Wahrheit oder Pflicht
von LockXOn
Kurzbeschreibung
[ONESHOTS] Ryuji ist ein geborener Anführer. Niemand zweifelt das an oder versucht gar, ihm querzukommen. Außer vielleicht seine nicht ganz normale Familie, eine aufdringliche Horde „befreundeter“ Dämonen und eine Meute durchgeknallter Klassenkameraden. Wenn deine Umwelt Kopf steht, wie kannst du behaupten, alles im Griff zu haben? Dumme Frage – indem du das Blaue vom Himmel lügst!
SammlungAllgemein / P16 / Mix
Asumi
Rikuo Nura
Ryuji Keikain
01.12.2013
11.08.2019
2
39.020
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31.03.2017
22.685
Autorennotizen
„Ein schöner Tag, die Welt blüht auf, es ist ein schöner Tag, ein wunderschöner Tag!“
Rikuo und seine Freunde starrten wortlos eine selig vor sich hinträllernde Onmyoji an, die beschwingten Schritts und strahlenden Gesichts vor ihnen hermarschierte. „Du bist heute unglaublich gut gelaunt“, bemerkte Kana schließlich erheitert, „Ist etwas Schönes passiert?“ „Nein“, erwiderte Yura mit entschlossenem Blick, „Aber das wird es, noch bevor der Tag zu Ende geht!“
„Oh? Gibt es was besonders Feines bei euch zu essen?“, fragte Natsumi lächelnd. „Es wird doch nicht etwa ‘ne Überraschungsparty für dich geschmissen, oder?“, mutmaßte Jiro besorgt, und leiser zu den anderen, „Wir haben doch nicht ihren Geburtstag vergessen, oder?!“ Rikuo schüttelte energisch den Kopf: „Nein! ... Oder zumindest hoffe ich es. Vielleicht wird ein Marathon ihrer Lieblingsserie gesendet?“ „Alles Quatsch“, rief Kiyotsugu siegessicher dazwischen, „sie freut sich nur auf unsere heute anberaumte Séance, ist doch ganz klar! Schließlich rufen wir Izanami höchstpersönlich an, die Herrscherin der Unterwelt!“
„Apropos: Hältst du das wirklich für so eine gute Idee? Sie ist immerhin ... Nun ja, die Herrscherin der Unterwelt!“
„Worauf willst du hinaus? Ich für meinen Teil kann es nicht abwarten! Stellt euch nur vor, die Mutter aller Götter und Dämonen! Sie muss eine atemberaubend schöne Frau sein!“
„Kiyotsugu. Sie ist ein Brandopfer. Wie viel von ihrer ursprünglichen Schönheit wird wohl erhalten geblieben sein, nachdem sie den Gott des Feuers geboren hat?!“
„... Euch fehlt der Sinn fürs Abenteuer, allen miteinander!“
„Ahem ... Das ist doch jetzt echt nicht der springende Punkt! Die Frage ist, ist es wirklich das, was Yura so dermaßen erfreut?“
„Nein nein, das ist es alles nicht“, kicherte Yura recht untypisch, „Es ist nur so – wenn ich heute Abend nach Hause komme, wird mich kein zynischer Witz erwarten, kein unmenschlich hartes Training, keine sarkastische Standpauke und mit Sicherheit kein gemeiner Streich! Ab sofort und für sieben wundervolle Tage werde ich nämlich meine schwerverdiente Ruhe haben vor meinem unnötig fies sadistischen Bruder, HA!“
„Wieso ‘n das? Ist er wieder auf Monsterjagd?“
„Du bist echt komisch. Vor kurzem hast du dir wegen ein paar Stunden noch fast in die Hose gemacht, in denen er dir nichts von der Jagd nach diesem Pfandleihhaus gesagt hat und jetzt freust du dich wie ‘ne Brezel über ‘ne ganze Woche Abstinenz?“
Yura fuchtelte entsetzt mit den Armen: „Was?! Nein! So ist das doch gar nicht! Diesmal ist alles ganz harmlos und garantiert ungefährlich!“ Das strahlende Grinsen erschien erneut auf ihrem Gesicht: „Ryuji ist nämlich für die ganze Woche auf Klassenfahrt in Nagano! Ein Hoch auf unser Schulsystem!“
Ehe er auch nur daran denken konnte, es zurückzuhalten, entfuhr Ryuji ein Niesen und er runzelte missmutig die Stirn.
Um ihn herum wuselten seine Klassenkameraden durcheinander, sorgsam darauf bedacht, das eigene Gepäck auch ganz bestimmt fest verstaut im Bus zu wissen. Er selbst begriff die Aufregung nicht – sie alle hatten Geld und waren alt genug, im Notfall zumindest zurück nach Hause zu finden. Warum also taten alle so, als wäre ein Abbruch der Reise das Ende der Welt? Für ihn war es das erste Mal, an einer Klassenfahrt teilzunehmen. In der Vergangenheit hatte die Arbeit im Tempel ihm nie erlaubt, länger als zwei bis drei Tage abwesend zu sein. Warum man ihn in diesem Fall so vehement zur Teilnahme gedrängt hatte, konnte er nicht nachvollziehen.
Dass seine Familie stets Zeitmangel vorgeschoben hatte, um ihn und seine Brüder unter größtmöglicher Aufsicht zu halten, konnte er nicht wissen. Dazu war ihr Verhältnis zueinander zu kalt gewesen, die Todesgefahr durch den Fluch der Haguromo Kitsune zu präsent. Niemand wollte die Jungs sterben sehen, doch jeder hatte jeden Tag damit gerechnet. Diese Umstände hatte es schwergemacht, mehr als eine professionelle Beziehung aufzubauen, und so hatten sie sie bis zuletzt im Dunkeln darüber gelassen, wie sehr sie sich tatsächlich um sie sorgten.
Ryuji war klug. Er ahnte natürlich etwas davon. Doch das half ihm jetzt, nach dem vermeintlichen Aufheben des Fluchs, wo sie ihn plötzlich nicht mehr im Haus haben wollten, nicht viel.
Und auch nicht gegen seine kindischen Mitschüler, die nicht aufhören wollten zu schwatzen!
Augenrollend stieg er in den nächstbesten Bus, wie so oft die Stimme der Autorität ignorierend, die versuchte, mit Platzanweisungen die Gruppierungen der größten Störenfriede zu vermeiden. Hinter ihm wurden Beschwerden laut, minderten sich jedoch wieder, als er sich am Fenster in einer mittleren Reihe niederließ. In die Mitte wollte niemand. Nach hinten zog es die Drückeberger, die jeder Bildung tunlichst aus dem Weg gingen, nach vorne Streber oder solche, die an Reisekrankheit litten. Solange er ihnen nicht die begehrten Plätze streitig machte, interessierte es niemanden, dass er als erster ging. Sich sofort Kopfhörer über die Ohren zu streifen, darauf verzichtete er vorerst, obwohl ihn der Tumult, als die Masse seinem kühnen Beispiel folgte, sehr dazu drängte. Denn vielleicht gab es doch noch sinnvolle Anweisungen seitens der Lehrer zu beachten und da er sich hauptsächlich allein würde unterhalten müssen, wollte er die Regeln kennen, um nicht unnötige Diskussionen zu entfachen.
„Ist hier noch frei?“
Da er mit auf einer Hand abgestütztem Kinn hinaus auf die wuselnde Masse sah, entging ihm, dass die Frage an ihn gerichtet worden war und drehte sich erst zu einer strahlend lächelnden Asumi um, als sie ihm ungeduldig auf die Schulter tippte.
Nach kurzer Musterung zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder ab. Sie hüpfte auf und ab und winkte enthusiastisch Richtung Eingang: „Beni, hier! Hier sitzen wir zusammen, sag’s den anderen!“ Und damit ließ sie sich mit erleichtertem Seufzen in den Sitz fallen. „Find ich super, dass du mitfährst, Ryuji“, begann sie sofort loszureden, „Wäre echt schade gewesen, hättest du die letzte Gelegenheit verpasst!“
Richtig. Ihre Schulzeit neigte sich dem Ende zu, befanden sie sich doch im letzten Jahr der Oberstufe. Deswegen hatten seine Geschwister also darauf bestanden. Sentimentale Bande.
Er antwortete nicht und Asumi kam nicht dazu, etwas hinzuzufügen, ehe sich jemand in die Reihe vor ihnen schob und hinter ihnen ein Pulk hereinstürzte, der die Sitze wackeln ließ.
„Geschafft!“
Fast gleichzeitig hoben sich drei Köpfe über die Lehnen und eine weitere Mitschülerin lächelte ihn an, zwar nicht ganz so nassforsch wie Asumi, doch nicht weniger neugierig: „Hallo, Ryuji! Ich bin Beni! Beni Aikawa!“ „Und ich Raidon Hayase“, tönte es von hinten und eine Hand wurde ihm über die Schulter gereicht, „Und das hier ist Konyo Ozaki!“ Ausdruckslos starrte er erst auf die Hand, dann in die zwei grinsenden Gesichter: „... Ich weiß, wie ihr heißt. Wir gehen seit drei Semestern in die gleiche Klasse.“
Nach kurzer, peinlicher Stille stieß der Schwarzhaarige, Konyo, aus: „Oh. ‘tschuldige. Du wirkst immer so desinteressiert, da dachten wir ... Naja.“ In diesem Moment zwängte sich das letzte Mitglied von Asumis munterer Clique an Beni vorbei ans Fenster. Das Mädchen wirkte weniger erfreut, seine Nähe dulden zu müssen, murmelte aber wie einstudiert: „Hi, Ryuji. Schön, dich zu sehen. Ich bin-“ „Ruka Yoshimura“, beendete er den Satz für sie und Konyo klärte sie, als sie verblüfft in die Runde blickte, verlegen auf. „Er kennt uns“, und nickend an Asumi gewandt nochmal, „Er kennt uns.“ Sie grinste breit: „Ich sag doch, er ist cool.“ Dann schmunzelte sie Ryuji entschuldigend an: „Wir haben gewettet und ich war die einzige, die meinte, du würdest was außerhalb des Lernstoffs mitbekommen. Soll keine Beleidigung sein, du redest halt kaum mit irgendwem und wenn, benutzt du alles, nur nicht unsere Namen.“ Dem hatte er nichts entgegenzusetzen, immerhin wusste er selbst, dass die Schule nicht sein größtes Interessengebiet darstellte. Das Lernen fiel ihm leicht, er hatte früh damit begonnen und hatte oft bereits Lektionen beherrscht, die erst später auf dem Plan gestanden hatten. Seine Mitschüler waren dabei das Letzte, was ihm wichtig erschien, solange sie nicht gerade von Dämonen besessen waren. Zwischenmenschliche Beziehungen hatten ihn nie interessiert, immerhin war er von klein auf davon ausgegangen, früh sterben zu müssen. Wer legte in einem solchen Fall schon Wert auf langanhaltende Freundschaften?
So zuckte er nur die Achseln und wandte sich wieder dem Fenster zu. Um ihn herum verfielen alle in erwartungsfrohe Gespräche und Gelächter, während er selbst versuchte, den Lärm auszublenden und sich seinen Gedanken hinzugeben.
Ja, er war zum Sterben bestimmt gewesen. Jedoch ... Die Sache sah inzwischen anders aus, richtig? Sehr wahrscheinlich war der Fluch mit dem Tod der Haguromo Kitsune gebrochen. Also konnte er es durchaus riskieren, nachhaltiger mit anderen Menschen zu interagieren, richtig?
Sein Knie kitzelte, als etwas Leichtes darauf abgelegt wurde. Irritiert sah er hin und Asumi dabei zu, wie sie einen Stapel Karten verteilte. Seine Stirn legte sich in tiefe Falten: „Was soll das werden?“ „Wir spielen Mau Mau“, erwiderte sie.
„Und warum ich?“
„Du hast nichts anderes zu tun, oder?“
Er starrte sie an wie ein Wesen vom anderen Stern, welches er nicht mal dann verstanden hätte, hätte es eine menschliche Sprache gesprochen.
Dann schwenkte er das Bein hin und her, sodass die Karten unter ihrer empörter Beschwerde in einem chaotischen Haufen zu Boden rutschten.
Interagieren zu können hieß noch lange nicht, es auch zu wollen.
Zum Musikhören kam er nicht.
Nach stundenlanger Busfahrt waren fast alle froh, an einem kurzen Spaziergang durch Nagano teilnehmen zu müssen, ehe sie die Zimmer der Jugendherberge beziehen durften. Ryuji fühlte sich ein weiteres Mal unangenehm überrumpelt, als Asumi mit einem lauten „Gruppe!“ eine Hand hob und mit der anderen seinen Ärmel umklammert hielt, als wollte sie ihn an der Flucht hindern. Wenigstens war er nicht der einzige Überraschte, auch Ruka warf der Freundin den schönsten Im-Ernst-Blick zu. Er wusste nicht, warum Asumi ihn bei sich haben wollte, andererseits hätte es auch jeder andere aus der Klasse getan. Sie mussten Gruppen bilden, damit niemand allein auf dem Weg verloren ging und so würde es auch für den Rest des Aufenthalts sein, sodass er nicht protestieren konnte. Hatte sie aber einen Scherz mit ihm vor, indem sie ihn irgendwo sich selbst überließ, würde sie schwer enttäuscht werden, denn er kannte sich in der Stadt gut aus. Im Extremfall konnte er im hiesigen Onmyoji-Schrein Unterschlupf finden, bis die Betreuer sein Verschwinden bemerkten. Vielleicht war eine Übernachtung dort sowieso von Vorteil – wenn sich seine Mitschüler in der Herberge so benahmen wie im Bus, wollte er lieber nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Möglicherweise gab es im Schrein sogar etwas für ihn zu tun.
Während der Lehrer begann, über die Stadtgeschichte zu rezitieren, flüsterte Konyo Asumi verlegen zu: „Hast du dir das gut überlegt? Ich meine, du hast Ryuji nicht mal gefragt! Vielleicht will er ja viel lieber mit anderen rumhängen?“ Die Hoffnung in seiner Stimme war unüberhörbar und Ryuji hielt ein abfälliges Schnauben zurück. Einige Stunden nebeneinander zu sitzen war halt doch etwas anderes, als sieben volle Tage füreinander verantwortlich zu sein. „Ach Quatsch, das passt schon“, sie winkte lässig ab, „Wenn er es anders gewollt hätte, hätte er schon protestiert, nicht wahr?“ Ihr auffordernder Blick wanderte über sein Gesicht, welches soviel verriet wie immer. Trotzdem fand sie im stoischen Ausdruck alles, was sie suchte, was sich in ihrem breiten Grinsen deutlich widerspiegelte.
Ryuji war es tatsächlich egal und quittierte es mit einem weiteren Schulterzucken. Er verstand sich mit all seinen Klassenkameraden, solange es sein musste, pflegte aber keine so festen Bindungen, dass er Vorlieben entwickelt hatte. Einer war so gut wie jeder andere.
Raidon und Beni zumindest machte es nichts aus, sie musterten ihn vielmehr neugierig von der Seite und als der Lehrer endlich zu Ende gesprochen hatte und sie losmarschierten, fragte der Junge sogleich: „Weißt du, manchmal wache ich auf und denke immer noch, Kuran wäre nur ein böser Traum gewesen. Aber das ist echt passiert, nicht wahr? Es gibt echt Dämonen und es gibt echt Onmyojis!“ Ryuji dachte nicht einmal daran, sich das genervte Augenrollen zu verkneifen: „Willst du wirklich olle Kamellen aufwärmen? Aber von mir aus. Nein, du hast nicht geträumt. Ja, gibt es beides.“
„Hey, nimm’s mir nicht übel, aber manchmal muss man es hören, um es ganz zu schnallen, und du bist schwer zu erreichen! Und in letzter Zeit ist so viel Schule ausgefallen, dass ich schon dachte, ich würde keinen von euch dieses Jahr noch wiedersehen.“
„Ist viel passiert seitdem.“
„Kein Scheiß. Die halbe Stadt liegt in Trümmern. Was für ’n Erdbeben. Mir läuft’s immer noch kalt den Buckel runter beim bloßen Gedanken dran!“
Ryuji brummte nur, nachdenklich Blick gen Boden gerichtet. Seimeis Angriff auf Kyoto war verheerend gewesen und obwohl sie ihn aufgehalten hatten und mit dem Leben davongekommen waren, fiel es ihm schwer, von einem Sieg zu sprechen. Es grenzte an ein Wunder, dass der Alltag so schnell wieder seinen geregelten Gang gegangen war.
„Ich hab drüber nachgedacht. Glaubt ihr wirklich, dass das ein Erdbeben gewesen ist?“
Alle sahen Asumi an, die auf der Unterlippe kaute, ehe sie fortfuhr: „Es kommt mir komisch vor. Manche zerstörten Stellen ... Ich meine ... Findet ihr nicht, dass sie von oben wie Fußabdrücke aussehen? Muss ein ziemlich merkwürdiges Erdbeben gewesen sein.“ Die anderen quiekten entsetzt und rieben sich die Oberarme, sie sah nur betont Ryuji an. Deshalb also hatte sie ihn mitgeschleppt. Er schnaubte verächtlich.
„Mach dich nicht lächerlich. Klar war’s eins.“
Es war eine Sache zu wissen, dass Dämonen existierten. Eine ganz andere war es, zu wissen, welche.
Der Spaziergang umfasste lediglich eine kleine Runde, um die Glieder zu strecken und einen ersten Eindruck zu gewinnen, und er war schnell vorüber.
Mit seiner Tasche über der Schulter hatte sich Ryuji im erstbesten Zimmer einquartieren wollen, , doch Raidon hatte ihm so enthusiastisch vom Ende des Korridors zugewunken, dass er unverblümt ignorant hätte sein müssen, die Einladung zu übersehen. Während Konyo vorsichtig-höflich mit ihm umsprang, plapperte Raidon pausenlos über alle möglichen Trivialitäten und er hatte schnell begriffen, wie er und Asumi zueinander hatten finden können. Gleiche suizidale Tendenzen.
Es war noch nicht allzu später Nachmittag, und so musste er sich von dem Vorhaben lösen, sich aufs Bett zu werfen und in eines der Bücher zu vertiefen, um den unwirklichen Alltag eines Oberschülers auszublenden. Stattdessen stand Skilaufen auf dem Programm, sportliche Betätigung für aktive Jugendliche.
Er hatte keine Ahnung, was er an sich hatte, aber seine Gruppe hielt es für nötig, ihn den gesamten Weg die Piste hinauf und fast den ganzen Vortrag des angeheuerten Trainers hindurch aufzumuntern, ihm die Angst vor der Abfahrt zu nehmen und die Grundvoraussetzungen des Sports zu erklären. Wofür eigentlich der angeheuerte Trainer zuständig gewesen wäre.
Stöhnend zog er sich die Skibrille über die Augen, justierte die Handschuhe nach und stieß sich, kaum dass er an die Reihe kam, so schnell wie möglich ab, um von den übertriebenen Anfeuerungsrufen wegzukommen. Er hörte noch ein „Ja, genau so“ von dem dafür zuständigen angeheuerten Trainer, was die Dummköpfe für den Rest der Lektion hoffentlich zum Schwiegen bringen würde, ehe der Fahrtwind alle anderen Geräusche übertönte.
Tiefe Wälder, verschneite Berge – bevölkerungsarme Gegenden wie diese waren wahre Brutstätten für Dämonen unterschiedlichster Art, natürlich also beherrschte er die für das Terrain schnellste und komfortabelste Fortbewegungsmethode. Mehr noch als Skier zog er das Snowboard vor, da es ihm erlaubte, die Hände fürs Skandieren freizuhaben. Schon in jungen Jahren hatte er aufgehört, mitzuzählen, wie oft Onmyojis an solche Problemherde gerufen wurden. Dass seine Mitschüler jetzt, da sie von seiner Berufung wussten, nicht selbst auf die Idee gekommen waren, bewies einmal mehr Gedankenlosigkeit und Naivität.
Um mehr Ruhe zu haben, fuhr er dicht am Rand des ausgewiesenen Gebiets, nahe eines sich zunehmend verdichtenden Waldes. Hin und wieder erblickte er Baumgeister oder geringere Dämonen, die den hinabrasenden Menschen mehr mit freundlichem Interesse als maliziösen Absichten beim Spaßhaben zuschauten.
Peinlich genau darauf achtend, keinen Sichtkontakt herzustellen, wollte er doch nicht noch mehr Plagegeister am Hals haben, bereitete er sich eben vor auf den letzten Teil der Etappe, als eine dunkle Silhouette durch sein Blickfeld rauschte, definitiv zu groß für eines der harmlosen Beobachter.
Wie ein Blitz fuhr es ihm durchs Gebein, automatisch weiteten sich seine Augen und sein Blick versuchte, trotz der Geschwindigkeit den Fremdkörper zu verfolgen. Mit allem was er hatte kämpfte er gegen den Impuls an, mit einer Vollbremsung zum Stehen zu kommen und genauer hinzusehen – hinter ihm ertönte vergnügtes Geschrei und es war viel zu gefährlich, unter diesen Umständen abrupt anzuhalten.
Jeder andere hätte das Gesehene als Schattenspiel abgetan, nicht weiter darüber nachgedacht. Doch Ryuji war sich seiner sicher und er wusste außerdem von der Existenz überirdischer Wesen. Und so zweifelte er nicht daran, etwas gesehen zu haben, das sich mit Absicht dem Angesicht der Menschen entzogen hatte – nur was genau, das war ihm in den Sekundenbruchteilen der Begegnung entgangen.
Den Rest der Strecke brachte er mit einem mulmigen Bauchgefühl hinter sich und kaum dass er endlich anhalten konnte, blickte er hastig zurück in der vagen Hoffnung, doch noch etwas zu erkennen, aber die Bäume standen viel zu dicht beieinander und die ankommenden Skiläufer versperrten ihm noch zusätzlich die Sicht.
Während er noch konzentriert den Waldrand hinaufstarrte, stob neben ihm der Schnee auf und Asumi zog sich lachend die Schneebrille von der Nase: „Wow, Ryuji, das war ja klasse! Hätt nie geglaubt, dass du sowas drauf hast!“
Offensichtlich nicht. Unwillig löste er die Aufmerksamkeit von der Ferne und richtete sie auf das Mädchen, das ihm anerkennend auf die Schulter klopfte. „Tut mir leid, dass wir dich vorhin so zugetextet haben, war offenbar total überflüssig“, ihr Tonfall klang tatsächlich reumütig, das breite Schmunzeln aber strafte ihn Lüge, „Wir wussten halt nicht, dass dich sowas interessiert!“ Interesse? Ryuji runzelte die Stirn. Interessieren tat er sich für intellektuelle Herausforderungen, für komplexe Bannkreise und reibungslose Vernichtung von Dämonen. Skisport stand auf der Liste nicht sonderlich weit oben.
Ihr das zu sagen war ihm zu umständlich, und so brummte er nur, wandte den Kopf wieder dem Wald zu und blendete ihr fröhliches Geplapper aus, während um sie herum mehr und mehr Klassenkameraden zu ihnen stießen.
Langsam beruhigte sich sein Magen wieder. Egal was es gewesen sein mochte, das Wesen hatte sich zurückgezogen. Es missfiel ihm immens, einen Dämon ungehindert ziehen zu lassen, doch solange dieser keinen Ärger suchte, wollte auch er ihn in Frieden lassen. Die Umstände erlaubten nicht, sich auf eine großangelegte Jagd zu begeben. Und so ließ Ryuji es gut sein und sich selbst von einer überenthusiastischen Asumi mitziehen, wohin auch immer es die Klasse führte.
Am Abend fühlte er sich erschöpft. Nicht wegen der Bewegung, der frischen Luft oder der neuen Eindrücke, sondern weil sie ihn einfach nicht in Frieden ließen. Asumi und Raidon hatten von vornherein kaum Berührungsängste gezeigt, Beni, Ruka und Konyo verloren zusehends Zurückhaltung, je mehr sie begriffen, dass er sich nicht zu wehren gedachte. Er wusste, dass es nur noch lauter werden würde, gab er die richtigen Antworten auf ihre falschen Fragen, und so sparte er sich die Mühe.
„Ich hoffe, ihr wisst alle, was jetzt kommt!“
Die Mädchen hatten sich bereits vor einer ganzen Weile an der Aufsicht vorbei ins Jungenzimmer geschlichen, während sich die drei anderen Bewohner auf den Weg zu den eigenen Cliquen gemacht hatten. Nun hockten sie kreisförmig im Schneidersitz am Boden und nickten sich verschwörerisch zu.
„Gruselgeschichten!“
Lachend stülpten sie sich eine der Bettdecken über die Köpfe, um jeden Lichteinfall zu unterbinden. Die Deckenlampe war ebenfalls gelöscht. „Also gut“, flüsterte Asumi und knipste die bereitgelegte Taschenlampe an, „jetzt, wo alle bereit sind, können wir-“ Ein Räuspern unterbrach sie und sie sah Konyo stirnrunzelnd an, dann Ruka, die die Achseln zuckte und auf den freien Platz neben sich wies.
Asumi registrierte den Missstand und zog eine unzufriedene Schnute, ehe sie sich aus dem Kokon schälte und Richtung Ryujis Bett linste. Dort war eine der kleinen Nachtlämpchen angeknipst worden, er lag ausgestreckt auf der Matratze, Nase in einem Buch versenkt, wie er es seit dem Morgen angestrebt hatte.
Asumi krabbelte vorsichtig aufs Bett, griff noch vorsichtiger nach der oberen Kante seiner Lektüre und drückte sie herunter.
Dahinter kam ein sehr verärgert dreinschauender Blick zum Vorschein.
Ryuji stand kurz vor dem Aus-der-Haut-fahren. „Was willst du?“, fragte er, jedes Wort betonend, aber mit noch immer immenser Selbstbeherrschung. Was war los mit diesen zu groß geratenen Säuglingen?! Verfügten sie wirklich über keinerlei Überlebensinstinkte?!
„Gruselgeschichten“, kam es schmollend als Antwort, als ob es erklärte, warum sie ihm in diesem Augenblick nahezu ins Gesicht kroch.
„... Und?“
„Na, Gruselgeschichten! Komm schon, Ryuji, sag mir nicht, du kennst das nicht! Wir haben uns gedacht, du als Onmyoji kennst bestimmt viele Superspannende!“
Er kannte, und er ahnte, dass sie sich im Hinterkopf all die paranormalen Fälle ausmalten, die in den einschlägigen Fernsehserien so hanebüchen verharmlost dargestellt wurden. Er hasste es, wenn Außenstehende aus Ignoranz Sensationen in den oftmals tragischen Schicksalen der von teuflischen Ungeheuern heimgesuchten Betroffenen witterten. Doch er wusste ebenso gut, dass es das wohl Natürlichste auf der Welt war, aus der Not anderer Vergnügen zu ziehen.
Anstatt zu protestieren, keine Geschichten zu erleben, sondern Leiber und Seelen zu retten, seufzte er nur und klappte das Buch zu, scheuchte sie vom Bett und ließ sich selbst zu Boden sinken. Die Taschenlampe wurde ihm feierlich überreicht und nach einigen stummen Sekunden, in denen sich genug Spannung für seinen Geschmack akkumuliert hatte, strahlte er das eigene Gesicht von unten an.
„Es waren mal zwei Freundinnen. Unzertrennlich, wirklich. Nachbarn. Ständig war die eine bei der anderen oder umgekehrt. Eines Tages traf es sich zu, dass eines der Mädchen sturmfreie Bude hatte und natürlich nutzen sie die Gunst der Stunde, um den gesamten Tag miteinander zu verplanen. Erst Schule, dann Café, Bummeln durchs Einkaufszentrum, am Abend Kino. Dass sie das leere Haus für einen langen Abend unsicher machten, war Ehrensache. Sie kamen heim, kochten gemeinsam, aßen und hatten Spaß. Dann kam der Zeitpunkt zum Abschied und eines der Mädchen machte sich auf den Weg nach Hause. Doch kurz vorm Zubettgehen bemerkte es zu seiner Not, dass es sein Smartphone im Zimmer der Freundin vergessen hatte. Sie musste also wohl oder übel noch mal hinüber. Drüben war ihre Freundin bereits zu Bett gegangen und weil es sie nicht wecken wollte, benutzte es den Ersatzschlüssel, dessen Versteck es natürlich kannte, und machte auch kein Licht. Wozu auch? Es kannte das Haus wie seine Westentasche! So fand das Mädchen also den Weg ins Zimmer seiner Freundin, tastete sich durchs Dunkel, bis es das Smartphone gefunden hatte und verließ es wieder so still wie es gekommen war, schloss die Haustür hinter sich ab und ging heim. Am nächsten Morgen wartete es wie immer auf der Straße, um gemeinsam zur Schule zu gehen. Doch die Freundin kam und kam nicht. Also betrat sie irgendwann erneut das Haus und weil alles still war, dachte es, sie hätte verschlafen. Also ging es hinauf sie zu wecken, öffnete die Zimmertür – und fand sie. Tot, zerstückelt, Eingeweide und Blut überall verstreut, der Kopf allein auf dem Bett, mit weit aufgerissenen Augen direkt auf den Eingang starrend. Aber das, was das Mädchen den Verstand verlieren ließ, war nicht das grauenhafte Massaker. Es war das, was in blutroten Lettern an der Wand über dem Bett geschrieben stand. ‚Bist du nicht froh, dass du das Licht nicht angemacht hast?‘“
Beni kreischte entsetzt und versuchte sich die Decke vors Gesicht zu ziehen. Die anderen hielten sich sichtlich zurück, ihnen entfuhr nur ein gepresstes Quieken, doch vergnügter Schauer lief ihnen allen über den Rücken.
