimme und ergänzte anerkennend „Er lernt schnell. Mit mehr Übung könnte er schon in wenigen Tagen einfache Texte lesen. Solche Schüler wünscht man sich.“

Marcus blickte zu seinem Freund und dieser wirkte wirklich nicht freudig,  wer freut sich schon, wenn er lernen musste, aber seine Wissensgier sprang geradezu aus seinen Augen. Die schienen die Buchstaben regelrecht in sich aufzusaugen.

„Ihr seid sehr um Esca besorgt oder sollte ich sagen bemüht?“ stelle Marcus mit etwas Neid fest, der sich im spitzen Unterton bemerkbar machte. Der Grieche schien seinen Gefährten wesentlich besser zu kennen als er. Obwohl sie sicherlich schon länger zusammen unterwegs gewesen waren als Esca Zeit auf dem Hof verbracht hatte. Na ja, wohl eher nicht, bedachte man, dass nicht mal ein ganzes Jahr seit ihrer ersten Begegnung in der Arena verstrichen war.

„Ich denke, Esca ist ein erwachsener Mann, es ist nicht nötig, sich um ihn zu sorgen. Aber da ich kein Weib habe, um das ich mich kümmern müsste und er hier keine Bekannten oder Freunde hat, bin ich doch des Öfteren versucht, ihn etwas mehr zu unterstützen als er wahrlich gutheißt.“

Was sollte das denn? Esca sollte hier keine Freunde haben? Und was war er? Wollte der Grieche andeuten, er sei ein schlechter Freund, nur weil er gestern etwas zu tief in die Amphore geblickt hatte? Solche Unterstellungen von jemand, der ihm weder Freiheit geschenkt noch das Leben gerettet hatte, musste er sich nicht bieten lassen.

Reichlich gereizt und jetzt deutlich schärfer im Ton, witzelte er:

„Warum habt Ihr denn kein Weib zum Schützen? Sind die Frauen von Eurer Selbstlosigkeit so verängstigt, dass sich keine Passende finden lässt?“

Doch Theofanos hatte mit dieser Reaktion des Centurio und seinem verletzten Ego schon gerechnet und mit einem überlegenen Lächeln erwiderte er gelassen:

„Oh, an der Auswahl hat es nicht gemangelt. Geist ist für manch eine anziehender als Manneskraft. Aber meiner Liebe gilt nicht dem weiblichen Geschlecht.“

Marcus Überheblichkeit war augenblicklich verschwunden. Das klang nicht gut. Nein, es klang sogar sehr beunruhigend. Jedoch seine Neugier zwang ihn dazu zu erfahren, was der Grieche begehrte, anstatt es lieber bei dieser mehrdeutigen Antwort zu belassen. Kleinlaut und mit leicht stockender Stimme, flüsterte er:

„Wenn Eure Liebe nicht den Frauen gehört, wem dann?“

Stille. Keine Antwort. Wusste es der Grieche vielleicht selbst nicht? Aber dann, ganz langsam, so dass Marcus jede Bewegung wahrnahm, wandte Theofanos seinen Blick von Marcus ab. Seine Augen glitten durch den Raum bis sie bei Esca, der sich das volumen unerlaubterweise auf den Schoß gelegt hatte, zu Ruhe kamen. Ein sanftes Lächeln ließ den Griechen wie einen frisch verliebten Jüngling aussehen.

Marcus wurde es ganz anders. Außer einem nichtssagenden „Oh“ war er zu keiner Reaktion fähig. Sein Mund war trocken und taub, in seinen Ohren begann es zu rauschen. Er wollte sich eigentlich ganz entspannt geben, aber die Tatsache, dass der Grieche genau das war, was man den Menschen aus diesem Land nachsagte, nämlich dass sie auch noch in älteren Jahren nicht das Verlangen ablegen konnten sich mit dem gleichen Geschlecht einzulassen, traf ihn heftig und unerwartet. Aber kam es wirklich so unerwartet? War ihm sein, doch fast schon aufdringlicher, Umgang mit Esca nicht gleich bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen? Alles schien ihm jetzt wesentlich klarer und Esca hatte nichts bemerkt! Oder scherzte der Grieche doch mit ihm? Warum sollte er das tun? Andererseits warum nicht? Schließlich hatte er mit der Stichelei angefangen. Doch machte man über eine solche Liebe Witze? Sollte Theofanos es dann nicht auch jetzt als Scherz auflösen, bevor Gerüchte entstanden? Jedoch zeigte die Miene des Griechen keinerlei Regung, die darauf schließen ließe. Aber er war gewitzt, vielleicht doch …?

Nervös griff sich Marcus in sein frisch geschnittenes Haar und fühlte die einzelnen kurzen Strähnen nach. Was sollte er jetzt tun? So ein ungebührliches Verhalten gegenüber seinem Freund konnte er nicht dulden, würde die Gesellschaft nicht dulden. Genauso schlecht konnte er aber ausgerechnet jetzt zu dem Briganten hingehen und ihm erzählen, dass sein alter Freund ein weibischer Mann war und Gefühle für ihn hegte. Der ehemalige Sklave würde es ihm sicherlich nicht glauben, oder aber er stände als Anschwärzer da. Jemanden dem man nicht vertrauen konnte, weil er alles Gehörte gleich weitergab. Das wollte er auch nicht sein. Ach, er war verwirrt. Was war, wenn Esca ebenso fühlen sollte, wie der Grieche? War das überhaupt möglich, dass der Brigante Gefühle für einen Mann entwickeln könnte? Bei diesem Gedanken durchzuckte es ihn, als ob ihn eine Schlange mit ihrem tödlichen Biss erwischt hätte. Das irritierte ihn noch zusätzlich.

