Das Schicksal findet seinen Weg
von Kaetzchen89
Kurzbeschreibung
Wir schreiben das Jahr 141 n. Chr. Seit beinahe drei Jahren ist Antoninus Pius neuer Imperator Roms. Marcus Flavius Aquila und sein ehemaliger Sklave Esca wollen, nachdem sie den goldenen Adler der neunten Legion zurückgeholt haben, ihre neu erworbene Freiheit genießen. Marcus hatte Esca versprochen, dass er ihr neues Ziel bestimmen darf. Doch wohin wird sie die Reise führen? Wie lange werden sie dieses Mal unterwegs sein? Und wie sieht es überhaupt mit der Beziehung der beiden aus? Werden sie es schaffen, ihre Gefühle füreinander zu akzeptieren? Oder war letzten Endes alles nur Schein? Diese Reise wird Entscheidungen fordern, die beide zuvor nie fällen mussten.Nach dem Film "Der Adler der neunten Legion" oder "The Eagle".
GeschichteAbenteuer, Liebesgeschichte / P16 / MaleSlash
11.01.2014
20.03.2020
23
148.399
9
Alle Kapitel
78 Reviews
78 Reviews
Dieses Kapitel
4 Reviews
4 Reviews
25.06.2016
5.691
Liebe Leser,
ja, es gibt mich noch. Ich hatte leider in den letzten Monaten viele Schicksalsschläge einzustecken. Das ist zwar keine richtige Entschtuldigung, aber irgendwie haben diese mich auch wieder zum Schreiben gebracht. Daher geht es jetzt endlich weiter.
Habt Spaß, seid kritisch, ich freue mich, wenn ihr noch dabei seid!
Viele Grüße,
Euer Kätzchen
Und wie immer Dank an meine Betaleserinnen!
___________________________
Was nach ihrer Trennung geschehen war, war wie Kreidestaub aus Marcus‘ Kopf geweht worden. Die freundlichen Worte der Cornelia waren klanglos an ihm vorübergezogen. Zwischendurch hatte er versucht ihr mit bedächtigem Kopfnicken seine Aufmerksamkeit zu demonstrieren, wobei er wohl öfters den falschen Moment erwischt hatte, wie es ihm der irritierte Gesichtsausdruck der Hausherrin unmissverständlich verriet.
Immer wieder hatte er noch nach Esca Ausschau gehalten und gehofft, ihn vorbeilaufen zu sehen. Doch der Brigante hielt sich im Verborgenen, wahrscheinlich mit Absicht. Cornelia hatte Nachsicht mit ihm und entließ ihren Besuch bald darauf. „Ich lasse dir eine Nachricht zukommen“, versprach ihm die Herrin. Marcus hatte keine Ahnung, was sie damit meinte, bedankte sich aber für ihre Gastfreundschaft und trottete anschließend die immer feuchten Straßen entlang zum Hafen.
Es war noch nicht spät. Betriebsam rannten, schleppten und werkelten die Händler und Arbeiter rund um die Schiffe. Es war ein beachtlicher Lärm. Zudem hielt der Winter mit seinen kalten Nordwinden langsam Einzug und immer häufiger hörte man Husten und Niesen zwischen den bellenden Befehlen der Aufseher. Gedankenversunken hielt Marcus das Schmuckstück zwischen seinen Fingern fest, fuhr den Konturen nach, fühlte und betastete die kleinen spitzen Enden. Vor dem Schiff des Händlers kam er zum Stehen und blickte, ohne mit den Augen an einem Ort zu verweilen, in der Gegend rum, seine Gedanken wollten sich nicht ordnen lassen.
Marcellus kam, nachdem er den Römer von seinem Schiff aus entdeckt hatte, geradezu herangestürmt, begierig zu erfahren, was bei Cornelia geschehen war. Von seinem Arbeiter hatte er ja bereits die Kunde erhalten, dass die Herrin Marcus nach ihrer Abreisenoch einmal zurückgerufen hatte. Die angeblich ungenügende Lieferung an Orangen war damit vergessen, obwohl er einen Laufburschen als Schuldigen für das Missgeschick enttarnt und ihm als Strafe eine Ohrfeige für seine Schlampigkeit verpasst hatte. Der arme Jung hatte nicht verstanden, worin sein Fehler bestand. Schließlich hatte er zuvor nie Orangen gesehen und konnte daher nicht beurteilen, ob das Obst nun gut oder schlecht aussah. Zerknirscht hatte sich daraufhin zurückgezogen, während er bereits mit dem Gedanken spielte, sich einen anderen Arbeitgeber zu suchen, vielleicht einen seiner Landsleute.
„Marcus! Marcus, so erzähl, wie war es? Hast du Esca gefunden?“, fragte Marcellus aufgeregt und blickte ihm dabei mit einer ehrlichen Anspannung und einer gewissen Besorgnis in die Augen.
„Ja, ich habe ihn gefunden“, murmelte Marcus und riss sich aus seinen Gedanken los.
„Und weiter? Habt ihr einen Fluchtplan besprechen können?“
„Es wird nicht so einfach, wie wir gedacht hatten. Die Umstände haben sich geändert und wahrscheinlich müssen wir… gröber rangehen.“ Marcellus schaute ihn erstaunt an. „Gröber? Ihr wollt der Herrin aber doch kein Leid zufügen?“ Der Schiffskapitän war ehrlich entrüstet. Cornelia war einer seiner besten Abnehmer, ihr Ableben würde ein gehöriges Loch in seiner Schatztruhe bedeuten. Außerdem gehörte sie zu den wenigen Kunden, die Marcellus als Mensch schätzte.
„Du hast mich falsch verstanden“, winkte Marcus gereizt ab, „Wir reden später. Ich muss nachdenken.“ Damit ließ er den nun völlig brüskierten Marcellus stehen und verschwand im Schiffrumpf. „Und mein Geld?“, rief ihm der Kaufmann nicht ohne einen gewissen beleidigten Klang in der Stimme hinterher. „Du machst dich zum Dieb, Marcus!“, betonte der Händler und verschränkte die Arme vor der Brust. Zähneknirschend hielt der Römer inne. Er konnte sich nicht daran erinnern Cornelia nach den ausstehenden Sesterzen gefragt zu haben, aber als er seine Kleidung abtastete, klimperte tatsächlich ein Ledersäckchen mit Geld an seinem Gürtel. Er hatte es nicht bemerkt. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, es überhaupt entgegen genommen zu haben. Er kehrte um und überreichte Marcellus das Säckchen, indem er es ihm in die geöffnete Handfläche fallen ließ. „Ich habe nicht nachgezählt“, gestand er gleich und schämte sich etwas, da er sich zuvor geschworen hatte auf Marcellus‘ Geschäfte acht zu geben.
„Das ist in Ordnung. Wenn etwas fehlen sollte, setze ich es auf deine Rechnung“, grummelte Marcellus und ging ohne weiter zu fragen auf sein Schiff, wo bereits der nächste Kunde ungeduldig auf ihn wartete.
Marcus griff wieder nach seiner Kette, zog sie unter seiner Kleidung hervor und hielt den Anhänger so hoch wie es das kurze Lederband zuließ. Ihr kupferner Glanz war zwar nicht so ruhmreich und verheißungsvoll wie das Gold Cornelias, aber in ihm schimmerte eine gewisse Göttlichkeit, die ihn nachdenklich stimmte.
Entgegen seines ersten Gedanken, sich in seiner Kabine zu verschanzen, um die Welt auszusperren, wollte er nun raus aus dem Hafengebiet. Dort zerrte der Wind zu scharf an seinen Kleidern und machte seine Gedanken trübe. In nördlicher Richtung trieb es ihn auf das Forum, den Ort an dem er gestern erst Esca hatte entbehren müssen.
Londinum war nicht viel größer als Lindum, aber man spürte, dass aus der Stadt vielleicht in einigen Jahren etwas Großes werden konnte. Die Menschen schien es hierher zu ziehen, ob aus der Not oder der Hoffnung heraus. Wie Nachtschwärmer flattern sie über das Forum auf der Suche nach Nahrung und Licht. Kurz musste Marcus an die Geschichte des alten Diogenes denken, der in seiner Tonne auf dem Forum am helllichten Tag mit einer Laterne in der Hand gestanden hatte. Als man ihn fragte, was er damit vorhabe, hatte er geantwortet: „Ich suche Menschen!“ Für Marcus gab es diesen Plural nicht mehr. Er suchte einen Menschen und der war nicht unter diesen Motten. In der Ecke eines überdachten Säulenganges, der im Sommer bestimmt ein beliebter Platz der Weiber zum Schwatzen war, wollte er sich hinsetzen und nachdenken. Marcus legte seinen Mantelals Puffer zwischen sich und das kühle Gestein und zog die Beine etwas an, damit seine Wärme nicht zu schnell verloren ging. Sein Blick fiel auf die Graffiti, die Unbekannte in die Mauern unsauber geritzt hatten. „Iucundus mala cala“ [1] – nicht gerade sehr geistreich.
„Admiror teparies non cecidisse qui tot scriptorum taedia sustineas“[2] – ein wahres, wenn auch schon oft gelesenes Wort. Marcus betrachtete weitere der Krakeleien, neben allerlei Angeboten aus den umliegenden Bordellen, Grüßen, Dichterzitaten und Ergebnissen der letzten Gladiatorenspiele aus Rom, fanden sich versteckt auch kleine Nachrichten von einem gewissen Faustus, der mit seinem Kameraden Scutularius – sie gehörten wohl zu einer der ehemaligen Legionen, die hier stationiert waren – an genau dieser Stelle, mehrere Treffen gehabt haben sollen, die laut des Inhalts sehr intim gewesen zu sein schienen. Marcus zweifelte an dem Wahrheitsgehalt der kleinen Briefe. Es ausgerechnet hier zu tun, ohne gesehen oder gehört zu werden, stellte er sich als sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, vor, da gerade das Forum durch alle nächtlichen Stunde von Besuchern nicht verschont wurde.
„Faustus te amo.[3]“ Marcus hätte die drei Worte am liebsten mit einem einzigen Schlag aus der Wand gebrochen. Sie waren weit unten in dem Winkel der zwei aufeinandertreffenden Ecken gequetscht worden, so dass man zweimal hinsehen musste, bevor man sie entdecken konnte. Der Schreiber, vermutlich Scutularius, hatte sich sogar Mühe gegeben die Buchstaben einigermaßen ordentlich zu ritzen. Es wirkte etwas hilflos, wie ein Wunsch, der nicht in Erfüllung gehen würde und daher gut versteckt werden musste. Ihm tat der Schreiber leid. Der Römer konnte sich bei dieser Verzweiflung, die er aus diesem einen Satz in seiner Melancholie raus zu lesen meinte, nicht vorstellen, dass dieser Faustus ein wirkliches Interesse an dem armen verliebten Mann hatte.
