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Die Verlorene Tochter

Kurzbeschreibung
KurzgeschichteDrama, Familie / P12 / Gen
Arya Stark Catelyn "Cat" Stark
21.12.2013
21.12.2013
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6.878
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Dieses Kapitel
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21.12.2013 6.878
 
Wichtelkind: Glinda Arduenna

Vorgaben:
Gewünscht war eine Geschichte darüber, ob Catelyn ihre Tochter Arya, nach allem, was diese getan hat, überhaupt wiederwollen würde. Was wäre, wenn die beiden sich noch einmal hätten sehen können, ehe Catelyn stirbt? Außerdem sollte der kommende Winter ein Thema sein. Das mir zugeloste Hausmotto war „Tod vor Schande“ von Haus Bulwer.

Die ganzen Vorgaben in einer Kurzgeschichte unterzubringen und dabei die Storyline nicht zu sehr zu verändern, war eine ziemliche Herausforderung. Ein paar kleinere Änderungen am Canaon musste ich leider vornehmen. Die Übersetzung der Namen ist außerdem nicht ganz einheitlich, weil ich die besser klingende Version gewählt habe.

Liebe Glinda, ich hoffe, es ist nicht schlimm, dass noch ein paar andere Charaktere am Rande vorkommen und die Geschichte ein wenig düster geworden ist. Ich fand es naheliegend, das Wiedersehen der beiden dort anzusiedeln, wo sie sich in den Büchern beinahe getroffen hätten. Mir hat es jedenfalls Spaß gemacht, sie zu schreiben und vielleicht enthält sie ja trotzdem auch, was du dir gewünscht hast.

                                                                               


Es erschien Arya, als würde der Regen kälter werden, je weiter sie nach Norden kamen. In ihrer Vorstellung würde er irgendwann zu Schnee werden, spätestens wenn sie Winterfell erreichten. Aber sie waren nicht unterwegs nach Winterfell. Winterfell war zerstört. Sie waren auf dem Weg zu den Zwillingen, wo sie ihre Mutter wiedersehen würde.

Mit jedem Tag, dem sie ihrem Ziel näher kamen, wuchsen Aryas Unbehagen und ihre Vorfreude. Sie konnte es kaum erwarten, ihre Mutter endlich wiederzusehen und zugleich fürchtete sie sich davor, dass Lady Catelyn sie nach allem, was sie getan hatte, nicht mehr wollen würde. Denn Arya hatte viele schlimme Dinge getan, seit sie Winterfell vor so langer Zeit verlassen hatte, als ihr Vater die Hand des Königs geworden war und er seine Töchter mitgenommen hatte. Sie hatte vielen ihrer Feinde den Tod gebracht, bei einigen hatte sie es sogar selbst getan.

Sie waren noch einen Tag von den Zwillingen entfernt, als zwischen den Bäumen ein Zeltlager in Sicht kam. Das trübe Tageslicht wich allmählich einer düstern Dämmerung, die vom Ende des Herbstes kündete und das bleierne Grau des Himmels wich für einen kurzen Moment einem diffusen rötlichen Zwielicht, als die Sonne hinter den Wolken unterging.

„Da ist dein Rudel.“

Arya rutschte in ihrem Sattel herum, als sie versuchte, die Banner zwischen den Zelten zu erkennen, auf die der Bluthund deutete. Sie entdeckte den grauen Schattenwolf auf weißem Schneefeld – das Wappen der Starks – und rot und blau gestreifte Banner mit einer springenden Forelle. Das war das Wappen der Tullys, wusste Arya, der Familie ihrer Mutter. Als sie näherkamen, entdeckte sie weitere Wappen der Gefolgsleute der Starks, die Namen der Häuser, zu denen sie gehörten, hätte sie indes nicht benennen können.

Sansa würde das wissen, dachte sie. Aber Sansa wurde noch immer von den Lannisters in der Roten Festung festgehalten, sofern diese sie nicht umgebracht hatten. Sie selbst hatte indes nie aufgepasst, wenn Maester Luwin oder Septa Mordane ihr etwas beizubringen versucht hatten. Arya fand, das allein war Grund genug für Lady Catelyn, sie nicht wiedersehen zu wollen. Bei diesem Gedanken breitete sich ein ungutes Gefühl in ihrem Magen aus. Obwohl sie sich nach nichts mehr sehnte, als endlich wieder bei ihrer Mutter zu sein, hätte sie am liebsten kehrt gemacht und wäre in die Wälder verschwunden. Doch sie wusste, sie wäre nicht weit gekommen. Der Bluthund wäre ihr gefolgt und hätte sie eingefangen, wie er es bereits einmal getan hatte.

Furcht schneidet tiefer als Schwerter, erinnerte sie sich. Furcht schneidet tiefer als Schwerter.

Als der Bluthund sein Pferd aus dem Schutz der Bäume heraus zum Eingang des Lagers lenkte, spürte Arya, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Die Männer im Lager würden sie bereits entdeckt haben. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

„Wer seid Ihr?“, fragte einer beiden Wachen, als Fremder vor dem Eingang des Lagers zum Stehen kam. Arya kannte den Mann nicht, doch er war eindeutig ein Nordmann.

Sandor Clegane schlug die Kapuze seines Umhangs zurück und entblößte sein hässliches und von Narben entstelltes Gesicht. Aus seiner Kehle drang ein tiefes Grollen, als er zu sprechen begann.

„Ein Hund, der einen streunenden Wolf zu seinem Rudel zurückbringt.“

Die Augen der Wache weiteten sich. Auch ohne seinen garstigen Helm war der Bluthund in der einsetzenden Dämmerung allzu gut zu erkennen, wusste Arya.

„Der Bluthund!“

„Ganz richtig, der Bluthund“, schnarrte Clegane. „Und die kleine Lady von Winterfell. Und ich verlange, dass Ihr uns zum König des Nordens bringt.“

Der Blick der beiden Wachen fiel auf Arya. „Glaubt Ihr, mit diesem dummen Trick würdet Ihr durchkommen? Ein kleiner, schmutziger und zerlumpter Junge? Ihr seid ein Lannister, es kann nur einen Grund für Euer Erscheinen geben: Den Jungen Wolf zu töten.“

Der Bluthund begann zu lachen. „Ich bin kein Lannister mehr“, sagte er. „Ich bin niemandes Hund mehr, außer mein eigener. Doch ich wäre es zufrieden, Robbs Hund zu sein.“

„Und ich bin kein Junge!“, rief Arya wutentbrannt. Für einen kurzen Moment vergaß sie ihre Furcht vor dem Wiedersehen mit ihrer Mutter. Sie war so kurz davor, nach Monaten auf der Flucht endlich ihr Ziel zu erreichen, und diese Männer hatten nichts Besseres zu tun, als zu streiten? „Ich bin Arya Stark von Winterfell!“ In einer energischen Bewegung wollte sie aus dem Sattel gleiten und an den beiden Wachen vorbeistürmen, doch der Bluthund schlang einen Arm um sie.