Ryuji aber war noch nicht fertig. Und mit jedem Wort verlor sich der makabre Humor in ihren Zügen.
„Einmal fixiert, sind Yokai schwer loszuwerden. Die Eltern haben uns benachrichtig, weil das Mädchen im Laufe der folgenden Woche starke Paranoia entwickelte. Und wir fanden schnell heraus, dass die nicht unbegründet war – er befand sich bereits unter seinem Bett. Wir machten Fehler, ließen ihn entkommen. Noch im selben Monat fiel ihm das Mädchen zum Opfer und wir haben ihn nie wieder gefunden. Er ist also immer noch da draußen und wartet auf die nächste Gelegenheit.“
Mit finsterem Lächeln knipste er die Taschenlampe aus, was ihnen einen wesentlich weniger vergnügten Schrei entlockte.
„Ich hoffe, es hat euch so viel Spaß gemacht wie mir.“
Mit diesen nüchternen Worten stand er auf, zog sich die Decke vom Kopf ...
Und sah direkt in ein stechend rotglühendes Augenpaar, welches ihn von jenseits der Fensterscheibe anstarrte.
Nun schrie es hinter ihm wirklich auf. Die anderen hatten sich spontan geeinigt, die Erzählrunde abzubrechen, war eine Gruselgeschichte von einem Spezialisten doch mehr als genug für den Abend. Dadurch hatten auch sie den Besucher bemerkt. Die Augen verschwanden blitzschnell, noch während Ryuji zum Fenster stürzte, es unter lautem Protest der anderen aufriss und in die finstere Nacht hinausblickte.
Einige Meter entfernt huschte eine Gestalt – die Gestalt – durch den Schnee in den Schutz des Waldes.
„Scheiße“, fluchte Ryuji und rannte zum Bett, riss seine Tasche darunter hervor, verschwand im Bad, um kaum eine Minute später in voller Wintermontur zurück ins Zimmer und schnurstracks zum Fenster zu stürmen. Zum Glück verfügte die Herberge nur über das Erdgeschoss, sodass ihm ein Lauf durch den Komplex auf der Suche nach einem Hinterausgang erspart blieb. Stattdessen schwang er sich ohne zu überlegen über die Fensterbank in den Hinterhof hinaus.
Jemand hielt ihn am Ärmel fest.
„Verdammt, wo willst du denn hin?!“, rief Asumi schockiert und auch die anderen waren entsetzt über den Versuch, dem unheimlichen Gaffer zu folgen, „Bist du irre?! Es ist dunkel und saukalt und heilige Schande was war das Ryuji?!“ Ihm fehlte die Zeit für Erklärungen, und so riss er sich los und rief über die Schulter zurück: „Bleibt hier! Wenn mir auch nur einer von euch folgt, ersäufe ich ihn in seiner eigenen Spucke!“
„Was, wenn ein Lehrer kommt?!“
„Sagt ihm, es hätte sich ein Job ergeben!“
Seine Lehrer waren über die Bestimmung des Keikain-Clans aufgeklärt. Obwohl viele von ihnen in verklärter Modernität über Exorzismus nur milde lächelten, konnten sie nichts gegen spontanes Schwänzen unternehmen, war der Rektor der Schule doch dafür ein umso gläubigerer Anhänger. Außerdem waren die Keikain-Kinder fast durchgehend gute Schüler, die, wenn sie denn dem Unterricht beiwohnten, aufgeweckt und lerneifrig genug waren, um geschätzt zu werden. Er glaubte nicht, dass ausgerechnet sein Klassenlehrer ihm einen Strich durch die Rechnung machen würde. Da wohl eher die Tatsache, dass er nur eine Röhre gereinigtes Wasser mitgenommen hatte. Zwar gab es um ihn herum mehr als genug, aber Gengen war am stärksten mit der Spezialsorte. Zudem wusste er nicht, welche Macht ihn am Ende der Jagd erwartete.
Das Wesen hinterließ keine Spuren, was den Verdacht bekräftigte, es mit nichtmenschlichem Ursprung zu tun zu haben. Andererseits konnte Ryuji den breiten Rücken trotz des Vorsprungs noch immer gerade so erkennen, was bei einem tatsächlichen Fluchtversuch unwahrscheinlich gewesen wäre – nicht bei einem derartigen Fehlstart wie seinem. Dieses Ding lockte, führte ihn von der sicheren Unterkunft weg, hinein in die eisige Nacht, die Menschen zum Nachteil gereichte. Die Frage war nur, ob es wusste, was er war oder ob es ihn nur für ein leichtes Opfer, ein etwas zu neugieriges Kind hielt.
Wenigstens war es sternenklar und es stand zwar kein Vollmond, aber zumindest eine helle Mondsichel am Himmel, die den Schnee auf allem erstrahlen ließ und so als mäßige Lichtquelle diente. Zwar hatte er eine Taschenlampe mitgenommen, doch deren Schein hätte ihn unter diesen Umständen nur beim Laufen behindert und seine Sicht eingeengt.
Einmal mehr wandte sich der starre Blick zu ihm um, um dann nicht deutlich schneller, aber nichtsdestotrotz unerreichbar zwischen zwei Bäumen zu verschwinden.
Frustriert knirschte er mit den Zähnen. Er konnte Gengen loslassen, doch wollte er nicht zu früh sein einziges Ass im Ärmel ausspielen, nicht solange das Wesen noch gefunden werden wollte. Also brach er durch ein Gebüsch, das längs zu weit ausgedehnt war, um es schnell genug zu umgehen.
Auf der anderen Seite erwartete ihn nächtliche Stasis. Kein Lüftchen wehte, nicht mal ein nachtaktives Tier verzog sich bei seinem energischen Auftritt eilig ins Unterholz. Hatte das Wesen doch noch Gefahr von ihm gewittert?
Mit einem tiefen Atemzug zwang er sich zur Ruhe und ließ den Blick aufmerksam über die dunkelgraue Ebene schweifen, verweilte hier und da kurz bei einem Stamm in der Hoffnung, doch noch Bewegung wahrzunehmen, doch es war vergebens.
Er war allein.
„Scheiße“, entfuhr es ihm nochmal und er wischte sich Schweiß von der Stirn. Dann drehte er sich um.
Missmutig, fast vorwurfsvoll betrachtete er die Hecke, die noch immer dalag, lang und buschig und keck und er war froh, dass er dicke Kleidung trug, sonst hätte ihm das Gestrüpp tiefe Schrammen zugefügt. Seufzend machte er sich bereit, sich ein weiteres Mal hindurchzuschlagen. Die Verfolgung unter diesen Umständen fortzusetzen, war sinnlos.
Eine Hand packte ihn am Arm.
Er fuhr herum, versuchte gleichzeitig, sich loszureißen, doch die Finger waren erstaunlich unnachgiebig.
Und dann sah er sich Angesicht zu Angesicht mit einer alten Frau. Sie war groß, trotz leicht gebückter Haltung größer als er, doch war das auch nicht außerordentlich schwierig. Sie war aber nicht hager, sondern verfügte über eine ziemlich breite Schulterpartie. Lange schwarze Haare fielen wohlgekämmt über den Rücken und all in allem war sie nicht die hässlichste Alte, der er je begegnet war, und mit gutem Willen hätte man sie für einen Menschen halten können. Wenn die glutroten Augen und die leichte Yukata nicht gewesen wären, die eindeutig nicht für Winternächte vorgesehen war.
Trotzdem nahm er sich sehr zusammen, nicht automatisch nach Gengen zu greifen, atmete kaum merklich durch und fragte: „Haben Sie sich verlaufen, Ma’am?“ Ein Kampf war unvorteilhaft für ihn und manchmal konnten Dämonen mit Dienstleistungen beschwichtigt werden. Er war bereit dazu, würde sie ihn zwingen. Doch es war zumindest einen Versuch wert, friedlich herauszufinden, was sie von ihm wollte.
Die Alte schüttelte den Kopf.
„Kann ich Ihnen sonstwie helfen? Warum haben Sie mich hergeführt?“
Jetzt machte sie den Mund auf – und schrie.
So dachte er zumindest im ersten Augenblick, doch als sie den Mund direkt wieder zuklappte und einen wilden Blick zur Seite warf, erkannte er, dass nicht sie es gewesen war. Die Stimme kam von weiter weg und klang sehr jugendlich.
„Scheiße!“
Ehe er noch anders reagieren konnte, löste sich der Griff auf seinen Arm und als er wieder nach vorn schaute, war die Frau verschwunden. Es war eine Falle gewesen, allerdings von anderer Art, als er erwartet hatte.
Sie hatte ihn weggeführt von den wirklich leichten Opfern.
Er verwünschte seine Unvorsichtigkeit und rannte los.
Asumi starrte Ryuji hinterher, als wollte sie sich vor Frust jede Sekunde die Haare ausreißen. So ein verrückter Hund, ohne Plan und Rückendeckung in einen fremden Wald zu laufen, noch dazu in fragwürdiger Gesellschaft! Als sie an die funkelnden Augen dachte, die gerade noch so starr ins Zimmer gegafft hatten, erbebte sie. War das wirklich in Ordnung? War Ryuji tatsächlich so gut, alleine einen unbekannten Gegner zu stellen? Sie hätte gerne „Ja“ gesagt, doch die Wahrheit war, so gut kannte sie ihn nicht.
„Mist“, fauchte sie und stieß sich von der Fensterbank ab, um mehr Schwung für einen Sprint zur Tür zu gewinnen. Ruka schob sich ihr hastig in den Weg: „Woah, hey, warte mal! Wo willst du denn hin?!“
„Wohin schon?! Hinterher, ihm helfen!“
„Hast du ‘nen Knall?!“, mischte Konyo sich ein, „Dem helfen?! Weißt du nicht mehr, wie er diese Monsterhorde in Kuran aufgemischt hat?!“ „Aber da hatte er seine Schwester dabei“, fuhr Asumi ihn aufgebracht an, „jetzt ist er ganz alleine!“
„Oh ja, alleine mit seiner ganzen überlegenen Erfahrung als Monsterjäger!“
„Er hat recht, Asumi! Ryuji ist ein Onmyoji, wer weiß wie lange schon“, argumentierte nun auch Beni, „und er hat extra gesagt, wir sollen warten. Ich bin sicher, er weiß was er tut.“ Asumi schob die Unterlippe vor, mit Fug und Recht schmollendes Balg, dem der Lutscher verweigert wurde. „Andererseits“, warf Raidon stirnrunzelnd dazwischen, „hat er vorhin auch zugegeben, dass ihnen hin und wieder welche entwischen ... Was, wenn er sich verletzt oder im Schnee verirrt?“
Sie brüteten eine Weile über dieser Erkenntnis.
„Verzeiht die Störung.“
Ihr simultaner Aufschrei hätte die halbe Herberge aufgeweckt, wenn sie es nicht nach nur einer Sekunde unterbunden hätten, indem sie sich gegenseitig die Münder zuhielten.
Am noch immer offenen Fenster stand eine junge Frau, groß, schlank, mit langen weißen Haaren und sanftem Schmunzeln in den ebenmäßigen Zügen. Ihre ebenfalls weiße, traditionelle Winterkleidung verlieh ihr ein majestätisches Aussehen, was durch eine elegante, zierliche Haltung unterstrichen wurde.
„Entschuldigt“, wiederholte sie und legte den Kopf schief, „Ich wollte euch nicht erschrecken. Nur eine Frage – der kleine, schwarzhaarige Junge in Grün, ist das ein Freund von euch?“ Asumi horchte sofort auf, drei von vier Punkten trafen immerhin auf Ryuji zu und betrachtete man es von maskulinem Standpunkt, war er wohl tatsächlich recht klein geraten. „Wer will das wissen?“, fragte sie jedoch vorsichtig, schließlich war er gerade erst weg, einem Dämon hinterher. „Ich lebe in der Nähe, weiter im Wald hinein“, gab die Fremde willig zurück und wies vage ein Stück hinter sich, „und er hat sich zu mir verlaufen, kannte den Weg zurück nicht. Deswegen bin ich hergekommen, um Hilfe zu holen. Ich kann euch zu ihm bringen, wenn ihr möchtet.“
„Wir möchten.“
„Asumi!“
Beni und Ruka starrten sie schockiert an. Raidon und Konyo jedoch eilten im selben Moment ans Fenster und warfen sich vor der schönen Fremden in Pose.
„Ganz genau! Wir sind exakt die Richtigen für den Job, Ihnen in die Hölle und zurück zu folgen!“
„Und wir sind Ihnen ewig dankbar, Ma’am, wir haben uns schon solche Sorgen um unseren lieben Freund gemacht! Lassen Sie uns ihn Ihnen abnehmen! Wir sind sehr erleichtert, dass sie ihn gefunden haben, er verliert ohne uns immer so leicht den Kopf, aber Sie hätten nicht die Gefahren einer nächtlichen Wanderung auf sich nehmen sollen! Erlauben Sie uns, Sie nach Hause zurückzubegleiten!“
„Richtig, man weiß nie, was für Unholde sich auf dem Weg tummeln, die einer so reizenden Dame ans Leder wollen!“
Ruka verzog angewidert das Gesicht: „Oh Mann, ihr zwei seid sowas von peinlich!“ Doch ehe die Jungs protestieren konnten, bestimmte Asumi ungeduldig: „Ich komme mit. Warten Sie für zehn Minuten, ich treffe Sie draußen.“ Damit schwang sie ohne Antwort abzuwarten herum und öffnete leise die Tür. „Oh, Himmel noch eins“, Ruka lief ihr voller Frust hinterher, dicht gefolgt von Beni, die den anderen noch stumme Zustimmung zunickte, „mit der macht man was mit!“
Sie schafften es unbemerkt in ihr Zimmer, ihre Mitschülerinnen waren glücklicherweise auch noch unterwegs, und sie zogen sich hastig um. Asumi linste, während sie sich dicke Socken und Stiefel überstreifte, verstohlen zu ihnen hinüber. „Ihr müsst nicht mitkommen“, murmelte sie, wusste sie doch, dass ihr Vorhaben nicht ganz ungefährlich war und empfand deswegen Schuldgefühle. Ihnen das zu sagen war allerdings sinnlos, denn ...
„Du musst durchgeknallt sein, wenn du glaubst, wir ließen dich alleine da raus wandern“, fauchte Ruka sie an, Ärger aus Fürsorge gespeist, „ein verschollener Irrer ist ja wohl mehr als genug!“ Ungehalten stieß sie mit der Faust durch den Ärmel ihrer Jacke wie ein Boxer durch die Zähne seines Gegners. Sie mochte Ryuji nicht, das war kein Geheimnis, aber Unglück wünschte sie ihm dennoch nicht und wenn sie ihm helfen konnte, tat sie es auch – vor allem, wenn ihre Freunde mit hineingezogen wurden. Oder sich freiwillig mit offenen Augen für ihn ins Verderben stürzten, so wie es Asumi gerade tat. Was sie an diesem muffigen Idioten fand, konnte niemand verstehen.
Oder nein, als Idioten konnte man Ryuji beileibe nicht bezeichnen. Aber das Muffige reichte ja schon vollkommen.
Beni beobachtete ihre Freundinnen schweigend und zog sich eine Wollmütze über den Kopf. Sie fand die Angelegenheit so spannend wie Asumi, nicht dass sie das zugegeben hätte, schlotterten ihr doch die Knie vor Angst. Die anderen bekamen so etwas nie mit, sie war gut im Gelassenheit vortäuschen. Doch mehr als sich der Sorge um Ryuji hinzugeben, fragte sie sich, was sie tun sollten, fand jenes Wesen vom Fenster sie, bevor sie ihn gefunden hatten. Sie bezweifelte keine Sekunde, dass er wesentlich sicherer war, wo auch immer er sich aufhielt, als sie es draußen sein würden. Was nicht bedeutete, dass sie gedachte, feige den Schwanz einzuziehen.
Trotzdem konnte sie ein amüsiertes Prusten nicht unterdrücken, als Asumi damit begann, ihre Reisetasche so unter die Bettdecke zu stopfen, dass es aussah, als läge jemand darunter: „Glaubst du wirklich, da werden sie drauf reinfallen?“ Asumi wurde rot, doch Ruka warf seufzend ein: „Nein, es ist einen Versuch wert. Wenn wir Glück haben, schindet es etwas Zeit und wir haben eine Chance, die erste Nacht ohne morgendliche Standpauke zu überstehen.“
Nachdem sie die Vorkehrungen abgeschlossen hatten, kletterten sie aus dem Fenster, schlichen um eine Ecke und sahen schon jenseits des kleinen Hinterhofs die Fremde warten. Die Jungs standen gewappnet neben ihr, flüsterten aufgeregt auf sie ein. Sie lächelte nur. Ruka rollte mit den Augen: „Männer sind so oberflächlich! Zum Kotzen!“
Als sie zu den Wartenden stießen, verlor Asumi keine Zeit und wies in den Wald: „Gehen wir.“
Die Frau führte sie zielsicher, lief nicht zu schnell zu weit vor, wandte sich immer wieder um, um sich zu vergewissern, dass ihr die Schar Jugendlicher noch folgte. Zuerst war es fast romantisch. Der Mond strahlte auf den Schnee, der die Umgebung erhellte, die nächtliche Stille, die hübsche Frau, die sich so elegant und leichtfüßig bewegte, dass es einem Tanz anmutete. Asumi genoss solche Abenteuer, mit ein Grund, warum sie fasziniert von Ryuji war. Von Ryuji und seiner Welt. Viele stellten sich Dämonen grauenhaft und beängstigend vor, ohne je einen zu Gesicht bekommen zu haben, und natürlich machte die Existenz von Monstern auch ihr Angst – doch inzwischen beschäftigte sie der Gedanke, ob wirklich alles an ihnen schrecklich war. Schließlich sprach die Folklore durchaus auch von harmlosen Dämonen, Plagegeistern zwar, aber mehr an Vergnügen interessiert als am Leid der Menschen. Und Ryuji war trotz seines Jobs freundlich und hilfsbereit. Auf eine eigenbrötlerische, denunzierende Art.
Asumi schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu zerrütten. Nein, sie täuschte sich nicht, er hätte sie im Menschenfresser-Dorf leicht sich selbst überlassen können, stattdessen hatte er sie beschützt, obwohl sie seine Pläne umgeworfen hatten. Ohne Angst, künftig von ihnen geschnitten zu werden, hatte er ihnen unglaubliche Fähigkeiten demonstriert, es war ihm gleichgültig gewesen, ob sie ihn als Freak abstempelten oder nicht, und sie bewunderte ein solches Selbstbewusstsein.
Es begann zu schneien.
Sie hatte gar nicht bemerkt, wie sich die Wolken zusehends vor den Mond geschoben hatten, ihre Gedanken hatten sie abgelenkt und sie in einen automatischen Laufschritt verfallen lassen. Doch nun merkte sie, wie kalt es war und mit ihr alle anderen. Sie fröstelten und Ruka fragte missmutig, „Sind wir bald da? Sie haben gesagt, es wäre nicht weit!“ Raidon lachte: „Was redest du denn? Wir sind doch gerade erst losgegangen!“
„Blödsinn! Wir laufen mindestens schon ‘ne halbe Stunde!“
„Wie kommst du denn darauf? Zehn Minuten höchstens!“
„Also ich weiß nicht“, warf Beni zögerlich ein, „ich muss da Ruka beipflichten.“ Und Konyo schüttelte den Kopf: „Ich hab das Gefühl, als wären wir schon ‘ne Stunde unterwegs.“ Alle blickten zu Asumi, die sich verlegen an der eiskalten Wange kratzte: „Äh ... ‘tschuldigung, hab nicht drauf geachtet. Wie spät ist es denn?“ „Gute Idee“, Ruka wandte sich an Konyo, der stets zuverlässig eine Armbanduhr trug, „Hat jemand geschaut, wann wir losgegangen sind?“
Raidon räusperte sich nach einigen Sekunden verlegenen allgemeinen Schweigens: „Ich schätze, wir waren alle ein bisschen zu abgelenkt von ... von der Gesamtsituation.“ „Du willst damit sagen, du und Konyo wart ein bisschen zu abgelenkt“, giftete sie mit einem Wink zur Fremden zurück, was ihm ein pikiertes Stirnrunzeln abrang.
„Hey, offenbar hast du auch nicht dran gedacht, also was machst du mich an?!“
„Naja, ich weiß nicht, wäre schon schön, wenn man sich mal hier und da auch auf euch verlassen könnte und ihr nicht immer uns schwachen Mädchen alles aufbürden würdet!“
„Schwache Mädchen mein Arsch! Beni vielleicht, aber du und Asumi seid völlige Berserker, wer müsste euch unterstützen?!“
„Wow, Auszeit, ihr beiden“, rief Asumi und warf sich zwischen ihre Freunde, die aussahen, als wollte sie aufeinander losgehen, „Ruka, du bist nicht fair, ohne Rai und Kon hätten wir viele Herausforderungen nicht gemeistert und Rai, etwas mehr Rücksicht auf die Gefühle der Berserker würde dir sicher nicht schaden! Und jetzt kommt runter, wir haben viel dringlichere Probleme!“
Die hatten sie tatsächlich, denn der Wind war stärker geworden, auch der Schneefall nahm von Minute zu Minute weiter zu und ihnen wurde bewusst, dass sich ein Sturm anbahnte. Sie mussten raus aus dem Wetter, sonst konnte es ungemütlich werden. „Also, ist es noch weit bis zu Ihrem Zuhause?“, fragte sie deshalb ihre Führerin und diese schüttelte den Kopf.
„Nicht mehr weit. Es wird nicht mehr lange dauern.“
Asumi atmete tief durch und nickte den Freunden zu: „Ihr hört die Frau, lasst uns gehen, bevor es uns zu Eiszapfen friert.“ „Ich sag dir, dein Ryuji ist besser dankbar für unseren Einsatz, sonst kann er sich auf meine Meinung gefasst machen“, knurrte Ruka und marschierte energisch voran. „Ber~ser~ker“, formte Raidon in ihrem Rücken mit dem Mund und Beni und Konyo schnauften belustigt.
Ihr Amüsement hielt nicht lange an, je weiter sie wanderten, ohne das Ziel auch nur in der Ferne entdecken zu können. Vielmehr wurde diese Ferne zunehmend vom Schnee verdeckt und selbst risikolustigen Abenteurern wie ihnen wurde es mulmig. Denn ihnen dämmerte langsam, dass sie sich möglicherweise in Schwierigkeiten bugsiert hatten, indem sie einer Wildfremden ins Ungewisse einer kalten Nacht gefolgt waren. Während sie sich selbst mehr und mehr anstrengen mussten, auf dem rutschigen Boden, im tiefer werdenden Schnee Fuß zu fassen, glitt die Frau mit fließender Leichtigkeit voran. Und obwohl sie immer wieder versicherte, dass es nicht mehr weit war, liefen und liefen sie ohne anzukommen.
Asumi schauderte es nicht mehr nur wegen der Kälte. Sie erinnerte sich daran, dass der Wetterdienst an diesem Tag nicht einmal Schneefall vorhergesagt hatte, geschweige denn in dem Ausmaß, in dem es ihnen ins Gesicht schlug. Außerdem, jetzt, wo sie darüber nachdachte, erschien ihr die ganze Situation verdächtig fragwürdig.
Ryuji war in die entgegengesetzte Richtung gelaufen, die sie von Anfang an eingeschlagen hatten. Wie war er so schnell von der einen auf die andere Seite des Waldes gelangt? Und warum hatte er nicht angerufen? Sie wusste genau, dass er seit Kuran ihre Nummer kannte, sie hatte sie ihm eigenhändig heimlich ins Smartphone geschummelt! Warum hatte ihre ominöse Helferin ihn nicht zur Herberge zurückgeführt, anstatt herzukommen und sie mitzunehmen? Und außerdem ... Ryuji war noch nicht lange weggewesen, als die Frau an ihrem Fenster erschienen war. Ihre Schilderungen hatten sich zeitlich gar nicht abspielen können!
Asumi schluckte. Sie hatten ein Problem. Sie hatten ein großes Problem.
In diesem Moment sah sich die Fremde zu ihr um. Etwas in ihrem Ausdruck musste sie verraten haben, denn das gefällige Lächeln erlosch und sie murmelte so, dass nur Asumi sie verstehen konnte: „Oh, du hast mich durchschaut?“ Vor Schrecken paralysiert, fühlten sich ihre Glieder an wie eingefroren und sie war sich nicht sicher, ob das Wesen vor ihr daran schuld war oder nur die eigene aufsteigende Panik.
„Keine Verbindung“, erklärte Raidon hinter ihr und sie hörte Ruka fluchen. „Mist! Wie sollen wir je zurückfinden?“, fragte Konyo desillusioniert, woraufhin die Fremde sichtlich aufhorchte. „Wieso bleibt ihr nicht hier?“, das Lächeln war zurück und Asumi fühlte sich seltsam übergangen, als sie an ihr vorbeitrat auf die Freunde zu und einladend die Arme ausbreitete, „Ich habe Platz. Ich kann mich um euch kümmern.“ Ruka verschränkte die Arme vor der Brust, Gesicht zu einer ungläubigen Grimasse verzogen: „Wie bitte?! Wir müssen vor der nächsten Kontrollrunde zurück sein! Ewig werden sich die Lehrer nicht täuschen lassen!“ Auch Konyos flammende Leidenschaft war durch den Schnee reichlich abgekühlt: „Ja, wenn man uns suchen muss, kriegen wir die Schelte unseres Lebens! Tut uns leid, Ma’am, es war wirklich spannend mit Ihnen, aber wir holen nur unseren Freund und dann müssen wir uns auch schon wieder verabschieden.“ Raidon protestierte kurz, wurde aber von drei Fäusten geradewegs in den Magen überstimmt und Asumi spürte Erleichterung in sich aufsteigen. Offenbar hatte die Fremde keine Macht über ihre Freunde, was eine gute Voraussetzung zur Flucht bedeutete. Jetzt musste sie sich nur daran erinnern, wie ihre Gliedmaßen bedient wurden und sie konnte sie warnen.
„Nein.“
Die tonlose Stimme jagte allen einen Schauer über den Rücken.
„Bleibt doch.“
Die Fremde krümmte sich, fuhr sich mit den Fingern, die auf einmal viel länger und knochiger wirkten, ins Haar und raufte es sich.
„Bitte bleibt da! ... Bleibt bei mir!“
Beni entfuhr ein schriller Schrei, als sich die Fremde so weit überbeugte, dass der Hinterkopf sichtbar wurde, er sich spaltete und ein breites, zähnefletschendes Maul freilegte, dessen gespaltene Zunge sich ihnen hungrig entgegenstreckte.
„IHR MÜSST HIERBLEIBEN!“
Und damit stürmte der Dämon voran und verfehlte Konyo nur, weil Raidon ihn in einem Akt der Geistesgegenwart packte und mit sich zur Seite warf.
„HEILIGE SCHEISSE, LAUFT!“
Ihre Begegnung mit Ryuji hatte einen Vorteil – sie wussten inzwischen, dass Monster existierten, und so hielten sich ihre Gehirne nicht damit auf, die Realität der Situation anzuzweifeln. Unter ihnen befand sich ein Wesen mit zwei Mündern, eins davon breit und zähnefletschend und so eindeutig unmenschlich, dass Raidons Stimme ihnen nur noch den letzten Impuls geben musste, um ihre Beine in Bewegung zu setzen. Auch Asumis Starre verflog, sie packte Beni bei der Hand, die ihr etwas zu sehr mit Schreien beschäftigt war, und zwang sie in einen halsbrecherischen Spurt.
Keiner wusste, wohin sie laufen mussten, wurde ihnen doch erst jetzt klar, dass sie von der Fremden mit Absicht in die Irre geführt worden waren, aber solange es weg von ihr war, hielten sie es für genügend sinnvoll.
„Was immer auch passiert, bleibt zusammen!“
Rukas Einwand klang vernünftig, war aber schwer zu befolgen bei Schnee, Wind, Panik und einem Verfolger, der ihnen ans Leben wollte. Denn was sonst konnte das Monster mit diesem dämonischen, weit aufgesperrten Maul vorhaben, aus dem pausenlos Krächzen, Jammern und Heulen ertönte, unterbrochen durch vereinzelte Sätze, deren Bedeutung ihnen in der Hektik abging.
Ihr müsst hierbleiben!
Bleibt hier!
BLEIBT HIER!