Ermattet rieb er sich über die brennenden Augen. Es war noch nicht spät, aber er fühlte sich ausgelaugt. Seine Hand wanderte über seine frischrasierte Haut in den verspannten Nacken und blieb dort im Klammergriff liegen. Er legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Marmorierung der Steine. Sie wirkte wie Meerschaum. Würde sie sich bewegen, hätte er geglaubt, wieder in Ostia zu sein. Ein wenig sehnte er sich nach der warmen Sonne Italiens, das war es aber auch schon. Die Menschen in Rom waren nicht besser als die in Britannia; es war nur eine Frage der Zeit bis der nächste Feldzug beginnen musste und dann auch die Sonne Italiens wieder rot gefärbt würde.
Der spitze Schrei eines kleinen Mädchens brach in seine Gedankenwelt ein und lenkte Marcus‘ Aufmerksamkeit unangenehm auf sie. Die Kleine war auf den matschigen Boden stecken geblieben und hingefallen. Unmöglich konnte sie sich ernsthaft verletzt haben, dafür war der Untergrund zu weich und ihre Beine noch viel zu kurz, dennoch weinte das Mädchen bitterlich. Ihre Mutter hielt an, stellte den Korb, der mit Früchten und anderen Dingen für den Haushalt gefüllt war, auf den Sockel einer neben ihr in den Himmel ragenden Statue ab und hob das weinende Mädchen auf. Sie drückte sie an ihre Brust und streichelte sanft über das helle noch dünne Haar, bis es nur noch leise schluchzte. Schließlich packte sie mit der anderen freien Hand den Korb und trug nun diesen und ihr Kind in einer stoischen Gelassenheit davon. Sie hatte dem Mädchen kein Wort des Trostes geschenkt, aber diese einfache Geste des Umarmens hatte es beruhigt. Marcus war fasziniert. Er kannte dieses Gefühl, aber es war lange her – er hätte Esca vielleicht umarmen sollen, in diesem kurzen Moment, in dem sie ganz alleine gewesen waren. Esca war zwar erwachsen, aber er war allein und er trug eine tiefe seelische Wunde, möglicherweise hätte er wirklich eine Umarmung gebraucht…
Als das Paar Marcus‘ Blick entschwunden war, betrachtete der Römer die Statue an der die Mutter Halt gemacht hatte. Erst die nackten Füße, dann den Rest des Mannes. Er hatte sich bisher herzlich wenig um die Ruhmesstatuen auf dem Forum gekümmert. Immerhin waren sie so zahlreich und Größenteils von Männern, die außerhalb ihrer Stadt niemand kannte, dass er ihnen keine Wert zumaß, doch diese war keine Statue eines ehrenvollen Bürgers, der sein Standbild für die Ewigkeit hatte aufstellen lassen. Es war ein Jüngling, der Oberkörper entblößt, sein Pallium hing ihm locker über der Hüfte und schlang sich zu einer Seite hin über seinen erhobenen Unterarm. Die andere Hand raffte den Stoff vor seiner Hüfte so zusammen, dass dort drin Blumen und allerlei andere Pflanzen Platz fanden. Das jugendliche, weiche Gesicht wurde von einer wilden Lockenpracht gerahmt, sein Blick ging nachdenklich in die Ferne.
Marcus lachte laut auf. Es schüttelte ihn richtig und er bekam kaum Luft, doch er konnte nicht aufhören. Wäre ein Besucher vorbeigegangen, hätte er den ehemaligen Centurio sicherlich für verrückt erklärt, wie er da in seiner Toga auf der Erde kauerte und grundlos lachte. Jedes Mal wenn er den Augen des jungen Mannes begegnete, lösten diese eine neue Welle der Heiterkeit aus. „Hadrians Lustknabe“, kicherte Marcus in sich hinein und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Antinoos[4], hat Hadrian dich sogar in das kalte Britannien verschleppt?“ Seine Augen tränten immer stärker und sein Magen zog sich zusammen, bis es kaum mehr zu ertragen war. Dennoch dauerte es ein paar Augenblicke, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Den armen Knaben, der auch nichts für sein armseliges Schicksal,einen frühen Tod zu erleiden, konnte, hatte er nicht auslachen wollen. Dennoch war es ihm als verspotte ihn die Statue.
Ein Kaiser, Hadrian erst vor kurzer Zeit zu den Göttern aufgestiegen, hatte seine Liebe zu einem Mann in aller Öffentlichkeit ausleben können, weil er noch das richtige Alter gehabt hatte und damit die Kritik an einem solchen Verhältnis zurückgehalten wurde. Doch was wäre gewesen, wenn Antinoos auch noch der Gefährte des Kaisers geblieben wäre, wenn es nicht mehr den Konventionen entsprochen hätte? Hätte sich jemand offen gegen diese Verbindung gestellt? Sicher nicht und das erregte den Zorn in Marcus. Die ganzen Menschen, die großzügig über den Kaiser sprachen und zugleich mit dem Finger auf sie beide zeigen würden. Diejenigen, die abfällig von Esca sprechen würden. Ein Barbar, das Haustier des Marcus Flavius Aquilas. Heuchler!
Theofanos war die erfrischende Ausnahme, den Christen konnte er nicht einschätzen.
Natürlich war Marcus nicht der einzige mit diesem Schicksal. Unter dem Mantel des Schweigens gab es dutzende, die ihre Lust in aller Heimlichkeit frönten und ihren Knaben dafür entsprechendes Geld zahlten, aber bei diesen dunklen Geschäften waren die Knaben nicht besser als die Prostituierten, sie waren sogar noch weniger wert. Wenn sie den geilen Alten lästig wurden, wurden sie eben getötet. Niemand führte einen Gerichtsprozess, wenn es keine Kläger gab. Die Bordellbetreiber wurden mit Geld zum Schweigen gebracht und das Leben ging seinen gewohnten Lauf. Marcus spuckte aus. Ein unangenehmer Geschmack lag auf seiner Zunge, ihm wurde gerade zu schlecht davon.
Ein Gefühl der Enge beschlich ihn. Diese Ungerechtigkeit machte ihn krank. Auf der einen Seiten die unehrlichen Liebesbekundungen, auf der anderen Seite das überzeitliche Liebesbekenntnis Hadrians und dazwischen er. Gefangen in dem Dilemma nicht zu wissen, wo er mit seiner Liebe stand. Esca würde nicht bei Cornelia bleiben, auch wenn es ihm dort gut ginge. Er sah es als sein gutes Recht an von Esca zu erfahren, wie es zu der Bluttat gekommen war. Ihm war es nicht entgangen, dass Esca in seiner Anwesenheit aufgewühlter war und auch dieses… er war anders als sonst, ihr Umgang miteinander war anders als bisher. Allerdings war zurzeit jedes Zusammentreffen mit Esca wie ein Treffen mit einem immer neuen Menschen. Esca schien sich jedes Mal etwas gewandelt zu haben, es nahm kein Ende und der Römer wusste langsam nicht mehr, ob diese Wandlungen ihm Esca näher brachten oder sie sich voneinander entfernten.
Er seufzte und lehnte den Kopf gegen das Gestein, besah sich noch einmal Antinoos und begann einen Plan zu schmieden – sein Entschluss stand fest und egal in welcher Gestalt, Esca würde mit ihm kommen.
„Da, das muss sie sein!“, rief Eleasar schon fast etwas übermütig, als sich die Tonziegeldächer am Horizont erhoben. „Da es hier in unmittelbarer Umgebung keine größere Stadt gibt und der Meilenstein uns in diese Richtung geschickt hat, ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir Londinum tatsächlich verpasst haben sollten und wir vor der falschen Stadt stehen“, wies Theofanos seinen Begleiter zurecht, der eine beleidigte Miene aufsetzte. Ihre Pferde waren vom langen Ritt erschöpft. Dampfwolken stiegen von ihren Leibern in die kühle Abendluft, während im Tal bereits die ersten Lichter entzündet wurden.
„Sehen aber auch alle gleich aus, diese römischen Städte“, maulte Eleasar noch leise vor sich hin, bevor er sich die Häuserreihen noch einmal genauer ansah.
„Wo fangen wir an?“, fragte der Christ, nachdem er die wichtigsten Verwaltungsgebäude lokalisiert hatte. Das Straßennetz war das altbekannte Muster aus Quadraten, keine Besonderheiten, der Fluss bahnte sich friedlich seinen Weg durch die Landschaft.
Theofanos drehte seinem Gefährten verständnislos das Gesicht zu: „Mit was?“
„Mit Suchen natürlich!“, echauffierte sich Eleasar.
„Und nach was willst du suchen?“, fragte der Grieche müde und desinteressiert.
„Theofanos!“, donnerte jetzt der bis dahin noch um Besinnung ringende Eleasar. „Es ist zu spät und ich bin zu müde für diese Kindereien! Wir wollen doch Marcus treffen? Also, wo und wie sollen wir ihn aufspüren?“
Der Grieche strich über das nasse Fell seines Pferdes, trennte Strähnen der zotteligen Mähne auseinander. „Ja, da hast du recht. Aber ich halte es für keine gute Idee, wenn wir ihn selbst suchen.“
„Warum nicht, hier kennt uns doch niemand?“
„Das weißt du nicht. Außerdem ist es auffällig, wenn wir uns nach Marcus erkundigen. Namen gehen durch die geschwätzigen Mäuler wie süßer Wein. Wir sollten uns hüten so offen nach Marcus und Esca zu fragen. Vielleicht sind sie längst weg. Wir haben keine Nachricht von Marcus erhalten, das beunruhigt mich.“ Das Pferd schüttelte sich und machte Theofanos‘ Bemühungen die Mähne zu entwirren zunichte, der begann gelassen wieder von vorne.
Eleasar drückte seinen schmerzenden Rücken durch und ließ sich alles durch den Kopf gehen. „Vielleicht hat er unser Schreiben auch noch nicht erhalten.“
„Oder nicht erhalten können“, ergänzte der Grieche und seine Mundwinkel mussten sehr dagegen ankämpfen, um nicht weiter abwärts zu wandern. Kleine Falten bildeten sich auf seiner Stirn.
„Gut, das sehe ich ein. Eine vorsichtige Vorgehensweise wird sicherlich ratsamer sein. Was also schlägst du vor, Theofanos?“, bohrte der Christ weiter und schwang sich nach Stunden des Reitens endlich von seinem Pferd und spürte in jedem Knochen die beschwerliche Reise nach.
„Wir werden uns dort aufhalten, wo es alle Menschen hinzieht“, überlegte der Lehrer laut.
„In den Kneipen?“ Eleasars Naivität war größer als Theofanos angenommen hatte und brachte ihn zum schmunzeln. „Nein, gut vielleicht dort auch. Dort spricht die Zunge bekanntlich das lockerste Wort, aber ich meinte den Markt und den Hafen. Auf dem Markt die Weiber und im Hafen die Arbeiter. Irgendwem wird unser Freund vielleicht aufgefallen sein.“
Der Christ ließ sich auf den Boden sinken und legte sich auf den Rücken. Ob es ihm wohltat oder seine Schmerzen verschlimmerte, konnte er noch nicht bestimmten, aber liegen war besser als sitzen oder stehen.