„Hiergeblieben“, knurrte er und Arya spürte den kalten Stahl seines Messers an ihrer Kehle. Er wandte sich zu den beiden Wachen. „Bringt mich zu ihrem Bruder und ihrer Mutter oder sie wird ihr Wolfsblut ausgeblutet haben, bevor sie auch nur die Namen der beiden rufen kann.“

Die beiden Wachen tauschten einen langen Blick. „Also schön“, sagte der, der die ganze Zeit über gesprochen hatte, schließlich und Aryas Herz machte einen Sprung. „Wir bringen Euch zu König Robb und Lady Catelyn. Aber Ihr werdet von Eurem Pferd absteigen und keine Dummheiten machen, verstanden?“

„Verstanden“, brummte Sandor und Arya glaubte, so etwas wie Erheiterung aus seiner Stimme herauszuhören. Er beugte sich über ihren Kopf hinweg und tätschelte den Hals seines Pferdes. „Aber wenn jemand Fremder etwas antut, wird er dafür bezahlen.“

Während die beiden Wachen sie durch das Zeltlager eskortierten, kehrte Aryas Unruhe zurück. Furcht schneidet tiefer als Schwerter, rief sie sich ins Gedächtnis. Ich darf keine Angst haben. Furcht schneidet tiefer als Schwerter.

Um sich abzulenken, sah sie sich um. Aus den Zelten drang das gedämpfte Licht von Laternen. Dazwischen erblickte sie Feuerstellen, wo Abendessen gekocht wurde. Die Männer, denen sie begegneten, beäugten sie misstrauisch und nicht wenige zuckten zurück, als sie den Hund erkannten. Arya sah sie sich alle ganz genau an, doch sie war keinem von ihnen je zuvor begegnet.

Schließlich traten sie auf einen kleinen Platz, in dessen Mitte drei einzelne Zelte standen. Das mittlere davon war zugleich das größte und darüber hing, wie über dem linken, der graue Schattenwolf. Das andere Zelt trug das Banner der Tullys.

Gemeinsam mit den Wachen betraten Arya und der Bluthund das große Zelt. Darin saßen mehrere Leute an einem Tisch beim Abendessen. Arya entdeckte mehrere Gefolgsleute ihres Vaters, einen Mann, der dieselbe Haarfarbe wie ihre Mutter hatte, ihren großen Bruder Robb – und …

„Mutter!“, rief sie, bevor die beiden Wachen zu sprechen beginnen konnten.

Die Gespräche am Tisch verstummten, alle Gesichter wandten sich ihr und dem Bluthund zu.

„Mutter! Und Robb!“

„Arya!“ Catelyn Stark erhob sich und eilte mit wehenden Röcken auf ihre Tochter zu. Bevor Arya wusste, wie ihr geschah, fand sie sich in einer festen Umarmung wieder, die ihr die Luft abschnürte und ihr fast die Rippen brach. „Du bist es wirklich! Mein kleines Mädchen!“

Eine Woge von Glück brach über Arya herein, siegte über ihre Furcht und bewirkte, dass sie sich nicht wie sonst gegen diese Form der Zuneigung zur Wehr setzte. Die Arme ihrer Mutter und ihr unverwechselbarer Duft ließen sie glauben, endlich nach Hause gekommen zu sein. In all den Monaten, die vergangen waren, seit sie Winterfell verlassen hatte, hatte sie dieses Gefühl vermisst. Es war nicht dasselbe, wie wieder in Winterfell zu sein, aber plötzlich erkannte sie, dass sie ohne dieses Gefühl verloren gewesen war.

„Mama“, brachte sie hervor. „Du hast mir so gefehlt!“

„Du hast mir auch gefehlt! Ich dachte, du wärst tot!“

Die Stimme ihrer Mutter war undeutlich geworden und Arya erkannte, dass sie weinte. „Ich bin nicht gestorben“, sagte sie, „aber ein paar Mal war’s sehr knapp.“ Ihre Augen begannen zu brennen, dann konnte sie die Tränen nicht mehr aufhalten.

„Ich will nie mehr weg von dir“, schluchzte sie. „Du willst mich doch noch, oder?“

„Natürlich will ich das.“ Catelyn nahm ihr Gesicht zwischen ihre Hände und küsste sie auf beide Wangen. „Du bist meine Tochter.“

Aber ich habe viele schlimme Dinge getan, wollte Arya sagen, konnte sich jedoch gerade noch auf die Zunge beißen. Robb und seine Männer waren noch immer im Zelt, so wie der Bluthund und die beiden Wachen.

„Hast du Hunger?“, fragte ihre Mutter. „Du siehst halb verhungert aus.“

Arya nickte und wischte sich die Tränen mit einem Ärmel ihres schmutzigen Wams fort. „Und wie!“

Catelyn strich kurz über das Haar ihrer Tochter und erhob sich. Als sie sich Robb und den anderen zuwandte, hatte sie wieder ihr Lady-Gesicht aufgesetzt. Das war das Gesicht, das sie früher immer aufgesetzt hatte, wenn Gefolgsleute ihres Vaters auf Winterfell erschienen waren, so wie Lord Eddard dann immer sein Lord-Gesicht aufgesetzt hatte. Obwohl Arya dann immer mehr die Lady von Winterfell als ihre Mutter sah, beruhigte sie der Anblick, denn er zeigte ihr, dass ihre Mutter noch immer ihre Mutter war, auch wenn sie irgendwie älter aussah.