Einmal erwischte sie Konyo und die anderen sollten sich noch lange der Scham hingeben müssen, dass ihr erster Instinkt war, mit lautem Geschrei in alle Himmelsrichtungen von ihm abzuweichen, ehe seine lauten Hilferufe zur Tapferkeit vordrang, die ihnen glücklicherweise allen zu einem gewissen Maß innelag. Asumi und Ruka griffen blind nach umherliegenden Ästen und knüppelten schneller auf das Monster ein, als es sich in irgendeinen Teil ihres Freundes verbeißen konnte, was ihm schrilles Kreischen entlockte und von seiner Beute ablassen ließ. Raidon und Beni halfen Konyo auf die Beine, die vor Schreck zitterten, worauf niemand Rücksicht nehmen konnte. Die Mädchen waren geistesgegenwärtig genug, nicht der Annahme anheimzufallen, irgendeine Chance gegen den Feind zu haben, sobald der Überraschungsmoment eingebüßt war, und so warfen sie die Prügel weg, kaum dass sie ihren Zweck der Ablenkung erfüllt hatten, und rannten wieder los.
Doch wie lange konnten sie durchhalten? Die Umgebung unwirtlich, der Verfolger übermenschlich und das Ziel unbekannt, war alles, was sie tun konnten, zu laufen bis zur Erschöpfung.
Und dann war es aus.
Sie wussten nicht, was die Frau mit ihnen vorhatte, aber gut konnte es nicht sein. Oh, wie sie sich wünschten, in der sicheren Herberge geblieben zu sein und sich weiter Gruselgeschichten erzählt zu haben – unheimlich, aber im Vergleich zur Wirklichkeit ungefährlich.
Der tiefe Schnee erschwerte ihr Vorankommen, wo er den Gegner kein Stück behinderte, und Ruka zahlte die Zeche, als sie sich in ihrer Angst umsah um sicherzustellen, dass noch eine sichere Distanz zwischen ihnen lag. Ihr Fuß stieß im selben Moment gegen eine unter der weißen Decke verborgene Wurzel – es ging so schnell, dass sie nicht einmal daran denken konnte, den Sturz abzumildern. Stechender Schmerz schoss ihr durchs ganze Bein, doch ihr Schrei wurde vom Schnee geschluckt, in den sie mit dem Gesicht voran fiel. Sie hörte aus mehreren Mündern ihren Namen rufen, doch das einzige, was wirklich zu ihrem durchgerüttelten Verstand durchdrang, war das vorfreudige Gackern des Monsters, in Erwartung vergnüglicher Dinge, die sie sich vorzustellen nicht wagte. Als sie den Kopf drehte, sah sie den riesigen Schatten bereits auf sie zuspringen. Ihr Herz blieb stehen. Und dann ...
„GARO! VERSCHLINGE!“
Ein anderer, sich viel schneller bewegender Schatten kollidierte mit dem Monster, das mit durch Mark und Bein gehendem Geheul zurückgeschleudert wurde und im ersten Augenblick fühlte Ruka nichts als Erleichterung, ehe sie erkannte, dass ein zweites Monster dem Kampf beigetreten war und ihr ein weiterer Angstschrei entfuhr, dicht gefolgt von dem des Schmerzes, als sie unsanft am Arm gepackt und in die Höhe gerissen wurde.
„Schafft sie weg“, rief Ryuji den anderen zu und stieß Ruka in ihre Richtung. Asumi und Konyo schafften es gnädigerweise, sie aufzufangen, ehe sie noch einmal stürzen konnte, und zogen sie eilig von den rangelnden Ungeheuern weg, Beni und Raidon dicht auf den Fersen ohne sichtliches Bedürfnis, den Befehl zu verweigern.
Ryuiji schnaubte belustigt und wandte sich wieder dem Gegner zu. „So, ihr habt ganz schön Mumm, mich so dermaßen an der Nase rumzuführen, Yokai“, verkündete er und zog seine Handschuhe fest. Es war nicht so befriedigend wie mit jenen, die er mit seinem Onmyoji-Aufzug trug, aber er musste sich wohl oder übel arrangieren. „Ich habe nichts davon gehört, dass in dieser Gegend viele Kinder verschwinden. Aber einmal ist ja immer das erste Mal“, führte er weiter aus, als redete er über das miese Wetter, ehe sich sein Blick intensivierte, „Nur so als Tipp – ihr hättet euch vielleicht ein etwas leichteres Ziel aussuchen sollen. Nicht dass ich mich beschweren will oder so“, er schnippte mit den Fingern und sein Shikigami kehrte umgehend zu ihm zurück, „aber Opfer zu wählen, die sich wehren können, verlangt extraordinäre Fähigkeiten – oder überwältigende Dummheit.“
„Onmyoji ...“
„Gut erkannt. Vielleicht ein bisschen spät, aber trotzdem, Glückwunsch.“
„Misch dich nicht ein! Sie wollen hierbleiben! Sie sind glücklich hier!“
„So hören sie sich aber nicht an. Und man möge es mir verzeihen, aber ich lege den Aussagen von Menschen deutlich mehr Wert bei als denen erbärmlicher Yokais.“
„Sie lügen! Sie wollen bleiben!“
„Ja ja, niemand sagt mehr die Wahrheit heutzutage. Das Leben stinkt.“
Die Frau stieß ein Brüllen aus und schlug mit beiden Fäusten auf den Boden ein. „Sie wollen bleiben“, rief sie mehrmals wie ein Mantra aus und unterstrich jedes Wort mit einem donnernden Schlag. Ryujis Grinsen verbreiterte sich: „Selbst wenn das stimmen würde, gibt es immer noch sowas wie unsere Gesetze, Lady. Und Überraschung, diese besagen, dass Minderjährige sich den Entscheidungen ihrer entsprechenden Vormünder zu beugen haben. Und die erlauben in der Regel nicht, dass sie sich irgendwelchen suspekten Bergweibern anschließen, um in unwirtlicher Einsamkeit vor sich hin zu erfrieren. Also hör auf zu träumen, Yokai! Du wirst weder diese noch jemals wieder andere Kinder ins Verderben führen!“
„Du wichtigtuerischer Mensch! Ich werde sie bekommen, nachdem ich dir dein zitterndes Fleisch von den Knochen gerissen habe! Du kannst mich nicht besiegen! Ich bin stärker als du!“
Ryuji schnaufte belustigt: „Bist du dir da so sicher?“ Dabei glitt sein Blick ein winziges Stück von ihr ab über ihre Schulter, auf ein Geschehen, welches sich hinter ihr abspielte. Sie fuhr herum.
„Oh? Dachtest du, da gäbe es was Interessantes?“, höhnte es in ihrem Rücken. Ryuji breitete die Arme aus: „Wie auch immer. Danke für das aufschlussreiche Gespräch. Drei Minuten dauert es übrigens nun schon an. Willst du wissen, was ich in drei Minuten mit euch Gesindel alles anstellen kann?“ Panisch warf sie sich von einer Seite zur anderen, als der Schnee um sie herum kreisförmig aufstob und glühende Zeichen in der Erde freilegte.
„Einen Bannkreis, sie zu vernichten.“
Sie schrie, als blaues Licht sie wie Blitze durchfuhr und ihre Füße in der Mitte des Spruchs festnagelte.
„Zurück in die Finsternis, aus der du gekrochen kamst, unheilvolle Kreatur! Gengen! Formation Große Welle!“
Das Licht verschmolz zu einem dichten Vorhang, der das Monster in einem Wirbel umhüllte und es kreischte schräg und durchdringend, wand sich ein einem Bogen nach hinten – und verschwand.
Ryujis Grinsen flaute ab und er runzelte die Stirn.
Noch ehe er Gengen in die Röhre zurückbefehligen konnte, fiel ihm ein Gewicht in den Rücken und beinahe wäre er vornüber hingefallen, wenn nicht innerhalb der gleichen Sekunde Hände nach seinen Armen gepackt und ihn aufrechtgehalten hätten. „Ryuji“, heulte ihm Asumi ins Kreuz und auch alle anderen hatten in Angesicht der Lebensgefahr jede Berührungsscheu abgelegt, schmiegten sie sich doch an ihn, als wäre er der einzige sichere Anker im Wald, „Bin ich froh, dass du da bist! Geht es dir gut?! Dieses Ungeheuer hat dir doch nichts angetan, oder?!“ Er brachte nur einen stupiden Ton heraus, bevor sie anfingen, wild durcheinander zu reden. Nur hier und da konnte er das eine oder andere verständliche Wort im Kauderwelsch erkennen, doch hauptsächlich blendete er es aus, um sich auf den Rückruf des Shikigamis zu konzentrieren. Es war immer besser, den ersten Ansturm von Schock durch Reden ausklingen zu lassen, Fragen konnte er hinterher stellen. Gengen leckte über den Schnee und Ryuji hielt die Röhre höher, um ihn nicht zu verunreinigen. Noch brauchte er nicht Gewalt vor Finesse. Es war besser, ihn vorerst sauber zu halten.
Erst mehrere Minuten später beruhigten sich seine Mitschüler wieder und mit dem Verstand kehrte auch der Überlebensinstinkt zurück, der sie hastig von ihm abrücken ließ. Ausgebrannt starrten sie betreten zu Boden, alle Worte und Erklärungen in der Aufregung ausgespuckt und ungehört verklungen und nun nahm er die Gelegenheit wahr, einen Umstand zu bemängeln, der ihm quer im Hals saß.
„Was habe ich euch gesagt bezüglich des Folgens?“
Konyo hob einen Zeigefinger: „Also streng genommen sind wir nicht dir gefolgt, wir sind ihr gefolgt, deswegen-“ Ryuji sendete ihm einen außerordentlich unbeeindruckten Blick. Konyo ließ den seinen wieder sinken: „... Ja. Klar. ‘tschuldige.“ „Hey, wir sind hinterher, weil diese gruselige Schneefrau bei uns aufgetaucht ist und behauptet hat, du stecktest in Schwierigkeiten, okay?“, warf Ruka zur Verteidigung ein, „Wir haben uns Sorgen gemacht und das wirfst du uns jetzt vor? Undankbarer geht’s wohl kaum!“
„Oh, ihr wolltet mir also helfen. Und was hat’s gebracht? Ich musste mir die Lungen aus dem Hals rennen, um euch rechtzeitig den Arsch zu retten. Große Hilfe, wirklich!“
Nun mischte sich Asumi ein, damit sich die beiden nicht an die Gurgel gingen: „In Ordnung, die Aktion war ein bisschen bescheuert und es hätte besser laufen können, das gebe ich zu, aber was erwartest du von uns? Wir haben uns Sorgen gemacht! Du hast vorhin selbst zugegeben, dass ihr Onmyojis auch schon mal versagt!“ Ryujis Stirn legte sich in noch tiefere Falten, nachdenklich darüber, was sie meinte.
Dann begriff er. Es ging um die Gruselgeschichte, den Dämon, den sie hatten entkommen lassen. Kurz schloss er die Augen, dann lächelte er hinterhältig: „Oh, das habt ihr geglaubt?“ Sie starrte ihn mit offenem Mund an, doch er elaborierte nicht weiter. Gelogen oder nicht, nichts entschuldigte ihre Missachtung seiner Anweisungen. Sie waren ein hohes Risiko eingegangen und beinahe hätte es sie das Leben gekostet, denn ...
„Dieses Ding ... Das war eine Yuki Onna, oder? Sie wollte uns töten.“
Er sah zu Ruka hinüber, die sich zitternd die Oberarme rieb. Tapfer ließ sie sich den Schmerz nicht anmerken, zumindest solange sie den Fuß nicht belasten musste, aber er vermutete eine Verstauchung. Ohne Hilfe würde sie nicht weit kommen. Das Mädchen hob hoffnungsvoll den Blick: „Du hast sie erwischt, richtig?“ Er wägte Vor- und Nachteile einer Lüge ab und entschied, dass es besser war, sie die Rückendeckung nicht vernachlässigen zu lassen.
„Nein. Sie ist entkommen. Aber darum können wir uns jetzt nicht kümmern, wir müssen aus dem Sturm raus, ansonsten wird es wirklich unangenehm.“
Alle nickten, wenn auch etwas resigniert, als ob sie sich bereits gedacht hatten, dass es so einfach nicht sein konnte.
Und das war es nicht, es war sogar schwieriger. Denn nach kurzem Umsehen wurde Ryuji klar, dass er keine Ahnung hatte, wo sie sich befanden. Einen Teufel würde er tun, das zuzugeben. Auch versuchte er erst gar nicht, das Smartphone zu verwenden, nicht wie Konyo, der seine Karten-App geöffnet hatte, aber gleich darauf leidend stöhnte: „Keine Chance. Es funktioniert nicht.“ „Kein Wunder“, Raidon zuckte die Achseln, „das Wetter hat sich nicht verbessert.“ Ganz zu schweigen davon, dass es magisch hervorgerufen war. Ryuji entschloss sich, auch diese Information für sich zu behalten. Panik würde ihnen nicht weiterhelfen. Außerdem änderte es nicht viel – ob natürlich oder durch dunkle Mächte entstanden, der Sturm selbst war real und würde für eine ganze Weile nicht nachlassen. „Wir müssen einen Unterschlupf finden“, sagte er und ging los, überließ es ihnen, ihre Freundin zu stützen. Er konnte sich nicht um alles kümmern.
Sein Kopf ruckte zur Seite, als er im Augenwinkel einen dunklen Schemen wahrnahm.
Die Frau, die ihn von der Herberge weggelockt hatte, stand einige Meter von ihnen entfernt halb verborgen von einem Stamm im Schneegestöber, beobachtete sie reglos, bevor sie rücklings im weißen Nichts verschwand.
„Ist was?“, fragte Asumi und lugte in dieselbe Richtung, doch er schüttelte den Kopf und marschierte weiter.
Der Weg war beschwerlich, vor allem für Ruka, der der verstauchte Knöchel Beschwerden verursachte. Kein Wunder also, dass sich ihre Laune Schritt für Schritt verschlechterte, bis sie kaum noch Verständnis und guter Willen, sondern ganz Vorwurf war.
„Hätten die Jungs die Augen aufgehalten, anstatt um die tolle Eisprinzessin rumzuscharwenzeln, wäre uns die Sache vielleicht erspart geblieben! Ha, Ironie!“
„Es tut mir leid, okay? Woher hätten wir es wissen sollen?“
„Schon gut. Kannst ja nix für dein ganzes fehlgeleitetes Testosteron.“
„Oh, jetzt erzähl mir bloß noch, du wärst nicht Herz über Kopf gewesen, hätte da plötzlich Mafuyu Maeda vorm Fenster gestanden!“
„Mafuyu Maeda ist mehr als ein schönes Gesicht! Er hat Charakter! Und die beste Stimme diesseits und jenseits des Ozeans! Ich liebe ihn für mehr als sein Äußeres!“
„Red’s dir nur lange genug ein.“
„Haltet den Mund“, fuhr Ryuji sie an, „Wenn der Yokai uns folgt, macht es ihm euer Gezeter nur leichter, uns auf der Spur zu bleiben!“ Ruka wollte etwas entgegensetzen, was nicht höflich war, doch Asumi hielt ihr schnell den Mund zu: „Er hat recht. Es geht dir nicht gut, wir verstehen das ja, aber die Yuki Onna zu uns zu führen ist ‘ne echt blöde Idee, das musst du doch zugeben!“ Ruka schnaubte und zog schmollend den Kopf weg, sagte aber nichts weiter. Asumi wandte sich an Ryuji: „Aber weißt du denn, wo wir hinmüssen? Ich meine, ich hab nicht die Spur einer Ahnung, wo es zur Herberge geht, geschweige denn wo wir überhaupt sind.“ „Klar weiß ich, wo wir sind“, beschwichtigte er sie, ohne das Tempo zu verringern, „Aber das nutzt gar nichts. Das Miststück hat die Wege versperrt und Fallen aufgestellt. Wir müssen ihr ausweichen, ansonsten erwischt sie uns sofort wieder.“ Nicht alles davon war eine Ausrede für sein blindes Umhersuchen. Mehr als einmal hatte er dämonische Energie anrücken gespürt und sich entsprechend in die entgegengesetzte Richtung fortbewegt. Mit seinem Anhängsel konnte er einen weiteren Kampf nicht riskieren, vor allem nicht unter diesen widrigen klimatischen Bedingungen.
In diesem Moment sah er sie erneut.
Die schwarze Alte beobachtete ihn still von der Seite und einmal mehr verschwand sie im dichten Schneefall.
Hinter ihm diskutierten die anderen leise miteinander, hauptsächlich bemüht, Ruka zu trösten, der der Gewaltmarsch das meiste abverlangte.
Es konnte eine Falle sein – höchstwahrscheinlich war es eine. Eine Alternative bot sich ihm jedoch nicht. Bergdämonen verfügten in der Regel über einen sicheren Unterschlupf und im Moment war alles besser als die freie Natur. Die Alte hatte ihnen trotz Gelegenheit nichts getan, war bisher nicht mehr als ein Lockvogel gewesen.
Er folgte ihr.
Ab da erhaschte er in regelmäßigen Abständen einen Blick von ihr, immer dann, wenn er gerade befürchtete, ihr auf den Leim gegangen zu sein. Und es dauerte nicht lange, bis sie sich vor dem Eingang zu einer Höhle wiederfanden, verdeckt durch einen dichten Busch. In der beschränkten Sicht des Schneefalls hätten sie ihn ohne Hilfe niemals wahrgenommen. Ryuji hob eine Hand als Zeichen, dass sie warten sollten und trat mit vorsichtigen Schritten in die Höhle, gefasst darauf, jede Sekunde angegriffen zu werden.
Er wurde nicht.
Die Höhle war leer, kein Unterschlupf, nur festes Gestein und einige tierische Überbleibsel, aber wärmer und trockener als draußen. „Okay, kommt rein“, rief er und schob mit dem Fuß ein Kaninchenskelett an die Wand. Ein Feuer war unabdingbar und er hatte draußen mehr als genug Zweige gesehen. Durchnässt würden diese wohl sein, aber er konnte so viel spirituelle Energie opfern, wie es bedurfte, sie ausreichend zu trocken. „Hat einer von euch ein Feuerzeug?“, fragte er seine Klassenkameraden, die hinter ihm staunend in den düsteren Freiraum traten. „Ja, ich“, erwiderte Konyo und fischte in seiner Hosentasche danach, „aber wofür-“ „Feuer“, unterbrach Ryuji ihn, „ohne Wärme wird uns auch ein Dach über dem Kopf nichts bringen.“ Er wandte sich an Ruka, die sich mit Hilfe ihrer Freundinnen zur Wand schleppte und aufatmend daran zu Boden rutschte: „Der Knöchel braucht Kühlung. Legt Schnee drum, davon steht uns ja zum Glück mehr als genug zur Verfügung. Du, mitkommen.“ Er wies auf Raidon und verließ die Höhle wieder, der Junge zuckte nur seufzend mit den Schultern und folgte ihm. „Weißt du, du könntest uns bei unseren Namen rufen. Es würde es uns einfacher machen, uns nicht wie charakterlose Statisten in einem Videospiel zu fühlen, die jederzeit dem Drama zum Opfer fallen können. Es wäre echt beruhigend, wenn du verstehst“, murmelte er und Ryuji warf ihm einen verblüfften Schulterblick zu.
„... Werd’s mir merken.“
Seitdem sie genügend Holz gesammelt hatten und Ryuji es unter beeindruckten Augen brennbar gemacht hatte, züngelte in der Mitte des Raums ein wohltuendes Lagerfeuer, das mit der Zeit die allgemeine Gereiztheit etwas hatte abklingen lassen. Rukas Fuß war nicht so schlimm verrenkt, wie sie befürchtet hatte, er tat nur wegen der Anstrengung weh, wogegen die Kälte der Schneekompresse ihr Übriges tat. Die Jugendlichen hatten sich nah ans Feuer gesetzt, ihre Winterjacken praktischerweise lang genug, um direkten Kontakt zum kalten Felsboden zu vermeiden. Nach all den Strapazen waren sie erschöpft und unterkühlt, und während Letzeres langsam nachließ, kroch Ersteres weiter in alle Glieder vor. Niemand sprach.
Beni seufzte und rückte ihren Rucksack zurecht. Sie war die einzige gewesen, die einen mitgenommen hatte, und keiner war auf die Idee gekommen, zu fragen, wofür. Nun kramte sie darin herum und förderte einige kleine Snacks und mehrere Minutenterrinen hervor. „Es tut mir leid“, flüsterte sie verlegen, „ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, aber ich schätze ... Ich schätze, wir können zumindest die Nudeln knabbern, richtig? Sollte ein bisschen gegen den Hunger helfen ... richtig?“ Asumi nahm einen der Becher entgegen und lächelte sie dankbar an: „Richtig. Wenn wir dich nicht hätten, hätten wir jetzt gar nichts zu Beißen, also mach dir keine Gedanken über Nebensächlichkeiten.“ Beni errötete, schmunzelte aber zurück. Sie nahm einen der Becher und ging zu Ryuji, der sich nahe des Eingangs postiert hatte, um ihn ihm zögerlich zu reichen.
„Ähm ... Besteck haben wir keins, aber sich die Finger schmutzig zu machen ist wohl unsere geringste Sorge.“
„... Danke.“
Sie nickte und machte sich auf den Weg zurück. Er starrte geistesabwesend auf den Becher, dann auf die noch immer leicht fröstelnden Mitschüler und fasste einen Entschluss.
„Füllt sie mit Schnee.“
Die anderen schauten verwirrt auf. Asumi fasste die allgemeine Skepsis in Worte: „Wie bitte? Aber es ist kalt, das würde sie ruinieren!“ Er stöhnte genervt auf und erhob sich, um vor den Eingang zu treten und zwei große Handvoll Schnee über die Nudeln zu schaufeln. Dann konzentrierte er sich und eine Minute später hielt er brodelnde Suppe in den Händen. Hinter ihm hielt Asumi den Atem an: „Wow! Das ist ja ein genialer Trick!“ „Schnee mag nicht die sauberste Zutat sein, aber wir müssen nehmen, was wir kriegen können“, Ryuji reichte ihr seinen Becher und übernahm stattdessen ihren, „Und es sollte uns besser aufwärmen als die Kalorien allein. Hol die anderen.“ Sie quiekte leise in Begeisterung und eilte davon.
„Aber glaub nicht, dass ich euch auch noch einen auf Alleinunterhalter mache, klar? Diese Scheiße hier ist anstrengend!“
Er erhielt nur ein breites Grinsen als Antwort.
Sie schlürften die Suppe langsam und genossen die vom Magen ausgehende Hitzewelle. Das von Herzen stammende geschlossene Dankeschön an Ryuji quittierte er mit einem Augenrollen. Inzwischen waren das alle gewöhnt, nur Asumi wollte noch nicht recht aufgeben. Während sie in der Glut herumstocherte, brummte sie anklagend: „Sind dir höfliche Phrasen wirklich so zuwider? Warum bist du eigentlich immer so grantig?“ Nicht einmal einen flüchtigen Schulterblick gönnte er ihr, erwiderte nur gleichgültig: „Keine Ahnung. Sag du’s mir.“ Natürlich hoffte er, ihr damit unmissverständlich klarzumachen, dass sie das Thema ruhen lassen sollte. Stattdessen waren alle so gestresst, dass sie die Herausforderung annahmen und sich mit dem Suchen nach Gründen abzulenken suchten.
„Soziale Angststörung.“
„Du denkst, es macht dich erwachsen.“
„Du willst Mädchen aufreißen!“
„Rai, du beginnst wirklich, mich anzukotzen!“
„Aber so machen das viele, Ruka! Die Masche lautet ‚Cooler, unnahbarer Intellektueller’ und wirkt wie ‘ne Bombe!“
„Ja, du hast damit bestimmt viel Erfahrung gesammelt.“
„Depressionen. Damit ist man auch immer schlecht gelaunt.“
„Ich glaube, so runterbrechen kann man das nicht.“
„Hämorriden.“
„...“
„... Was? Die sind absolut widerlich, da kann sich dir schon mal was quer in den Hals legen, wenn die ganze Zeit der Hintern brennt!“
Ryuji verzichtete darauf, das Gesicht in die Hände zu legen – oder die Hände um jemandes Hals, auch wenn es ihm noch so schwerfiel. Die Diskussion war schlichtweg zu kindisch, als dass er sich daran beteiligen wollte. Und sie ging noch eine Weile weiter, wurde lauter und hitziger, und im Moment gab es noch jemanden unter ihnen, den die Umstände etwas zu gereizt machten. Ruka ging das Gespräch auf die Nerven, aber noch mehr die totale Missachtung, mit welcher Ryuji seine Mitschüler strafte, und so stöhnte sie verstimmt auf und murmelte: „Meine Fresse, jetzt sag’s ihnen schon, sonst werden wir die ganze Nacht kein anderes Thema haben! So was Besonderes wird’s schon nicht sein! Oder liegst du auf dem Siechbett und wartest nur aufs Ende?!“ Es war halb aus Spaß, halb gehässig gemeint, mit Sicherheit aber nicht ernst, doch Ryujis Reaktion ließ eine Welle der Nervosität durch ihre Reihen gehen.
Er senkte schweigend den Blick.
„Blödsinn, Ruka. Wer stirbt denn schon in unserem Alter?“, Asumi kicherte entsetzt, „Ich meine, ja, schon, aber sowas ... sowas passiert doch immer nur anderen. Im Fernsehen oder so.“ Konyo richtete sich verdattert die Brille: „Eben! Das ... Man würde doch wohl was sehen, wenn er todkrank wäre, richtig? Der wirkt kerngesund, keine Chance!“ Raidon und Beni sahen sich an, suchten im Blick des jeweils anderen die richtigen Worte. Und Ruka schluckte betroffen, musste sie doch für grauenhafte Sekunden annehmen, in ein furchtbares Fettnäpfchen getreten zu sein.
Sekunden, die Ryuji vollends auskostete, ehe er Mitleid bewies und schmunzelnd die Zunge herausstreckte.
„Oh, warte, du Arsch, du hast uns reingelegt“, stieß Asumi aufgelöst aus, „Bist du denn total verrückt?! Sowas kannst du doch nicht einfach behaupten!“
„Ich habe gar nichts behauptet. Wenn ihr glaubt, was ihr wollt, ist das nicht mein Problem. Wenn ihr euch weniger um meine Laune als ums Ausruhen kümmern würdet, wären wir morgen bestimmt besser am Start, um unser Leben zu laufen. Also haltet endlich den Mund und schlaft!“
Sie fletschte die Zähne und warf sich regelrecht auf den Boden neben Ruka, allen den Rücken zugewandt: „Verdammter Fiesling!“ Er seufzte und blendete die folgenden leisen Gespräche aus, sich wieder ganz dem Geschehen außerhalb ihres Unterschlupfs widmend. Er konnte nicht zulassen, dass man sie so geschwächt überraschte – weder durch den weißen noch durch den schwarzen Dämon.
Am Morgen hatte das Wetter noch immer nichts von seiner Heftigkeit eingebüßt. Sie waren in der Höhle gefangen, denn unter diesen Umständen zu fliehen, konnte sehr schnell in einer Katastrophe enden. Und so verließen sie den Schutz nur phasenweise und immer unter Ryujis wachsamen Augen, um Brennholz zu sammeln und sich wenigstens stundenweise die Beine zu vertreten.
„Normalerweise verspeise ich Yuki Onnas zum Frühstück.“
Ryuji starrte anklagend in den tobenden Schneesturm hinaus. „Mach dir keine Vorwürfe“, ermunterte ihn Asumi, die mit ihren anderen Freunden mehrere Packungen Nudelsuppe auffüllte, „Zumindest verhungern wir nicht, solange wir unseren wandelnden Wasserkocher dabeihaben!“ Er warf ihr einen finsteren Blick zu, verzichtete jedoch auf eine Antwort. Stattdessen zogen sich seine Augenbrauen noch weiter zusammen als gewöhnlich: „Was zum Teufel soll das werden?“ Die Jugendlichen hatte sich dicht aneinandergedrängt und Asumi streckte ihm auffordernd die Hände entgegen: „Gruppenkuscheln! Wegen der Kälte!“
Er musterte sie unangenehm eindringlich und knurrte schließlich: „Nur über meine steifgefrorene Leiche.“
Von ihrem Schmollmund wandte er sich wohlweise ab, wollte er doch keine Diskussion provozieren, und dachte eine Weile intensiv über die Geschehnisse der Nacht nach, während das Geschnatter schräg hinter ihm kaum darauf ahnen ließ, dass sie sich in einer Notlage befanden. Eher einem Picknick. Einem Eis-Picknick. Mit Aussicht aufs Erfrieren. Er seufzte.
Es stimmte – eine durchschnittliche Yuki Onna war mit seinem Onmyojutsu schneller verbrannt, als sie um Gnade winseln konnte. Das hatte vor gar nicht langer Zeit Tsurara Oikawa am eigenen Leib erfahren müssen, als sie sich dazu gemüßigt gefühlt hatte, ihm bei einem geschäftlichen Besuch im Nura-Haus etwas zu sehr auf die Nerven zu gehen. Sie hatte ihre Finger sehr lange kühlen müssen, ehe sie das gewohnte Gefühl darin zurückerhalten hatte. Aber diese Gegner? Ob er ihnen sagen sollte, dass damit etwas nicht mit rechten Dingen zuging?