Während Eleasar die Arme weit ausstreckte, schoss ihm ein Gedanke in den Sinn: „Wirst du ihm von deinem Fehler erzählen?“
„Ich werde es wohl müssen“, erwiderte der Grieche zwischen zusammengebissenen Zähnen.
„Er wird dir verzeihen, ihr seid doch Freunde“, sagte Eleasar, war aber von seinen eigenen Worten nicht wirklich überzeugt. Theofanos‘ Tat glich einem Verrat.
„Ob ich noch Marcus‘ Freund bin, ob ich es je war, wird sich wohl erst noch zeigen“, analysiert Theofanos ihre momentane Situation passend und zupfte an ein paar seiner noch schwarzen Haare.
„Hast du Angst, er schlägt dich?“Eleasar rupfte, Theofanos nachahmend, an wenigen Grashalmen, bis er sie von ihrer Wurzel getrennt hatte.
„Ich wünsche mir, er würde mich schlagen“, brummte Theofanos, der nun auch von seinem Pferd stieg und sich neben Eleasar legte, ein kleines Lächeln zuckte über seine Lippen.
„Dann wird er dir den Gefallen sicher nicht tun.“
Das Blut spritze aus Theofanos‘ Nase wie ein Geysir aus seiner Quelle. Der Lehrer taumelte und drückte seine Hände gegen sein Gesicht, damit das Blut nicht weiter auf seine Toga tropfte, mit bescheidenem Erfolg. Die dickflüssige Brühe bahnte sich ihren Weg durch Theofanos‘ Finger hindurch, rann seine Handrücken und Arme hinab, bis er aussah wie der Gekreuzigte – so Eleasars Beschreibung. Sie hatten Marcus schneller gefunden als gedacht. Der Römer war auf dem Sklavenmarkt vielen aufgefallen und im Gedächtnis geblieben.
Marcus‘ Wut war jedoch nicht befriedigt, er holte bereits zum zweiten Schlag aus, als sich ihm der Christ in den Weg stellte.
„Es reicht, Marcus, er hat schon genug Strafe erhalten.“ Der Händler stellte sich mit erhobenen Händen vor den Römer, der beinahe in den kleinen Mann hineingestolpert wäre. Wie ein Wolf schritt Marcus nun vor diesem auf und ab, seine Augen unentwegt auf den Griechen fixiert.
„Ich wusste es“, schrie der Römer den Griechen an, weil er nicht anders konnte, „Ich wusste es. Man kann dir verschlagenen Fuchs nicht trauen! Spielsucht!“ Er trat einen Holzeimer um, der ihm gerade im Weg stand. Er war leer, aber das Geräusch des krachenden Holzes donnerte in der engen Häuserschlucht besonders laut. Marcus hatte den Brief nicht rechtzeitig erhalten, war auf nichts vorbereitet gewesen. Auf diese Boten war einfach kein Verlass.
„Mir schien es, Marcus, als wäre dein Onkel auch ohne Theofanos‘ Unverschämtheiten nicht bereit gewesen dir zu helfen“, erwähnte Eleasar beiläufig, als er sich nach dem Eimer bückte, ihn aufhob und einer alten Frau, die das Drama mitgehört hatte, als sie vom Wasserholen kam, eine entschuldigenden Blick zuwarf.
Marcus schnaufte erbost wie ein Stier, besann sich aber. Eleasar war auf Theofanos‘ falsches Wesen hereingefallen, deshalb verteidigte er ihn. Trotzdem glaubte er ihm ebenfalls, dass er den Griechen bereits gestraft hatte. Letztlich musste er sich selbst eingestehen, dass bei ihm auch nicht alles so verlaufen war, wie er es sich erhofft hatte. Fatale Fehler in beiden Lagern.
„Marcus, sag uns doch, was du herausgefunden hast. Ist Esca hier? Hast du ihn getroffen?“, versuchte Eleasar das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken, währenddessen schob er Theofanos etwas aus Marcus‘ Sichtfeld. Der Grieche war sowieso immer noch mit seiner unentwegt blutenden Nase beschäftigt. Der Römer biss sich auf die Lippe. Kaum dachte man an einen unangenehmen Gedanken, schon sprach jemand den nächstenaus. „Esca ist hier. Es geht ihm gut. Er wurde auf dem Sklavenmarkt an eine reiche Frau aus der Stadt verkauft“, brachte er stückchenweise hervor. Sehr unbefriedigend für zwei neugierige Menschen.
„Konntest du mit ihm sprechen?“, warf Theofanos gleich ein.
„Ja, ich habe mir Zugang in die Villa verschafft und habe Esca getroffen.“
„Das ist ja fantastisch!“, rief Eleasar aus und klatschte schon siegessicher in die Hände.
Marcus’ betretenes Schweigen und sine eindeutige Körperhaltung ließen es jedoch gleich wieder ersterben.
„Warum ist deine Miene so finster? Sag nicht, die Ablösesumme für Esca ist so hoch, dass wir doch der Fürsprache deines Onkels bedürfen. Oder wird er schlecht behandelt?“ Theofanos wischte sich den Rest des Blutes aus dem Gesicht und betrachtete angeekelt seine rotverschmierten Hände und Arme.
Marcus rang mit sich, knetete seine Hände, wirkte nervös. Eleasar bemerkte es sofort. Er kannte dieses Verhalten von seinen Kindern, wenn sie etwas kaputt gemacht oder sonst etwas angestellt hatten.
„Er will nicht mitkommen“, zwang sich der Römer schließlich mit zusammengebissenen Zähnen und starrte gen Boden. Er konnte und wollte seinen Gefährten nicht in die Augen sehen, auch weil er wusste, was als nächstes kam. Tatsächlich klappte dem Christen die Kinnlade herunter.
„Du treibst einen Spaß mit uns.“ Eleasar trat näher an Marcus heran, packte ihn grob an seiner Tunika und zwang Marcus ihm in das Gesicht zu sehen. Theofanos sagte nichts.
„Er sieht es als Strafe“, war seine Erklärung. Marcus kamen diese Worte verkehrt vor, aber es war das einzige, was er sagen konnte.
„Was für eine Strafe? Für sich? Für dich? Für oder von einem Gott?“
Trockenheit machte sich in seinem Mund breit. Seine Stimme klang belegt, als er sagte:„Für seine Tat, für eine blutige Tat.“ Er spürte den Schmerz in seiner Brust als sei er Esca, der sie aussprach.
Eleasar ließ die Hände sinken, seine Augen weiteten sich. „Sag nicht…“
„Doch. Ich wollte es auch nicht wahr haben.“ Die Wahrheit stand unausgesprochen zwischen ihnen. Eleasars Knie fühlten sich merkwürdig unwirklich an. Er bückte sich geistesabwesend, zog den eben erst wieder aufgestellten Eimer heran, drehte ihn um und ließ sich auf ihn nieder. Sacken lassen – das war wohl die richtige Umschreibung für diese Nachricht. Theofanos‘ Miene hatte sich verfinstert, obwohl er nicht überrascht aussah.
„Beim allmächtigen Gott, das darf nicht sein. Esca hat das Mädchen getötet?“, murmelte Eleasar mit bleichem Gesicht. Er wirkte in sich gekehrt, beinahe abwesend, als würde er sein Inneres erkunden, um herauszufinden, was er mit dem neuen Wissen anfangen sollte.
„Er sagte es mir, in der Hoffnung ich würde so von meinem Plan ihn zu befreien, ablassen.“ Anstrengend. Diese halbfertigen Erklärungen waren immer so anstrengend. Was sollte der Römer sonst auch sagen? Er wusste letzten Endes kaum mehr als die Anderen jetzt. „Jedes Mal wenn wir miteinander sprechen, scheinen sich die Dinge zu verschlechtern. Wir sollten uns nur noch anschweigen“, knurrte er, als er merkte, dass die beiden Männer diese blutige Tatsache nicht so einfach wegsteckten, wie er heimlich gehofft hatte.
Theofanos räusperte sich und setzte an, etwas zu sagen, doch allein dieses aufgesetzte Räuspern, brachte Marcus’Blut in Wallung – nicht jetzt auch noch das besserwisserische Gehabe des spielsüchtigen Griechen!
„Halt dich raus, Theofanos! Dass du dich überhaupt noch traust, dein verlogenes Maul aufzutun! Du hast keine Ahnung, wie ich oder Esca …“
„Compesce mentem!”[5], brüllte ihn da Theofanos an, dass Marcus es die Sprache verschlug. Der Kopf des Griechen glühte rot und seine Augen sprühten Blitze. So energisch hatte er den Griechen bisher nicht erlebt. „Nein, ich weiß sicherlich weniger über dich und Esca, aber Maße dir nicht an, aufgrund einer Verfehlung meinerseits die Weisheit von Athena selbst eingeflößt bekommen zu haben! Dein verliebter Kopf ist doch zu vernünftigen Denken gar nicht fähig, also höre mich an, bevor du mich verurteilst, du unglückseliger Paris![6]“
Obgleich Theofanos natürlich recht hatte, hatte er zugleich das Faktum von Marcus‘ erhitztem Gemüt‘ außer Acht gelassen. Anstatt also der erwartenden Entschärfung der Stimmung, brauste Marcus nun auf. Er schubste, unnötigerweise, den noch vor ihm hockenden Eleasar zur Seite, der mit einem empörten Schrei auf die Straße kippte. Dabei musste der Christ zugleich hilflos mit ansehen, wie sich Marcus erneut auf Theofanos stürzte. Der Grieche konnte sich gar nicht so schnell umdrehen, wie er abermals Marcus‘ Faust im Gesicht hatte. Die gerade erst versiegte Nase ließ ihren Unmut nicht lange unbekundet und das Blut begann wieder zu fließen.
Eleasar hechte dazwischen. Er war alles andere als kräftig genug, um wirklich gegen Marcus anzukommen, aber der Römer merkte, dass er wieder eine Grenze überschritten hatte. Er atmete tief ein, riss sich aus dem Klammergriff des Händlers und trat erneut den Eimer um, der nun zerbarst und Marcus ungewollt Schmerzen am großen Zeh bescherte. Er fluchte, ließ sich auf den Boden nieder, zog seinen Schuh aus und begutachtete seinen Fuß, während Theofanos ihm mit verzerrtem Lächeln zusah.