Seine Reaktionen, wenn es um Esca und ihn ging, wurden in letzter Zeit immer ausgeprägter. Das jagte ihm Angst ein, mehr als ein Kampf auf Leben und Tod. Vielleicht sollte er sich einem Heiler anvertrauen. Obwohl von deren Heilkunst waren schon genug Menschen frühzeitig im Hades gelandet.

Ihm war schwindelig und sein Magen war so unruhig, dass es ihn nicht verwundert hätte, wenn ein verschrecktes Kaninchen in ihm seine Haken und Runden geschlagen hätte. Wenn er so tun wollte, als würde ihm diese Nachricht nichts ausmachen, sollte er kurz raus und frische Luft schnappen. Ja, raus, Abstand nehmen zu dieser total verrückten Situation, in die er da geraten war.

Ohne Theofanos Bescheid zu geben, wo er hinwollte, versuchte er sich raus zu schleichen, doch als er erneut am Tisch des Briganten vorbei musste, wurde Esca der Bewegung ganz nah bei ihm gewahr und sprach den Römer erstaunt an:

„Marcus, du hier? Ich habe weder gesehen, wie du gekommen bist, noch etwas gehört.“

Der Römer klappte nur hilflos den Mund auf und zu und zuckte schließlich mit den Achseln. Esca, der sich mittlerweile von dem gestrigen Zwischenfall gut erholt hatte, runzelte die Stirn.

„Wie hast du uns überhaupt gefunden? Und bei meinen Ahnen. Theofanos, ich sagte doch wir sollten lieber eine andere Farbe als Purpur nehmen“, und lachte dabei.

Etwas peinlich berührt, schaute Marcus, obwohl er ja wusste, dass er albern aussah, an sich herunter. Um die Stimmung etwas zu lockern, wollte er auch Esca gerade erzählen, wie er sie gefunden hatte, da schwang sich Theofanos neben ihn, legte den Arm um seine Schulter und unterbrach das Gespräch:

„Ich denke, wir sollten aufbrechen und etwas in einer Taberna Essen gehen. Marcus kann dir ja dann dort alles berichten“, und mit einem seitlichen Blick auf Marcus „dann kriegen vielleicht ein paar von uns wieder etwas Leben ins Gesicht“, er klopfte dem Römer noch aufmunternd auf die Schulter und marschierte Richtung Ausgang. Der Brigante wollte schon hinterher stürmen, weswegen er hastig das Volumen wieder zusammenrollen suchte, aber Theofanos stoppte ihn:

„Nicht so grob mit der Kostbarkeit! Lass dir Zeit. Räum alles ordentlich weg. Ich gehe schon vor, ich muss noch etwas Geschäftliches erledigen. Wir treffen uns am besten an der Taberna am Tempel des Mars. Der Besitzer ist ein Bekannter von mir“, und er verschwand, ohne eine Zustimmung abzuwarten.

„Irgendwie sind alle Bewohner Lindums Bekannte, Freunde oder Gläubiger von Theofanos“, brummte der Römer, weil er sonst nichts zu sagen wusste, diesen Abgang aber auch nicht unkommentiert lassen wollte. Esca schwieg, räumte die Rolle zurück in das Regal, wo er sie her hatte und ging ohne ein weiteres Wort nach draußen.

Marcus folgte ihm. Sich fragend, ob das Schweigen mit seinem Kommentar zu tun hatte oder mit letzter Nacht, oder, oder, oder …dafür, dass er kein Philosoph war, dachte er momentan wirklich viel nach. Fast schmerzlich wurde ihm auch erneut bewusst, dass er noch mit dem Dunkelblonden reden wollte oder besser musste, aber gerade war ihm nicht danach. Auch nicht nach Essen. Für solche Themen brauchte es den passenden Zeitpunkt. Trotzdem sollte er die beiden ehemaligen Sklaven wohl besser im Auge behalten .Zu ihrem eigenen Wohl und auch zu seinem, wie er sich eingestand.

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Hallo ihr Lieben!
Bevor ich jetzt für zwei Wochen in Urlaub fliege und hoffentlich Heil zurückkomme, wollte ich noch ein neues Kapitel hochladen. Es wird jetzt etwas dauern, bis das nächste kommt, aber vielleicht küsst mich ja die Muse;-)?
Wenn ihr mir eine Freude bereiten wollt, dann schreibt mir einfach (wie immer) eure Meinung! Freue mich auf eure Meldungen!^^
P.S. Caligula, ich habe dieses Mal wirklich versucht, wenig Fußnoten zu benutzen, ich hoffe, es ist mir gelungen ;-).
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[1] Auch, wenn es verlockend kling, hier ist nicht drei Uhr morgens gemeint. Die Römer zählten etwas anders. Hier soll es ca.(!) nach drei Uhr am Nachmittag sein.
[2] Der Eintritt war mit einem viertel As so gering, dass sogar Sklaven sich einen täglichen Bad Besuch leisten konnten.
[3] Das Volk vergisst schnell!
[4]Es gab auch in der Römerzeit einen Ritterstand  (Eques ordo). Dieser war ein politisches Amt, welches hinter den Senatoren anzusetzen ist und dem Träger des Amtes bestimmte Privilegien, wie z.B. zwei purpurene Streifen auf der Tunika als Zeichen des Standes, einbrachte.
[5] Buchrollen aus Papyrus.
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