Eine Evaluation der Lage meinte ja.
„Das sind keine Yuki Onnas.“
Alle verstummten und sahen ihn groß an. Konyo fand als erster die Stimme wieder: „Was? Aber sie sind Frauen und leben auf einem Berg in bitterster Kälte!“ „Eben. Und offensichtlich haben sie großes Interesse daran, unvorsichtige Jungs anzugraben“, fügte Ruka hinzu und erntete einen genervten Blick Raidons. Ryuji schüttelte den Kopf.
„Yuki Onnas sind zweifelsohne die bekanntesten Schneedämonen, aber bei weitem nicht die einzigen. Womit wir es hier zu tun haben, sind Yamaubas.“
„Yama-was?“
„Berghexen. Während Yuki Onnas Männer verführen, verlangt es Yamaubas nach Kindern.“
Schweigen folgte dieser Eröffnung, bevor Raidon angewidert die Nase rümpfte: „Pfui Spinne.“ Die anderen pflichteten ihm nickend bei und Ryuji warf ihnen stirnrunzelnd einen Seitenblick zu.
„Ihr habt euch doch gerade wieder irgendwas Schwachsinniges ausgemalt.“
Sie hatten zumindest den Anstand, verlegen dreinzuschauen und er stöhnte: „Ich bin von Idioten umgeben. Doch nicht im sexuellen Sinne! Yuki Onnas setzen Schönheit ein, um verirrte Wanderer unter dem Vorwand, helfen zu wollen, in möglichst gefährliche Gefilde zu führen, wo diese den Tod finden. Ihre Existenz entsteht aus dem Hass einer geschundenen Frau auf Männer und speist sich aus dem Wunsch nach Blutrache.“ Beni zog eine mitfühlende Grimasse: „Blutrache? Sie wollen nichts anderes als töten? Gibt es keine Ausnahmen?“ „Gute Frage“, rief Raidon, „ich meine, es gibt Geschichten, in denen sich Yuki Onnas verlieben, richtig?!“ Während die anderen breite Zustimmung spendeten, tauchten vor Ryujis innerem Auge die Exemplare des Nura-Haushalts auf, doch verwarf er den Gedanken, um jeden Zweifel auszulöschen.
„Keine Ausnahmen. Liebe bei diesen Yokais ist ein Märchen. Solltet ihr jemals merken, einer Yuki Onna gegenüberzustehen – lauft. In der Regel verfolgen sie niemanden, den sie nicht täuschen können.“
Konyo hob eine Augenbraue: „In der Regel? Was wenn sie es doch tun?“
„... Lauft schneller.“
Den simultanen entsetzten Aufschrei bei der bloßen Möglichkeit eines solchen Szenarios ignorierend, fuhr er unbeeindruckt fort: „Auf jeden Fall – Yuki Onnas beschränken sich auf Männer, Frauen meiden sie wie die Pest, solange ihnen eine Wahl bleibt. Dass uns diese beiden Yokais so selbstverständlich angesprochen haben, schließt die Art also aus. Außerdem sind wir zu jung. Für Yamaubas hingegen zu alt, sie halten sich eher an Kleinkinder, aber ich schätze, diese hier sind verzweifelt. Der zweite Mund am Hinterkopf – mit ihm verschlingen sie Kinder, deren Vertrauen sie sich erschlichen haben. Sie können sich zwar von Wild und Pflanzen ernähren, aber nur Menschenfleisch sättigt sie. Und wer lässt heutzutage schon den Nachwuchs aus den Augen, geschweige denn unbeaufsichtigt im Wald oder auf einem Berg herumkraxeln? Smartphones sind inzwischen auch alltäglich geworden, sodass sich nur selten jemand verirrt. Ich glaube, ihnen sind einfach die Opfer ausgegangen.“
Er rappelte sich auf und klopfte sich das Gesäß ab, wandte sich ihnen ganz zu, was er nur sehr selten getan hatte, seit sie in der Einöde gefangen waren, und sagte: „Das Gute ist, dass sie wahnsinnig leichtgläubig sind. Verwickelt sie in einen Handel und sie werden angreifbar. Vergesst das nicht – Einfältigkeit ist ihre Schwäche. Vielleicht wird euch diese Info mal von Nutzen sein.“ „Wo gehst du hin?“, fragte Beni, als er daraufhin den Eingang der Höhle ansteuerte, doch er wies nur auf den Haufen Zweige, der bereits wieder stark geschrumpft war. „Moment, ich komme mit“, rief Konyo hinterher und sprang auf.
Draußen wütete es wie eh und je und Ryuji erkannte, dass er sich geirrt hatte – die dunkle Magie war kein zeitlich begrenzter Spruch, sie würde halten, solange die Yamaubas Energie dafür hatten. Anscheinend wollte sie sie aushungern lassen oder in Panik versetzen, damit sie Fehler machten. Es bedeutete auch, dass sie den Sturm nicht aussitzen konnten. Noch einige Stunden wollte er es riskieren, doch wenn sich bis dahin nichts gebessert hatte, mussten sie den Marsch ins Tal aufnehmen, wenn sie nicht die letzte Kraft einbüßen wollten. Er knirschte frustriert mit den Zähnen.
Die Feinde warteten auf diesen Augenblick.
Hinter ihm stapfte Konyo einher und ab und zu knarzte es, wenn er einen dickeren Ast auf den Arm hob. Sie sammelten in Stille, doch Ryuji wurde das Gefühl nicht los, dass der andere Junge ihn aus einem bestimmten Grund begleitet hatte.
„Hey, Ryuji ... Wenn ich mal was sagen dürfte?“
Ah, er hatte recht behalten. Ryuji brummte nur als Zeichen, dass er zuhörte.
Konyo schluckte und winkte so gut es ging mit der Hand: „Ich meine, es ist ja deine Sache, aber ... Hast du schon mal drüber nachgedacht, ob deine Art ... Nun ja ... ein bisschen zu abschreckend wirken könnte? Du scheinst immer so genervt und so arrogant und du nimmst kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, jemanden runterzumachen. Das ist ... demotivierend.“ Ryuji hob eine Augenbraue: „Soweit ich mich erinnere, erkläre ich nur, warum eine idiotische Idee eine idiotische Idee ist. Meine Mitschüler davon abzuhalten, idiotischen Ideen nachzugehen, ist bei euch schon runtermachen? Wenn es demotivierend ist – perfekt, Idiotie im Keim erstickt, Ziel erreicht.“
„Naja, schon ... Nein! Okay, ich verstehe ja, warum du es tust, aber geht das wirklich nicht freundlicher? So, dass wir zwar kapieren, okay, es ist eine idiotische Idee, aber ohne uns wie die größten Blödköppe der Welt fühlen zu müssen? Ich meine ... Wir sind jung, Ryuji. Leb doch mal ein bisschen.“
„Ich soll leben, indem ich lebensbedrohlichen idiotischen Ideen nachgehe.“
„Siehst du, das meine ich! Wenn du das so sagst, komm ich mir blöd vor!“
„Ehre wem Ehre gebührt.“
Konyo seufzte und schwieg. Die Sache war, er konnte durchaus verstehen, warum Asumi und Raidon Ryuji interessant fanden und ihn gerne in der Gruppe haben wollten. Aber wie sie mit ihm auskamen, war ihm ein Rätsel. Sie waren weitaus weniger empfindlich als er selbst, soviel stand fest, und er beneidete sie oftmals um die dicke Haut. Aber sich freiwillig dieser verbalen Misshandlung auszusetzen, kam schon Masochismus gleich. Trotzdem sprach er noch aus, was ihm wirklich auf dem Herzen lag: „Na schön, okay. Schätze, es hat keinen Sinn. Aber ... Das heute Nacht war wirklich zu hart. Du hast Asumi echt erschreckt. Das war ziemlich gemein, selbst für deine Verhältnisse. Mit sowas solltest du keine Späße treiben, selbst wenn du uns nicht sonderlich leiden kannst.“
Ryuji hielt inne. Nicht leiden können? War das der Fall? Er konnte es nicht leiden, wenn seine Arbeit gestört wurde. Er konnte es auch nicht leiden, wenn jemand sich unnötig in Gefahr begab. Und vor allem konnte er es nicht leiden, wenn ein Plan misslang. Aber dass er irgendeinen seiner Mitschüler nicht leiden konnte, entsprach nicht der Wahrheit. Sie waren kindisch, laut und unvorsichtig, aber sie gehörten zur Menschheit, und obwohl das die meisten überraschen mochte – er konnte Menschen gut leiden. Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre er niemals der Bestimmung gefolgt, sie vor übersinnlichem Unheil zu bewahren. Und so erwiderte er zu Konyos heillosem Erstaunen ernst: „Ich werd’s mir merken.“
Der Junge wollte positiv überrascht etwas erwidern, doch er sah sie im selben Moment wie Ryuji und dieser vergeudete keine Zeit, sich umgehend zwischen ihn und die schwarze Alte zu werfen. Konyo ließ vor Schreck beinahe das Holz fallen, fasste sich jedoch noch und wurde unsanft in Richtung der Höhle gestoßen. Er verstand das Zeichen und rannte ohne zu zögern zurück.
Ryuji sah ihm nicht nach, Augen fest auf den Feind gerichtet, Bambusröhre wie von selbst in die Hand gesprungen, jederzeit bereit zum Angriff.
Doch die Frau stand nur da, halb hinter einem Baum verborgen, und schaute ihn stumm an. War es erneut eine Ablenkung? Der sichere Unterschlupf war nicht weit entfernt und er hatte einen Bannkreis ausgelegt, sodass ihm zumindest Zeit genug bleiben würde, den anderen zu Hilfe zu kommen, trotzdem brachte ihn das Kämpfen an zwei Fronten in Bedrängnis.
Gerade wollte er zu einer spöttischen Bemerkung ansetzen, um sich einen emotionalen Vorteil zu verschaffen, da machte die Frau erst einen, dann einen zweiten Schritt auf ihn zu und als sie sah, dass er keinen Angriff verschwendete, kam sie näher, langsam in einen Ärmel greifend und darin herumkramend. Er musterte sie in höchster Alarmbereitschaft, wollte sich aber nicht erlauben, spirituelle Energie zu vergeuden, solange es nicht unabdingbar war. Vorsichtig zog sie etwas aus dem Ärmel, streckte es ihm entgegen und ruckte, als er sich nicht anschickte, es entgegenzunehmen, auffordernd mit den Händen.
Er riskierte einen Blick.
Es war ein kleiner Stapel Ofudas.
Stirnrunzelnd starrte er ihr ins Gesicht, doch da war keine Hinterlist, keine Schadenfreude – nur Ausdruckslosigkeit, vielleicht ein bisschen Erwartung. Es mochte keine gute Idee sein, eine idiotische vielleicht sogar, doch er griff ebenso vorsichtig nach dem Stapel, wie sie ihn ihm entgegenhielt.
Kaum dass sich seine Finger um das Papier schlossen, war die Frau nach einem Blinzeln verschwunden.
Als er die Aufschrift las, legte sich seine Stirn in noch tiefere Falten, wusste er doch nicht mehr genau, wie er die Situation einordnen sollte. Es waren Schutz-Talismane. Schutz vor Kälte. Und Schutz vor den Augen diverser Bergdämonen. Nichts an ihnen fühlte sich falsch an, eher strahlten sie eine verblüffend helle Aura aus, und so nahm Ryuji sie mit Magenschmerzen hin. Im Moment brauchten sie jede Hilfe, die sie bekommen konnten, selbst wenn die Hilfe von einem Dämon selbst stammte.
Wie erwartet legte sich der Sturm nicht. Sie mussten gehen, wollten sie eine Chance zum Überleben haben. Ohne Zweifel hatte man inzwischen im Tal ihr Verschwinden bemerkt, aber Ryuji war sich im Klaren darüber, dass man sie nicht finden würde, solange sie von der schwarzen Magie umgeben waren. Irgendwie mussten sie es weiter hinunter und aus dem Einflussbereich des Sturms schaffen. Das Problem war und blieb, dass er keine Ahnung hatte, wo genau sie sich befanden und wenn er es nicht wusste, machte er sich keine Illusionen über den Kenntnisstand seiner Begleiter. Ihre Smartphones funktionierten nicht, ihre Uhren funktionierten nicht, der Himmel war vollständig bedeckt, der Schnee nahm jede Sicht.
„Das ist eine Scheißidee“, beschwerte sich Ruka und sprach damit aus, was alle dachten. „Wir haben keine Wahl“, entgegnete er ohne von seiner Beschäftigung aufzusehen, einen Rest Wasser aus einer ihrer Plastikflaschen zu schütten, „Keine Sorge, die Chancen stehen relativ gut. Diese Yamaubas scheinen nicht die Stärksten ihrer Gattung zu sein, ansonsten hätten sie schon längst angegriffen. Sie wollen uns vorher schwächen und wenn wir sie lassen, spielen wir ihnen in die Hände. Wie geht es deinem Fuß?“ Raidon half ihr auf die Beine und sie testete vorsichtig die Belastungsgrenze, ehe sie erleichtert aufatmete: „Es zieht noch ein bisschen, aber ... Ich denke, ich bin okay. Ich kann laufen.“
„Gut. Es wird nötig sein.“
Er wusste, dass der folgende Marsch die Entzündung wieder aufflammen lassen würde – und sie wusste es ebenfalls. Doch jammern war überflüssig, sie mussten es riskieren. Wenn er erst einmal die Orientierung zurückerhalten hatte, konnten sie auf ein Transportmittel zugreifen, doch bis dahin hieß es Schusters Rappen. Sie verließen die Höhle, einer nach dem anderen, wachsam und ein wenig ängstlich, nur Ryuji blieb zurück und schaute geistesabwesend auf die leere Flasche hinunter.
Draußen rauften sie sich zu einem Haufen zusammen. Raidon stöhnte: „Schei... Man sieht ja nicht mal, wo es hoch oder runter geht! Wie sollen wir hier den Weg finden?“ „Wie wär’s, wenn wir uns hinlegen und wo wir hinkullern, ist Richtung Tal?“, schlug Konyo vor. Tatsächlich entlockte der offensichtliche Nonsens den anderen gedämpftes Kichern und Asumi grinste: „Warum lacht ihr? Klingt doch nach ‘nem vernünftigen Vorschlag!“ „Bei so viel Vernunft frage ich mich, wie ihr es über die fünfte Klasse hinweg geschafft habt“, ertönte es hinter ihnen.
Ryuji zog den Reißverschluss seiner Jacke bis obenhin zu und schob Gengens Bambusröhre in die Brusttasche, um schnell an sie heranzukommen, wenn Not am Mann sein sollte. Dann zog er die Ofudas aus der Hosentasche, starrte sie einige Sekunden vorwurfsvoll an und seufzte dann. „Hier, jeder erhält jeweils eins von jedem Symbol“, er reichte jedem von ihnen ein Dreierset, „Aber macht euch bereit, sie sofort zu zerreißen, sollte ich es euch befehlen, klar?“ Kaum hatten sie das Papier berührt, spürten sie den Effekt und Beni hauchte anerkennend: „Wow! Mir wird warm! Diese Kräfte von euch Onmyojis sind so praktisch! Warum hast du das nicht schon vorher gemacht?“ Weil die Kraft dieses Onmyojis sehr gut eingeteilt werden musste. Natürlich sprach Ryuji dieses technische Detail nicht aus, sondern wiederholte streng: „Klar?!“ Alle stutzten, nickten und verwahrten die Ofudas sicher auf den Jackeninnenseiten.
Ein Problem blieb – die Orientierung. Doch auch dieses Mal brauchte er nicht lange zu suchen, kaum dass alle sichtlich bereit dazu waren, ihm in gutem Glauben überallhin zu folgen, entdeckte er die schwarze Alte, die wiederum halb verdeckt vom Stamm eines Baums zu ihnen hinüberstierte. Seiner Aufmerksamkeit bewusst, machte sie zwei Schritte rückwärts und als er ihr folgte, drehte sie sich um und lief im leichten Trott, kein bequemer Schritt, aber auch keine halsbrecherische Flucht wie in der Nacht zuvor. Er wusste noch immer nicht ganz, was er von ihrer Hilfsbereitschaft halten sollte, doch ein Verdacht drängte sich ihm immer hartnäckiger auf.
Verdammt, er verabscheute graue Existenzen.
Natürlich bemerkten auch die anderen sie und er spürte ihre skeptischen Blicke im Rücken, doch sie stellten keine Fragen, versuchten sich mit dem Glauben, dass er wusste, was er tat, den Schrecken zu nehmen. Und er wusste, was er tat. Zumindest vermutete er es.
Zwei volle Stunden wanderten sie, wachsende Erschöpfung und Rukas Knöchel den Weg erschwerend, doch wenigstens froren sie nicht. Auf einmal ließ der Schneefall merklich nach und der starke Wind klang ab zu einem beständigen Lüftchen, welches ihnen die Flocken nicht mehr waagerecht ins Gesicht, sondern leicht schräg in den Rücken wehte. Was immer sie vorhatte, die undurchsichtige Schwarze führte sie wenigstens weg von der offen antagonistischen Weißen, und das sollte Ryuji fürs erste genug sein.
In der Ferne erspähte er einen bunten Punkt und als sie wenig später vor einem roten Wimpel standen, schnaubte er verblüfft.
„Oh. Hier sind wir.“
Konyo schaute ihn misstrauisch an und fragte stirnrunzelnd: „Ryuji ... Hast du etwa die ganze Zeit gelogen, als du behauptet hast, den Weg zu kennen?“ Er ignorierte ihn und sah sich um – die Frau war verschwunden. Typisch.
„Passt auf die Talismane auf. Wo auch immer diese Hexen lauern, sie können uns immer noch verfluchen.“
„Hey, Ryuji! ... Hey!“
Die Piste war zu verschneit, um sie mit normalen Winterstiefeln hinabzulaufen. Das erkannten sie, als sie nur wenige Schritte ins Tal taten und in einem uneleganten Haufen mehrere Meter abwärts in eine Schneewehe rauschten, nachdem Raidon den Halt verloren und jeden einzelnen von ihnen mitgerissen hatte. Ruka war das zweite große Problem. Schon eine Weile kullerten ihr Tränen über die Wangen. Zu stolz, um über die Beschwerden zu klagen, wussten doch alle, dass der Fuß bereits wieder heftig schmerzte. Sie war tapfer. Sie alle waren tapfer, musste Ryuji ihnen zugestehen. Er hatte erwachsene Menschen in geringerer Todesgefahr klagen hören, doch seine Mitschüler erduldeten still oder mit gediegenem Humor.
Es gefiel ihm. Ihre Anwesenheit gefiel ihm. Nicht das geteilte Leid, natürlich nicht, aber er konnte sich weitaus weniger angenehme Gesellschaft vorstellen, inklusive Vorwürfen, gegenseitigen Anschuldigungen und Verrat. Diese Jugendlichen hatten wahrscheinlich noch nicht einmal aktiv daran gedacht, einen von ihnen als Opfer zurückzulassen. Sie waren Yuras Freunden wirklich unheimlich ähnlich.
So ähnlich, dass ihm die Zähne vom Zucker knirschten.
Oder vielleicht war nur der Schnee dreckig. Mit angewidertem Laut spuckte er ihn aus, wischte sich mit einem Ärmel über den Mund und zog mit der anderen Hand automatisch Asumi auf die Füße, die bei dem Sturz halb unter ihn geraten war. Die anderen halfen sich ebenfalls gegenseitig auf und blickten ratlos die lange geschwungene Abfahrt hinunter. „Scheiße“, murmelte Asumi verstimmt, „So kommen wir doch nie an! Wir können doch nicht wirklich den Abhang runterkullern, Konyo!“ Der Angesprochene starrte sie fassungslos an: „Tu nicht so, als hätte ich das verlangt! Es war ein Witz! Natürlich funktioniert das nicht, das sollte doch wohl jedem klar sein!“
Ryuji neben ihnen brummte nachdenklich in eine Hand. Alle Blicke richteten sich auf ihn und Beni flüsterte erschüttert: „Ist nicht dein Ernst ...“
„Natürlich nicht.“
Ryuji rollte mit den Augen und überhörte geflissentlich das simultane Stöhnen. Sie beobachteten ihn dabei, wie er in die Hocke fiel und eine Hand auf einen kleinen Schneehügel legte. Eine Erklärung für das Tun erhielten sie nicht und sie wussten es besser, als nach einer zu verlangen, doch nach einigen Sekunden scheinbarem Nichtstun sackte der Haufen zusammen und ein kleines Rinnsal floss über den entstehenden Rand, das schnell größer wurde. „Heilige Schande“, entfuhr es Raidon und den Mädchen gleichzeitig ein entzücktes Raunen, als das Wasser sich in die Luft erhob und sich wie ein schlangenähnliches Lebewesen mehr und mehr verknotete. Zwei Tatzen landeten im Schnee, gleich darauf zwei Hinterläufe und aus dem entstandenen durchsichtigen Körper schoss ein drahtiger Kopf mit einer langen Schnauze, spitzen Ohren und klaren, leicht wirren Augen.
Gengen.
Ryuji begnügte sich nicht mit einem Exemplar – für das, was er vorhatte, brauchte er eigentlich drei, doch er wusste auch, dass er Gengen mit Gewichten nur lang genug manifestieren konnte, wenn er ihn auf zwei reduzierte. Sie waren zu viele und seine geistige Kraft zu gering, um alle gleichzeitig abwärts zu befördern. Kaum dass sein Shikigami sich also zu zwei kräftigen Gestalten zusammengeschmolzen hatte, klopfte er sich die Hände an der Hose ab und wandte sich an seine Mitschüler.
„Okay, hört zu, so wird’s laufen. Ich werde vier von euch mit meinem Shikigami nach unten ins Tal transportieren. Es ist nämlich leider so, Garo kann nur in zweifacher Ausführung beschworen werden und für mehr als jeweils zwei von euch ist auf seinem Rücken kein Platz. Also knobelt aus, wer mit mir zurückbleibt, und es sollte ‘ne Offensichtlichkeit sein, dass das nicht Ruka sein wird. Sobald ihr unten seid, versuchen wir nachzukommen. Da wir aber nicht mit Sicherheit sagen können, was die Yokais noch aus den Ärmeln schütteln, wär’s ganz hilfreich, wenn ihr den zuständigen Behörden und unseren Lehrern Bescheid geben würdet. Und mit zuständigen Behörden meine ich auch den hiesigen Onmyoji-Tempel. Ich geb euch eine Nummer und die Adresse, für den Notfall.“
Er zückte sein Smartphone und begann darauf herumzutippen, und während sie noch aufgeregt ihre eigenen herauskramten und erfreut feststellten, dass sie wieder funktionierten, vibrierte Asumis. Ryujis Nachricht enthielt nicht mehr als das Angekündigte, aber ihre Augen leuchteten auf, als sie eilig den neuen Kontakt speicherte.
Hätte er die Wahl gehabt, hätte er Beni bei sich behalten. Sie war ruhig und vernünftig und begegnete ihm mit Vorsicht. In Anbetracht der Umstände erwartete er allerdings einen der Jungs, beide nicht unbedingt schweigsam, wenn auch mit unterschiedlichen Temperamenten ausgestattet.
Somit konnte er die Überraschung nicht verbergen, als Benis Smartphone klingelte und Asumi zufrieden nickte: „Ich hab die Nachricht weitergeleitet. Beeilt euch, wenn ihr angekommen seid, ja? Ich will diese komischen Tussen nicht länger als nötig im Nacken sitzen haben!“ Was ihn noch mehr verwunderte, war, dass keiner der anderen überhaupt versuchte, Einspruch zu erheben. Entweder waren sie doch so verängstigt, dass sich keiner vorzutreten traute oder sie waren es gewöhnt, ihr das letzte Wort zu überlassen.
Beni betrachtete Gengen zweifelnd und fragte: „Er ... er sieht ziemlich rutschig aus. Werden wir uns überhaupt auf ihm halten können?“ Ryuji nickte: Es wird nicht sonderlich bequem werden. Immerhin ist er ein Wasser-Shikigami. Der Hintern wird nass werden, aber ihr werdet festgehalten, keine Sorge. Und die Talismane sollten euch vor Kälte schützen, von der Seite dürftet ihr nichts zu befürchten haben.“ „Oh Mann, ist das abgefahren“, rief Raidon ein Stück entfernt. Er war bereits auf das Geisterwesen aufgesprungen und strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Ryuji legte die Stirn in eine Hand und seufzte.
Sie halfen Ruka auf den Platz vor Raidon, Konyo und Beni kletterten mit etwas Mühe auf den zweiten Gengen. Erstaunt stellten sie fest, dass Ryuji die Wahrheit gesagt hatte – es war ein seltsames Gefühl, an einer Art Wasserpfütze festzukleben, doch es durchströmte sie auch eine Welle des Zutrauens. Sie fühlten sich tatsächlich sicher auf diesen unglaublichen Wesen, das an eine Mischung aus dürrem Wolf und verrückter Ratte erinnerte. Ruka linste zögernd zu Asumi hinüber, die grinsend einen Daumen aufstellte: „Na schön ... Wir holen Hilfe, also ... Haltet durch, okay?“ Ryuji hob ausdruckslos eine Augenbraue, doch Asumi winkte fröhlich: „Wir verlassen uns auf euch! Lasst uns hier nicht in der Öde versauern, klar?!“
„Ihr erfriert, bevor ihr versauert.“
„Danke, Kon. Klugscheißerei hat mir gerade noch gefehlt.“
„Alles klar“, rief Raidon vergnügt, als hätte er die riskante Situation völlig verdrängt, „Überlasst uns die Sache! Wir alarmieren die ganze Stadt, wenn’s sein muss! YEEHAAA!“ Und er trat Gengen in die Flanken, einen entschlossenen Finger geradewegs hinunter ins Tal gestreckt. Ryuji dachte kurz darüber nach, ihn zu blamieren, doch die Zeit und sein Energievorrat drängten, und so ließ er Gengen fließen.
Die Wesen stürmten mit langen Sätzen voran, ihren Reitern unterschiedlich motivierte Schreie entlockend und Raidons lautes Lachen verlor sich sehr schnell im Wettlauf und dem leichten Schneefall.
Eine Weile sahen sie den immer kleiner werdenden Silhouetten nach, ehe Asumi sich die Oberarme zu reiben begann und unsicher murmelte: „Und ... was machen wir in der Zwischenzeit?“ Ryuji bedachte sie mit einem Seitenblick: „Ist dir kalt?“ Sie winkte hastig ab: „Nein nein! Das war nur ... Ich bin etwas ... Naja, ich bin ein bisschen nervös.“ Verständlich, dachte er und wies mit dem Kinn auf einen am gegenüberliegenden Rand der Piste liegenden entwurzelten Baum. Sie stapften hinüber und setzten sich und er schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Shikigamis waren intelligente, selbstständige Wesen. Er musste Gengen nicht den Weg vorgeben, doch er musste seine Gestalt mit Energie versorgen, sonst würde es für die anderen wirklich nass und unangenehm werden.
„Du hast Ruka beim Namen genannt.“
Er blinzelte irritiert.
„Was?“
„Du hast Ruka gesagt“, wiederholte Asumi leise und rieb sich erneut die Arme, „Du hast seit wir losgefahren sind keinen unserer Namen benutzt, aber im Bus hast du ihren Namen genannt, sogar den vollen, und vorhin hast du auch wieder Ruka gesagt.“
„Und wo ist das Problem?“
Sie schmollte: „Mich redest du überhaupt nicht an, schon gar nicht mit Namen.“ Er begriff nicht, wonach dieses Mädchen seine Prioritäten aufstellte.
„Ist das jetzt gerade echt ein Grund, mich davon abzulenken, deine Freunde in Sicherheit zu bringen?“
„Ich wette, meinen Nachnamen kennst du nicht.“
„Was um alles in der Welt läuft falsch in deinem Hirn?“
Sie schob die Unterlippe noch ein wenig weiter vor und schwieg.
Mehrere Minuten vergingen, in denen sich Ryuji ganz auf seine Aufgabe konzentrieren konnte. Oder zumindest halbwegs, denn ...
„Ich kenne deinen Nachnamen.“
„Das hätt ich jetzt auch gesagt.“
„Oh, verdammt nochma... Egano, okay?“
Ein winziges Schmunzeln umspielte ihren Mund, als sie zu ihm aufblickte und ihm lief ein Schauer über den Rücken. „Du hast eine nette Seite“, triumphierte sie und er merkte, ja, er hatte sich vorführen lassen. Er rollte mit den Augen und wollte etwas erwidern, doch schrilles Kreischen von der anderen Seite der Piste schreckte beide auf und Asumi wäre aufgesprungen, hätte er sie nicht gepackt und ihr den Mund zugehalten. „Kein Lärm, keine hektischen Bewegungen“, raunte er ihr zu und sie nickte nach wenigen Sekunden Paralyse.
Der Schneefall nahm zu.