Als sich alle beruhigt, die alte Frau erneut aus ihrem Fenster gesehen hatte und Theofanos wieder ansehnlich war, hockte sich Eleasar ernst neben den noch immer auf dem Boden sitzenden Marcus. Er legte ihm die Hand auf die Schulter. Seine Stimme war leise und besorgt. Er kämpfte mit seinem Gewissen. „Marcus, ich habe dir meine Unterstützung zugesagt. Deine und Escas Beziehung ist für deine Welt kompliziert und für meine unmöglich. Trotzdem wollte ich dir helfen. Aber ich werde niemanden zwingen, gegen seinen Willen zu handeln. Was oder wer erlaubt dir, seinen Willen zu missachten?“ Der Händler rückte ganz nah an ihn heran, und schaute ihn tief in die Augen als suche er dort die richtige Antwort. „Denke nach. Von deiner Antwort hängt ab, ob ich dir weiter helfen werde oder umgehend zurück zu meiner Familie segle, die ich schon viel zu lange nicht mehr gesehen habe. Esca macht es richtig, dass er für sein Vergehen büßt. Jeder Richter würde seine Beweggründe für ehrbar halten. Also was kannst du vorbringen?“
„Ich kann nichts vorbringen, außer, dass ich mich mitschuldig fühle.“
„Für eine Tat, die du nicht begangen hast?“ Der Christ nahm ein für ihn sehr untypisches Gesicht an, das ihm wohl sagen sollte, dass er ihm nicht glaubte.
Marcus wusste, er dürfte sich nicht verunsichern lassen: „Nicht selbst begangen, aber meinetwegen begangen.“
„Hat er das behauptet?“, wollte Eleasar weiter wissen – ein Verhör der unangenehmen Art begann.
„Nein“, gab Marcus zu.
„Also eine sehr mutige Behauptung. Glaubst du nicht, du überschätzt deinen Wert in Hinblick auf Esca?“ Skepsis schlich sich in das Gesicht des sonst gutmütigen Händlers. Marcus dachte, er wollte gleich seine Seele packen und eigenhändig durchwühlen.
„Nein.“ Der Römer bildete sich tatsächlich ein, alles zu wissen. Das letzte Treffen hatte es ihm doch gezeigt, er konnte sich doch nicht alles einbilden!
„Fang keine lästerlichen Worte an, Marcus.“ Der Grieche spuckte aus, Blut war ihm auch in den Mund gelangt. Er funkelte den Römer feindselig an.
„Ich spreche die Wahrheit, wo Sprache keine Worte mehr hat!“, erwiderte Marcus etwas lauter als notwendig war. Eleasar hielt ihn weiter an der Schulter fest und so auch zurück.
Theofanos war nicht überzeugt. Ein verliebter Römer gegen ihre tiefe Freundschaft. Da musste Marcus mehr vorbringen. „Du verlangst zu viel von Esca“, lautete sein Urteil. Ein scharfer Ton lag darin, etwas Vorwurfsvolles.
„Ich verlange nie zu viel, ich gebe nur zu viel.“ Angestachelt durch Theofanos Temperament vergriff sich nun Marcus ebenso im Ton und in den Worten, aber er merkte es zu spät. Der Lehrer griff gleich zu, beobachtet von Eleasar, der sich seine ganz eigenen Gedanken zu dem Gesagten machte.
„Eine Gabe, die Esca vielleicht nicht haben will“, gab der Grieche zu bedenken und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Beherrschung war wieder da und trieb Marcus an den Rand des Ertragbaren.
„Dann soll er es mir sagen, er hat mich nicht zurückgestoßen! Er stößt mich nicht weg, er wendet sich ab, aber er hasst mich nicht!“, beteuerte Marcus und ihm war das alles langsam etwas peinlich. Theofanos schien allerdings nicht genug davon zu bekommen.
„Esca ist eben gut erzogen“, tat der Grieche Marcus‘ leidenschaftliche Worte lapidar ab.
„Er wollte mich bei unserer ersten Begegnung töten, wenn er nicht in meiner Schuld gestanden hätte.“
„Und das soll sich jetzt völlig gewandelt haben?“
„Du hast doch keine Ahnung, was wir zusammen durchgemacht haben!“
„Esca hat allein schon mehr durchgemacht als in der ganzen Zeit mit dir, demnach müsste er alleine am besten aufgehoben sein“, erwiderte Theofanos ungerührt.
„Eleasar, halt mich davon ab, sonst blutet gleich nicht nur Theofanos‘ Nase!“, schrie Marcus, während seine Gesichtsfarbe bereits dem eines blühenden Mohnblumenfeldes glich.
Der Christ warf dem Griechen einen strafenden Blick zu. Theofanos würde helfen. Es ging nicht darum, dass Marcus ihn überzeugte, sondern Eleasar musste überzeugt werden. Dem Römer fiel dieser Umstand schlagartig wieder ein, als er den Christen mit trüben Augen grübeln sah. Deutlich ruhiger, aber nicht weniger aufgewühlt, wandte er sich an ihn, ergriff bewegt sein schmales Handgelenk.
„Er versteht mich. Er hat mich immer verstanden und seit unserem letzten Treffen glaube ich ihn auch verstanden zu haben. Ich muss ihn befreien. Er hat sich noch nicht erklärt. Seine Strafe ist zu hoch. Ich werde sie mittragen, ich bin mitschuldig – an allem.“ Seine Hand schloss sich fester, seine Stimme bebte vor Anspannung.„Eleasar, ich weiß um dein Opfer. Ich entlasse dich von deinem Versprechen. Du kannst gehen, wenn du zerrissen bist.“
„Zerrissenheit würde heißen, ich wüsste nicht, was richtig und wahr ist“, meinte er, bemüht sein Handgelenk vor einem Bruch zu bewahren.
„Aber du weißt es?“, fragte Marcus zweifelnd nach, da er bisher keinem Philosophen und keinem Gelehrten zugetraut hatte, die absolute Wahrheit erkannt zu haben.
„Ich kenne unsere Lehren“, wich Eleasar aus, drehte sich weg, betrachtete die bröckelige Hauswand vor sich. Da war das Problem. Er war Christ. Er hatte genauso strenge Sitten wie die Juden. Er haderte die Regeln zu brechen.
„Du willst nicht unrecht tun“, stellte Marcus resigniert fest. Sein Griff lockerte sich.
„Nein.“ Der kleine Mann war selbst überrascht wie sicher ihm diese Absage über die Lippen kam und kam sich dennoch schlecht vor.
„Dann solltest du gehen. Du hast alles gehört. Ich bitte dich nur um dein Schweigen.“Eleasar nickte und Marcus ließ ihn los. Sein Plan, den er sich bereits zurecht gelegt hatte – auch ohne das Geld seines Onkels, da dieses in diesem Fall sowieso keinen Nutzen hatte – war damit kurz vorm Scheitern. Er brauchte zur Durchführung zwei Männer. Eleasar erhob sich. Glücklich oder erleichtert sah er nicht aus. Er wirkte getreten, dabei hatte keiner von Marcus‘ Schlägen ihn getroffen.
Marcus widerstrebte es zu betteln, aber Eleasar war notwendig und außerdem war er der einzige, der Marcus davon abhalten konnte, Theofanos noch vor der Durchführung des Planes umzubringen. Sein Hirn arbeitete und da fiel ihm eine Erzählung ein, die man sich damals in der Truppe erzählt hatte. „Eleasar“, sprach er ihn an. Dieser signalisierte, dass er ihm zuhöre. „Es gab mal einen Philosophen, der hatte einst gesagt: Omnia vincit amor[7]. Theofanos wollte schon etwas verbessernd einwerfen, hielt aber dann doch lieber den Mund undwartete ab.
„Muss ein weiser Mann gewesen sein“, lächelte Eleasar. Er wusste nicht wohin er gehen sollte, er kannte die Straßen nicht und erinnerte sich nicht aus welcher Richtung sie gekommen waren, sonst wäre er längst gegangen.
„Und was sagen die Christen über die Liebe?“, erkundigte sich der Römer.
Folgsam sagte Eleasar ein Zitat aus dem Korintherbrief auf: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“
„Klingt ähnlich“, behauptete Marcus und hoffte darauf diese Gruppe Menschen richtig einzuschätzen, auch wenn Eleasar etwas den Mund verzog. „Ja, in gewisser Weise.“
„Dann sind wir uns ja einig“, folgerte Marcus, was ihn aber nur einen irritierten Blick Eleasars einbrachte. „Womit sind wir einig? Das die Liebe etwas Wunderbares und Einzigartiges ist?“
„Ja!“, Marcus lächelte, aber Eleasar verstand nicht.
„Und was willst du jetzt von mir?“ Der Christ trat einen Schritt zurück als befürchtete er, Marcus würde ihn als nächstes Angreifen.
„Ich appelliere an die christliche Nächstenliebe“, löste Marcus das Rätsel, aber Eleasar verstand immer noch nicht.
Marcus half nach: „Ich bin ein Mensch, ich bin in Not, ich bitte dich um deine Hilfe. Hilf mir Esca aus seiner Sklaverei zu befreien! Ihr kämpft doch gegen die Sklaverei, wart doch selbst Sklaven!“
„Ja, nein, also, doch, schon, aber …“, stotterte Eleasar. An Marcus‘ Auflistung war ein Haken, aber der Christ konnte ihn so schnell nicht ausfindig machen. Was war mit Escas Buße? Steht nun die Nächstenliebe oder die Buße höher? Eleasar wusste es nicht, das war eine Frage für die Bischöfe oder Ältesten oder sonst wen, aber das überstieg seine Kenntnisse.
„Ja oder nein, Eleasar, bist du bereit mir deine Nächstenliebe zu schenken?“, drängte Marcus und trat entschieden auf den armen Mann zu, der sich vorkam wie in einer Falle.
Der Händler, der immer noch nicht wusste, was er tun sollte, begegnete Theofanos‘ grinsendem, wenn auch immer noch blutendem Gesicht und entschied die Liebe als wichtiger als die Buße zu nehmen. Er konnte später noch darüber eine Gemeindebefragung starten.
Entschlossen reichte er Marcus die Hand und dieser griff erleichtert zu.
Theofanos konnte seine Freude nicht zurückhalten und trat zu den Männern und umarmte beide herzlich. Strahlend rief er: „Und nun meine lieben Freunde … nos cedamus Amori![8]“
Marcus drückte die Männer etwas weg, so viel Körpernähe vertrug er nun doch nicht. „ Wir sollten aufhören Weisheiten auszutauschen. Ich habe bereits einen Plan…“, murmelte er und zog die beiden ins Vertrauen.
_______________
[1] Iucundus bumst schlecht.
[2] Ich staune Wand, dass du nicht zerfallen bist, da du soviel Blödsinn von Schreibern ertragen musst.
[3] Faustus, ich liebe dich.