„Etwas Wunderbares ist geschehen“, teilte sie den anderen mit. „Meine Tochter Arya hat den Weg zu uns zurückgefunden. Und das, bevor der Winter über uns alle gekommen ist.“

Die Gefolgsleute ihres Bruders bekundeten ihre Glückwünsche und auf Catelyns Aufforderung stellten sich ihrer Tochter vor. Zu Aryas Überraschung war unter ihnen sogar eine Frau, die wie die Männer ein Schwert an ihrer Hüfte trug. Der Mann mit den kastanienbraunen Haaren ihrer Mutter stellte sich als ihr Onkel Edmure heraus, wegen dem Catelyn und Robb auf dem Weg zu den Zwillingen waren, wo er verheiratet werden sollte. Ein „Hallo Onkel Edmure“, war alles, was Arya hervorbrachte. Doch das war immer noch mehr als bei den anderen, deren Namen sie allenfalls einmal gehört hatte. Sie kannte ihn nicht, ebensowenig wie die anderen im Zelt. Ihre Schwester Sansa hätte gewusst, wie man sich gegenüber derart wichtigen Leuten verhielt, aber Arya war das eigentlich egal. Sie hatte noch nie viel Wert darauf gelegt, sich wie eine Lady zu benehmen. Für sie zählte nur eines:

Sie war zuhause.

„Arya wird mit uns essen“, teilte Lady Catelyn den anderen mit.

Robb nickte. „Kümmert Euch um den Hund“, wies er die beiden Wachen an. „Ich werde ihn später befragen.“

„Jawohl, Euer Gnaden“, erwiderten die beiden Männer. Sie fassten Sandor Clegane an beiden Armen und führten ihn aus dem Zelt. Im Hinausgehen warf der Bluthund Arya einen Blick über die Schulter zu, den sie nicht zu deuten wusste. Verstört wandte sie sich wieder zu ihrer Mutter und ihrem Bruder.

„Und Ihr“, wandte Robb sich an seine Gefolgsleute, „lasst und alleine. Auch Ihr, Onkel Edmure.“

Nachdem die anderen das Zelt verlassen hatten, wurden Arya ein sauberer Teller und Becher gebracht. Ihre Mutter bedeutete ihr, sich neben sie zu setzen, während Robb den Platz zu ihrer anderen Seite einnahm.

Während Arya sich an Schweinebraten, Knoblauchbrot und Erbsenpastete satt aß, erzählte sie ihrer Mutter und Robb, was sie erlebt hatte, seit sie Winterfell vor beinahe zwei Jahren verlassen hatte. Sie erzählte von ihrer Reise nach King’s Landing, dem Vorfall mit Nymeria, wie Syrio Forel sie Schwertkampf gelehrt hatte und wie sie aus der Roten Festung entkommen war, als man ihren Vater festgenommen hatte. Sie erzählte von ihrer Flucht durch die Stadt, wie sie Lord Eddards Hinrichtung gesehen hatte und wie Yoren sie dort gefunden und mit nach Norden genommen hatte. Anschließend berichtete sie, wie sie nach Harrenhal gelangt war und wie sie sich dort durchgeschlagen hatte, bis Roose Bolton die Festung übernommen hatte. Ihre Mutter und ihr Bruder waren überrascht zu erfahren, dass sie bei ihrer anschließenden Flucht durch die Flusslande auf ehemalige Gefolgsleute ihres Vaters getroffen war, welche sich Beric Dondarrion und seiner Bannerlosen Bruderschaft angeschlossen hatten.

Dass sie den Stalljungen in der Roten Festung und den Torwächter von Harrenhal getötet und Jaqen H’ghar dazu gebracht hatte, weitere ihrer Feinde zu töten, ließ Arya indes unerwähnt. Besonders vor ihrem Bruder wollte sie das nicht zugeben, denn schließlich war er jetzt König.

„Als Beric mich nicht nach Riverrun bringen wollte, bin ich weggelaufen“, schloss Arya. „Aber der Bluthund hat mich gefangen, weil er eine Belohnung wollte, wenn er mich nach Hause bringt.“

„Darüber werde ich mich nachher zusammen mit meinen Beratern kümmern“, erklärte Robb.

„Er behauptet, er will sich dir anschließen“, sagte Arya. „Aber er ist böse. Er hat Mycah getötet. Und viele andere. Er verdient es zu sterben!“ Er sollte sterben, so wie Chiswyck und Weese und all die anderen es verdient gehabt hatten. Und so wie die es verdienten, die noch auf Aryas Liste standen.

Ihre Mutter runzelte leicht die Stirn, während Robb sie schweigend gemustert hatte. „Ich werde entscheiden, was ich mit ihm mache, wenn ich ihn verhört habe.“ Er strich kurz über ihr Haar. „Aber du hast ganz schön viele Abenteuer bestanden.“

„Oh ja“, stimmte Arya zu, erleichtert, weil ihr Bruder das Thema gewechselt hatte.

Ihr Bruder lächelte und erhob sich. „Ich sollte nun Clegane verhören“, sagte er. „Wir können uns später noch unterhalten.“

Er hat auch ein Lord-Gesicht, erkannte Arya. Oder eher ein König-Gesicht. Zumindest wirkte er damit königlicher als König Robert, für dessen Tod man ihren Vater hingerichtet hatte. Und sehr viel königlicher als dieser widerliche Joffrey.

„Robb!“, rief seine Mutter ihm nach.

Ihr Bruder hielt inne. „Ja, Mutter?“

„Wie immer du auch entscheidest, denk bitte daran, dass er Arya sicher zurückgebracht hat.“

„Natürlich, Mutter.“

Robb wandte sich um und verließ das Zelt.

Als er fort war, war es plötzlich still in dem großen Zelt geworden. Plötzlich fühlte Arya sich wieder sehr unbehaglich. „Was ist?“, fragte sie in die Stille. „Mama?“

„Nichts.“ Ihre Mutter wandte sich ihr zu und lächelte. Es sah ein wenig gequält aus. „Es ist nichts, Kind.“

„Willst du mich nicht mehr, weil ich so lange weg war?“

„Nein.“ Lady Catelyns Augen schimmerten im gedämpften Licht der Laternen. „Im Gegenteil. Ich bin so stolz auf dich, weil es dir gelungen ist, so lange auf dich gestellt zu überleben. Ich hätte nie gedacht, dass ich das irgendwann einmal sage, aber ich bin froh, dass du so ein Wildfang bist.“

Arya sah auf. „Also willst du nicht mehr, dass ich eine Lady werde?“

„Doch“, antwortete ihre Mutter plötzlich streng. „Du bist eine Stark.“

„Ich will aber keine Lady werden!“, protestierte Arya. „Ich will eine Wassertänzerin werden wie Syrio! Und dann werde ich Robb helfen, Winterfell zurückzuerobern.“

„Kind, dein Bruder hat viele starke und fähige Männer an seiner Seite. Es ist sehr nobel von dir, dass du ihm helfen willst, aber im Krieg ist kein Platz für junge Mädchen.“