Sie saßen ganz still und beobachteten den entfernten Waldrand, vor dem zwei Gestalten aus dem weißen Vorhang auftauchten. Ein heftiges Streitgespräch begleitete ihre abgehackten, strauchelnden Bewegungen.
Die weiße Frau zerrte die schwarze an den Haaren hinter sich her, immer wieder mit der flachen Hand auf diverse Stellen des gebeugten Kopfs einschlagend, das Kreischen stammte von Letzerer, die sich kümmerlich um Freiheit und Abstand zu der hemmungslosen Gewalt bemühte, eigenartig tonloses Wehgeschrei, einem Nebelhorn nicht unähnlich. Den Jugendlichen lief es kalt über den Rücken.
„Du hast ihnen geholfen, nicht wahr?! Dreckige alte Hure! Dreckige alte Menschen-Atzin! Oh, wie hätte ich dich töten mögen, schon vor Ewigkeiten!“
Mehrere Schläge und die Schwarze sackte inmitten der Piste auf die Knie, verzweifelt am Handgelenk der anderen kratzend, ohne besonderen Effekt zu erzielen.
„Hierher hast du sie geführt, richtig?! Brauchst es gar nicht abstreiten, ich rieche sie doch noch!“
Endlich ließ die Weiße los und lief einige Meter hin und her, fahrig nach einer Spur suchend, die sie doch noch zu ihrer Mahlzeit führte. Als sie nichts fand, wies sie mit einem zornig zitternden Zeigefinger auf die Schwarze und fauchte: „Hat dir die Zunge nicht gereicht?! Verfluchtes Luder, ich hätte dir den ganzen Kopf abhacken sollen! Was muss ich tun, um dir die Flausen auszutreiben?! Was muss ich tun, damit du aufhörst, mir die Beute entkommen zu lassen, Verräterin?!“
Damit sah sie sich wild um, erspähte einen losen Ast an dem Baum, auf dessen Stamm Ryuji und Asumi hockten und kam angelaufen, sodass Asumi beinahe geschrien hätte, hätte Ryuji sie nicht in weiser Voraussicht flink an seine Brust gezogen. „Sie kann uns weder sehen noch hören, solange wir’s nicht drauf anlegen“, flüsterte er, die Yamauba keine Sekunde aus den Augen lassend, wie sie blind in Raserei an dem Ast herumriss, bis sie ihn mit einem dumpfen Knarzen endlich vom Rest gelöst hatte. Der ganze Baum wackelte dabei und verriet ihm ihre überwältigende Stärke. Mit der Doppelausführung seines Shikigamis weitab vom Schuss war es keine gute Idee, sich diesem Gegner zu offenbaren.
Die Weiße rannte zurück, in ihrer Wut unkonzentriert und mehr als einmal im tiefen Schnee strauchelnd, trotzdem erreichte sie die Schwarze schneller, als diese flüchten konnte und schlug mit dem Knüppel unnachgiebig auf sie ein.
So viel Angst Asumi auch in den Knochen steckte, das Jammern und Klagen, was sich daraufhin erhob, weckte ihren Gerechtigkeitssinn und sie stieß sich von Ryuji ab im festen Vorhaben, dem Akt ein Ende zu bereiten. Es gelang ihm gerade noch, von hinten ihre Jacke zu erwischen und sich auf sie zu werfen. Beide purzelten in den Schnee, sodass er um sie herum aufwirbelte.
Sofort schwang die Yamauba herum.
Ihre stechenden Pupillen wanderten von links nach rechts, unwirsch die Umgebung absuchend, Knüppel, Alte und Rage vergessen. Misstrauisch wanderte sie etwas ziellos umher, mal dahin, mal dorthin und hätte sie gewusst, dass sie dabei sogar einmal beinahe an Ryujis Kopf getreten hätte, hätte sie die Zähne nicht weiter in Frust, sondern in Schadenfreude gefletscht.
Wie durch ein Wunder taumelte sie um die beiden herum, nicht mitten drauf, und konnte die Quelle der Unterbrechung nicht orten. Sie schnüffelte die Luft, doch auch dieser Sinn brachte sie nicht weiter.
Schließlich gab sie auf. Ihr Zorn kehrte zurück und sie stapfte zurück zur Schwarzen, fuhr ihr erneut ins Haar und schleifte sie wortlos zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Ryuji riskierte für eine ganze Viertelstunde nicht, sich zu rühren und zum Glück begriff Asumi die Notwendigkeit, auf Nummer sicher zu gehen. Als die Dämonen aber nicht wiederkehrten und auch sonst alles still blieb, setzte er sich auf und atmete mehrmals erleichtert durch. Sie tat es ihm gleich, fragte jedoch nach wenigen Augenblicken Entspannung: „Warum hat sie sie angegriffen? Ich meine, gehören sie nicht zusammen? Sie scheinen ... Nun ja, Kameraden zu sein? ... Komplizen?“ Er schüttelte den Kopf und stand auf, um dem Schnee nicht noch mehr Gelegenheit zu geben, seine Sachen zu durchnässen: „Aus irgendeinem Grund scheinen sie aufeinander angewiesen zu sein. Aber keine der Bezeichnungen klingt besonders korrekt. Die Yamauba ... Hast du es gehört? Sie scheint der anderen die Zunge rausgeschnitten zu haben, um sie am Reden zu hindern. Möglicherweise hat sie nicht nur uns zur Flucht verholfen, sondern hat es schon bei mehreren versucht.“ Er reichte Asumi die Hand und sie zog sich daran empor: „Lass mich raten – ob das gelingt, ist eine andere Frage.“ Er nickte stumm. Sie schauderte.
„Also ist sie gut?“
„... Sie könnte nicht grundlegend schlecht sein.“
„Aber du hast gestern gesagt, es gäbe keine Ausnahmen.“
„Willst du jedes Mal, wenn du einem Yokai begegnest, erst darüber nachdenken, ob er gut oder böse ist? Krieg das in deinen Schädel rein, du triffst Yokai, du rennst so schnell du kannst, kapiert? Unterschiede sind selten sofort ersichtlich. Ja, ich gebe zu, dass diese gut sein könnte – könnte zu einer anderen Art gehört. Aber ich kann nicht sicher sein. Yamaubas spielen gerne mit ihrem Essen und auch wenn sie nicht hinterhältig genug sind für dermaßen tiefgründige Psychospielchen, rate ich dir, dein Überleben nicht von ihrem Eingreifen abhängig zu machen.“
„Okay.“
Sie setzten sich wieder und Ryuji stellte zufrieden fest, dass Gengen nicht mehr weit von der Endstation entfernt war. „Es dauert nicht mehr lang“, klärte er Asumi auf und schloss die Augen, „gib mir noch zehn, fünfzehn Minuten. Dann können wir auch von hier verschwinden.“ Sie nickte, obwohl er sie nicht sehen konnte.
Sie bemühte sich, ihn nicht zu stören, immerhin hing die Gesundheit ihrer Freunde von ihm ab, aber sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Nicht nur befand sie sich in einer gefährlichen Situation, nein, sie hatte auch mehrere Minuten unter ihm gelegen, seine Wärme, sein Herz klopfen gespürt und es war ihr keinesfalls unangenehm, aber doppelt peinlich gewesen – gerade weil es ihr nicht unangenehm gewesen war. Beide konnten froh sein, dass Raidon und Konyo dem Wurf nicht beigewohnt hatten, es hätte ihnen Munition für den Rest des Lebens geliefert. Sie hätten Asumis Wunsch nach Ryujis Aufmerksamkeit in ihren jugendlichen Trieben nur wieder pervertiert. Sie mochte sie, keine Frage, aber manchmal wollte sie ihnen Wunderkerzen in die Nasenlöcher schieben. Hintereinander. Und ordentlich quirlen, um herauszufinden, ob sich irgendwo doch noch Hirnmasse in den dumpfen Schädeln befand. Selbst Beni konnte sich in ihrer Begeisterung für Liebestragödien verlieren und zwischen den Zeilen lesen, obwohl gar nichts zwischen den Zeilen steckte.
Asumi mochte Ryuji. Inwiefern wusste sie selbst nicht genau. Doch sie hoffte, es irgendwann herauszufinden – wenn er ihr denn die Gelegenheit dazu zu geben bereit war. Und sie unbeschadet von diesem Ort wegkamen, was im Moment viel wichtiger war. Hinter ihnen raschelte es und ihr Kopf ruckte umgehend herum, nur um ein Wildkaninchen die Nase in den Wind rüffeln und im nächsten Busch verschwinden zu sehen. Sie seufzte erleichtert. So aufregend das Abenteuer auch war, der Stress wurde ihr langsam zu viel.
Als sie wieder nach vorn sah, starrte sie direkt in das breit grinsende Gesicht der Yamauba.
Es war vollkommen unmöglich, den Schrei zu unterdrücken.
Während Asumi hinten überfiel und Ryuji mit sich riss, weil sie reflexartig seinen Ärmel ergriffen hatte, lachte der Dämon schrill auf.
„Da seid ihr! Ich wusste, ich rieche noch immer frisches Fleisch!“
Ryuji fluchte hingebungsvoll. Die Überraschung hatte ihn die Verbindung zu Gengen verlieren lassen und außerdem waren die Talismane nutzlos geworden. Die Yamauba wusste nun, worauf sie achten musste und der Zauber verflüchtigte sich. Die anderen hatten es fast bis zur Endstation geschafft und von dort war der Weg zur Stadt nicht weit. Er konnte nur hoffen, dass das abrupte Ende der Beschwörung sie nicht zu unsanft auf irgendein Hindernis hatte prallen lassen.
Keine Zeit, sich um andere Sorgen zu machen.
Er packte Asumis Arm und zerrte sie in die Höhe, gerade noch rechtzeitig weg von der Stelle, auf die sie gefallen war und wo nun das Blatt einer scharfen Axt den Schnee teilte. Asumi entfuhr nochmal ein Schrei und die Yamauba schaute irre auf.
„Ihr entkommt mir nicht! Ihr habt mir schon zu viele Schwierigkeiten bereitet! Das Gelage ist dürftiger geworden, aber euer Gekröse wird mir dafür umso mehr munden!“
Asumi blinzelte, als sie sich fragte, was für ein anstößiges Vorhaben diese Ankündigung beinhaltete. „Unsere Eingeweide“, übersetzte Ryuji entnervt, „sie meint unsere Eingeweide.“ Das war zwar nicht obszön, blieb aber generell beunruhigend, weswegen sie ängstlich wimmerte und sich fester an ihn drückte. Er schnaubte nur abfällig und dirigierte sie hinter sich und weiter weg vom Angreifer, der die Axt mit einem Ruck aus dem gefrorenen Boden riss und sich ihnen ganz zuwandte. Er grinste und griff in seine Brusttasche, um die Bambusröhre herauszuziehen: „Wollen doch mal sehen, ob du mich auch schaffst, wenn ich keinen Klotz am Bein habe.“ Sie leckte sich in froher Erwartung über die spitzer gewordene Zahnreihe: „Und was ist mit dem Mädchen?“
„Kollateralschaden.“
„Hey!“
Asumi verlor für Sekundenbruchteile ihre Angst und schlug ihm empört auf den Hinterkopf, doch leider gönnte man ihr nicht lange Entspannung, denn schon stürmte der Feind ihnen erneut entgegen. Aus der Röhre schoss zeitgleich das Wasser und Gengen formte sich in Abwehrstellung vor ihnen.
„Garo! Verschlinge!“
Der Rattenwolf schnellte voran mit weit geöffnetem Maul, die Yamauba wich behände aus und schleuderte die Axt, die jedoch mitten durch ihn hindurchging. „Willst du wirklich Wasser zerschneiden?“, höhnte Ryuji und zog Asumi mit sich einige Schritte zur Seite, „Du bist noch dümmer, als du aussiehst! Übrigens – Angriff von links!“ Asumi erinnerte sich an seine Worte in der Höhle.
‚Sie sind unglaublich einfältig.‘
Und er hatte recht, kaum dass die Warnung seinen Mund verlassen hatte, warf sie sich herum und wartete zu lange, um sich vor dem Fall in den Rücken rechtzeitig schützen zu können. „Ups“, schob er direkt hinterher, „ich meinte das andere Links. Von mir aus gesehen natürlich. ‘tschuldigung, mein Fehler! Aber jetzt nochmal richtig!“ Während sie sich aufrappelte, bemühte sie sich hastig, wieder in die genau gleiche Richtung zu blicken, mit der er sie zuvor ausgetrickst hatte. Selbstverständlich war die Mühe umsonst, da Gengen ihr erneut ins Kreuz fiel. Sie kreischte wutentbrannt und er grinste: „Holla, das wollte ich nicht! Bin wohl nicht ganz fit wegen der langen Nacht! Garo! Du musst doch wissen, was ich meine! Von unten! Greif von unten an!“ Natürlich platschte ihr das Shikigami, kaum dass sie das Haupt gen Boden gesenkt hatte, ungebremst auf den Kopf und sie prustete hektisch, als sich das Wasser den Weg in ihren zweiten Mund bahnte. Ryujis Grinsen verfinsterte sich.
„Fließ, Gengen.“
Und mit einem atemlosen Röcheln platzten alle Flüssigkeiten aus der Yamauba heraus.
Der Schmerz des Entzugs schickte sie kreischend in den Schnee, zuckend krümmte sie sich um den eigenen Unterleib, während immer noch Rinnsale aus Mund, Nase und Augen flossen, als der erzwungene Krampf nachgelassen hatte. Ryuji war noch nicht fertig.
„Du hast mein Shikigami geschluckt. Damit hast du dich dem Tode geweiht. Sein Gift wird dich innerhalb einer Minute sterben lassen, wenn du nicht rechtzeitig mein Gegenmittel zu dir nimmst ... Oh, ich vergaß. Ich hab ja gar keins bei mir!“
Eine Weile hörten sie nur das schwere Atmen des Gegners, doch plötzlich ging es in glucksendes Lachen über und Ryuji runzelte die Stirn, Asumi verspannte sich nervös.
Die Yamauba richtete sich auf, geschüttelt von jenem Gelächter, welches schnell lauter und schriller wurde. Als sie die Arme ausbreitete und mit weit aufgerissenen Augen gen Himmel gackerte, spannten sich auch die Muskeln auf Ryujis Rücken so stark an, dass Asumi es durch seine Winterjacke erkennen konnte. Mehr brauchte selbst sie nicht, um zu erkennen, dass das Problem größer war als angenommen.
„Du kannst mich nicht töten, Onmyoji. Und schon gar nicht so.“
Die raue Stimme des Dämons ließ keinen Zweifel an dem Hass auf die Jäger und bewies, dass das keine reine Jagd zum Hungertilgen mehr war.
„Aber ich ...“
Hervortretende stechende Augen richteten sich auf Ryuji, der die Beine zum Sprung bereit beugte.
„Ich brauche weniger als eine Minute!“
Sie konnten ihren Bewegungen kaum folgen, von einer auf die andere Sekunde tauchte sie direkt vor ihnen auf und ihre schlanken, übermenschlich kräftigen Finger legten sich um Ryujis Hals. Durch den unerwarteten Angriff nicht in der Lage gewesen, sich vorzubereiten, enthielten seine Lungen zu wenig Sauerstoff, um dem Abschneiden der Luftzufuhr entgegenzuwirken.
Sofort spürte er die Auswirkungen, Schmerzen im Hals, Brennen in der Brust und Panik.
Er bekam kaum genug Luft zum klaren Denken, geschweige denn zum Reden, seiner stärksten Waffe. Zwar funktionierten seine Gliedmaße noch, aber die Arme der Feindin ließen sich kein Stück von ihrem Platz verrücken und auch die Tritte, die er ihr in den Unterleib versetzte, ertrug sie, solange sie ihn töten konnte.
Asumi war hastig von ihnen abgerückt, kaum dass sich der Dämon auf Ryuji gestürzt hatte und starrte nun entsetzt auf das rangelnde Paar. Ryujis Keuchen wurde lauter und lauter, doch wurde es noch weit übertönt von dem entrückten Gekicher und keines seiner Abwehrmaßnahmen zeigte auch nur den Hauch einer Wirkung! Sie musste etwas tun! Sie musste ihm helfen! Und ihr Schuh stieß an einen harten Gegenstand, den sie ohne auch nur zu Überlegen aufhob und losrannte.
„Ryuji! Halt durch, da kommt Unterstützung von hinten!“
Die Yamauba schwang herum, wie erwartet, wie sehnlichst erhofft, und der Ast, den sie vor einer Weile dazu verwendet hatte, ihre unglückselige Kameradin zu verprügeln, kollidierte so fest mit ihrem Hinterkopf, dass ihr zweiter Mund vor Schmerzen schrie.
Asumi verlor keine Zeit, kaum dass die Yamauba mit dem Gesicht voran in den Schnee stürzte, ließ sie den Knüppel fallen und packte Ryujis Arm, um ihn mit aller Gewalt in die Höhe und von ihr wegzureißen. Er hustete und röchelte, und dass er sich ohne Gegenwehr von ihr dirigieren ließ, war ein schlechtes Zeichen. So dachte sie, als ein kaum vernehmliches „Danke“ seiner Kehle entfuhr und er sich wieder aufrichtete.
„Scheiße“, entfuhr es ihm hingebungsvoll, „das hat mich kalt erwischt. Was für ein Miststück!“ Immer noch ein bisschen atemlos orderte er Gengen zurück in seine Nähe und richtete die Röhre auf den ebenfalls langsam wieder zu Sinnen kommenden Gegner. „Zur Seite“, raunte er Asumi zu, „sie verliert mehr und mehr an Verstand. Solange ich im Fokus stehe, droht dir keine Gefahr. Verzieh dich und weck nicht nochmal unnötigerweise ihre Aufmerksamkeit, verstanden?!“
Unnötigerweise. Klar.
Sie sprach ihre Skepsis nicht aus, dachte sie doch daran, die Gleichgültigkeit sich gegenüber auszunutzen, sobald es auch nur so schien, als würde ihn die Hexe ein zweites Mal überwältigen. Also nickte sie nur. Ehe sie ihm gehorchen konnte, fasste er aber ihre Hand und fischte in seiner eigenen Jackentasche herum, während sie von der Geste in Sekundenschnelle rote Ohren bekam.
Er gab ihr die Wasserflasche, die er sich in der Höhle von Beni erbeten hatte: „Pass verdammt gut drauf auf. Wenn du keine andere Wahl hast, schmeiß ihr das Zeug ins Gesicht. In jedem anderen Fall benutz sie, sobald ich es dir sage.“
Verständnislos sah sie darauf hinab, doch er wies sie nur nochmal an zu verschwinden und sie zögerte nicht, der Anweisung zu gehorchen. Sie lief so schnell ihre müden Beine sie trugen ins Abseits, wo sie sich hinter einem dicken Baum duckte und sich entschlossen auf die Lauer legte.
Ruyji und die Yamauba verfielen derweil in einen verzweifelten Tanz aus Angriff und Verteidigung und weil sein Shikigami nicht die gewünschte Wirkung erzielte, wehrte er sich mit gemischten Kampfkünsten, je nachdem, was er gerade benötigte, um den Feind zu verwirren. Doch die Yamauba war stark und er nicht schwach, aber menschlich. Seine verbalen Finten wirkten jedes Mal, aber sie stand nach jedem erfolgreichen Angriff wieder auf, mal schneller, mal langsamer, aber nie langsam genug, um ihm ein Zeitfenster für eine mögliche Flucht zu eröffnen. Und seine Energie nahm zusehends ab.
Asumis Fingernägel pressten tiefe Furchen in ihre Handflächen, doch was konnte sie tun, um ihm zu helfen? Vor allem, was, wenn die Yamauba die Wahrheit sagte und unverwundbar war? Es war mit Sicherheit mehr als eine Minute vergangen und sie stand tatsächlich noch, genauso kräftig und hasserfüllt wie zu Beginn des Kampfes.
Sie war so gefesselt vom Kampf, dass sie nicht merkte, wie sich jemand an sie heranschlich. Erst als sich eine knochige Hand auf ihre Schulter legte, wirbelte sie herum, der Schrei blieb ihr diesmal im Halse stecken, was gut so war, denn die Schwarze legte eilig einen Finger an die Lippen als Zeichen des Stillschweigens. Ryuji hatte gesagt, dass sie ihnen möglicherweise helfen wollte. Sollte sie seine Aufmerksamkeit wecken? Oder sollte sie dem Yokai Vertrauen schenken? Es fiel schwer, nicht loszulaufen und an der Seite eines erfahrenen Dämonenjägers Schutz zu suchen, doch sie unterdrückte den Reflex und zwang sich zur Ruhe. Hätte diese Frau sie töten wollen, hätte sie gerade die perfekte Gelegenheit gehabt. Doch sie hatte sie nicht genutzt.
Zudem schockierte Asumi der bemitleidenswerte Zustand der Alten. Sie war am ganzen Körper geschunden, Striemen und Blutergüsse hatten sich auf der faltigen Haut gebildet und ihre Kleidung war stellenweise eingerissen und blutdurchtränkt. Was immer es ausgelöst haben mochte, der Wutanfall der Weißen hatte seine Spuren hinterlassen. Weil sie fremden Kindern geholfen hatte, die eigentlich ihre Beute hätten sein müssen.
Die Alte erkannte, dass Asumi nicht vorhatte, ihre Anwesenheit zu verraten oder zu fliehen. Sie nickte mit einem Ausdruck von Dankbarkeit und griff behutsam in einen Ärmel, als wollte sie das Menschenmädchen nicht verschrecken.
Eine Blume kam zum Vorschein.
Asumi blinzelte die kleine Pflanze an. Stängel und Blätter waren blassgrün und schimmerten sogar ein wenig, die Blütenblätter waren auf einer Seite reinweiß, auf der anderen tiefschwarz. Es stand völlig außer Frage, dass es sich um ein magisches Produkt handelte.
Die Frau stand still, sichtlich erwartungsvoll, und als sich Asumi nicht rührte, streckte sie ihr die Blume noch ein Stück weiter entgegen.
Ein markerschütterndes Brüllen ließ ihre Körper erbeben. Asumi schwang entsetzt herum, halb vor die Alte, und starrte auf die Yamauba, die sich nicht weit von ihnen entfernt die Haare zu raufen begonnen hatte.
„Du hast sie mitgebracht?! Verräterin! Atzin! Verfluchtes Gezücht! Steck sie weg! STECK SIE WEG!!!“
Asumi verstand die Welt nicht mehr.
Ryuji dafür umso besser.
Nach einem kräftezehrenden Scharmützel mit einem Gegner, der sich einfach nicht kleinkriegen lassen wollte, hatte er bereits damit geliebäugelt, Asumi allein von Gengen in Sicherheit bringen zu lassen. Er wusste nicht, wie weit er mit der Strategie gekommen wäre, aber den Versuch wäre es wert gewesen. Doch dann hatte die Weiße von ihm abgelassen, als sie etwas sehr Verstörendes im Augenwinkel erspäht hatte. Er war ihrem Blick gefolgt und hatte erst nur Asumis Rücken gesehen, doch als sie sich umgewandt und vor die Schwarze geschoben hatte, hatte er die Blume in den runzligen Händen entdeckt. Und es war ihm sofort klargeworden, was sie seiner Mitschülerin da feilbot.
Einige Yamaubas trennten ihre Seelen von ihren Körpern, ein unfehlbares Mittel, signifikante Stärke zu erhalten. Doch die Seele musste gelagert werden. Ein Medium musste die Rolle des Körpers übernehmen – und bei Bergdämonen waren das in der Regel Pflanzen.
Blumen.
Warum wusste er nicht, aber die Schwarze hatte jene Blume aus dem Versteck geschmuggelt und hielt sie nun abwechselnd Asumi und ihm entgegen. Doch selbst aus der Entfernung erkannte er die unterschiedliche Färbung. Das da war nicht nur das Gefäß für eine Seele.
Es war, als offenbarte sie ihnen ihr Herz.
Während die Weiße seitlich von ihm tobte, es jedoch nicht wagte, auf die beiden zuzustürmen aus Angst, Asumi könnte in der Hast das kostbare Gut beschädigen, musterte Ryuji aufmerksam das Gesicht der Alten. Sie wandte den Blick nicht ab, sah ihn nur ausdruckslos an – und ruckte wieder mit den Händen, wie sie es mit den Ofudas getan hatte. Nimm, schien sie ihm zu sagen, wir haben keine Zeit.
„Was erhoffst du dir?!“, schrie die Yamauba und fuchtelte mit den Händen, „Menschen können sie nicht vernichten! Das Mädchen ist nutzlos! NUTZLOS! Vielleicht verletzt es mich, aber ich werde nicht sterben! Hörst du?! Steck sie weg und troll dich! TROLL DICH!“ Asumi schaute bemitleidenswert ratlos von einem zum anderen und Ryuji erbarmte sich ihrer. Er zückte Gengens Bambusröhre, holte weit aus und warf sie Asumi in hohem Bogen entgegen.
„BENUTZ SIE!“
Asumi riss die Augen auf, hob beide Hände, um sie aufzufangen.
Im nächsten Moment teilte die geschleuderte Axt der Yamauba die Röhre in der Mitte und das kostbare Nass ergoss sich über den Schnee, mit dem es verschmolz und unrettbar verloren ging.
Fast zeitgleich erschien sie direkt vor Ryuji und packte ihn erneut am Kragen, um ihn ohne ersichtliche Anstrengung vom Boden abzuheben und zu schütteln.
„Nur ein Onmyoji hätte eine Chance, sie zu zerstören! Nur ein Shikigami ist in der Lage dazu! Und ich werde es bestimmt nicht dazu kommen lassen! Ich werde dich töten und ausweiden und nichts kann mich noch daran hindern, du Pest!“
Sie warf ihn mehrere Meter weit gegen einen Baum und er strauchelte hustend zu Boden. Sie dachte, jedwede Gefahr sei gebannt. Stattdessen konzentrierte sie ihre gesamte Wut auf Ryuji, auf den sie zu stolzierte im festen Vorhaben, dem lästigen Feind endlich den Garaus zu machen. Asumi beachtete sie nicht mehr.
Diese stand mit gerunzelter Stirn da und starrte wortlos auf die Überreste der Bambusröhre, die nun kein Gengen mehr enthielt. Aber was hatte er ihr zugerufen?
‚Benutz sie!‘
Sie hatte genau diese Worte vor kurzem schon einmal von ihm gehört, doch es konnte nicht sein, dass er so weit ins Voraus geplant hatte.
Oder?
Sie drehte sich um und ging zu der Alten, die mit desillusioniertem Ausdruck auf die Knie gefallen war. Die Blume hielt sie noch immer in Händen, die Blume, die Asumi als normaler Mensch nicht zerstören konnte. Stattdessen zog sie die Plastikflasche hervor, die er ihr gegeben hatte, schraubte sie auf, zögerte skeptisch, doch ein Schmerzenslaut in ihrem Rücken ließ sie die letzten Skrupel beiseite schieben. „Leg sie in den Schnee“, befahl sie der Alten und diese gehorchte umgehend – die Hoffnung, die übers fahle Gesicht huschte, drehte ihr den Magen um. Was, wenn sie sich täuschte?
Keine Zeit zum Zweifeln.
Und so ließ sie einen dünnen Strahl Wasser aus der Flasche auf die Blume rieseln.
Erst geschah nichts, doch dann zogen sich die feinen Blättchen zusammen, kräuselten sich, rissen an den Rändern und verkohlten. Einher ging das Verblühen mit einem so durchdringenden Kreischen, dass sie meinte, auch ihr Trommelfell reißen zu spüren.
Sie ließ die Flasche fallen, doch das war nicht schlimm, war sie doch bereits vollständig entleert, und presste sich beide Hände auf die Ohren.
Die Yamauba hatte Ryuji losgelassen, dem sie gerade die langen Klauen in die Gurgel schlagen wollte, und fuhr sich stattdessen ins Haar, über die Kopfhaut, übers Gesicht und hinterließ lange blutige Schrammen, während ihr Körper zu dampfen begann und ihre Haut in beeindruckendem Tempo vertrocknete. Schreiend taumelte sie einige Schritte rückwärts. Ihr einst so schönes Gesicht glich nun einer grotesk verzogenen Grimasse, die zusehends alterte und ergraute. Ein hasserfüllter Blick glitt zu Asumi, die die Zähne zusammenbiss wegen der lauten Schreie im Todeskampf.
„WIE?! WOHER?! BIST DU ETWA AUCH ...?!“
„Nein nein, sie gehört nicht zu mir“, erklärte ihr Ryuji munter, obgleich seine Stimme ein wenig wund und rau vom Würgen war, „Du hast nur die Pointe nicht begriffen. Viele von euch Yokais heutzutage sind so erbärmlich rückständig, dass sie in der Regel glauben, ein traditionellen Behälter in den Händen eines Onmyojis würde sein Shikigami beherbergen. Aber nun, weißt du, es ist so ... Eigentlich ist es egal. Garo fühlt sich in jedem anderen Behältnis genauso wohl, sagen wir zum Beispiel ... in einer ordinären Plastikflasche? Und wenn es sich bei dem Wasser um neunundneunzigkommaneun Prozent kristallklares Konjosui handelt, ist es völlig schnuppe, wer es dir in die hässliche Visage kippt.“ Sein Ausdruck verlor jeden Humor.