[4] Antinoos war wahrscheinlich der Geliebte des Kaiser Hadrian. Er stammte aus Bithynien und verstarb bereits mit 15 oder 20 Jahren. Hadrian war darüber so erschüttert, dass er als erster Kaiser einen nicht-Kaiser (!) zum Gott erhob und er die Verehrung des Antinoos im ganzen Land anordnete. Die Statue auf die ich mich beziehe, die allerdings nicht aus Britannien stammt, ich jedoch diese dennoch gewählt habe und es viele ähnliche Statuen in groß und klein gegeben haben muss, kann man leider nicht gut im Internet finden, dort gibt es aber ähnliche Beispiele (Achtung, manche stammen aus der Renaissance). Bilder finden sich im Internet.
[5] Zügle deine Leidenschaft!
[6] Paris war der trojanische Prinz, der die schöne Helena aus Griechenland „stahl“.
[7] Alles besiegt die Liebe.
[8] Lasst uns der Liebe nachgeben!
ja, es gibt mich noch. Ich hatte leider in den letzten Monaten viele Schicksalsschläge einzustecken. Das ist zwar keine richtige Entschtuldigung, aber irgendwie haben diese mich auch wieder zum Schreiben gebracht. Daher geht es jetzt endlich weiter.
Habt Spaß, seid kritisch, ich freue mich, wenn ihr noch dabei seid!
Viele Grüße,
Euer Kätzchen
Und wie immer Dank an meine Betaleserinnen!
___________________________
Was nach ihrer Trennung geschehen war, war wie Kreidestaub aus Marcus‘ Kopf geweht worden. Die freundlichen Worte der Cornelia waren klanglos an ihm vorübergezogen. Zwischendurch hatte er versucht ihr mit bedächtigem Kopfnicken seine Aufmerksamkeit zu demonstrieren, wobei er wohl öfters den falschen Moment erwischt hatte, wie es ihm der irritierte Gesichtsausdruck der Hausherrin unmissverständlich verriet.
Immer wieder hatte er noch nach Esca Ausschau gehalten und gehofft, ihn vorbeilaufen zu sehen. Doch der Brigante hielt sich im Verborgenen, wahrscheinlich mit Absicht. Cornelia hatte Nachsicht mit ihm und entließ ihren Besuch bald darauf. „Ich lasse dir eine Nachricht zukommen“, versprach ihm die Herrin. Marcus hatte keine Ahnung, was sie damit meinte, bedankte sich aber für ihre Gastfreundschaft und trottete anschließend die immer feuchten Straßen entlang zum Hafen.
Es war noch nicht spät. Betriebsam rannten, schleppten und werkelten die Händler und Arbeiter rund um die Schiffe. Es war ein beachtlicher Lärm. Zudem hielt der Winter mit seinen kalten Nordwinden langsam Einzug und immer häufiger hörte man Husten und Niesen zwischen den bellenden Befehlen der Aufseher. Gedankenversunken hielt Marcus das Schmuckstück zwischen seinen Fingern fest, fuhr den Konturen nach, fühlte und betastete die kleinen spitzen Enden. Vor dem Schiff des Händlers kam er zum Stehen und blickte, ohne mit den Augen an einem Ort zu verweilen, in der Gegend rum, seine Gedanken wollten sich nicht ordnen lassen.
Marcellus kam, nachdem er den Römer von seinem Schiff aus entdeckt hatte, geradezu herangestürmt, begierig zu erfahren, was bei Cornelia geschehen war. Von seinem Arbeiter hatte er ja bereits die Kunde erhalten, dass die Herrin Marcus nach ihrer Abreisenoch einmal zurückgerufen hatte. Die angeblich ungenügende Lieferung an Orangen war damit vergessen, obwohl er einen Laufburschen als Schuldigen für das Missgeschick enttarnt und ihm als Strafe eine Ohrfeige für seine Schlampigkeit verpasst hatte. Der arme Jung hatte nicht verstanden, worin sein Fehler bestand. Schließlich hatte er zuvor nie Orangen gesehen und konnte daher nicht beurteilen, ob das Obst nun gut oder schlecht aussah. Zerknirscht hatte sich daraufhin zurückgezogen, während er bereits mit dem Gedanken spielte, sich einen anderen Arbeitgeber zu suchen, vielleicht einen seiner Landsleute.
„Marcus! Marcus, so erzähl, wie war es? Hast du Esca gefunden?“, fragte Marcellus aufgeregt und blickte ihm dabei mit einer ehrlichen Anspannung und einer gewissen Besorgnis in die Augen.
„Ja, ich habe ihn gefunden“, murmelte Marcus und riss sich aus seinen Gedanken los.
„Und weiter? Habt ihr einen Fluchtplan besprechen können?“
„Es wird nicht so einfach, wie wir gedacht hatten. Die Umstände haben sich geändert und wahrscheinlich müssen wir… gröber rangehen.“ Marcellus schaute ihn erstaunt an. „Gröber? Ihr wollt der Herrin aber doch kein Leid zufügen?“ Der Schiffskapitän war ehrlich entrüstet. Cornelia war einer seiner besten Abnehmer, ihr Ableben würde ein gehöriges Loch in seiner Schatztruhe bedeuten. Außerdem gehörte sie zu den wenigen Kunden, die Marcellus als Mensch schätzte.
„Du hast mich falsch verstanden“, winkte Marcus gereizt ab, „Wir reden später. Ich muss nachdenken.“ Damit ließ er den nun völlig brüskierten Marcellus stehen und verschwand im Schiffrumpf. „Und mein Geld?“, rief ihm der Kaufmann nicht ohne einen gewissen beleidigten Klang in der Stimme hinterher. „Du machst dich zum Dieb, Marcus!“, betonte der Händler und verschränkte die Arme vor der Brust. Zähneknirschend hielt der Römer inne. Er konnte sich nicht daran erinnern Cornelia nach den ausstehenden Sesterzen gefragt zu haben, aber als er seine Kleidung abtastete, klimperte tatsächlich ein Ledersäckchen mit Geld an seinem Gürtel. Er hatte es nicht bemerkt. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, es überhaupt entgegen genommen zu haben. Er kehrte um und überreichte Marcellus das Säckchen, indem er es ihm in die geöffnete Handfläche fallen ließ. „Ich habe nicht nachgezählt“, gestand er gleich und schämte sich etwas, da er sich zuvor geschworen hatte auf Marcellus‘ Geschäfte acht zu geben.
„Das ist in Ordnung. Wenn etwas fehlen sollte, setze ich es auf deine Rechnung“, grummelte Marcellus und ging ohne weiter zu fragen auf sein Schiff, wo bereits der nächste Kunde ungeduldig auf ihn wartete.
Marcus griff wieder nach seiner Kette, zog sie unter seiner Kleidung hervor und hielt den Anhänger so hoch wie es das kurze Lederband zuließ. Ihr kupferner Glanz war zwar nicht so ruhmreich und verheißungsvoll wie das Gold Cornelias, aber in ihm schimmerte eine gewisse Göttlichkeit, die ihn nachdenklich stimmte.
Entgegen seines ersten Gedanken, sich in seiner Kabine zu verschanzen, um die Welt auszusperren, wollte er nun raus aus dem Hafengebiet. Dort zerrte der Wind zu scharf an seinen Kleidern und machte seine Gedanken trübe. In nördlicher Richtung trieb es ihn auf das Forum, den Ort an dem er gestern erst Esca hatte entbehren müssen.
Londinum war nicht viel größer als Lindum, aber man spürte, dass aus der Stadt vielleicht in einigen Jahren etwas Großes werden konnte. Die Menschen schien es hierher zu ziehen, ob aus der Not oder der Hoffnung heraus. Wie Nachtschwärmer flattern sie über das Forum auf der Suche nach Nahrung und Licht. Kurz musste Marcus an die Geschichte des alten Diogenes denken, der in seiner Tonne auf dem Forum am helllichten Tag mit einer Laterne in der Hand gestanden hatte. Als man ihn fragte, was er damit vorhabe, hatte er geantwortet: „Ich suche Menschen!“ Für Marcus gab es diesen Plural nicht mehr. Er suchte einen Menschen und der war nicht unter diesen Motten. In der Ecke eines überdachten Säulenganges, der im Sommer bestimmt ein beliebter Platz der Weiber zum Schwatzen war, wollte er sich hinsetzen und nachdenken. Marcus legte seinen Mantelals Puffer zwischen sich und das kühle Gestein und zog die Beine etwas an, damit seine Wärme nicht zu schnell verloren ging. Sein Blick fiel auf die Graffiti, die Unbekannte in die Mauern unsauber geritzt hatten. „Iucundus mala cala“ [1] – nicht gerade sehr geistreich.
„Admiror teparies non cecidisse qui tot scriptorum taedia sustineas“[2] – ein wahres, wenn auch schon oft gelesenes Wort. Marcus betrachtete weitere der Krakeleien, neben allerlei Angeboten aus den umliegenden Bordellen, Grüßen, Dichterzitaten und Ergebnissen der letzten Gladiatorenspiele aus Rom, fanden sich versteckt auch kleine Nachrichten von einem gewissen Faustus, der mit seinem Kameraden Scutularius – sie gehörten wohl zu einer der ehemaligen Legionen, die hier stationiert waren – an genau dieser Stelle, mehrere Treffen gehabt haben sollen, die laut des Inhalts sehr intim gewesen zu sein schienen. Marcus zweifelte an dem Wahrheitsgehalt der kleinen Briefe. Es ausgerechnet hier zu tun, ohne gesehen oder gehört zu werden, stellte er sich als sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, vor, da gerade das Forum durch alle nächtlichen Stunde von Besuchern nicht verschont wurde.
„Faustus te amo.[3]“ Marcus hätte die drei Worte am liebsten mit einem einzigen Schlag aus der Wand gebrochen. Sie waren weit unten in dem Winkel der zwei aufeinandertreffenden Ecken gequetscht worden, so dass man zweimal hinsehen musste, bevor man sie entdecken konnte. Der Schreiber, vermutlich Scutularius, hatte sich sogar Mühe gegeben die Buchstaben einigermaßen ordentlich zu ritzen. Es wirkte etwas hilflos, wie ein Wunsch, der nicht in Erfüllung gehen würde und daher gut versteckt werden musste. Ihm tat der Schreiber leid. Der Römer konnte sich bei dieser Verzweiflung, die er aus diesem einen Satz in seiner Melancholie raus zu lesen meinte, nicht vorstellen, dass dieser Faustus ein wirkliches Interesse an dem armen verliebten Mann hatte.
Ermattet rieb er sich über die brennenden Augen. Es war noch nicht spät, aber er fühlte sich ausgelaugt. Seine Hand wanderte über seine frischrasierte Haut in den verspannten Nacken und blieb dort im Klammergriff liegen. Er legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Marmorierung der Steine. Sie wirkte wie Meerschaum. Würde sie sich bewegen, hätte er geglaubt, wieder in Ostia zu sein. Ein wenig sehnte er sich nach der warmen Sonne Italiens, das war es aber auch schon. Die Menschen in Rom waren nicht besser als die in Britannia; es war nur eine Frage der Zeit bis der nächste Feldzug beginnen musste und dann auch die Sonne Italiens wieder rot gefärbt würde.