„Dacey Mormont kämpft auch für Robb!“

„Sie ist sehr viel älter und erfahrener.“

„Dann lass mich nach Braavos gehen, damit ich eine Wassertänzerin werden kann! Bitte Mama. Vater hätte das gewollt!“

Ihre Mutter seufzte. „Arya Liebes. Der Winter ist nicht mehr fern, dein Vater und Bran und Rickon sind tot. Die wenigen, die von uns noch übrig sind, sind über Westeros verstreut. Der Winter ist eine gefährliche Zeit – was für eine Mutter wäre ich, wenn ich dich ziehen ließe?“

„Aber ich will Schwertkampf lernen!“

„Du hast so viel von der Schwester deines Vaters in dir“, sagte Catelyn mehr zu sich selbst, denn zu Arya. „Lyanna hatte dieselbe Wildheit in sich. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnten nichts und niemand sie davon abhalten.“ Sie bedachte Arya mit einem seltsam schiefen Lächeln. „Wenn du unbedingt Schwertkampf lernen willst, werde ich deinen Bruder bitten, dir einen Lehrer zuzuteilen. Doch morgen gehen wir erst einmal auf die Hochzeit deines Onkels.“

Arya verzog das Gesicht. Sie wollte nicht auf eine blöde Hochzeit. Wahrscheinlich würde ihre Mutter sie in ein Kleid stecken und frisieren und von ihr erwarten, dass sie sich wie eine Lady benahm. Und sie wollte auch nicht von den Gefolgsleuten ihres Bruders lernen, wie man mit einem Schwert kämpfte. Sie wollte es von jemandem lernen, der so war wie Syrio.

„Arya, du wirst mich zu dieser Hochzeit begleiten“, sagte Lady Catelyn streng. „Immerhin ist es dein Onkel, der heiratet.“

„Den ich bis eben noch gar nicht kannte!“, gab Arya hitzig zurück.

„Dann tu es für mich. Diese Hochzeit wird für deinen Bruder und seinen Krieg sehr wichtig sein. Die Freys können mächtige Verbündete gegen die Lannisters sein.“

Die Lannisters! Arya spürte, wie sich der Grund ihres Zorns zu verschieben begann. Die Lannisters sollten sterben. Alle!

Sie verstand nicht viel von Politik, aber sie begriff, dass die Hochzeit ihres Onkels wichtig für den Krieg ihres Bruders war. Wichtige Bündnisse wurden oft durch Ehen geschlossen. Für Arya war das trotzdem kein Grund, ein Kleid anzuziehen und sich wie eine Lady zu benehmen. Schließlich war nicht sie es, die heiraten sollte. Allerdings wusste sie auch, dass ihre Mutter in dieser Hinsicht nicht mit sich verhandeln ließ.

„Also schön“, sagte sie. „Ich gehe mit auf diese dumme Hochzeit. Aber danach will ich Schwertkampf lernen.“

„Versprochen“, erwiderte ihre Mutter zu ihrer Überraschung.

Später an diesem Abend nahm Catelyn ihre Tochter mit in ihr eigenes Zelt, wo sie ihr neben ihrem Lager ein kleines zweites aus Decken und Kissen bereitete.

„Eigentlich müsstest du dringend gebadet werden, doch ich fürchte, das wird bis morgen warten müssen, wenn wir die Zwillinge erreichen.“ Catelyn seufzte. „Und ich hoffe, eine von Lord Walders zahlreichen Töchtern hat ein Kleid in deiner Größe.“

Arya kroch unter ihre Decken und rollte sich zusammen. Die Kleider von Lord Walders Töchtern interessierten sie nicht im Geringsten. Mit einem Mal verspürte sie wieder ein beklemmendes Gefühl in ihrer Brust. Es war nie fort gewesen, sie hatte es nur ignoriert, weil die Wiedersehensfreude größer als ihre Furcht gewesen war.

„Singst du mir ein Lied, Mama?“, fragte sie leise.

Ihre Mutter lächelte und ließ sich neben ihr nieder. „Welches Lied möchtest du denn hören?“

„Der Regen von Castamere!“

Ihre Mutter bedachte sie mit einem strengen Blick. „Arya, das ist kein Schlaflied. Möchtest du nicht lieber Der Letzte der Riesen oder Das Lied der Sieben hören?“

„Nein.“ Das Lied der Sieben wäre etwas für Sansa gewesen, fand Arya. Ihre Schwester mochte an sowas Gefallen haben, sie jedoch nicht. „Ich will Der Regen von Castamere hören! Bitte sing es für mich.“

„Also schön.“ Lady Catelyn lächelte. Sie richtete sich ein wenig auf und begann zu singen:

Und wer seid Ihr, rief der stolze Lord,
dass ich mich soll verneigen?
Nur eine Katze in anderem Fell,
so ist die Wahrheit, will ich meinen.
Der Löwe hat scharfe Krallen, ja,
und ob goldne, ob rote Mähne,
Die meinen sind ebenfalls lang und scharf,
und lang und scharf sind meine Zähne.
Und so sprach er, ja, so sagte er wohl,
der Lord von Castamere,
Doch nun weint der Regen über seiner Burg,
und keiner hört ihn mehr,
Ja, nun weint der Regen über seiner Burg,
und keiner hört ihn mehr.


Während sie sang, lauschte Arya ihrer Stimme, die noch immer so lieblich klang, wie sie sie in Erinnerung hatte, andächtig. Es war lange her, dass ihre Mutter zuletzt für sie gesungen hatte. Meist war das gewesen, wenn sie krank gewesen war oder sie nicht hatte schlafen können, weil ein Unwetter über Winterfell tobte. Dass sie es jetzt tat, löste etwas in Arya und erfüllte sie mit einer ungeahnten Glückseligkeit.

„Das war sehr schön“, sagte sie, als ihre Mutter geendet hatte.

Ihre Mutter lächelte. „Aber jetzt solltest du schlafen. Der Tag morgen wird sehr anstrengend werden.“ Sie strich über Aryas Haar und küsste sie auf die Stirn, dann löschte sie das Licht und legte sich auf das Lager neben Arya.

Doch Arya konnte nicht schlafen. Im Dunkeln kehrte das beklemmende Gefühl in ihrer Brust verstärkte sich. Sie wusste, sie würde nicht schlafen können, wenn es blieb.