„Vergehe, Kreatur! Die Hölle hat dir schon deinen wohlverdienten Platz vorgeheizt!“
Damit drehte er sich um und ging, ohne sie noch weiter zu beachten, zu den anderen, um sich neben Asumi hinzuhocken und ihr anerkennend auf die Schulter zu klopfen: „Gut gemacht.“ Sie stieß einen verständnislosen Laut aus und ließ die Hände von den Ohren sinken: „Was hast du gesagt?“
„Ich habe gefragt, warum zum Geier das so lange gedauert hat! Hast du den Hinweis nicht kapiert oder wolltest du warten, bis mich das Miststück auskaut?!“
Entrüstet sprang sie auf und wies einen anklagenden Zeigefinger auf ihn: „Oh, du undankbarer Fatzke! Ich glaub’s ja nicht! Da rette ich dir die Haut und du blaffst mich an?! Hätte sie nicht schon vor ‘ner Ewigkeit an dem Gift sterben müssen, das du ihr verabreicht hast?! Was ist damit?! Da hast du gar nicht versagt, was?!“ Er schnaubte abfällig, ein Mundwinkel hob sich in Schadenfreude: „Welches Gift? Garo ist doch überhaupt nicht in der Lage dazu, Kyogen ist das Shikigami, mit dem ich Gegner vergifte. Den habe ihn aber gar nicht dabei.“ Sie blinzelte ihn an wie eine Eule.
„Aber das bedeutet ja, dass ... Sie war gar nicht vergiftet?“
„Korrekt.“
„Also dass sie innerhalb von zwei Minuten stirbt ...“
„War gelogen. Ich hatte gehofft, sie würde fliehen und uns die Möglichkeit bieten, ebenfalls zu entkommen.“
Asumi stöhnte leidend und rieb sich das Gesicht, um die Muskeln zu entspannen. Dann fiel ihr Blick auf die alte Frau und ihr stockte der Atem, erbleicht in Schrecken.
Die schwarze Gestalt war abgemagert, ergraut, einige Stellen ihres Körpers fielen in Bröckchen hinab und zersetzten sich im Wind zu Nichts. „Was ... was passiert mit ihr?!“, rief Asumi schockiert aus und fiel zurück auf ein Knie, um der Frau eine Hand auf die Schulter zu legen. Unter ihr gab das Fleisch nach und zerbröselte, was sie in stillem Grauen umgehend wieder zurückweichen ließ. Ryuji verankerte den Blick mit dem Dämon, der ihn selig erwiderte.
„Zwillinge. Die beiden sind Zwillinge, dazu verdammt, von der Lebenskraft der jeweils anderen abzuhängen.“
Asumi starrte ihn verdattert an, konnte sich den Vorwurf in der Stimme nicht verkneifen.
„Aber du hast gesagt, dass sie unterschiedlicher Herkunft sind! Wie ist es dann möglich, dass sie Zwillinge sind?!“
Sie war aufmerksam und ließ sich keine Dummheiten auftischen. Das beeindruckte ihn. Doch sie dachte zu irdisch und es gab nichts zu tun, außer auf die zerstörerische Wirkung der toten Blume zu warten, und so erklärte er, wo er ansonsten nur spöttelnd ausgewichen wäre.
„Kamis und Yokais gehorchen keiner weltlichen Logik. Kennst du die Geschichte der Dioskuren?“
„... Castor und Pollux, richtig? Aus der griechischen Mythologie?“
„Hm, schlauer als du aussiehst, Respekt. Zeus zeugte Polydeukes mit Leda in einer Nacht, in der sie sich auch ihrem Mann Tyndareos hingab, der Kastor beisteuerte. Dadurch teilten sich die Kinder eine Eizelle, obwohl sie von unterschiedlichen Vätern abstammten. Sie waren nach Fug und Recht Zwillinge und dadurch in tiefer Bruderliebe verbunden. Etwas in der Art muss auch hier geschehen sein, nur dass es sich für diese beiden als unangenehm kontrovers herausgestellt hat.“
Die Alte schmunzelte sanft und nickte kaum merklich. Asumi spürte einen Kloß im Hals, und er wuchs rasant, als sie schluckte: „Also ist sie tatsächlich gut.“ Ryuji verzog keine Miene: „Scheint so.“ Und dann, nach kurzem Zögern: „Volksmund nennt Yokais wie sie Yamababas. Bergmütter.“ Asumis Hände begannen zu zittern: „Aber dann ... stirbt sie doch gerade, oder? Wir ... wir haben die Blume zerstört. Ich hab die Blume zerstört! Das ... das ist meine Schuld!“
„Jepp. Es ist unsere Schuld.“
Doch er bezweifelte stark, dass es die Yamababa mit Trauer erfüllte, endlich von ihrer grausamen Schwester erlöst zu werden. Nicht mit einem so seligen Ausdruck auf einem verwitterten Gesicht, dem ein paar Minuten Agonie nach Jahren, Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten körperlicher und seelischer Qualen nicht mal mehr ein Zucken abringen konnten.
Und sie zerfiel zu Staub, stumm und lächelnd, als wäre endlich alles nach ihren Wünschen abgelaufen.
Neben ihm gab Asumi ein Geräusch, irgendwo zwischen Grunzen und Quieken von sich, nur feuchter, und er stemmte sich seufzend in die Höhe. „Übrigens“, er gönnte ihr ein gemeines Grinsen über die Schulter hinweg, „Es kommt zwar außerordentlich selten vor, aber es ist auch Menschen möglich, Zwillinge von verschiedenen Männern zu gebären. Ihr Frauen solltet also immer sehr gut aufpassen.“ Und für einige Sekunden vergaß sie Schuldgefühle, Mitleid und Bedauern und öffnete den Mund in hoffnungsloser Entgeisterung. Er wollte schon siegesbewusst in sich hineinkichern, als ein gellender Schrei durch die Umgebung hallte, so laut, dass die Berge ihn mehrfach verstärkt in alle Richtungen zurückwarfen.
Die Yamauba raufte sich noch immer die Haare, der Fortschritt der entlassenen Seele auch bei ihr deutlich sichtbar, kaum noch bei Verstand und doch voller Hass und Zorn. Mit diesem letzten Aufbegehren erstarrte sie zur Salzsäule, Wind wie ein hungriger Parasit an ihrem Körper zerrend und die Partikel mit sich ins Leere reißend.
Doch der Schaden, dieser letzte Schaden war entstanden und aus der Ferne drang ein tiefes, bedrohliches Grollen an ihre Ohren, welches selbst den abgebrühten Onmyoji jedwede Gesichtsfarbe kostete. Mit beiden Händen griff er in den Schnee, konzentrierte seine letzte noch verbliebene spirituelle Energie auf die sich schnell bildende Pfütze. Das Konjosui war kontaminiert, aber wenn er Gengen nicht mehr im Kampf benötigte, reichte die Körperkraft des Shikigamis auch über unreines Wasser völlig aus.
Kaum dass sich der Rattenwolf manifestiert hatte, packte er Asumi um die Hüfte, warf sie regelrecht hinauf und sprang hinterdrein, kaum einen Sekundenbruchteil mit festem Halt verschwendend, ehe er ihn den Hang hinunter trieb.
Onmyojis durften niemals gegen Dämonen verlieren – geschweige denn, sie aus den Augen verlieren!
Er hatte nicht aufgepasst.
Beinahe hätte Ryuji es begrüßt, wenn endlich das Gefühl aus seinen eiskalten Gliedmaßen gewichen wäre – es wäre besser gewesen als das brennende Stechen seiner Muskeln, jede Mal, wenn er auch nur ein bisschen im feuchten Schnee rutschte und sich nur mit Mühe auf den Beinen zu halten schaffte. Asumi auf seinem Rücken stöhnte schmerzerfüllt, ihn jedoch erfüllte ihr Erwachen mit Erleichterung.
Sie waren der Lawine knapp entkommen, beziehungsweise hatten sie es dank Gengen in letzter Sekunde unter einen rettenden Abhang geschafft, der verhindert hatte, dass sie vollkommen im drückenden Schwall des endlosen Nichts versunken waren. Trotzdem hatte sie noch einiges an Gewicht getroffen und es hatte eine Weile gedauert, ehe sie alle fünf Sinne genügend zusammengeklaubt hatten, um sich buddelnd und keuchend daraus zu befreien. Der Marsch abwärts war durch den gelockerten Schnee noch beschwerlicher geworden und Hilfe durch sein Shikigami stand nun vollständig außer Frage. Asumi hatte irgendwann vor Erschöpfung und, wie er vermutete, durch noch nicht diagnostizierte Verletzungen das Bewusstsein verloren. Doch sie konnten sich eine Pause nicht mehr leisten, weswegen er sie kurzerhand Huckepack genommen hatte. Was sie davon hielt, würde sie ihm später in Ruhe erklären können, doch zuvor war ihre einvernehmliche Zustimmung nicht vonnöten gewesen. Zu allem Übel hatten mit dem Tod der Alten auch die Talismane, die ihnen Wärme spendeten, jede Wirkung verloren und Ryuji hatte nicht mehr genug Energie, um auch nur einen von beiden mit neuer Kraft zu erfüllen. Sie waren auf sich allein gestellt. Durchnässt, müde und unterkühlt, doch keinesfalls gewillt, den Löffel abzugeben, wie Asumi sich so optimistisch auszudrücken gewusst hatte – ehe sie zusammengebrochen war. Nicht für lange, doch lange genug, um ihm einen Hauch Sorge zu bereiten.
„Was ist passiert?“
„Kannst du dir doch wohl denken, wenn dein Hirn nicht von der Kälte schockgefrostet wäre. Konzentrier dich einfach ein bisschen mehr.“
„Ha-Ha.“
Asumi hätte ihm gern einen Schlag auf den Hinterkopf gegeben, doch sie war zu müde, um die Hand zu heben. Oder sich für ihre prekäre Position zu genieren, die sie sich mit etwas Geduld und Mühe tatsächlich zusammenreimen konnte. Sie machte keine Anstalten, sich von ihm lösen zu wollen. Und er zwang sie nicht dazu, traute er doch seiner eigenen Stärke nicht mehr zu, sie nochmal vom Boden aufheben zu können, sollte sie erneut fallen.
Eine Weile ließ sie ihn in Ruhe in seiner Anstrengung, ihrer beider Gewicht einigermaßen zuverlässig Richtung Tal zu manövrieren. Der Sturm hatte aufgehört, der Tag war zu Ende gegangen, doch war es noch nicht stockdunkel, sodass sie noch gut erkennen konnten, wohin sie traten.
Dann fragte sie endlich.
„Weißt du ... Mir ist etwas eingefallen. Du hast in Kuran mehr als zwei von diesen Wölfen beschworen.“
Als er darauf nichts erwiderte, hakte sie nach, trotz der Umstände danach strebend, einen sie schon länger grämenden Verdacht bestätigt zu wissen: „Hast du ... Wolltest du diese Yokais unbedingt töten? Warst du zu stolz, um rechtzeitig zu fliehen?“ Dies entlockte ihm ein Augenrollen und er neigte ihr den Kopf zu, was ihn beinahe das Gleichgewicht verlieren ließ. Nach einem hingebungsvollen Fluchen stapfte er vorsichtig weiter, versuchte aber nicht noch einmal, sie anzusehen.
„Red keinen Stuss. Ich bin ein Profi, ich kenne meine Grenzen. Wenn ich hätte zurückbleiben wollen, um es mit ihnen aufzunehmen, meinst du echt, ich hätte einen von euch dabehalten?!“
„Aber warum hast du dann nur zwei-“
Er hielt abrupt an und seine Schultern verspannten sich, was sie den Rest des Satzes nervös herunterschlucken ließ.
„Ich sagte doch gerade, ich kenne meine Grenzen.“
Damit nahm er den Marsch wieder auf und sie fühlte sich schlecht, ihn zu einem Geständnis gezwungen zu haben, das er ihr so offensichtlich nicht hatte machen wollen.
„... Tut mir leid.“
Das war alles, was sie für eine Weile herausbrachte, doch sie fühlte sich verpflichtet, sich auch noch für einen anderen Umstand zu entschuldigen, und so murmelte sie peinlich berührt in seinen Kragen: „‘tschuldige. Ich bin bestimmt schwer.“ Ein Schnauben.
„Schwer wie Minao die Kochfee.“
„Aber die wiegt hundertsechsunddreißig Kilo!“
„Sag ich doch.“
„Oh, du bist so ein Arsch!“
Sie meinte es nicht ernst. Wie denn auch, wenn er sie unbeeindruckt von der eigenen sichtlichen Erschöpfung ohne zu klagen durch unwegsames Gelände schleppte? Es gab so viele großspurige Jungs an ihrer Schule, aber nicht viele hätten in einer solchen Situation so zuverlässig an ihrer Seite verharrt. Ein Hauch von Zutrauen wallte durch ihr Bewusstsein und sie schmunzelte hauchzart.
„Meine Großmutter hat immer gesagt, ich solle Ausschau nach stillen Männern halten, die ihren Charakter erst dann zeigen, wenn es nötig ist, und ihren Weg gehen, ohne auf das Gerede anderer zu hören.“
„Und du erzählst mir das, weil ...?“
„Sie meinte, ich könnte nur mit einem solchen Mann glücklich werden.“
Leises Glucksen ließ seine Schultern erbeben und sie genoss die Genugtuung, ihn zum Lachen gebracht zu haben.
„Und du hörst auf andere?“
„Nicht auf andere. Auf Oma! Sie war Heiratsvermittlerin, weißt du? Ihre Erfolgsquote lag bei sagenhaften dreiundneunzig Prozent!“
„Reife Leistung. Und seitdem klebst du jedem Kerl an der Backe, der dieser Beschreibung entspricht? Hätte dich nicht für bedürftige Hausfrau in spe gehalten.“
Sie schüttelte den Kopf und es fühlte sich an, als streichelte sie ihm übers Schulterblatt.
„Nee, nicht wegen Heirat. Ich mag Menschen wie dich einfach. Wenn ich einen treffe, will ich gleich Freund mit ihm sein. Und du bist ... cool. Du bist wirklich richtig cool, Ryuji, und ich hab mich wirklich angestrengt, dich besser kennenzulernen.“
„Davon hab ich aber nichts gemerkt.“
„Weil du nicht wolltest ... Du wolltest nichts ... mit mir zu tun haben. Aber versucht hab ich’s! Deshalb ... bin ich so froh, dass du mitgefahren bist ... diesmal. Ist ... ist die letzte Chance gewesen, weißt du? Die letzte Chance, bevor ...“
„Halt die Klappe. Durchs Aufmachen wird’s nur noch kälter.“
Natürlich hörte sie nicht auf ihn. Oder zumindest nur für eine magere Minute, ehe es in seinen Nacken flüsterte: „Willst du ... willst du wirklich keine Freundschaft? Weil ... weil wenn nicht, würd ich dich in Ruhe lassen, ehrlich ... Wenn du nicht willst ...“ Er seufzte und hievte sie sich etwas weiter über die Schulter, sodass sie einen überraschten Laut ausstieß und sie Wange an Wange gerieten.
„Idiot. Jetzt hör schon auf zu heulen. Ein bisschen leichter als Minao bist du ja.“
Und sie lachten. Leise, aber beide.
Verrückt, dachte Ryuji bei sich. Es gab nicht viele, die seinen Kampfstil lobten. Nichts Ehrenhaftes daran, nur Hinterhalt und Täuschung. Schlange wurde er genannt, Reptil oder Ratte. Ihm selbst machte es nichts aus, es hatte ihm und vielen anderen mehr als einmal die Haut gerettet. Aber so direkt, wie sie war, konnte er sich nicht vorstellen, dass ihre Begeisterung lange anhielt. Mamiru passte eher zu ihr. Ehrlich, stark, kein Bedarf an vorsichtiger Planung.
„Weißt du, das Ganze hier ist ja alles andere als romantisch, aber hätte ich nur die Wahl zwischen Funkstile und Gruselkabinett ... Ich würde diesen Höllentrip jederzeit wiederholen.“
Ihre kaum vernehmlichen Worte unterbrachen seine Gedanken und bewiesen ihm einmal mehr, wie sehr ihre gutgelaunte Truppe Yuras Freunden glich. Nie zuvor war es ihm so deutlich vor Augen gehalten worden, aber er konnte Freunde haben.
Die Frage war, ob er dazu bereit war, es zu versuchen.
In diesem Moment ertönte von weitem ein Rufen, mehrere Stimmen folgten und die eindeutigen Geräusche vieler Menschen in der Nähe. Der Himmel war bereits ziemlich düster, doch er erkannte Silhouetten, die sich ihnen schnell näherten.
Sie stellten sich als Bergwacht heraus und nicht nur das, bei ihnen waren Raidon und Beni, die sich trotz der Warnungen der Helfer voller Freude auf sie stürzten.
„Asumi! Ryuji! Ihr habt’s echt runtergeschafft!“
Raidon packte einen Arm und wuchtete ihn sich über den Nacken, Ryuji dabei nicht unwillkommen mit der Last unterstützend: „Wir haben uns wahnsinnige Sorgen gemacht! Als wir kurz vor der Endstation ‘ne Bruchlandung hingelegt haben, weil’s uns schlichtweg den Wolf unterm Hintern weggewischt hat, haben wir schon das Schlimmste befürchtet!“ Beni fasste die Hand einer vom Glück etwas überwältigten Asumi und drückte sie fest: „Wir dachten, so fies kann Ryuji nicht sein, dass er uns einfach auf die Straße schmeißt, und dann dachten wir, dass euch irgendwas passiert sein muss, und wegen der Yamaubas dachten wir-“ Sie brach ab und schluchzte, deswegen übernahm Raidon den Rest der Erklärung: „Zum Glück waren bereits überall Rettungskräfte unterwegs. Unsere Lehrer sind nämlich schon auf ‘m Zahnfleisch gelaufen! Die haben unser Verschwinden kaum ‘ne Stunde, nachdem wir abgehauen sind, bemerkt und als dann der Sturm losbrach, haben sie fast ‘nen Herzkasper gekriegt! Den Tempel haben wir aber auch noch verständigt, wie du gesagt hast!“
Dafür war es zu spät, dachte Ryuji bei sich, und behielt es auch dort. „Gute Arbeit“, murmelte er stattdessen und ergab sich der Dunkelheit, die ihn lange schon zu überwältigen gedroht hatte. Er hörte zwar Rufe und spürte das Schütteln, aber wenn so viele Leute um sie herumschwirrten, gab es wohl wenigstens einen, der statt ihm die Angelegenheit regeln konnte.
Er war viel zu müde dafür, sich auch nur noch eine einzige weitere Minute auf den Beinen zu halten.
Er schlug die Augen auf und brauchte einige Sekunden, um sich zwischen Traum und Wirklichkeit zu entscheiden. Sein Wecker zeigte halb acht Uhr an und er begriff, dass er das Klingeln überhört hatte. Mal wieder.
Der unsägliche Klassenausflug lag nun schon über zwei Wochen zurück und natürlich hatte er sich eine vermaledeite Lungenentzündung zugezogen. Glücklicherweise nur eine leichte, die schnell behandelt worden war und sich dadurch weniger prächtig entwickelt hatte, als wäre sie unerwartet gekommen. Er hatte einige Tage im Krankenhaus verbracht, ehe ihn seine Familie nach Hause geholt hatte, und er war gut gesundet. Nun bemühte er sich schon seit Tagen, zurück in seinen Tagesrhythmus zu finden, aber noch waren die Folgen des mühseligen Trips in die Berge nicht ganz auskuriert.
Seufzend stand er auf und bereitete sich auf die Schule vor. Zum ersten Mal seit Nagano würde er seine Klassenkameraden wiedersehen und es erfüllte ihn nicht unbedingt mit Freude. Wenn er Glück hatte, sagte er sich jedoch, hatten sie bereits alle interessanten Informationen aus Asumi und Co. herausgepresst und ließen ihn deshalb in Frieden, wie von allen Seiten bevorzugt.
Es war spät und er musste sich beeilen, somit stahl er nur eben auf dem Sprung Yuras Toast, der frisch geröstet auf ihrem Teller lag, und ignorierte den Protest. Sie regte sich nicht nur über den Toast auf, sondern über den ganzen Ryuji, der doch eigentlich noch gar nicht fit genug war zum Rausgehen. Er erklärte ihr, dass sie sich ihren Vortrag in den Scheitel schmieren konnte. Sie erklärte ihm, dass sie das Oberhaupt war und er auf sie hören musste. Gerade, als er dabei war, ihr zu erklären, was er mit ihrem Haupt zu tun gedachte, sollte sie nicht aufhören, ihm auf den Geist zu gehen, sah er vom Fenster aus eine Gestalt, die sich am Tor zum Tempel herumdrückte. Erstaunt runzelte er die Stirn.
Yura bemerkte seinen Blick und folgte ihm, woraufhin sich ihr eigener etwas aufhellte: „Sie steht da jeden Morgen! Wartet, bis einer von uns hingeht und ihr Bescheid gibt über deinen Zustand! Ich kann’s nicht fassen, aber du hast anscheinend echt Leute, die sich um deine Gesundheit sorgen! Sie ist nett, hätte nie gedacht, dass du so jemand vernünftigen anziehst!“ Sie erhielt eine Kopfnuss für ihre Mühen.
Asumi verlagerte das Gewicht von Ballen auf Ferse, während sie geduldig darauf wartete, von einem von Ryujis Geschwistern verständigt zu werden, dass er auch an diesem Tag noch nicht gesund genug fürs Aufstehen war. Statt einer eifrigen Schwester oder einem der ernsten, aber höflichen Brüder schreckte sie dieses Mal eine schroffe, aber oh so erhoffte Stimme aus den Gedanken auf.
„Was zum Teufel willst du denn hier?“
Sie fühlte, wie das sich ausbreitende Grinsen fast schon unangenehm an den Mundwinkeln zerrte, als sie aufsah und ihr Ryuji in voller Montur und Schultasche entgegenkam. Noch ein wenig blass um die Nasenspitze, aber endlich wieder dieses markante Zusammenziehen der Augenbrauen, als wollte er die ganze Welt in einen Mixer stopfen und auf maximaler Stufe schreddern.
Sie hatte es vermisst.
„Dich abholen“, strahlte sie deswegen furchtlos wie ein Krieger mit Mission, „Wir können gemeinsam zur Schule gehen! Es ist nur ein kleiner Schlenker für mich, also keine Umstände!“ Sie fiel neben ihm in Schritt, ohne sich davon beleidigt zu fühlen, dass er sich stöhnend durchs Haar fuhr. „Musst du es unbedingt drauf anlegen?!“, fragte er konsterniert, „Bist du echt so scharf drauf, mir in den Weg zu straucheln und als Yokai-Futter zu enden?!“ Sie machte einen Satz von ihm weg und eine geschmeidige Jiu-Jutsu-Bewegung: „Ein Schwarzgurt Asumi erscheint! Ich habe keine Angst vor Dämonen. Lass sie ruhig kommen!“ Er starrte sie fassungslos an, schüttelte entmachtet den Kopf und ging weiter: „Du bist echt ein verrücktes Huhn.“
„Jepp!“
„Geh weg! Du nervst!“
„Vergiss es! Und sei nicht so gemein!“
„Wenn du gemein nicht willst, lauere mir nicht vor meinem Haus auf!“
„He, wusstest du, dass der Tempel in Nagano das Haus der Yamaubas gefunden hat? Man hat ein Sammelgrab dahinter entdeckt ... Oder wahrscheinlich war es für sie nur die Müllkippe. Viele davon waren Tierknochen, aber einige gehörten Menschen. Sie werden jetzt vernünftig bestattet. Meinst du, ihre Seelen finden dadurch endlich Ruhe?“
„Die der Opfer oder die der Yamaubas?“
„Eine war eine Yamababa! Das ist ein Unterschied!“
„Muss ich mich von dir tatsächlich in Dämonologie aufklären lassen?“
„Wir waren übrigens auch alle krank!“
„Wenigstens ein kleiner Trost.“
„Ruka, die Ärmste, hat’s voll erwischt, bestimmt, weil sie so viel auf dem kalten Boden hat sitzen müssen.“
„Kann es sein, dass du nur so tust, als würdest du den Leuten zuhören?“
„Sie lässt dir ausrichten, dass sie dir was schuldet. Das ist super vorteilhaft für dich, ihre Eltern haben nämlich einen Onsen als Nebenerwerb und sie lassen dich und deine Geschwister für ein paar Tage umsonst rein! Yura ist übrigens voll lieb, sie und ich haben schon alles geregelt, wir können nächstes Wochenende gehen, das wird dir bestimmt guttun!“
„Und was hast du mit meinen Geschwistern zu tun?“
„He, wir gehen heute zur Karaoke! Hast du Lust mitzukommen? Ich meine, du musst nicht singen, ist wahrscheinlich eh schlecht für unsere Stimmen so kurz nach ‘ner Erkältung, aber die haben da tolle alkoholfreie Cocktails, schmecken wie echt!“
„Ich geb’s auf.“
Inzwischen weit in ihren Rücken starrten ihnen fünf Köpfe, am Balken des Tempeleingangs übereinander ans Holz gepresst, in stiller Andacht hinterher. Obwohl sie sie schon lange nicht mehr verstehen konnten, studierten Ryujis Geschwister Gestik und Mimik ihres gegenüber Außenstehenden sonst so reservierten Bruders und stellten überrascht fest, dass es nicht so aussah, als würde er das fröhlich schnatternde Mädchen in absehbarer Zeit mit einem Aknefluch belegen.
„Masatsugu.“
„Hn?“
„Ist sie ein Dämon?“
„Nein. Zumindest bin ich mir ziemlich sicher.“
Yura stieß einen ratlosen Laut aus, Stirn gerunzelt und Lippen geschürzt. Sie hatte sich in der letzten Woche zwar viel und gern mit Asumi unterhalten, doch eigentlich hatte sie es nie für möglich gehalten, dass sie nicht in dem Augenblick die Flucht ergreifen würde, in dem er mit wachem Geist und mieser Laune das Haus verließ. Doch dort lief sie, nicht vor ihm weg, sondern neben ihm her, als fühlte sie sich tatsächlich wohl in ihrer Haut.
Ein beschämendes Gefühl der Eifersucht erfüllte ihre Brust, simultan mit überwältigender Freude. Dass er aus sich herauskam, war ein Zeichen dafür, dass er dem Fluch der Haguromo Kitsune keine Bedeutung mehr beimaß. Dass er dem Fluch keine Bedeutung mehr beimaß, war ein Zeichen dafür, dass dieser gebrochen war. Denn wenn Ryuji eine Bedrohung beiseiteschob, hieß das, dass es keine Bedrohung mehr war.
Und wenn sie sich für jemanden etwas mehr Lebensfreude wünschte, war das Ryuji.
„Ein schöner Tag, die Welt blüht auf, es ist ein schöner Tag, ein wunderschöner Tag!“
Rikuo und seine Freunde starrten wortlos eine selig vor sich hinträllernde Onmyoji an, die beschwingten Schritts und strahlenden Gesichts vor ihnen hermarschierte. „Du bist heute unglaublich gut gelaunt“, bemerkte Kana schließlich erheitert, „Ist etwas Schönes passiert?“ „Nein“, erwiderte Yura mit entschlossenem Blick, „Aber das wird es, noch bevor der Tag zu Ende geht!“
„Oh? Gibt es was besonders Feines bei euch zu essen?“, fragte Natsumi lächelnd. „Es wird doch nicht etwa ‘ne Überraschungsparty für dich geschmissen, oder?“, mutmaßte Jiro besorgt, und leiser zu den anderen, „Wir haben doch nicht ihren Geburtstag vergessen, oder?!“ Rikuo schüttelte energisch den Kopf: „Nein! ... Oder zumindest hoffe ich es. Vielleicht wird ein Marathon ihrer Lieblingsserie gesendet?“ „Alles Quatsch“, rief Kiyotsugu siegessicher dazwischen, „sie freut sich nur auf unsere heute anberaumte Séance, ist doch ganz klar! Schließlich rufen wir Izanami höchstpersönlich an, die Herrscherin der Unterwelt!“
„Apropos: Hältst du das wirklich für so eine gute Idee? Sie ist immerhin ... Nun ja, die Herrscherin der Unterwelt!“
„Worauf willst du hinaus? Ich für meinen Teil kann es nicht abwarten! Stellt euch nur vor, die Mutter aller Götter und Dämonen! Sie muss eine atemberaubend schöne Frau sein!“
„Kiyotsugu. Sie ist ein Brandopfer. Wie viel von ihrer ursprünglichen Schönheit wird wohl erhalten geblieben sein, nachdem sie den Gott des Feuers geboren hat?!“
„... Euch fehlt der Sinn fürs Abenteuer, allen miteinander!“
„Ahem ... Das ist doch jetzt echt nicht der springende Punkt! Die Frage ist, ist es wirklich das, was Yura so dermaßen erfreut?“
„Nein nein, das ist es alles nicht“, kicherte Yura recht untypisch, „Es ist nur so – wenn ich heute Abend nach Hause komme, wird mich kein zynischer Witz erwarten, kein unmenschlich hartes Training, keine sarkastische Standpauke und mit Sicherheit kein gemeiner Streich! Ab sofort und für sieben wundervolle Tage werde ich nämlich meine schwerverdiente Ruhe haben vor meinem unnötig fies sadistischen Bruder, HA!“
„Wieso ‘n das? Ist er wieder auf Monsterjagd?“
„Du bist echt komisch. Vor kurzem hast du dir wegen ein paar Stunden noch fast in die Hose gemacht, in denen er dir nichts von der Jagd nach diesem Pfandleihhaus gesagt hat und jetzt freust du dich wie ‘ne Brezel über ‘ne ganze Woche Abstinenz?“
Yura fuchtelte entsetzt mit den Armen: „Was?! Nein! So ist das doch gar nicht! Diesmal ist alles ganz harmlos und garantiert ungefährlich!“ Das strahlende Grinsen erschien erneut auf ihrem Gesicht: „Ryuji ist nämlich für die ganze Woche auf Klassenfahrt in Nagano! Ein Hoch auf unser Schulsystem!“
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Ehe er auch nur daran denken konnte, es zurückzuhalten, entfuhr Ryuji ein Niesen und er runzelte missmutig die Stirn.