Der spitze Schrei eines kleinen Mädchens brach in seine Gedankenwelt ein und lenkte Marcus‘ Aufmerksamkeit unangenehm auf sie. Die Kleine war auf den matschigen Boden stecken geblieben und hingefallen. Unmöglich konnte sie sich ernsthaft verletzt haben, dafür war der Untergrund zu weich und ihre Beine noch viel zu kurz, dennoch weinte das Mädchen bitterlich. Ihre Mutter hielt an, stellte den Korb, der mit Früchten und anderen Dingen für den Haushalt gefüllt war, auf den Sockel einer neben ihr in den Himmel ragenden Statue ab und hob das weinende Mädchen auf. Sie drückte sie an ihre Brust und streichelte sanft über das helle noch dünne Haar, bis es nur noch leise schluchzte. Schließlich packte sie mit der anderen freien Hand den Korb und trug nun diesen und ihr Kind in einer stoischen Gelassenheit davon. Sie hatte dem Mädchen kein Wort des Trostes geschenkt, aber diese einfache Geste des Umarmens hatte es beruhigt. Marcus war fasziniert. Er kannte dieses Gefühl, aber es war lange her – er hätte Esca vielleicht umarmen sollen, in diesem kurzen Moment, in dem sie ganz alleine gewesen waren. Esca war zwar erwachsen, aber er war allein und er trug eine tiefe seelische Wunde, möglicherweise hätte er wirklich eine Umarmung gebraucht…
Als das Paar Marcus‘ Blick entschwunden war, betrachtete der Römer die Statue an der die Mutter Halt gemacht hatte. Erst die nackten Füße, dann den Rest des Mannes. Er hatte sich bisher herzlich wenig um die Ruhmesstatuen auf dem Forum gekümmert. Immerhin waren sie so zahlreich und Größenteils von Männern, die außerhalb ihrer Stadt niemand kannte, dass er ihnen keine Wert zumaß, doch diese war keine Statue eines ehrenvollen Bürgers, der sein Standbild für die Ewigkeit hatte aufstellen lassen. Es war ein Jüngling, der Oberkörper entblößt, sein Pallium hing ihm locker über der Hüfte und schlang sich zu einer Seite hin über seinen erhobenen Unterarm. Die andere Hand raffte den Stoff vor seiner Hüfte so zusammen, dass dort drin Blumen und allerlei andere Pflanzen Platz fanden. Das jugendliche, weiche Gesicht wurde von einer wilden Lockenpracht gerahmt, sein Blick ging nachdenklich in die Ferne.
Marcus lachte laut auf. Es schüttelte ihn richtig und er bekam kaum Luft, doch er konnte nicht aufhören. Wäre ein Besucher vorbeigegangen, hätte er den ehemaligen Centurio sicherlich für verrückt erklärt, wie er da in seiner Toga auf der Erde kauerte und grundlos lachte. Jedes Mal wenn er den Augen des jungen Mannes begegnete, lösten diese eine neue Welle der Heiterkeit aus. „Hadrians Lustknabe“, kicherte Marcus in sich hinein und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Antinoos[4], hat Hadrian dich sogar in das kalte Britannien verschleppt?“ Seine Augen tränten immer stärker und sein Magen zog sich zusammen, bis es kaum mehr zu ertragen war. Dennoch dauerte es ein paar Augenblicke, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Den armen Knaben, der auch nichts für sein armseliges Schicksal,einen frühen Tod zu erleiden, konnte, hatte er nicht auslachen wollen. Dennoch war es ihm als verspotte ihn die Statue.
Ein Kaiser, Hadrian erst vor kurzer Zeit zu den Göttern aufgestiegen, hatte seine Liebe zu einem Mann in aller Öffentlichkeit ausleben können, weil er noch das richtige Alter gehabt hatte und damit die Kritik an einem solchen Verhältnis zurückgehalten wurde. Doch was wäre gewesen, wenn Antinoos auch noch der Gefährte des Kaisers geblieben wäre, wenn es nicht mehr den Konventionen entsprochen hätte? Hätte sich jemand offen gegen diese Verbindung gestellt? Sicher nicht und das erregte den Zorn in Marcus. Die ganzen Menschen, die großzügig über den Kaiser sprachen und zugleich mit dem Finger auf sie beide zeigen würden. Diejenigen, die abfällig von Esca sprechen würden. Ein Barbar, das Haustier des Marcus Flavius Aquilas. Heuchler!
Theofanos war die erfrischende Ausnahme, den Christen konnte er nicht einschätzen.
Natürlich war Marcus nicht der einzige mit diesem Schicksal. Unter dem Mantel des Schweigens gab es dutzende, die ihre Lust in aller Heimlichkeit frönten und ihren Knaben dafür entsprechendes Geld zahlten, aber bei diesen dunklen Geschäften waren die Knaben nicht besser als die Prostituierten, sie waren sogar noch weniger wert. Wenn sie den geilen Alten lästig wurden, wurden sie eben getötet. Niemand führte einen Gerichtsprozess, wenn es keine Kläger gab. Die Bordellbetreiber wurden mit Geld zum Schweigen gebracht und das Leben ging seinen gewohnten Lauf. Marcus spuckte aus. Ein unangenehmer Geschmack lag auf seiner Zunge, ihm wurde gerade zu schlecht davon.
Ein Gefühl der Enge beschlich ihn. Diese Ungerechtigkeit machte ihn krank. Auf der einen Seiten die unehrlichen Liebesbekundungen, auf der anderen Seite das überzeitliche Liebesbekenntnis Hadrians und dazwischen er. Gefangen in dem Dilemma nicht zu wissen, wo er mit seiner Liebe stand. Esca würde nicht bei Cornelia bleiben, auch wenn es ihm dort gut ginge. Er sah es als sein gutes Recht an von Esca zu erfahren, wie es zu der Bluttat gekommen war. Ihm war es nicht entgangen, dass Esca in seiner Anwesenheit aufgewühlter war und auch dieses… er war anders als sonst, ihr Umgang miteinander war anders als bisher. Allerdings war zurzeit jedes Zusammentreffen mit Esca wie ein Treffen mit einem immer neuen Menschen. Esca schien sich jedes Mal etwas gewandelt zu haben, es nahm kein Ende und der Römer wusste langsam nicht mehr, ob diese Wandlungen ihm Esca näher brachten oder sie sich voneinander entfernten.
Er seufzte und lehnte den Kopf gegen das Gestein, besah sich noch einmal Antinoos und begann einen Plan zu schmieden – sein Entschluss stand fest und egal in welcher Gestalt, Esca würde mit ihm kommen.
*
„Da, das muss sie sein!“, rief Eleasar schon fast etwas übermütig, als sich die Tonziegeldächer am Horizont erhoben. „Da es hier in unmittelbarer Umgebung keine größere Stadt gibt und der Meilenstein uns in diese Richtung geschickt hat, ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir Londinum tatsächlich verpasst haben sollten und wir vor der falschen Stadt stehen“, wies Theofanos seinen Begleiter zurecht, der eine beleidigte Miene aufsetzte. Ihre Pferde waren vom langen Ritt erschöpft. Dampfwolken stiegen von ihren Leibern in die kühle Abendluft, während im Tal bereits die ersten Lichter entzündet wurden.
„Sehen aber auch alle gleich aus, diese römischen Städte“, maulte Eleasar noch leise vor sich hin, bevor er sich die Häuserreihen noch einmal genauer ansah.
„Wo fangen wir an?“, fragte der Christ, nachdem er die wichtigsten Verwaltungsgebäude lokalisiert hatte. Das Straßennetz war das altbekannte Muster aus Quadraten, keine Besonderheiten, der Fluss bahnte sich friedlich seinen Weg durch die Landschaft.
Theofanos drehte seinem Gefährten verständnislos das Gesicht zu: „Mit was?“
„Mit Suchen natürlich!“, echauffierte sich Eleasar.
„Und nach was willst du suchen?“, fragte der Grieche müde und desinteressiert.
„Theofanos!“, donnerte jetzt der bis dahin noch um Besinnung ringende Eleasar. „Es ist zu spät und ich bin zu müde für diese Kindereien! Wir wollen doch Marcus treffen? Also, wo und wie sollen wir ihn aufspüren?“
Der Grieche strich über das nasse Fell seines Pferdes, trennte Strähnen der zotteligen Mähne auseinander. „Ja, da hast du recht. Aber ich halte es für keine gute Idee, wenn wir ihn selbst suchen.“
„Warum nicht, hier kennt uns doch niemand?“
„Das weißt du nicht. Außerdem ist es auffällig, wenn wir uns nach Marcus erkundigen. Namen gehen durch die geschwätzigen Mäuler wie süßer Wein. Wir sollten uns hüten so offen nach Marcus und Esca zu fragen. Vielleicht sind sie längst weg. Wir haben keine Nachricht von Marcus erhalten, das beunruhigt mich.“ Das Pferd schüttelte sich und machte Theofanos‘ Bemühungen die Mähne zu entwirren zunichte, der begann gelassen wieder von vorne.
Eleasar drückte seinen schmerzenden Rücken durch und ließ sich alles durch den Kopf gehen. „Vielleicht hat er unser Schreiben auch noch nicht erhalten.“
„Oder nicht erhalten können“, ergänzte der Grieche und seine Mundwinkel mussten sehr dagegen ankämpfen, um nicht weiter abwärts zu wandern. Kleine Falten bildeten sich auf seiner Stirn.
„Gut, das sehe ich ein. Eine vorsichtige Vorgehensweise wird sicherlich ratsamer sein. Was also schlägst du vor, Theofanos?“, bohrte der Christ weiter und schwang sich nach Stunden des Reitens endlich von seinem Pferd und spürte in jedem Knochen die beschwerliche Reise nach.
„Wir werden uns dort aufhalten, wo es alle Menschen hinzieht“, überlegte der Lehrer laut.
„In den Kneipen?“ Eleasars Naivität war größer als Theofanos angenommen hatte und brachte ihn zum schmunzeln. „Nein, gut vielleicht dort auch. Dort spricht die Zunge bekanntlich das lockerste Wort, aber ich meinte den Markt und den Hafen. Auf dem Markt die Weiber und im Hafen die Arbeiter. Irgendwem wird unser Freund vielleicht aufgefallen sein.“
Der Christ ließ sich auf den Boden sinken und legte sich auf den Rücken. Ob es ihm wohltat oder seine Schmerzen verschlimmerte, konnte er noch nicht bestimmten, aber liegen war besser als sitzen oder stehen.
Während Eleasar die Arme weit ausstreckte, schoss ihm ein Gedanke in den Sinn: „Wirst du ihm von deinem Fehler erzählen?“
„Ich werde es wohl müssen“, erwiderte der Grieche zwischen zusammengebissenen Zähnen.