Furcht schneidet tiefer als Schwerter. Ich darf keine Angst haben. Furcht schneidet tiefer als Schwerter.

„Mama?“

„Ja?“

„Ich habe schlimme Dinge getan.“

Ihre Mutter wandte sich ihr zu. „Wie meinst du das?“

„Ich habe den Stalljungen in der Roten Festung umgebracht. Und eine Wache in Harrenhal. Und ich habe Jaqen gesagt, er soll Chiswyck, Weese und die Lannister-Wachen umbringen.“

Lady Catelyn schwieg.

Während sich die Stille im Zelt ausbreitete, wuchs Aryas Furcht. Sie hätte das ihrer Mutter nicht sagen dürfen. Aber sie wusste auch nicht, wie sie es für den Rest ihres Lebens für sich behalten sollte. Wenn sie mich fortschickt, habe ich sie wenigstens noch einmal gesehen, versuchte sie sich einzureden. Sollte Catelyn sie verstoßen, so würde sie nichts davon abhalten können, eine Wassertänzerin zu werden.

Doch ein nicht geringer Teil von ihr wollte in Westeros bei ihrer Mutter bleiben.

„Willst du mich trotzdem noch?“, fragte sie vorsichtig.

„Oh, Arya.“ Die Hand ihrer Mutter schloss sich um ihre. „Du bist meine Tochter, was du auch tust, es wird nichts an meiner Liebe zu dir ändern.“

„Also bist du mir nicht böse?“

„Die Sieben Königreiche befinden sich im Krieg“, antwortete ihre Mutter hart. „Im Krieg tötet man, um nicht getötet zu werden. Nach allem, was du mir über deine Abenteuer erzählt hast, weiß ich, dass du jetzt nicht hier wärst, wenn du das nicht getan hättest.“

Das beklemmende Gefühl in Aryas Brust löste sich. Mit einem Mal fühlte sie sich seltsam leicht. Doch noch während sich die Erleichterung in ihr ausbreitete, wurden ihre Glieder schwer und sie schlief ein.

Am nächsten Tag standen sie im Morgengrauen auf. Sie brachen die Zelte ab und ritten durch den Regen weiter zum Grünen Arm, der sich viele Meilen weiter südlich mit dem Roten und dem Blauen Arm zum Trident vereinigen würde. Vom Bluthund war keine Spur zu sehen und Arya nahm an, ihr Bruder hatte ihn hinrichten lassen. Endlich hat er bekommen, was er verdient, dachte sie grimmig, während sie neben ihrer Mutter an der Spitze des Zuges ritt.

Sie waren noch nicht lange geritten, als sie den Grünen Arm erreichten. Durch den wochenlangen Regen war der Fluss angeschwollen und an den Reihen von Bäumen, von denen nur noch die obere Hälfte zu sehen war, konnte Arya abschätzen, wo in etwa das eigentliche Flussbett lag.

Als sie sich den Zwillingen näherten, setzte Robb seine Krone auf und befahl Catelyn und Edmure an seine Seite. Arya hielt sich dicht hinter ihrer Mutter, die wieder ihr Lady-Gesicht aufgesetzt hatte und mit einem Mal sehr ernst wirkte. Robbs Schattenwolf tauchte von irgendwo auf und lief neben ihnen her. Arya fand, ihr Bruder hatte Grauwind eher zu einem Hund gemacht, der brav an der Seite seines Herrchens lief, wenn Robb das wünschte, und der draußen schlafen musste, statt in seinem Bett so wie es bei ihr und Nymeria gewesen war.

Die Festung der Freys waren eigentlich zwei zu beiden Seiten des Flusses erbauten Burgen, die einander ähnelten wie ein Ei dem anderen. Beide waren durch eine Brücke verbunden, in deren Mitte sich ein weiterer Turm erhob. Jetzt indes standen sie jede in einem kleinen See. Als Arya durch den Regen zum anderen Ufer des Flusses blinzelte, konnte sie dort Zelte sehen. Es mussten mehrere tausend sein. Sie fragte sich, ob das die Armee war, die ihr Bruder bekommen würde, wenn er ihren Onkel Edmure mit einer der zahlreichen Töchter der Freys verheiratete.

Von ihrem Platz hinter Robb und ihrer Mutter konnte Arya hören, wie die beiden sich leise darüber stritten, wie Robb dem Lord vom Kreuzweg begegnen sollte. Ihr Bruder nahm ihre Ratschläge genervt auf. Zu Recht, fand Arya. denn schließlich war er der König und musste sich keine Vorschriften machen lassen.

Vier Reiter verließen die Festung auf ihrer Seite des Flusses durch die hochgezogenen Falltore, die Arya an riesige Fangzähne erinnerten, und ritten auf sie zu. Grauwind begann zu knurren und griff eines der Pferde an. Das Pferd geriet in Panik und warf seinen Reiter ab und Robb hatte alle Mühe, seinen Schattenwolf zurückzurufen. Die Freys waren verärgert, doch Arya konnte es ihnen nicht verübeln. Dass Grauwind nicht gehorchte kam daher, dass Robb versuchte, ihn wie einen Hund zu behandeln. Aber welcher Wolf wollte schon wie ein Hund behandelt werden?

Nach einigem langweiligen Hin und Her baten die Freys sie hinein und sie ritten durch die Falltore in das Innere der Festung. Robbs Armee wurde auf die andere Seite des Flusses geleitet, wo man bereits Festzelte aufgebaut hatte, weil innerhalb der Burg nicht ausreichend Platz für so viele Menschen sein würde.

Arya brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass sie die Freys nicht leiden konnte. Am meisten hasste sie den alten Lord Walder. Sein Anblick erinnerte sie an einen Aasgeier und an ein Wiesel zugleich. Sein kahler von Altersflecken bedeckter Kopf saß auf zu dürren Schultern und sein Hals war irgendwie zu lang und zu pink. Seine Haut hing in Falten und sein zahnloser Mund machte Geräusche, wie ein Baby, das an der Brust seiner Mutter saugt. Was aus seinem Mund herauskam, ließ Arya diesen Mann noch weniger mögen. Obwohl sie nur wenig von den Worten, die zwischen ihm und ihrer Mutter und Robb gesprochen wurde, verstand, konnte sie Hohn und Herablassung aus ihren heraushören. Das ärgerte sie und machte sie wütend, doch sie hatte ihrer Mutter am Morgen versprochen, sich während ihres Aufenthalts in den Zwillingen aus den Angelegenheiten der Erwachsenen herauszuhalten.