Um ihn herum wuselten seine Klassenkameraden durcheinander, sorgsam darauf bedacht, das eigene Gepäck auch ganz bestimmt fest verstaut im Bus zu wissen. Er selbst begriff die Aufregung nicht – sie alle hatten Geld und waren alt genug, im Notfall zumindest zurück nach Hause zu finden. Warum also taten alle so, als wäre ein Abbruch der Reise das Ende der Welt? Für ihn war es das erste Mal, an einer Klassenfahrt teilzunehmen. In der Vergangenheit hatte die Arbeit im Tempel ihm nie erlaubt, länger als zwei bis drei Tage abwesend zu sein. Warum man ihn in diesem Fall so vehement zur Teilnahme gedrängt hatte, konnte er nicht nachvollziehen.
Dass seine Familie stets Zeitmangel vorgeschoben hatte, um ihn und seine Brüder unter größtmöglicher Aufsicht zu halten, konnte er nicht wissen. Dazu war ihr Verhältnis zueinander zu kalt gewesen, die Todesgefahr durch den Fluch der Haguromo Kitsune zu präsent. Niemand wollte die Jungs sterben sehen, doch jeder hatte jeden Tag damit gerechnet. Diese Umstände hatte es schwergemacht, mehr als eine professionelle Beziehung aufzubauen, und so hatten sie sie bis zuletzt im Dunkeln darüber gelassen, wie sehr sie sich tatsächlich um sie sorgten.
Ryuji war klug. Er ahnte natürlich etwas davon. Doch das half ihm jetzt, nach dem vermeintlichen Aufheben des Fluchs, wo sie ihn plötzlich nicht mehr im Haus haben wollten, nicht viel.
Und auch nicht gegen seine kindischen Mitschüler, die nicht aufhören wollten zu schwatzen!
Augenrollend stieg er in den nächstbesten Bus, wie so oft die Stimme der Autorität ignorierend, die versuchte, mit Platzanweisungen die Gruppierungen der größten Störenfriede zu vermeiden. Hinter ihm wurden Beschwerden laut, minderten sich jedoch wieder, als er sich am Fenster in einer mittleren Reihe niederließ. In die Mitte wollte niemand. Nach hinten zog es die Drückeberger, die jeder Bildung tunlichst aus dem Weg gingen, nach vorne Streber oder solche, die an Reisekrankheit litten. Solange er ihnen nicht die begehrten Plätze streitig machte, interessierte es niemanden, dass er als erster ging. Sich sofort Kopfhörer über die Ohren zu streifen, darauf verzichtete er vorerst, obwohl ihn der Tumult, als die Masse seinem kühnen Beispiel folgte, sehr dazu drängte. Denn vielleicht gab es doch noch sinnvolle Anweisungen seitens der Lehrer zu beachten und da er sich hauptsächlich allein würde unterhalten müssen, wollte er die Regeln kennen, um nicht unnötige Diskussionen zu entfachen.
„Ist hier noch frei?“
Da er mit auf einer Hand abgestütztem Kinn hinaus auf die wuselnde Masse sah, entging ihm, dass die Frage an ihn gerichtet worden war und drehte sich erst zu einer strahlend lächelnden Asumi um, als sie ihm ungeduldig auf die Schulter tippte.
Nach kurzer Musterung zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder ab. Sie hüpfte auf und ab und winkte enthusiastisch Richtung Eingang: „Beni, hier! Hier sitzen wir zusammen, sag’s den anderen!“ Und damit ließ sie sich mit erleichtertem Seufzen in den Sitz fallen. „Find ich super, dass du mitfährst, Ryuji“, begann sie sofort loszureden, „Wäre echt schade gewesen, hättest du die letzte Gelegenheit verpasst!“
Richtig. Ihre Schulzeit neigte sich dem Ende zu, befanden sie sich doch im letzten Jahr der Oberstufe. Deswegen hatten seine Geschwister also darauf bestanden. Sentimentale Bande.
Er antwortete nicht und Asumi kam nicht dazu, etwas hinzuzufügen, ehe sich jemand in die Reihe vor ihnen schob und hinter ihnen ein Pulk hereinstürzte, der die Sitze wackeln ließ.
„Geschafft!“
Fast gleichzeitig hoben sich drei Köpfe über die Lehnen und eine weitere Mitschülerin lächelte ihn an, zwar nicht ganz so nassforsch wie Asumi, doch nicht weniger neugierig: „Hallo, Ryuji! Ich bin Beni! Beni Aikawa!“ „Und ich Raidon Hayase“, tönte es von hinten und eine Hand wurde ihm über die Schulter gereicht, „Und das hier ist Konyo Ozaki!“ Ausdruckslos starrte er erst auf die Hand, dann in die zwei grinsenden Gesichter: „... Ich weiß, wie ihr heißt. Wir gehen seit drei Semestern in die gleiche Klasse.“
Nach kurzer, peinlicher Stille stieß der Schwarzhaarige, Konyo, aus: „Oh. ‘tschuldige. Du wirkst immer so desinteressiert, da dachten wir ... Naja.“ In diesem Moment zwängte sich das letzte Mitglied von Asumis munterer Clique an Beni vorbei ans Fenster. Das Mädchen wirkte weniger erfreut, seine Nähe dulden zu müssen, murmelte aber wie einstudiert: „Hi, Ryuji. Schön, dich zu sehen. Ich bin-“ „Ruka Yoshimura“, beendete er den Satz für sie und Konyo klärte sie, als sie verblüfft in die Runde blickte, verlegen auf. „Er kennt uns“, und nickend an Asumi gewandt nochmal, „Er kennt uns.“ Sie grinste breit: „Ich sag doch, er ist cool.“ Dann schmunzelte sie Ryuji entschuldigend an: „Wir haben gewettet und ich war die einzige, die meinte, du würdest was außerhalb des Lernstoffs mitbekommen. Soll keine Beleidigung sein, du redest halt kaum mit irgendwem und wenn, benutzt du alles, nur nicht unsere Namen.“ Dem hatte er nichts entgegenzusetzen, immerhin wusste er selbst, dass die Schule nicht sein größtes Interessengebiet darstellte. Das Lernen fiel ihm leicht, er hatte früh damit begonnen und hatte oft bereits Lektionen beherrscht, die erst später auf dem Plan gestanden hatten. Seine Mitschüler waren dabei das Letzte, was ihm wichtig erschien, solange sie nicht gerade von Dämonen besessen waren. Zwischenmenschliche Beziehungen hatten ihn nie interessiert, immerhin war er von klein auf davon ausgegangen, früh sterben zu müssen. Wer legte in einem solchen Fall schon Wert auf langanhaltende Freundschaften?
So zuckte er nur die Achseln und wandte sich wieder dem Fenster zu. Um ihn herum verfielen alle in erwartungsfrohe Gespräche und Gelächter, während er selbst versuchte, den Lärm auszublenden und sich seinen Gedanken hinzugeben.
Ja, er war zum Sterben bestimmt gewesen. Jedoch ... Die Sache sah inzwischen anders aus, richtig? Sehr wahrscheinlich war der Fluch mit dem Tod der Haguromo Kitsune gebrochen. Also konnte er es durchaus riskieren, nachhaltiger mit anderen Menschen zu interagieren, richtig?
Sein Knie kitzelte, als etwas Leichtes darauf abgelegt wurde. Irritiert sah er hin und Asumi dabei zu, wie sie einen Stapel Karten verteilte. Seine Stirn legte sich in tiefe Falten: „Was soll das werden?“ „Wir spielen Mau Mau“, erwiderte sie.
„Und warum ich?“
„Du hast nichts anderes zu tun, oder?“
Er starrte sie an wie ein Wesen vom anderen Stern, welches er nicht mal dann verstanden hätte, hätte es eine menschliche Sprache gesprochen.
Dann schwenkte er das Bein hin und her, sodass die Karten unter ihrer empörter Beschwerde in einem chaotischen Haufen zu Boden rutschten.
Interagieren zu können hieß noch lange nicht, es auch zu wollen.
Zum Musikhören kam er nicht.
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Nach stundenlanger Busfahrt waren fast alle froh, an einem kurzen Spaziergang durch Nagano teilnehmen zu müssen, ehe sie die Zimmer der Jugendherberge beziehen durften. Ryuji fühlte sich ein weiteres Mal unangenehm überrumpelt, als Asumi mit einem lauten „Gruppe!“ eine Hand hob und mit der anderen seinen Ärmel umklammert hielt, als wollte sie ihn an der Flucht hindern. Wenigstens war er nicht der einzige Überraschte, auch Ruka warf der Freundin den schönsten Im-Ernst-Blick zu. Er wusste nicht, warum Asumi ihn bei sich haben wollte, andererseits hätte es auch jeder andere aus der Klasse getan. Sie mussten Gruppen bilden, damit niemand allein auf dem Weg verloren ging und so würde es auch für den Rest des Aufenthalts sein, sodass er nicht protestieren konnte. Hatte sie aber einen Scherz mit ihm vor, indem sie ihn irgendwo sich selbst überließ, würde sie schwer enttäuscht werden, denn er kannte sich in der Stadt gut aus. Im Extremfall konnte er im hiesigen Onmyoji-Schrein Unterschlupf finden, bis die Betreuer sein Verschwinden bemerkten. Vielleicht war eine Übernachtung dort sowieso von Vorteil – wenn sich seine Mitschüler in der Herberge so benahmen wie im Bus, wollte er lieber nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Möglicherweise gab es im Schrein sogar etwas für ihn zu tun.
Während der Lehrer begann, über die Stadtgeschichte zu rezitieren, flüsterte Konyo Asumi verlegen zu: „Hast du dir das gut überlegt? Ich meine, du hast Ryuji nicht mal gefragt! Vielleicht will er ja viel lieber mit anderen rumhängen?“ Die Hoffnung in seiner Stimme war unüberhörbar und Ryuji hielt ein abfälliges Schnauben zurück. Einige Stunden nebeneinander zu sitzen war halt doch etwas anderes, als sieben volle Tage füreinander verantwortlich zu sein. „Ach Quatsch, das passt schon“, sie winkte lässig ab, „Wenn er es anders gewollt hätte, hätte er schon protestiert, nicht wahr?“ Ihr auffordernder Blick wanderte über sein Gesicht, welches soviel verriet wie immer. Trotzdem fand sie im stoischen Ausdruck alles, was sie suchte, was sich in ihrem breiten Grinsen deutlich widerspiegelte.
Ryuji war es tatsächlich egal und quittierte es mit einem weiteren Schulterzucken. Er verstand sich mit all seinen Klassenkameraden, solange es sein musste, pflegte aber keine so festen Bindungen, dass er Vorlieben entwickelt hatte. Einer war so gut wie jeder andere.
Raidon und Beni zumindest machte es nichts aus, sie musterten ihn vielmehr neugierig von der Seite und als der Lehrer endlich zu Ende gesprochen hatte und sie losmarschierten, fragte der Junge sogleich: „Weißt du, manchmal wache ich auf und denke immer noch, Kuran wäre nur ein böser Traum gewesen. Aber das ist echt passiert, nicht wahr? Es gibt echt Dämonen und es gibt echt Onmyojis!“ Ryuji dachte nicht einmal daran, sich das genervte Augenrollen zu verkneifen: „Willst du wirklich olle Kamellen aufwärmen? Aber von mir aus. Nein, du hast nicht geträumt. Ja, gibt es beides.“
„Hey, nimm’s mir nicht übel, aber manchmal muss man es hören, um es ganz zu schnallen, und du bist schwer zu erreichen! Und in letzter Zeit ist so viel Schule ausgefallen, dass ich schon dachte, ich würde keinen von euch dieses Jahr noch wiedersehen.“
„Ist viel passiert seitdem.“
„Kein Scheiß. Die halbe Stadt liegt in Trümmern. Was für ’n Erdbeben. Mir läuft’s immer noch kalt den Buckel runter beim bloßen Gedanken dran!“
Ryuji brummte nur, nachdenklich Blick gen Boden gerichtet. Seimeis Angriff auf Kyoto war verheerend gewesen und obwohl sie ihn aufgehalten hatten und mit dem Leben davongekommen waren, fiel es ihm schwer, von einem Sieg zu sprechen. Es grenzte an ein Wunder, dass der Alltag so schnell wieder seinen geregelten Gang gegangen war.
„Ich hab drüber nachgedacht. Glaubt ihr wirklich, dass das ein Erdbeben gewesen ist?“
Alle sahen Asumi an, die auf der Unterlippe kaute, ehe sie fortfuhr: „Es kommt mir komisch vor. Manche zerstörten Stellen ... Ich meine ... Findet ihr nicht, dass sie von oben wie Fußabdrücke aussehen? Muss ein ziemlich merkwürdiges Erdbeben gewesen sein.“ Die anderen quiekten entsetzt und rieben sich die Oberarme, sie sah nur betont Ryuji an. Deshalb also hatte sie ihn mitgeschleppt. Er schnaubte verächtlich.
„Mach dich nicht lächerlich. Klar war’s eins.“
Es war eine Sache zu wissen, dass Dämonen existierten. Eine ganz andere war es, zu wissen, welche.
Der Spaziergang umfasste lediglich eine kleine Runde, um die Glieder zu strecken und einen ersten Eindruck zu gewinnen, und er war schnell vorüber.
Mit seiner Tasche über der Schulter hatte sich Ryuji im erstbesten Zimmer einquartieren wollen, , doch Raidon hatte ihm so enthusiastisch vom Ende des Korridors zugewunken, dass er unverblümt ignorant hätte sein müssen, die Einladung zu übersehen. Während Konyo vorsichtig-höflich mit ihm umsprang, plapperte Raidon pausenlos über alle möglichen Trivialitäten und er hatte schnell begriffen, wie er und Asumi zueinander hatten finden können. Gleiche suizidale Tendenzen.
Es war noch nicht allzu später Nachmittag, und so musste er sich von dem Vorhaben lösen, sich aufs Bett zu werfen und in eines der Bücher zu vertiefen, um den unwirklichen Alltag eines Oberschülers auszublenden. Stattdessen stand Skilaufen auf dem Programm, sportliche Betätigung für aktive Jugendliche.
Er hatte keine Ahnung, was er an sich hatte, aber seine Gruppe hielt es für nötig, ihn den gesamten Weg die Piste hinauf und fast den ganzen Vortrag des angeheuerten Trainers hindurch aufzumuntern, ihm die Angst vor der Abfahrt zu nehmen und die Grundvoraussetzungen des Sports zu erklären. Wofür eigentlich der angeheuerte Trainer zuständig gewesen wäre.
Stöhnend zog er sich die Skibrille über die Augen, justierte die Handschuhe nach und stieß sich, kaum dass er an die Reihe kam, so schnell wie möglich ab, um von den übertriebenen Anfeuerungsrufen wegzukommen. Er hörte noch ein „Ja, genau so“ von dem dafür zuständigen angeheuerten Trainer, was die Dummköpfe für den Rest der Lektion hoffentlich zum Schwiegen bringen würde, ehe der Fahrtwind alle anderen Geräusche übertönte.
Tiefe Wälder, verschneite Berge – bevölkerungsarme Gegenden wie diese waren wahre Brutstätten für Dämonen unterschiedlichster Art, natürlich also beherrschte er die für das Terrain schnellste und komfortabelste Fortbewegungsmethode. Mehr noch als Skier zog er das Snowboard vor, da es ihm erlaubte, die Hände fürs Skandieren freizuhaben. Schon in jungen Jahren hatte er aufgehört, mitzuzählen, wie oft Onmyojis an solche Problemherde gerufen wurden. Dass seine Mitschüler jetzt, da sie von seiner Berufung wussten, nicht selbst auf die Idee gekommen waren, bewies einmal mehr Gedankenlosigkeit und Naivität.
Um mehr Ruhe zu haben, fuhr er dicht am Rand des ausgewiesenen Gebiets, nahe eines sich zunehmend verdichtenden Waldes. Hin und wieder erblickte er Baumgeister oder geringere Dämonen, die den hinabrasenden Menschen mehr mit freundlichem Interesse als maliziösen Absichten beim Spaßhaben zuschauten.
Peinlich genau darauf achtend, keinen Sichtkontakt herzustellen, wollte er doch nicht noch mehr Plagegeister am Hals haben, bereitete er sich eben vor auf den letzten Teil der Etappe, als eine dunkle Silhouette durch sein Blickfeld rauschte, definitiv zu groß für eines der harmlosen Beobachter.
Wie ein Blitz fuhr es ihm durchs Gebein, automatisch weiteten sich seine Augen und sein Blick versuchte, trotz der Geschwindigkeit den Fremdkörper zu verfolgen. Mit allem was er hatte kämpfte er gegen den Impuls an, mit einer Vollbremsung zum Stehen zu kommen und genauer hinzusehen – hinter ihm ertönte vergnügtes Geschrei und es war viel zu gefährlich, unter diesen Umständen abrupt anzuhalten.
Jeder andere hätte das Gesehene als Schattenspiel abgetan, nicht weiter darüber nachgedacht. Doch Ryuji war sich seiner sicher und er wusste außerdem von der Existenz überirdischer Wesen. Und so zweifelte er nicht daran, etwas gesehen zu haben, das sich mit Absicht dem Angesicht der Menschen entzogen hatte – nur was genau, das war ihm in den Sekundenbruchteilen der Begegnung entgangen.
Den Rest der Strecke brachte er mit einem mulmigen Bauchgefühl hinter sich und kaum dass er endlich anhalten konnte, blickte er hastig zurück in der vagen Hoffnung, doch noch etwas zu erkennen, aber die Bäume standen viel zu dicht beieinander und die ankommenden Skiläufer versperrten ihm noch zusätzlich die Sicht.
Während er noch konzentriert den Waldrand hinaufstarrte, stob neben ihm der Schnee auf und Asumi zog sich lachend die Schneebrille von der Nase: „Wow, Ryuji, das war ja klasse! Hätt nie geglaubt, dass du sowas drauf hast!“
Offensichtlich nicht. Unwillig löste er die Aufmerksamkeit von der Ferne und richtete sie auf das Mädchen, das ihm anerkennend auf die Schulter klopfte. „Tut mir leid, dass wir dich vorhin so zugetextet haben, war offenbar total überflüssig“, ihr Tonfall klang tatsächlich reumütig, das breite Schmunzeln aber strafte ihn Lüge, „Wir wussten halt nicht, dass dich sowas interessiert!“ Interesse? Ryuji runzelte die Stirn. Interessieren tat er sich für intellektuelle Herausforderungen, für komplexe Bannkreise und reibungslose Vernichtung von Dämonen. Skisport stand auf der Liste nicht sonderlich weit oben.
Ihr das zu sagen war ihm zu umständlich, und so brummte er nur, wandte den Kopf wieder dem Wald zu und blendete ihr fröhliches Geplapper aus, während um sie herum mehr und mehr Klassenkameraden zu ihnen stießen.
Langsam beruhigte sich sein Magen wieder. Egal was es gewesen sein mochte, das Wesen hatte sich zurückgezogen. Es missfiel ihm immens, einen Dämon ungehindert ziehen zu lassen, doch solange dieser keinen Ärger suchte, wollte auch er ihn in Frieden lassen. Die Umstände erlaubten nicht, sich auf eine großangelegte Jagd zu begeben. Und so ließ Ryuji es gut sein und sich selbst von einer überenthusiastischen Asumi mitziehen, wohin auch immer es die Klasse führte.
Am Abend fühlte er sich erschöpft. Nicht wegen der Bewegung, der frischen Luft oder der neuen Eindrücke, sondern weil sie ihn einfach nicht in Frieden ließen. Asumi und Raidon hatten von vornherein kaum Berührungsängste gezeigt, Beni, Ruka und Konyo verloren zusehends Zurückhaltung, je mehr sie begriffen, dass er sich nicht zu wehren gedachte. Er wusste, dass es nur noch lauter werden würde, gab er die richtigen Antworten auf ihre falschen Fragen, und so sparte er sich die Mühe.
„Ich hoffe, ihr wisst alle, was jetzt kommt!“
Die Mädchen hatten sich bereits vor einer ganzen Weile an der Aufsicht vorbei ins Jungenzimmer geschlichen, während sich die drei anderen Bewohner auf den Weg zu den eigenen Cliquen gemacht hatten. Nun hockten sie kreisförmig im Schneidersitz am Boden und nickten sich verschwörerisch zu.
„Gruselgeschichten!“
Lachend stülpten sie sich eine der Bettdecken über die Köpfe, um jeden Lichteinfall zu unterbinden. Die Deckenlampe war ebenfalls gelöscht. „Also gut“, flüsterte Asumi und knipste die bereitgelegte Taschenlampe an, „jetzt, wo alle bereit sind, können wir-“ Ein Räuspern unterbrach sie und sie sah Konyo stirnrunzelnd an, dann Ruka, die die Achseln zuckte und auf den freien Platz neben sich wies.
Asumi registrierte den Missstand und zog eine unzufriedene Schnute, ehe sie sich aus dem Kokon schälte und Richtung Ryujis Bett linste. Dort war eine der kleinen Nachtlämpchen angeknipst worden, er lag ausgestreckt auf der Matratze, Nase in einem Buch versenkt, wie er es seit dem Morgen angestrebt hatte.
Asumi krabbelte vorsichtig aufs Bett, griff noch vorsichtiger nach der oberen Kante seiner Lektüre und drückte sie herunter.
Dahinter kam ein sehr verärgert dreinschauender Blick zum Vorschein.
Ryuji stand kurz vor dem Aus-der-Haut-fahren. „Was willst du?“, fragte er, jedes Wort betonend, aber mit noch immer immenser Selbstbeherrschung. Was war los mit diesen zu groß geratenen Säuglingen?! Verfügten sie wirklich über keinerlei Überlebensinstinkte?!
„Gruselgeschichten“, kam es schmollend als Antwort, als ob es erklärte, warum sie ihm in diesem Augenblick nahezu ins Gesicht kroch.
„... Und?“
„Na, Gruselgeschichten! Komm schon, Ryuji, sag mir nicht, du kennst das nicht! Wir haben uns gedacht, du als Onmyoji kennst bestimmt viele Superspannende!“
Er kannte, und er ahnte, dass sie sich im Hinterkopf all die paranormalen Fälle ausmalten, die in den einschlägigen Fernsehserien so hanebüchen verharmlost dargestellt wurden. Er hasste es, wenn Außenstehende aus Ignoranz Sensationen in den oftmals tragischen Schicksalen der von teuflischen Ungeheuern heimgesuchten Betroffenen witterten. Doch er wusste ebenso gut, dass es das wohl Natürlichste auf der Welt war, aus der Not anderer Vergnügen zu ziehen.
Anstatt zu protestieren, keine Geschichten zu erleben, sondern Leiber und Seelen zu retten, seufzte er nur und klappte das Buch zu, scheuchte sie vom Bett und ließ sich selbst zu Boden sinken. Die Taschenlampe wurde ihm feierlich überreicht und nach einigen stummen Sekunden, in denen sich genug Spannung für seinen Geschmack akkumuliert hatte, strahlte er das eigene Gesicht von unten an.
„Es waren mal zwei Freundinnen. Unzertrennlich, wirklich. Nachbarn. Ständig war die eine bei der anderen oder umgekehrt. Eines Tages traf es sich zu, dass eines der Mädchen sturmfreie Bude hatte und natürlich nutzen sie die Gunst der Stunde, um den gesamten Tag miteinander zu verplanen. Erst Schule, dann Café, Bummeln durchs Einkaufszentrum, am Abend Kino. Dass sie das leere Haus für einen langen Abend unsicher machten, war Ehrensache. Sie kamen heim, kochten gemeinsam, aßen und hatten Spaß. Dann kam der Zeitpunkt zum Abschied und eines der Mädchen machte sich auf den Weg nach Hause. Doch kurz vorm Zubettgehen bemerkte es zu seiner Not, dass es sein Smartphone im Zimmer der Freundin vergessen hatte. Sie musste also wohl oder übel noch mal hinüber. Drüben war ihre Freundin bereits zu Bett gegangen und weil es sie nicht wecken wollte, benutzte es den Ersatzschlüssel, dessen Versteck es natürlich kannte, und machte auch kein Licht. Wozu auch? Es kannte das Haus wie seine Westentasche! So fand das Mädchen also den Weg ins Zimmer seiner Freundin, tastete sich durchs Dunkel, bis es das Smartphone gefunden hatte und verließ es wieder so still wie es gekommen war, schloss die Haustür hinter sich ab und ging heim. Am nächsten Morgen wartete es wie immer auf der Straße, um gemeinsam zur Schule zu gehen. Doch die Freundin kam und kam nicht. Also betrat sie irgendwann erneut das Haus und weil alles still war, dachte es, sie hätte verschlafen. Also ging es hinauf sie zu wecken, öffnete die Zimmertür – und fand sie. Tot, zerstückelt, Eingeweide und Blut überall verstreut, der Kopf allein auf dem Bett, mit weit aufgerissenen Augen direkt auf den Eingang starrend. Aber das, was das Mädchen den Verstand verlieren ließ, war nicht das grauenhafte Massaker. Es war das, was in blutroten Lettern an der Wand über dem Bett geschrieben stand. ‚Bist du nicht froh, dass du das Licht nicht angemacht hast?‘“
Beni kreischte entsetzt und versuchte sich die Decke vors Gesicht zu ziehen. Die anderen hielten sich sichtlich zurück, ihnen entfuhr nur ein gepresstes Quieken, doch vergnügter Schauer lief ihnen allen über den Rücken.
Ryuji aber war noch nicht fertig. Und mit jedem Wort verlor sich der makabre Humor in ihren Zügen.
„Einmal fixiert, sind Yokai schwer loszuwerden. Die Eltern haben uns benachrichtig, weil das Mädchen im Laufe der folgenden Woche starke Paranoia entwickelte. Und wir fanden schnell heraus, dass die nicht unbegründet war – er befand sich bereits unter seinem Bett. Wir machten Fehler, ließen ihn entkommen. Noch im selben Monat fiel ihm das Mädchen zum Opfer und wir haben ihn nie wieder gefunden. Er ist also immer noch da draußen und wartet auf die nächste Gelegenheit.“
Mit finsterem Lächeln knipste er die Taschenlampe aus, was ihnen einen wesentlich weniger vergnügten Schrei entlockte.
„Ich hoffe, es hat euch so viel Spaß gemacht wie mir.“
Mit diesen nüchternen Worten stand er auf, zog sich die Decke vom Kopf ...
Und sah direkt in ein stechend rotglühendes Augenpaar, welches ihn von jenseits der Fensterscheibe anstarrte.
Nun schrie es hinter ihm wirklich auf. Die anderen hatten sich spontan geeinigt, die Erzählrunde abzubrechen, war eine Gruselgeschichte von einem Spezialisten doch mehr als genug für den Abend. Dadurch hatten auch sie den Besucher bemerkt. Die Augen verschwanden blitzschnell, noch während Ryuji zum Fenster stürzte, es unter lautem Protest der anderen aufriss und in die finstere Nacht hinausblickte.
Einige Meter entfernt huschte eine Gestalt – die Gestalt – durch den Schnee in den Schutz des Waldes.
„Scheiße“, fluchte Ryuji und rannte zum Bett, riss seine Tasche darunter hervor, verschwand im Bad, um kaum eine Minute später in voller Wintermontur zurück ins Zimmer und schnurstracks zum Fenster zu stürmen. Zum Glück verfügte die Herberge nur über das Erdgeschoss, sodass ihm ein Lauf durch den Komplex auf der Suche nach einem Hinterausgang erspart blieb. Stattdessen schwang er sich ohne zu überlegen über die Fensterbank in den Hinterhof hinaus.
Jemand hielt ihn am Ärmel fest.