„Er wird dir verzeihen, ihr seid doch Freunde“, sagte Eleasar, war aber von seinen eigenen Worten nicht wirklich überzeugt. Theofanos‘ Tat glich einem Verrat.
„Ob ich noch Marcus‘ Freund bin, ob ich es je war, wird sich wohl erst noch zeigen“, analysiert Theofanos ihre momentane Situation passend und zupfte an ein paar seiner noch schwarzen Haare.
„Hast du Angst, er schlägt dich?“Eleasar rupfte, Theofanos nachahmend, an wenigen Grashalmen, bis er sie von ihrer Wurzel getrennt hatte.
„Ich wünsche mir, er würde mich schlagen“, brummte Theofanos, der nun auch von seinem Pferd stieg und sich neben Eleasar legte, ein kleines Lächeln zuckte über seine Lippen.
„Dann wird er dir den Gefallen sicher nicht tun.“
*
Das Blut spritze aus Theofanos‘ Nase wie ein Geysir aus seiner Quelle. Der Lehrer taumelte und drückte seine Hände gegen sein Gesicht, damit das Blut nicht weiter auf seine Toga tropfte, mit bescheidenem Erfolg. Die dickflüssige Brühe bahnte sich ihren Weg durch Theofanos‘ Finger hindurch, rann seine Handrücken und Arme hinab, bis er aussah wie der Gekreuzigte – so Eleasars Beschreibung. Sie hatten Marcus schneller gefunden als gedacht. Der Römer war auf dem Sklavenmarkt vielen aufgefallen und im Gedächtnis geblieben.
Marcus‘ Wut war jedoch nicht befriedigt, er holte bereits zum zweiten Schlag aus, als sich ihm der Christ in den Weg stellte.
„Es reicht, Marcus, er hat schon genug Strafe erhalten.“ Der Händler stellte sich mit erhobenen Händen vor den Römer, der beinahe in den kleinen Mann hineingestolpert wäre. Wie ein Wolf schritt Marcus nun vor diesem auf und ab, seine Augen unentwegt auf den Griechen fixiert.
„Ich wusste es“, schrie der Römer den Griechen an, weil er nicht anders konnte, „Ich wusste es. Man kann dir verschlagenen Fuchs nicht trauen! Spielsucht!“ Er trat einen Holzeimer um, der ihm gerade im Weg stand. Er war leer, aber das Geräusch des krachenden Holzes donnerte in der engen Häuserschlucht besonders laut. Marcus hatte den Brief nicht rechtzeitig erhalten, war auf nichts vorbereitet gewesen. Auf diese Boten war einfach kein Verlass.
„Mir schien es, Marcus, als wäre dein Onkel auch ohne Theofanos‘ Unverschämtheiten nicht bereit gewesen dir zu helfen“, erwähnte Eleasar beiläufig, als er sich nach dem Eimer bückte, ihn aufhob und einer alten Frau, die das Drama mitgehört hatte, als sie vom Wasserholen kam, eine entschuldigenden Blick zuwarf.
Marcus schnaufte erbost wie ein Stier, besann sich aber. Eleasar war auf Theofanos‘ falsches Wesen hereingefallen, deshalb verteidigte er ihn. Trotzdem glaubte er ihm ebenfalls, dass er den Griechen bereits gestraft hatte. Letztlich musste er sich selbst eingestehen, dass bei ihm auch nicht alles so verlaufen war, wie er es sich erhofft hatte. Fatale Fehler in beiden Lagern.
„Marcus, sag uns doch, was du herausgefunden hast. Ist Esca hier? Hast du ihn getroffen?“, versuchte Eleasar das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken, währenddessen schob er Theofanos etwas aus Marcus‘ Sichtfeld. Der Grieche war sowieso immer noch mit seiner unentwegt blutenden Nase beschäftigt. Der Römer biss sich auf die Lippe. Kaum dachte man an einen unangenehmen Gedanken, schon sprach jemand den nächstenaus. „Esca ist hier. Es geht ihm gut. Er wurde auf dem Sklavenmarkt an eine reiche Frau aus der Stadt verkauft“, brachte er stückchenweise hervor. Sehr unbefriedigend für zwei neugierige Menschen.
„Konntest du mit ihm sprechen?“, warf Theofanos gleich ein.
„Ja, ich habe mir Zugang in die Villa verschafft und habe Esca getroffen.“
„Das ist ja fantastisch!“, rief Eleasar aus und klatschte schon siegessicher in die Hände.
Marcus’ betretenes Schweigen und sine eindeutige Körperhaltung ließen es jedoch gleich wieder ersterben.
„Warum ist deine Miene so finster? Sag nicht, die Ablösesumme für Esca ist so hoch, dass wir doch der Fürsprache deines Onkels bedürfen. Oder wird er schlecht behandelt?“ Theofanos wischte sich den Rest des Blutes aus dem Gesicht und betrachtete angeekelt seine rotverschmierten Hände und Arme.
Marcus rang mit sich, knetete seine Hände, wirkte nervös. Eleasar bemerkte es sofort. Er kannte dieses Verhalten von seinen Kindern, wenn sie etwas kaputt gemacht oder sonst etwas angestellt hatten.
„Er will nicht mitkommen“, zwang sich der Römer schließlich mit zusammengebissenen Zähnen und starrte gen Boden. Er konnte und wollte seinen Gefährten nicht in die Augen sehen, auch weil er wusste, was als nächstes kam. Tatsächlich klappte dem Christen die Kinnlade herunter.
„Du treibst einen Spaß mit uns.“ Eleasar trat näher an Marcus heran, packte ihn grob an seiner Tunika und zwang Marcus ihm in das Gesicht zu sehen. Theofanos sagte nichts.
„Er sieht es als Strafe“, war seine Erklärung. Marcus kamen diese Worte verkehrt vor, aber es war das einzige, was er sagen konnte.
„Was für eine Strafe? Für sich? Für dich? Für oder von einem Gott?“
Trockenheit machte sich in seinem Mund breit. Seine Stimme klang belegt, als er sagte:„Für seine Tat, für eine blutige Tat.“ Er spürte den Schmerz in seiner Brust als sei er Esca, der sie aussprach.
Eleasar ließ die Hände sinken, seine Augen weiteten sich. „Sag nicht…“
„Doch. Ich wollte es auch nicht wahr haben.“ Die Wahrheit stand unausgesprochen zwischen ihnen. Eleasars Knie fühlten sich merkwürdig unwirklich an. Er bückte sich geistesabwesend, zog den eben erst wieder aufgestellten Eimer heran, drehte ihn um und ließ sich auf ihn nieder. Sacken lassen – das war wohl die richtige Umschreibung für diese Nachricht. Theofanos‘ Miene hatte sich verfinstert, obwohl er nicht überrascht aussah.
„Beim allmächtigen Gott, das darf nicht sein. Esca hat das Mädchen getötet?“, murmelte Eleasar mit bleichem Gesicht. Er wirkte in sich gekehrt, beinahe abwesend, als würde er sein Inneres erkunden, um herauszufinden, was er mit dem neuen Wissen anfangen sollte.
„Er sagte es mir, in der Hoffnung ich würde so von meinem Plan ihn zu befreien, ablassen.“ Anstrengend. Diese halbfertigen Erklärungen waren immer so anstrengend. Was sollte der Römer sonst auch sagen? Er wusste letzten Endes kaum mehr als die Anderen jetzt. „Jedes Mal wenn wir miteinander sprechen, scheinen sich die Dinge zu verschlechtern. Wir sollten uns nur noch anschweigen“, knurrte er, als er merkte, dass die beiden Männer diese blutige Tatsache nicht so einfach wegsteckten, wie er heimlich gehofft hatte.
Theofanos räusperte sich und setzte an, etwas zu sagen, doch allein dieses aufgesetzte Räuspern, brachte Marcus’Blut in Wallung – nicht jetzt auch noch das besserwisserische Gehabe des spielsüchtigen Griechen!
„Halt dich raus, Theofanos! Dass du dich überhaupt noch traust, dein verlogenes Maul aufzutun! Du hast keine Ahnung, wie ich oder Esca …“
„Compesce mentem!”[5], brüllte ihn da Theofanos an, dass Marcus es die Sprache verschlug. Der Kopf des Griechen glühte rot und seine Augen sprühten Blitze. So energisch hatte er den Griechen bisher nicht erlebt. „Nein, ich weiß sicherlich weniger über dich und Esca, aber Maße dir nicht an, aufgrund einer Verfehlung meinerseits die Weisheit von Athena selbst eingeflößt bekommen zu haben! Dein verliebter Kopf ist doch zu vernünftigen Denken gar nicht fähig, also höre mich an, bevor du mich verurteilst, du unglückseliger Paris![6]“
Obgleich Theofanos natürlich recht hatte, hatte er zugleich das Faktum von Marcus‘ erhitztem Gemüt‘ außer Acht gelassen. Anstatt also der erwartenden Entschärfung der Stimmung, brauste Marcus nun auf. Er schubste, unnötigerweise, den noch vor ihm hockenden Eleasar zur Seite, der mit einem empörten Schrei auf die Straße kippte. Dabei musste der Christ zugleich hilflos mit ansehen, wie sich Marcus erneut auf Theofanos stürzte. Der Grieche konnte sich gar nicht so schnell umdrehen, wie er abermals Marcus‘ Faust im Gesicht hatte. Die gerade erst versiegte Nase ließ ihren Unmut nicht lange unbekundet und das Blut begann wieder zu fließen.
Eleasar hechte dazwischen. Er war alles andere als kräftig genug, um wirklich gegen Marcus anzukommen, aber der Römer merkte, dass er wieder eine Grenze überschritten hatte. Er atmete tief ein, riss sich aus dem Klammergriff des Händlers und trat erneut den Eimer um, der nun zerbarst und Marcus ungewollt Schmerzen am großen Zeh bescherte. Er fluchte, ließ sich auf den Boden nieder, zog seinen Schuh aus und begutachtete seinen Fuß, während Theofanos ihm mit verzerrtem Lächeln zusah.
Als sich alle beruhigt, die alte Frau erneut aus ihrem Fenster gesehen hatte und Theofanos wieder ansehnlich war, hockte sich Eleasar ernst neben den noch immer auf dem Boden sitzenden Marcus. Er legte ihm die Hand auf die Schulter. Seine Stimme war leise und besorgt. Er kämpfte mit seinem Gewissen. „Marcus, ich habe dir meine Unterstützung zugesagt. Deine und Escas Beziehung ist für deine Welt kompliziert und für meine unmöglich. Trotzdem wollte ich dir helfen. Aber ich werde niemanden zwingen, gegen seinen Willen zu handeln. Was oder wer erlaubt dir, seinen Willen zu missachten?“ Der Händler rückte ganz nah an ihn heran, und schaute ihn tief in die Augen als suche er dort die richtige Antwort. „Denke nach. Von deiner Antwort hängt ab, ob ich dir weiter helfen werde oder umgehend zurück zu meiner Familie segle, die ich schon viel zu lange nicht mehr gesehen habe. Esca macht es richtig, dass er für sein Vergehen büßt. Jeder Richter würde seine Beweggründe für ehrbar halten. Also was kannst du vorbringen?“
„Ich kann nichts vorbringen, außer, dass ich mich mitschuldig fühle.“
„Für eine Tat, die du nicht begangen hast?“ Der Christ nahm ein für ihn sehr untypisches Gesicht an, das ihm wohl sagen sollte, dass er ihm nicht glaubte.