Nachdem sie Wein, Brot und Salz als Zeichen der Gastfreundschaft erhalten hatten, bezogen sie ihre Zimmer in dem Turm zwischen den beiden Burgen. Lady Catelyn erhielt eine kleine, aber komfortabel eingerichtete Kammer, in der auch Arya schlafen sollte. Eine Badewanne und heißes Wasser wurden gebracht, und nachdem Arya hineingestiegen war, verließ ihre Mutter den Raum, um mit Edmure und Robb zu sprechen.

Während Arya badete, erschien eine Dienerin mit einem Kleid, das einer von Lord Walders zahlreichen Töchtern gehörte, und legte es aufs Bett. „Wenn es Euch nicht passt, ruft nach mir, M’lady“, sagte sie. „Dann lasse ich Euch ein anderes bringen.“ Sie hob Aryas schmutzige Sachen vom Boden auf und brachte sie fort.

Missmutig betrachtete Arya das Kleid. Wie alle Kleider, in die man sie in ihrem Leben gesteckt hatte, fand sie auch dieses grässlich. Sie wollte es nicht tragen. Sie wollte nicht hier sein. Sie mochte weder die Burg, noch die Freys, denen sie bis jetzt begegnet war. Irgendetwas war mit ihnen, dass Arya sie nicht leiden konnte. Es war fast so wie mit den Lannisters. Und das gefiel ihr nicht.

Sie saß noch immer in der Badewanne, als Lady Catelyn zurückkehrte. „Die Hochzeit beginnt bald“, teilte sie ihr mit. „Es wird Zeit, dich zurechtzumachen.“

Sie half Arya hinaus und trocknete sie ab, so wie sie es getan hatte, als Arya noch klein gewesen war. Anschließend zog sie ihr das Kleid über und schnürte es fest. An Aryas dürrem Körper saß es ein wenig zu locker, was ihr nur recht war. Sie fühlte sich bereits genug darin gefangen. Zuletzt kämmte Catelyn ihre Haare und flocht sie.

Arya hatte es noch nie gemocht, wie eine Puppe angezogen und frisiert zu werden, doch sie hatte ihre Mutter so sehr vermisst, dass sie es dieses Mal willig über sich ergehen ließ und sich sogar ein wenig freute. Ob das auch so wäre, wäre Sansa hier?, fragte sie sich. Sansa mochte es, eine Puppe zu sein, sie hätte das hier gemocht, weil sie eine brave Lady war. Arya mochte es nur, weil sie endlich wieder bei ihrer Mutter sein konnte und jeden Augenblick mit ihr genießen wollte, als würde sie dadurch die letzten beiden Jahre aufholen können.

„So“, sagte Lady Catelyn, als sie fertig war, und drehte Arya zu einem Spiegel. „Jetzt siehst du hübsch aus.“

Eine Grimasse schneidend betrachtete Arya ihr Spiegelbild. Ihre Haare waren seit langem wieder ordentlich und sauber, der Dreck hinter ihren Fingernägeln verschwunden. Weil ihre Brust flach und mager war, sahen die beiden auf der Vorderseite eingestickten Türme aus, als würden sie aufeinander zu stürzen. Das war indes das einzige, was ihr an dem Kleid gefiel.

Ihr Lady-Gesicht aufsetzend nahm Catelyn Aryas Hand und führte sie zusammen mit Robb und ihrem Bruder in die Halle, in der die Hochzeit stattfinden würde und wo sie Lord Walder wenige Stunden zuvor begegnet waren. Die Halle war bereits geschmückt und gefüllt mit Freys und es wurde Musik gespielt.

Arya war noch nie zuvor auf einer Hochzeit gewesen. Diese schien indes noch langweiliger zu werden, als sie es sich in ihrer Vorstellung ausgemalt hatte. Zu ihrem Verdruß durfte sie nicht bei ihrer Mutter sitzen, sondern wurde an einen Tisch mit Frey-Mädchen gesteckt. Arya konnte keine von ihnen leiden, sie waren hässlich und dumm und tuschelten und kicherten die ganze Zeit. Lieber hätte sie bei ihrer Mutter gesessen, doch diese saß bei dem alten Lord Walder und seinen Gefolgsleuten an der hohen Tafel. Ein Blick genügte jedoch, um Arya davon zu überzeugen, dass ihre Mutter diese Feier genauso langweilig fand, wie sie selbst.

Nicht lange nach dem Essen, begann das Betten. Edmure und seine Frau wurden von den Gästen hinausgetragen und in ihr Gemach gebracht, in dem sie die Hochzeitsnacht verbringen würden. Zu Aryas Verdruß wurde sie von den Frey-Mädchen an ihrem Tisch dazu genötigt, sich den Frauen anzuschließen, die ihren Onkel ausziehen würden, bevor er im Schlafgemach auf seine Braut traf. Sie warf einen flehenden Blick zu ihrer Mutter an der hohen Tafel, doch diese nickte nur aufmunternd und lächelte ihr zu.

Voll Unbehagen schloss Arya sich den Frauen und Mädchen der Freys an. Ihre beiden Sitznachbarinnen hatten sie kichernd an den Händen gefasst, doch als sie sich den Toren näherten, von denen die Brücke hinüber zu dem Turm in der Mitte des Flusses führte, gelang es ihr, sich aus dem Griff der beiden Mädchen zu lösen.

Still wie ein Schatten. Schnell wie eine Schlange. Unbemerkt schlüpfte Arya zwischen den lachenden und kichernden Frauen und Mädchen hindurch. Niemand nahm von ihr Notiz als sie sich allmählich zurückfallen ließ. Einen kurzen Moment überlegte sie, zurück in die große Halle zu gehen, doch sie fürchtete, ihre Mutter für sie schelten, weil sie sich nicht den anderen angeschlossen hatte. Und wahrscheinlich würde ihre Mutter auch gar keine Zeit für sie haben. Sicher führte sie gerade langweilige Erwachsenengespräche.

Zurück in der Burg sah Arya sich um. Die Musik und das Gelächter der Feiernden drangen nur noch gedämpft durch die geschlossenen Türen der großen Halle zu ihr. Sie befand, es war besser hier zu sein, als dort bei den anderen Feiernden, wo die Luft heiß und stickig war und niemand sich um sie kümmerte. Sie befand, das war eine gute Gelegenheit, die Festung zu erkunden. Denn auch wenn Arya die Burg hasste, war sie neugierig auf die höheren Stockwerke und die Türme, die sie am Nachmittag erblickt hatte. Von dort oben würde man auch in der Dunkelheit einen guten Ausblick haben.

Plötzlich höre Arya Schritte. Rasch duckte sie sich in eine dunkle Nische, den Saum ihres grässlichen Kleides festhaltend. Eine Wache mit dem Wahrzeichen der Freys auf den Umhang gestickt, schritt an ihr vorbei. Der Mann nahm jedoch keine Notiz von ihr. Seine Schritte wurden leiser und hielten plötzlich an.

„Die Falltore sind heruntergelassen“, hörte sie jemanden sagen.

„Dann möge es beginnen.“ Die Stimme war hart und kalt und ließ Arya erschaudern. „Verbarrikadiert die Halle.“

Schritte entfernten sich. Vorsichtig verließ Arya ihre Nische und schlich hinter den beiden Wachen her. Der Rhythmus der Trommeln in der Halle veränderte sich und von dort erklang nun Der Regen von Castamere. Und dann hörte Arya Schreie und das Klirren von Stahl von drinnen.

Das passte nicht zusammen, fand Arya. Sie fand das seltsam und beunruhigend. Sieh mit deinen Augen, hörte sie Syrio Forels Stimme. Höre mit deinen Ohren.

Und dann begriff sie.

„Nein!“, entfuhr es ihr. Hastig schlug sie sich eine Hand vor den Mund, doch sie war bereits entdeckt worden.

„Das ist eine von ihnen!“ Eine der Frey-Wachen drehte sich um. Das Schwert gezogen kam sie auf Arya zu. „Ergreift sie!“

Weitere Wachen erschienen von irgendwoher. Arya wirbelte herum, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Hinter sich hörte sie, wie die Wachen ihr folgten. Die Tore waren geschlossen, sie war in der Burg gefangen. Fieberhaft ging sie ihre Möglichkeiten durch. Vielleicht, wenn es ihr gelang, die höheren Stockwerke zu erreichen, würde sie sich dort verstecken können, bis sie aufhörten, nach ihr zu suchen. Aber sie würde zurück müssen. Ihre Mutter und ihr Bruder waren in der Halle. Sie würden sterben, wenn Arya ihnen nicht half.

Sie verließ die Treppe und bog in einen von Fackeln erhellten Korridor ein. Die Wachen waren noch immer hinter ihr. Während sie rannte, kam sie an mehreren Türen vorbei. Sie alle waren jedoch verschlossen, als sie daran rüttelte.

Plötzlich tauchten zwei weitere Wachen vor ihr auf und schnitten ihr den Weg ab. Verzweifelt sah Arya sich um. Nur wenige Schritt entfernt zweigte ein schmaler Gang vom Hauptflur ab. Sie zögerte nicht und hastete hinein, gefolgt von den Wachen.

Flink wie ein Reh, fuhr es ihr durch den Kopf. Furcht schneidet tiefer als Schwerter.

Arya spürte einen kalten Luftzug, dann fand sie sich an einem toten Ende wieder. Die Männer verfolgten sie noch immer, ihre Schwerter gezogen. Instinktiv wich sie weiter zurück. Ihr Rücken stieß gegen die Außenmauer. Über ihrem Kopf befand sich das Sims eines schmalen Fensters. Arya zögerte nicht und griff nach dem Vorsprung und zog sich hinauf und dann erstarrte sie, als sie sah, was darunter war. Tief unter ihr tosten die Fluten des Grünen Armes um den Turm, schwarz und unheilvoll. Sie wusste, die Wachen würden sie töten. Es gab keinen Ausweg.

Vielleicht, wenn es ihr gelang, ans Ufer zu kommen, vielleicht konnte sie irgendwie die Tore von außen öffnen. Und Robb und ihrer Mutter helfen.

„Sie will springen!“, hörte sie einen der Männer rufen.

„Dann ist sie sowieso verloren!“

Furcht schneidet tiefer als Schwerter. Furcht schneidet tiefer als Schwerter.

All ihren Mut zusammennehmend stieß sie sich ab und sprang in die Tiefe.

Ihr Fall schien eine Ewigkeit zu dauern. Dann gab es einen harten Aufprall, der Arya die Luft aus den Lungen trieb, bevor die Fluten des Grünen Arms sie hinabzogen und mit sich rissen.

Panisch und nach Luft ringend versuchte Arya, sich ihren Weg zurück zur Oberfläche zu kämpfen. Sie konnte schwimmen, aber sie war noch nie einem reißenden Fluss geschwommen. Das alberne Kleid wickelte sich um ihre Beine und erschwerte ihre Bemühungen, nicht zu ertrinken. Sie trat und schlug mit ihren Beinen um sich, während sie mit aller Macht versuchte, das Ufer zu erreichen, das sie in Dunkelheit nur schwach erkennen konnte.

Als sie zu ertrinken glaubte, schloss sich etwas Hartes schmerzhaft um ihren Arm und Arya wurde aus dem Wasser gerissen. „Na, was haben wir denn da?“, hörte sie eine vertraute Stimme schnarren. „Eine kleine Wölfin.“

Der Bluthund!

„Lass mich los!“, rief Arya und versuchte, sich loszureißen. „Lass mich sofort los!“

Unsanft ließ Sandor Clegane sie in den Matsch am Ufer fallen. „Sei froh, dass ich dich gefunden habe“, knurrte er. „In diesen Fluten hättest du ersaufen können.“

Sie funkelte ihn an. „Warum lebst du überhaupt noch? Robb sollte dich töten!“

„Hat er aber nicht.“ Der Bluthund packte sie grob. „Er hat mir eine Belohnung gegeben, aber sich geweigert, mich in seine Dienste aufzunehmen.“

„Und warum bist du dann noch hier?“

„Nenn es Instinkt, nenn es Dummheit oder was auch immer.“ Er verstärkte seinen Griff. „Und jetzt komm!“

„Nein! Ich muss zurück! Ich muss ihnen helfen!“

„Was willst du da? Dort wartet nichts als der Tod auf dich, Mädchen!“

„Ich bin kein Mädchen!“, fuhr sie ihn an. „Ich bin eine Wölfin!“

Und woher wusste er überhaupt, was in den Zwillingen geschah? Doch als sie innehielt, konnte sie am anderen Ufer Kampfeslärm hören. Es waren nicht nur ihre Mutter und ihr Bruder und seine Leute ind er Burg, die gerade getötet wurden. Es war seine gesamte Armee! Und Robb hatte sie auf die andere Seite gehenlassen!