Marcus wusste, er dürfte sich nicht verunsichern lassen: „Nicht selbst begangen, aber meinetwegen begangen.“
„Hat er das behauptet?“, wollte Eleasar weiter wissen – ein Verhör der unangenehmen Art begann.
„Nein“, gab Marcus zu.
„Also eine sehr mutige Behauptung. Glaubst du nicht, du überschätzt deinen Wert in Hinblick auf Esca?“ Skepsis schlich sich in das Gesicht des sonst gutmütigen Händlers. Marcus dachte, er wollte gleich seine Seele packen und eigenhändig durchwühlen.
„Nein.“ Der Römer bildete sich tatsächlich ein, alles zu wissen. Das letzte Treffen hatte es ihm doch gezeigt, er konnte sich doch nicht alles einbilden!
„Fang keine lästerlichen Worte an, Marcus.“ Der Grieche spuckte aus, Blut war ihm auch in den Mund gelangt. Er funkelte den Römer feindselig an.
„Ich spreche die Wahrheit, wo Sprache keine Worte mehr hat!“, erwiderte Marcus etwas lauter als notwendig war. Eleasar hielt ihn weiter an der Schulter fest und so auch zurück.
Theofanos war nicht überzeugt. Ein verliebter Römer gegen ihre tiefe Freundschaft. Da musste Marcus mehr vorbringen. „Du verlangst zu viel von Esca“, lautete sein Urteil. Ein scharfer Ton lag darin, etwas Vorwurfsvolles.
„Ich verlange nie zu viel, ich gebe nur zu viel.“ Angestachelt durch Theofanos Temperament vergriff sich nun Marcus ebenso im Ton und in den Worten, aber er merkte es zu spät. Der Lehrer griff gleich zu, beobachtet von Eleasar, der sich seine ganz eigenen Gedanken zu dem Gesagten machte.
„Eine Gabe, die Esca vielleicht nicht haben will“, gab der Grieche zu bedenken und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Beherrschung war wieder da und trieb Marcus an den Rand des Ertragbaren.
„Dann soll er es mir sagen, er hat mich nicht zurückgestoßen! Er stößt mich nicht weg, er wendet sich ab, aber er hasst mich nicht!“, beteuerte Marcus und ihm war das alles langsam etwas peinlich. Theofanos schien allerdings nicht genug davon zu bekommen.
„Esca ist eben gut erzogen“, tat der Grieche Marcus‘ leidenschaftliche Worte lapidar ab.
„Er wollte mich bei unserer ersten Begegnung töten, wenn er nicht in meiner Schuld gestanden hätte.“
„Und das soll sich jetzt völlig gewandelt haben?“
„Du hast doch keine Ahnung, was wir zusammen durchgemacht haben!“
„Esca hat allein schon mehr durchgemacht als in der ganzen Zeit mit dir, demnach müsste er alleine am besten aufgehoben sein“, erwiderte Theofanos ungerührt.
„Eleasar, halt mich davon ab, sonst blutet gleich nicht nur Theofanos‘ Nase!“, schrie Marcus, während seine Gesichtsfarbe bereits dem eines blühenden Mohnblumenfeldes glich.
Der Christ warf dem Griechen einen strafenden Blick zu. Theofanos würde helfen. Es ging nicht darum, dass Marcus ihn überzeugte, sondern Eleasar musste überzeugt werden. Dem Römer fiel dieser Umstand schlagartig wieder ein, als er den Christen mit trüben Augen grübeln sah. Deutlich ruhiger, aber nicht weniger aufgewühlt, wandte er sich an ihn, ergriff bewegt sein schmales Handgelenk.
„Er versteht mich. Er hat mich immer verstanden und seit unserem letzten Treffen glaube ich ihn auch verstanden zu haben. Ich muss ihn befreien. Er hat sich noch nicht erklärt. Seine Strafe ist zu hoch. Ich werde sie mittragen, ich bin mitschuldig – an allem.“ Seine Hand schloss sich fester, seine Stimme bebte vor Anspannung.„Eleasar, ich weiß um dein Opfer. Ich entlasse dich von deinem Versprechen. Du kannst gehen, wenn du zerrissen bist.“
„Zerrissenheit würde heißen, ich wüsste nicht, was richtig und wahr ist“, meinte er, bemüht sein Handgelenk vor einem Bruch zu bewahren.
„Aber du weißt es?“, fragte Marcus zweifelnd nach, da er bisher keinem Philosophen und keinem Gelehrten zugetraut hatte, die absolute Wahrheit erkannt zu haben.
„Ich kenne unsere Lehren“, wich Eleasar aus, drehte sich weg, betrachtete die bröckelige Hauswand vor sich. Da war das Problem. Er war Christ. Er hatte genauso strenge Sitten wie die Juden. Er haderte die Regeln zu brechen.
„Du willst nicht unrecht tun“, stellte Marcus resigniert fest. Sein Griff lockerte sich.
„Nein.“ Der kleine Mann war selbst überrascht wie sicher ihm diese Absage über die Lippen kam und kam sich dennoch schlecht vor.
„Dann solltest du gehen. Du hast alles gehört. Ich bitte dich nur um dein Schweigen.“Eleasar nickte und Marcus ließ ihn los. Sein Plan, den er sich bereits zurecht gelegt hatte – auch ohne das Geld seines Onkels, da dieses in diesem Fall sowieso keinen Nutzen hatte – war damit kurz vorm Scheitern. Er brauchte zur Durchführung zwei Männer. Eleasar erhob sich. Glücklich oder erleichtert sah er nicht aus. Er wirkte getreten, dabei hatte keiner von Marcus‘ Schlägen ihn getroffen.
Marcus widerstrebte es zu betteln, aber Eleasar war notwendig und außerdem war er der einzige, der Marcus davon abhalten konnte, Theofanos noch vor der Durchführung des Planes umzubringen. Sein Hirn arbeitete und da fiel ihm eine Erzählung ein, die man sich damals in der Truppe erzählt hatte. „Eleasar“, sprach er ihn an. Dieser signalisierte, dass er ihm zuhöre. „Es gab mal einen Philosophen, der hatte einst gesagt: Omnia vincit amor[7]. Theofanos wollte schon etwas verbessernd einwerfen, hielt aber dann doch lieber den Mund undwartete ab.
„Muss ein weiser Mann gewesen sein“, lächelte Eleasar. Er wusste nicht wohin er gehen sollte, er kannte die Straßen nicht und erinnerte sich nicht aus welcher Richtung sie gekommen waren, sonst wäre er längst gegangen.
„Und was sagen die Christen über die Liebe?“, erkundigte sich der Römer.
Folgsam sagte Eleasar ein Zitat aus dem Korintherbrief auf: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“
„Klingt ähnlich“, behauptete Marcus und hoffte darauf diese Gruppe Menschen richtig einzuschätzen, auch wenn Eleasar etwas den Mund verzog. „Ja, in gewisser Weise.“
„Dann sind wir uns ja einig“, folgerte Marcus, was ihn aber nur einen irritierten Blick Eleasars einbrachte. „Womit sind wir einig? Das die Liebe etwas Wunderbares und Einzigartiges ist?“
„Ja!“, Marcus lächelte, aber Eleasar verstand nicht.
„Und was willst du jetzt von mir?“ Der Christ trat einen Schritt zurück als befürchtete er, Marcus würde ihn als nächstes Angreifen.
„Ich appelliere an die christliche Nächstenliebe“, löste Marcus das Rätsel, aber Eleasar verstand immer noch nicht.
Marcus half nach: „Ich bin ein Mensch, ich bin in Not, ich bitte dich um deine Hilfe. Hilf mir Esca aus seiner Sklaverei zu befreien! Ihr kämpft doch gegen die Sklaverei, wart doch selbst Sklaven!“
„Ja, nein, also, doch, schon, aber …“, stotterte Eleasar. An Marcus‘ Auflistung war ein Haken, aber der Christ konnte ihn so schnell nicht ausfindig machen. Was war mit Escas Buße? Steht nun die Nächstenliebe oder die Buße höher? Eleasar wusste es nicht, das war eine Frage für die Bischöfe oder Ältesten oder sonst wen, aber das überstieg seine Kenntnisse.
„Ja oder nein, Eleasar, bist du bereit mir deine Nächstenliebe zu schenken?“, drängte Marcus und trat entschieden auf den armen Mann zu, der sich vorkam wie in einer Falle.
Der Händler, der immer noch nicht wusste, was er tun sollte, begegnete Theofanos‘ grinsendem, wenn auch immer noch blutendem Gesicht und entschied die Liebe als wichtiger als die Buße zu nehmen. Er konnte später noch darüber eine Gemeindebefragung starten.
Entschlossen reichte er Marcus die Hand und dieser griff erleichtert zu.
Theofanos konnte seine Freude nicht zurückhalten und trat zu den Männern und umarmte beide herzlich. Strahlend rief er: „Und nun meine lieben Freunde … nos cedamus Amori![8]“
Marcus drückte die Männer etwas weg, so viel Körpernähe vertrug er nun doch nicht. „ Wir sollten aufhören Weisheiten auszutauschen. Ich habe bereits einen Plan…“, murmelte er und zog die beiden ins Vertrauen.
_______________
[1] Iucundus bumst schlecht.
[2] Ich staune Wand, dass du nicht zerfallen bist, da du soviel Blödsinn von Schreibern ertragen musst.
[3] Faustus, ich liebe dich.
[4] Antinoos war wahrscheinlich der Geliebte des Kaiser Hadrian. Er stammte aus Bithynien und verstarb bereits mit 15 oder 20 Jahren. Hadrian war darüber so erschüttert, dass er als erster Kaiser einen nicht-Kaiser (!) zum Gott erhob und er die Verehrung des Antinoos im ganzen Land anordnete. Die Statue auf die ich mich beziehe, die allerdings nicht aus Britannien stammt, ich jedoch diese dennoch gewählt habe und es viele ähnliche Statuen in groß und klein gegeben haben muss, kann man leider nicht gut im Internet finden, dort gibt es aber ähnliche Beispiele (Achtung, manche stammen aus der Renaissance). Bilder finden sich im Internet.
[5] Zügle deine Leidenschaft!
[6] Paris war der trojanische Prinz, der die schöne Helena aus Griechenland „stahl“.
[7] Alles besiegt die Liebe.
[8] Lasst uns der Liebe nachgeben!