„Und deswegen wirst du sterben, wenn du dahin zurückgehst.“

„Lieber tot als in Schande leben!“ Mit diesen Worten riss Arya sich los und rannte durch das Unterholz zurück zu den Zwillingen. Ich habe keine Angst, sagte sie sich. Furcht schneidet tiefer als Schwerter.

Der Boden am Ufer war aufgeweicht und ihre Füße drohten, sich im Matsch festzusaugen. Doch Arya achtete kaum darauf. Sie musste unbedingt zurück. Ihr Zorn und ihre Furcht ließen sie die Anstrengung vergessen, als sie sich durch Matsch, umgestürzte Baumstämme und herunterhängende Zweige kämpfte.

Flink wie ein Reh. Still wie ein Schatten. Schnell wie eine Schlange. Wild wie eine Wölfin. Ich werde sie alle töten. Furcht schneidet …

Dann traf etwas ihren Hinterkopf und es wurde dunkel.

Unruhige Träume suchten Arya in dieser Nacht heim. Sie rannte durch dunkle Gänge, auf der Flucht vor den Freys. Sie wollte sie töten, doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie Nadel verloren hatte. Dann war sie wieder eine Wölfin und rannte mit ihrem Rudel durch Wälder. Sie erreichten einen tosenden Fluss. Etwas erregte ihre Aufmerksamkeit. Ein Geruch, vertraut und fremd zugleich. Sie reckte ihre Schnauze in den Wind und schnüffelte und lief dann in die Richtung, aus welcher der Geruch kam.

Im Wasser trieb ein Körper. Sie sprang in die Fluten und schwamm zu ihm hinüber. Der Körper war kalt und bleich und die Strömung stark, doch sie bekam ihn mit ihren Zähnen zu fassen und zog ihn zum Ufer. Ihre Schwestern wollten ihr ihre Beute streitig machen und sie mit ihren Zähnen zerreißen und fressen, doch sie schlug sie alle mit einem wütenden Knurren zurück. Dann wandte sie sich wieder dem Körper zu.

Steh auf, dachte sie. Friss und lauf mit uns.

Dann erklang das Wiehern von Pferden und sie ergriff die Flucht.

Als Arya wieder erwachte, war es der Abend eines anderen Tages. Es hatte aufgehört zu regnen und die Welt um sie herum war mit glitzerndem Frost überzogen. Ihr Kopf schmerzte, doch er schmerzte nicht halb so viel, wie das Loch in ihr drin. Dort war ihr Herz gewesen, dort hatten ihre Eltern und ihre Brüder gelebt. Und jetzt waren sie alle fort.

Stöhnend richtete sie sich auf und versuchte, ihre steifgefrorenen Glieder zu bewegen.

„Ah, die kleine Wölfin ist wach.“

Der Bluthund saß auf dem Stamm eines umgestürzten Baumes und musterte sie mit seinen wilden Augen. Neben ihm lagen ein kleiner Laib Brot und ein Stück Käse. Als ihre Blicke sich begegneten, verzog sich seine hässliche Fratze zu einem Grinsen.

„Was ist passiert?“, verlangte Arya zu wissen. „Wo sind wir? Wo ist meine Mutter?“

„Deine Mutter wurde von den Fluten des Grünen Armes fortgespült“, antwortete Sandor Clegane. „Das ist jetzt drei Tage her. Seitdem hast du geschlafen.“

Meine Mutter ist nicht tot, dachte Arya trotzig, während sie lustlos auf dem Brot herumkaute. Sie wollte nicht, dass sie tot war. Sie hatte sie doch gerade erst zurückgehabt. Ich habe sie gesehen. Sie war da, am Ufer des Flusses. Aber der Bluthund würde sie nur auslachen, wenn sie ihm das erzählte. Und tief in ihrem Herzen wusste sie, dass es wahr war.

Ihre Augen begannen zu brennen, dann rannen stumme Tränen über ihre Wangen. Sie wollte nicht, dass es so war. Sie konnte noch immer den Duft ihrer Mutter riechen, als sie sie in ihren Armen gehalten hatte, sie sah noch immer ihr Lächeln, als Arya den Frey-Mädchen gefolgt war, und sie hörte noch immer ihre liebliche Stimme, als sie das Lied gesungen hatte, das ihr Schicksal besiegelt hatte. Und plötzlich fühlte Arya sich schuldig, weil sie gewollt hatte, dass ihre Mutter es für sie sang. Sie wusste, sie würde dieses Lied nie mehr hören können, ohne dabei an ihre Mutter denken zu müssen.

Ihre Mutter, die sie zurückgenommen hätte.

„Ich bringe dich nach Hohenehr“, fuhr Sandor Clegane fort. „Deine Tante Lysa ist sicher bereit, das Lösegeld für dich zu zahlen. Dann kann ich gleich doppelt kassieren, was nur gerecht ist, nachdem dein Bruder mich nicht wollte.“ Er lachte trocken. „Was vielleicht auch besser so ist.“ Er brach etwas von dem Brot ab und reichte es ihr zusammen mit einem Stück Käse, das er mit seinem Messer abschnitt. „Hier iss. Und dann schlaf. Wir ziehen morgen weiter.“

Arya verzog das Gesicht. Sie wollte nicht zu ihrer Tante. Sie kannte sie nicht einmal. Alles, was sie wollte, war nach Hause, zurück nach Winterfell zu gehen. Aber Winterfell existierte nicht mehr, ebenso wie ihr Vater, ihre Mutter und ihre Brüder. Und wahrscheinlich auch ihre dumme Schwester Sansa, die wahrscheinlich von den Lannisters getötet worden war. Und Jon zählte nicht, weil er nur ein Bastard war.

Sie war die letzte Stark.

Sie war allein. Und es war Winter geworden.

Nachdem sie gegessen hatte, spürte Arya, wie die Benommenheit zurückkehrte. Ihr Kopf dröhnte und sie war kaum noch fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie rollte sich zusammen und sank erneut in einen unruhigen Schlaf. Bevor sie jedoch in die Traumwelt hinüberglitt und wieder in den Körper eines Wolfes schlüpfte, flüsterte sie noch einmal ihre Namen: „Ser Gregor der Berg, Dunsen, Polliver, Raff der Süße und der Kitzler. Ser Ilyn, Ser Meryn und der Bluthund. König Joffrey, Königin Cersei und die Freys, die Freys, die Freys.“
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