„Verdammt, wo willst du denn hin?!“, rief Asumi schockiert und auch die anderen waren entsetzt über den Versuch, dem unheimlichen Gaffer zu folgen, „Bist du irre?! Es ist dunkel und saukalt und heilige Schande was war das Ryuji?!“ Ihm fehlte die Zeit für Erklärungen, und so riss er sich los und rief über die Schulter zurück: „Bleibt hier! Wenn mir auch nur einer von euch folgt, ersäufe ich ihn in seiner eigenen Spucke!“
„Was, wenn ein Lehrer kommt?!“
„Sagt ihm, es hätte sich ein Job ergeben!“
Seine Lehrer waren über die Bestimmung des Keikain-Clans aufgeklärt. Obwohl viele von ihnen in verklärter Modernität über Exorzismus nur milde lächelten, konnten sie nichts gegen spontanes Schwänzen unternehmen, war der Rektor der Schule doch dafür ein umso gläubigerer Anhänger. Außerdem waren die Keikain-Kinder fast durchgehend gute Schüler, die, wenn sie denn dem Unterricht beiwohnten, aufgeweckt und lerneifrig genug waren, um geschätzt zu werden. Er glaubte nicht, dass ausgerechnet sein Klassenlehrer ihm einen Strich durch die Rechnung machen würde. Da wohl eher die Tatsache, dass er nur eine Röhre gereinigtes Wasser mitgenommen hatte. Zwar gab es um ihn herum mehr als genug, aber Gengen war am stärksten mit der Spezialsorte. Zudem wusste er nicht, welche Macht ihn am Ende der Jagd erwartete.
Das Wesen hinterließ keine Spuren, was den Verdacht bekräftigte, es mit nichtmenschlichem Ursprung zu tun zu haben. Andererseits konnte Ryuji den breiten Rücken trotz des Vorsprungs noch immer gerade so erkennen, was bei einem tatsächlichen Fluchtversuch unwahrscheinlich gewesen wäre – nicht bei einem derartigen Fehlstart wie seinem. Dieses Ding lockte, führte ihn von der sicheren Unterkunft weg, hinein in die eisige Nacht, die Menschen zum Nachteil gereichte. Die Frage war nur, ob es wusste, was er war oder ob es ihn nur für ein leichtes Opfer, ein etwas zu neugieriges Kind hielt.
Wenigstens war es sternenklar und es stand zwar kein Vollmond, aber zumindest eine helle Mondsichel am Himmel, die den Schnee auf allem erstrahlen ließ und so als mäßige Lichtquelle diente. Zwar hatte er eine Taschenlampe mitgenommen, doch deren Schein hätte ihn unter diesen Umständen nur beim Laufen behindert und seine Sicht eingeengt.
Einmal mehr wandte sich der starre Blick zu ihm um, um dann nicht deutlich schneller, aber nichtsdestotrotz unerreichbar zwischen zwei Bäumen zu verschwinden.
Frustriert knirschte er mit den Zähnen. Er konnte Gengen loslassen, doch wollte er nicht zu früh sein einziges Ass im Ärmel ausspielen, nicht solange das Wesen noch gefunden werden wollte. Also brach er durch ein Gebüsch, das längs zu weit ausgedehnt war, um es schnell genug zu umgehen.
Auf der anderen Seite erwartete ihn nächtliche Stasis. Kein Lüftchen wehte, nicht mal ein nachtaktives Tier verzog sich bei seinem energischen Auftritt eilig ins Unterholz. Hatte das Wesen doch noch Gefahr von ihm gewittert?
Mit einem tiefen Atemzug zwang er sich zur Ruhe und ließ den Blick aufmerksam über die dunkelgraue Ebene schweifen, verweilte hier und da kurz bei einem Stamm in der Hoffnung, doch noch Bewegung wahrzunehmen, doch es war vergebens.
Er war allein.
„Scheiße“, entfuhr es ihm nochmal und er wischte sich Schweiß von der Stirn. Dann drehte er sich um.
Missmutig, fast vorwurfsvoll betrachtete er die Hecke, die noch immer dalag, lang und buschig und keck und er war froh, dass er dicke Kleidung trug, sonst hätte ihm das Gestrüpp tiefe Schrammen zugefügt. Seufzend machte er sich bereit, sich ein weiteres Mal hindurchzuschlagen. Die Verfolgung unter diesen Umständen fortzusetzen, war sinnlos.
Eine Hand packte ihn am Arm.
Er fuhr herum, versuchte gleichzeitig, sich loszureißen, doch die Finger waren erstaunlich unnachgiebig.
Und dann sah er sich Angesicht zu Angesicht mit einer alten Frau. Sie war groß, trotz leicht gebückter Haltung größer als er, doch war das auch nicht außerordentlich schwierig. Sie war aber nicht hager, sondern verfügte über eine ziemlich breite Schulterpartie. Lange schwarze Haare fielen wohlgekämmt über den Rücken und all in allem war sie nicht die hässlichste Alte, der er je begegnet war, und mit gutem Willen hätte man sie für einen Menschen halten können. Wenn die glutroten Augen und die leichte Yukata nicht gewesen wären, die eindeutig nicht für Winternächte vorgesehen war.
Trotzdem nahm er sich sehr zusammen, nicht automatisch nach Gengen zu greifen, atmete kaum merklich durch und fragte: „Haben Sie sich verlaufen, Ma’am?“ Ein Kampf war unvorteilhaft für ihn und manchmal konnten Dämonen mit Dienstleistungen beschwichtigt werden. Er war bereit dazu, würde sie ihn zwingen. Doch es war zumindest einen Versuch wert, friedlich herauszufinden, was sie von ihm wollte.
Die Alte schüttelte den Kopf.
„Kann ich Ihnen sonstwie helfen? Warum haben Sie mich hergeführt?“
Jetzt machte sie den Mund auf – und schrie.
So dachte er zumindest im ersten Augenblick, doch als sie den Mund direkt wieder zuklappte und einen wilden Blick zur Seite warf, erkannte er, dass nicht sie es gewesen war. Die Stimme kam von weiter weg und klang sehr jugendlich.
„Scheiße!“
Ehe er noch anders reagieren konnte, löste sich der Griff auf seinen Arm und als er wieder nach vorn schaute, war die Frau verschwunden. Es war eine Falle gewesen, allerdings von anderer Art, als er erwartet hatte.
Sie hatte ihn weggeführt von den wirklich leichten Opfern.
Er verwünschte seine Unvorsichtigkeit und rannte los.
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Asumi starrte Ryuji hinterher, als wollte sie sich vor Frust jede Sekunde die Haare ausreißen. So ein verrückter Hund, ohne Plan und Rückendeckung in einen fremden Wald zu laufen, noch dazu in fragwürdiger Gesellschaft! Als sie an die funkelnden Augen dachte, die gerade noch so starr ins Zimmer gegafft hatten, erbebte sie. War das wirklich in Ordnung? War Ryuji tatsächlich so gut, alleine einen unbekannten Gegner zu stellen? Sie hätte gerne „Ja“ gesagt, doch die Wahrheit war, so gut kannte sie ihn nicht.
„Mist“, fauchte sie und stieß sich von der Fensterbank ab, um mehr Schwung für einen Sprint zur Tür zu gewinnen. Ruka schob sich ihr hastig in den Weg: „Woah, hey, warte mal! Wo willst du denn hin?!“
„Wohin schon?! Hinterher, ihm helfen!“
„Hast du ‘nen Knall?!“, mischte Konyo sich ein, „Dem helfen?! Weißt du nicht mehr, wie er diese Monsterhorde in Kuran aufgemischt hat?!“ „Aber da hatte er seine Schwester dabei“, fuhr Asumi ihn aufgebracht an, „jetzt ist er ganz alleine!“
„Oh ja, alleine mit seiner ganzen überlegenen Erfahrung als Monsterjäger!“
„Er hat recht, Asumi! Ryuji ist ein Onmyoji, wer weiß wie lange schon“, argumentierte nun auch Beni, „und er hat extra gesagt, wir sollen warten. Ich bin sicher, er weiß was er tut.“ Asumi schob die Unterlippe vor, mit Fug und Recht schmollendes Balg, dem der Lutscher verweigert wurde. „Andererseits“, warf Raidon stirnrunzelnd dazwischen, „hat er vorhin auch zugegeben, dass ihnen hin und wieder welche entwischen ... Was, wenn er sich verletzt oder im Schnee verirrt?“
Sie brüteten eine Weile über dieser Erkenntnis.
„Verzeiht die Störung.“
Ihr simultaner Aufschrei hätte die halbe Herberge aufgeweckt, wenn sie es nicht nach nur einer Sekunde unterbunden hätten, indem sie sich gegenseitig die Münder zuhielten.
Am noch immer offenen Fenster stand eine junge Frau, groß, schlank, mit langen weißen Haaren und sanftem Schmunzeln in den ebenmäßigen Zügen. Ihre ebenfalls weiße, traditionelle Winterkleidung verlieh ihr ein majestätisches Aussehen, was durch eine elegante, zierliche Haltung unterstrichen wurde.
„Entschuldigt“, wiederholte sie und legte den Kopf schief, „Ich wollte euch nicht erschrecken. Nur eine Frage – der kleine, schwarzhaarige Junge in Grün, ist das ein Freund von euch?“ Asumi horchte sofort auf, drei von vier Punkten trafen immerhin auf Ryuji zu und betrachtete man es von maskulinem Standpunkt, war er wohl tatsächlich recht klein geraten. „Wer will das wissen?“, fragte sie jedoch vorsichtig, schließlich war er gerade erst weg, einem Dämon hinterher. „Ich lebe in der Nähe, weiter im Wald hinein“, gab die Fremde willig zurück und wies vage ein Stück hinter sich, „und er hat sich zu mir verlaufen, kannte den Weg zurück nicht. Deswegen bin ich hergekommen, um Hilfe zu holen. Ich kann euch zu ihm bringen, wenn ihr möchtet.“
„Wir möchten.“
„Asumi!“
Beni und Ruka starrten sie schockiert an. Raidon und Konyo jedoch eilten im selben Moment ans Fenster und warfen sich vor der schönen Fremden in Pose.
„Ganz genau! Wir sind exakt die Richtigen für den Job, Ihnen in die Hölle und zurück zu folgen!“
„Und wir sind Ihnen ewig dankbar, Ma’am, wir haben uns schon solche Sorgen um unseren lieben Freund gemacht! Lassen Sie uns ihn Ihnen abnehmen! Wir sind sehr erleichtert, dass sie ihn gefunden haben, er verliert ohne uns immer so leicht den Kopf, aber Sie hätten nicht die Gefahren einer nächtlichen Wanderung auf sich nehmen sollen! Erlauben Sie uns, Sie nach Hause zurückzubegleiten!“
„Richtig, man weiß nie, was für Unholde sich auf dem Weg tummeln, die einer so reizenden Dame ans Leder wollen!“
Ruka verzog angewidert das Gesicht: „Oh Mann, ihr zwei seid sowas von peinlich!“ Doch ehe die Jungs protestieren konnten, bestimmte Asumi ungeduldig: „Ich komme mit. Warten Sie für zehn Minuten, ich treffe Sie draußen.“ Damit schwang sie ohne Antwort abzuwarten herum und öffnete leise die Tür. „Oh, Himmel noch eins“, Ruka lief ihr voller Frust hinterher, dicht gefolgt von Beni, die den anderen noch stumme Zustimmung zunickte, „mit der macht man was mit!“
Sie schafften es unbemerkt in ihr Zimmer, ihre Mitschülerinnen waren glücklicherweise auch noch unterwegs, und sie zogen sich hastig um. Asumi linste, während sie sich dicke Socken und Stiefel überstreifte, verstohlen zu ihnen hinüber. „Ihr müsst nicht mitkommen“, murmelte sie, wusste sie doch, dass ihr Vorhaben nicht ganz ungefährlich war und empfand deswegen Schuldgefühle. Ihnen das zu sagen war allerdings sinnlos, denn ...
„Du musst durchgeknallt sein, wenn du glaubst, wir ließen dich alleine da raus wandern“, fauchte Ruka sie an, Ärger aus Fürsorge gespeist, „ein verschollener Irrer ist ja wohl mehr als genug!“ Ungehalten stieß sie mit der Faust durch den Ärmel ihrer Jacke wie ein Boxer durch die Zähne seines Gegners. Sie mochte Ryuji nicht, das war kein Geheimnis, aber Unglück wünschte sie ihm dennoch nicht und wenn sie ihm helfen konnte, tat sie es auch – vor allem, wenn ihre Freunde mit hineingezogen wurden. Oder sich freiwillig mit offenen Augen für ihn ins Verderben stürzten, so wie es Asumi gerade tat. Was sie an diesem muffigen Idioten fand, konnte niemand verstehen.
Oder nein, als Idioten konnte man Ryuji beileibe nicht bezeichnen. Aber das Muffige reichte ja schon vollkommen.
Beni beobachtete ihre Freundinnen schweigend und zog sich eine Wollmütze über den Kopf. Sie fand die Angelegenheit so spannend wie Asumi, nicht dass sie das zugegeben hätte, schlotterten ihr doch die Knie vor Angst. Die anderen bekamen so etwas nie mit, sie war gut im Gelassenheit vortäuschen. Doch mehr als sich der Sorge um Ryuji hinzugeben, fragte sie sich, was sie tun sollten, fand jenes Wesen vom Fenster sie, bevor sie ihn gefunden hatten. Sie bezweifelte keine Sekunde, dass er wesentlich sicherer war, wo auch immer er sich aufhielt, als sie es draußen sein würden. Was nicht bedeutete, dass sie gedachte, feige den Schwanz einzuziehen.
Trotzdem konnte sie ein amüsiertes Prusten nicht unterdrücken, als Asumi damit begann, ihre Reisetasche so unter die Bettdecke zu stopfen, dass es aussah, als läge jemand darunter: „Glaubst du wirklich, da werden sie drauf reinfallen?“ Asumi wurde rot, doch Ruka warf seufzend ein: „Nein, es ist einen Versuch wert. Wenn wir Glück haben, schindet es etwas Zeit und wir haben eine Chance, die erste Nacht ohne morgendliche Standpauke zu überstehen.“
Nachdem sie die Vorkehrungen abgeschlossen hatten, kletterten sie aus dem Fenster, schlichen um eine Ecke und sahen schon jenseits des kleinen Hinterhofs die Fremde warten. Die Jungs standen gewappnet neben ihr, flüsterten aufgeregt auf sie ein. Sie lächelte nur. Ruka rollte mit den Augen: „Männer sind so oberflächlich! Zum Kotzen!“
Als sie zu den Wartenden stießen, verlor Asumi keine Zeit und wies in den Wald: „Gehen wir.“
Die Frau führte sie zielsicher, lief nicht zu schnell zu weit vor, wandte sich immer wieder um, um sich zu vergewissern, dass ihr die Schar Jugendlicher noch folgte. Zuerst war es fast romantisch. Der Mond strahlte auf den Schnee, der die Umgebung erhellte, die nächtliche Stille, die hübsche Frau, die sich so elegant und leichtfüßig bewegte, dass es einem Tanz anmutete. Asumi genoss solche Abenteuer, mit ein Grund, warum sie fasziniert von Ryuji war. Von Ryuji und seiner Welt. Viele stellten sich Dämonen grauenhaft und beängstigend vor, ohne je einen zu Gesicht bekommen zu haben, und natürlich machte die Existenz von Monstern auch ihr Angst – doch inzwischen beschäftigte sie der Gedanke, ob wirklich alles an ihnen schrecklich war. Schließlich sprach die Folklore durchaus auch von harmlosen Dämonen, Plagegeistern zwar, aber mehr an Vergnügen interessiert als am Leid der Menschen. Und Ryuji war trotz seines Jobs freundlich und hilfsbereit. Auf eine eigenbrötlerische, denunzierende Art.
Asumi schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu zerrütten. Nein, sie täuschte sich nicht, er hätte sie im Menschenfresser-Dorf leicht sich selbst überlassen können, stattdessen hatte er sie beschützt, obwohl sie seine Pläne umgeworfen hatten. Ohne Angst, künftig von ihnen geschnitten zu werden, hatte er ihnen unglaubliche Fähigkeiten demonstriert, es war ihm gleichgültig gewesen, ob sie ihn als Freak abstempelten oder nicht, und sie bewunderte ein solches Selbstbewusstsein.
Es begann zu schneien.
Sie hatte gar nicht bemerkt, wie sich die Wolken zusehends vor den Mond geschoben hatten, ihre Gedanken hatten sie abgelenkt und sie in einen automatischen Laufschritt verfallen lassen. Doch nun merkte sie, wie kalt es war und mit ihr alle anderen. Sie fröstelten und Ruka fragte missmutig, „Sind wir bald da? Sie haben gesagt, es wäre nicht weit!“ Raidon lachte: „Was redest du denn? Wir sind doch gerade erst losgegangen!“
„Blödsinn! Wir laufen mindestens schon ‘ne halbe Stunde!“
„Wie kommst du denn darauf? Zehn Minuten höchstens!“
„Also ich weiß nicht“, warf Beni zögerlich ein, „ich muss da Ruka beipflichten.“ Und Konyo schüttelte den Kopf: „Ich hab das Gefühl, als wären wir schon ‘ne Stunde unterwegs.“ Alle blickten zu Asumi, die sich verlegen an der eiskalten Wange kratzte: „Äh ... ‘tschuldigung, hab nicht drauf geachtet. Wie spät ist es denn?“ „Gute Idee“, Ruka wandte sich an Konyo, der stets zuverlässig eine Armbanduhr trug, „Hat jemand geschaut, wann wir losgegangen sind?“
Raidon räusperte sich nach einigen Sekunden verlegenen allgemeinen Schweigens: „Ich schätze, wir waren alle ein bisschen zu abgelenkt von ... von der Gesamtsituation.“ „Du willst damit sagen, du und Konyo wart ein bisschen zu abgelenkt“, giftete sie mit einem Wink zur Fremden zurück, was ihm ein pikiertes Stirnrunzeln abrang.
„Hey, offenbar hast du auch nicht dran gedacht, also was machst du mich an?!“
„Naja, ich weiß nicht, wäre schon schön, wenn man sich mal hier und da auch auf euch verlassen könnte und ihr nicht immer uns schwachen Mädchen alles aufbürden würdet!“
„Schwache Mädchen mein Arsch! Beni vielleicht, aber du und Asumi seid völlige Berserker, wer müsste euch unterstützen?!“
„Wow, Auszeit, ihr beiden“, rief Asumi und warf sich zwischen ihre Freunde, die aussahen, als wollte sie aufeinander losgehen, „Ruka, du bist nicht fair, ohne Rai und Kon hätten wir viele Herausforderungen nicht gemeistert und Rai, etwas mehr Rücksicht auf die Gefühle der Berserker würde dir sicher nicht schaden! Und jetzt kommt runter, wir haben viel dringlichere Probleme!“
Die hatten sie tatsächlich, denn der Wind war stärker geworden, auch der Schneefall nahm von Minute zu Minute weiter zu und ihnen wurde bewusst, dass sich ein Sturm anbahnte. Sie mussten raus aus dem Wetter, sonst konnte es ungemütlich werden. „Also, ist es noch weit bis zu Ihrem Zuhause?“, fragte sie deshalb ihre Führerin und diese schüttelte den Kopf.
„Nicht mehr weit. Es wird nicht mehr lange dauern.“
Asumi atmete tief durch und nickte den Freunden zu: „Ihr hört die Frau, lasst uns gehen, bevor es uns zu Eiszapfen friert.“ „Ich sag dir, dein Ryuji ist besser dankbar für unseren Einsatz, sonst kann er sich auf meine Meinung gefasst machen“, knurrte Ruka und marschierte energisch voran. „Ber~ser~ker“, formte Raidon in ihrem Rücken mit dem Mund und Beni und Konyo schnauften belustigt.
Ihr Amüsement hielt nicht lange an, je weiter sie wanderten, ohne das Ziel auch nur in der Ferne entdecken zu können. Vielmehr wurde diese Ferne zunehmend vom Schnee verdeckt und selbst risikolustigen Abenteurern wie ihnen wurde es mulmig. Denn ihnen dämmerte langsam, dass sie sich möglicherweise in Schwierigkeiten bugsiert hatten, indem sie einer Wildfremden ins Ungewisse einer kalten Nacht gefolgt waren. Während sie sich selbst mehr und mehr anstrengen mussten, auf dem rutschigen Boden, im tiefer werdenden Schnee Fuß zu fassen, glitt die Frau mit fließender Leichtigkeit voran. Und obwohl sie immer wieder versicherte, dass es nicht mehr weit war, liefen und liefen sie ohne anzukommen.
Asumi schauderte es nicht mehr nur wegen der Kälte. Sie erinnerte sich daran, dass der Wetterdienst an diesem Tag nicht einmal Schneefall vorhergesagt hatte, geschweige denn in dem Ausmaß, in dem es ihnen ins Gesicht schlug. Außerdem, jetzt, wo sie darüber nachdachte, erschien ihr die ganze Situation verdächtig fragwürdig.
Ryuji war in die entgegengesetzte Richtung gelaufen, die sie von Anfang an eingeschlagen hatten. Wie war er so schnell von der einen auf die andere Seite des Waldes gelangt? Und warum hatte er nicht angerufen? Sie wusste genau, dass er seit Kuran ihre Nummer kannte, sie hatte sie ihm eigenhändig heimlich ins Smartphone geschummelt! Warum hatte ihre ominöse Helferin ihn nicht zur Herberge zurückgeführt, anstatt herzukommen und sie mitzunehmen? Und außerdem ... Ryuji war noch nicht lange weggewesen, als die Frau an ihrem Fenster erschienen war. Ihre Schilderungen hatten sich zeitlich gar nicht abspielen können!
Asumi schluckte. Sie hatten ein Problem. Sie hatten ein großes Problem.
In diesem Moment sah sich die Fremde zu ihr um. Etwas in ihrem Ausdruck musste sie verraten haben, denn das gefällige Lächeln erlosch und sie murmelte so, dass nur Asumi sie verstehen konnte: „Oh, du hast mich durchschaut?“ Vor Schrecken paralysiert, fühlten sich ihre Glieder an wie eingefroren und sie war sich nicht sicher, ob das Wesen vor ihr daran schuld war oder nur die eigene aufsteigende Panik.
„Keine Verbindung“, erklärte Raidon hinter ihr und sie hörte Ruka fluchen. „Mist! Wie sollen wir je zurückfinden?“, fragte Konyo desillusioniert, woraufhin die Fremde sichtlich aufhorchte. „Wieso bleibt ihr nicht hier?“, das Lächeln war zurück und Asumi fühlte sich seltsam übergangen, als sie an ihr vorbeitrat auf die Freunde zu und einladend die Arme ausbreitete, „Ich habe Platz. Ich kann mich um euch kümmern.“ Ruka verschränkte die Arme vor der Brust, Gesicht zu einer ungläubigen Grimasse verzogen: „Wie bitte?! Wir müssen vor der nächsten Kontrollrunde zurück sein! Ewig werden sich die Lehrer nicht täuschen lassen!“ Auch Konyos flammende Leidenschaft war durch den Schnee reichlich abgekühlt: „Ja, wenn man uns suchen muss, kriegen wir die Schelte unseres Lebens! Tut uns leid, Ma’am, es war wirklich spannend mit Ihnen, aber wir holen nur unseren Freund und dann müssen wir uns auch schon wieder verabschieden.“ Raidon protestierte kurz, wurde aber von drei Fäusten geradewegs in den Magen überstimmt und Asumi spürte Erleichterung in sich aufsteigen. Offenbar hatte die Fremde keine Macht über ihre Freunde, was eine gute Voraussetzung zur Flucht bedeutete. Jetzt musste sie sich nur daran erinnern, wie ihre Gliedmaßen bedient wurden und sie konnte sie warnen.
„Nein.“
Die tonlose Stimme jagte allen einen Schauer über den Rücken.
„Bleibt doch.“
Die Fremde krümmte sich, fuhr sich mit den Fingern, die auf einmal viel länger und knochiger wirkten, ins Haar und raufte es sich.
„Bitte bleibt da! ... Bleibt bei mir!“
Beni entfuhr ein schriller Schrei, als sich die Fremde so weit überbeugte, dass der Hinterkopf sichtbar wurde, er sich spaltete und ein breites, zähnefletschendes Maul freilegte, dessen gespaltene Zunge sich ihnen hungrig entgegenstreckte.
„IHR MÜSST HIERBLEIBEN!“
Und damit stürmte der Dämon voran und verfehlte Konyo nur, weil Raidon ihn in einem Akt der Geistesgegenwart packte und mit sich zur Seite warf.
„HEILIGE SCHEISSE, LAUFT!“
Ihre Begegnung mit Ryuji hatte einen Vorteil – sie wussten inzwischen, dass Monster existierten, und so hielten sich ihre Gehirne nicht damit auf, die Realität der Situation anzuzweifeln. Unter ihnen befand sich ein Wesen mit zwei Mündern, eins davon breit und zähnefletschend und so eindeutig unmenschlich, dass Raidons Stimme ihnen nur noch den letzten Impuls geben musste, um ihre Beine in Bewegung zu setzen. Auch Asumis Starre verflog, sie packte Beni bei der Hand, die ihr etwas zu sehr mit Schreien beschäftigt war, und zwang sie in einen halsbrecherischen Spurt.
Keiner wusste, wohin sie laufen mussten, wurde ihnen doch erst jetzt klar, dass sie von der Fremden mit Absicht in die Irre geführt worden waren, aber solange es weg von ihr war, hielten sie es für genügend sinnvoll.
„Was immer auch passiert, bleibt zusammen!“
Rukas Einwand klang vernünftig, war aber schwer zu befolgen bei Schnee, Wind, Panik und einem Verfolger, der ihnen ans Leben wollte. Denn was sonst konnte das Monster mit diesem dämonischen, weit aufgesperrten Maul vorhaben, aus dem pausenlos Krächzen, Jammern und Heulen ertönte, unterbrochen durch vereinzelte Sätze, deren Bedeutung ihnen in der Hektik abging.
Ihr müsst hierbleiben!
Bleibt hier!
BLEIBT HIER!
Einmal erwischte sie Konyo und die anderen sollten sich noch lange der Scham hingeben müssen, dass ihr erster Instinkt war, mit lautem Geschrei in alle Himmelsrichtungen von ihm abzuweichen, ehe seine lauten Hilferufe zur Tapferkeit vordrang, die ihnen glücklicherweise allen zu einem gewissen Maß innelag. Asumi und Ruka griffen blind nach umherliegenden Ästen und knüppelten schneller auf das Monster ein, als es sich in irgendeinen Teil ihres Freundes verbeißen konnte, was ihm schrilles Kreischen entlockte und von seiner Beute ablassen ließ. Raidon und Beni halfen Konyo auf die Beine, die vor Schreck zitterten, worauf niemand Rücksicht nehmen konnte. Die Mädchen waren geistesgegenwärtig genug, nicht der Annahme anheimzufallen, irgendeine Chance gegen den Feind zu haben, sobald der Überraschungsmoment eingebüßt war, und so warfen sie die Prügel weg, kaum dass sie ihren Zweck der Ablenkung erfüllt hatten, und rannten wieder los.
Doch wie lange konnten sie durchhalten? Die Umgebung unwirtlich, der Verfolger übermenschlich und das Ziel unbekannt, war alles, was sie tun konnten, zu laufen bis zur Erschöpfung.
Und dann war es aus.
Sie wussten nicht, was die Frau mit ihnen vorhatte, aber gut konnte es nicht sein. Oh, wie sie sich wünschten, in der sicheren Herberge geblieben zu sein und sich weiter Gruselgeschichten erzählt zu haben – unheimlich, aber im Vergleich zur Wirklichkeit ungefährlich.
Der tiefe Schnee erschwerte ihr Vorankommen, wo er den Gegner kein Stück behinderte, und Ruka zahlte die Zeche, als sie sich in ihrer Angst umsah um sicherzustellen, dass noch eine sichere Distanz zwischen ihnen lag. Ihr Fuß stieß im selben Moment gegen eine unter der weißen Decke verborgene Wurzel – es ging so schnell, dass sie nicht einmal daran denken konnte, den Sturz abzumildern. Stechender Schmerz schoss ihr durchs ganze Bein, doch ihr Schrei wurde vom Schnee geschluckt, in den sie mit dem Gesicht voran fiel. Sie hörte aus mehreren Mündern ihren Namen rufen, doch das einzige, was wirklich zu ihrem durchgerüttelten Verstand durchdrang, war das vorfreudige Gackern des Monsters, in Erwartung vergnüglicher Dinge, die sie sich vorzustellen nicht wagte. Als sie den Kopf drehte, sah sie den riesigen Schatten bereits auf sie zuspringen. Ihr Herz blieb stehen. Und dann ...
„GARO! VERSCHLINGE!“
Ein anderer, sich viel schneller bewegender Schatten kollidierte mit dem Monster, das mit durch Mark und Bein gehendem Geheul zurückgeschleudert wurde und im ersten Augenblick fühlte Ruka nichts als Erleichterung, ehe sie erkannte, dass ein zweites Monster dem Kampf beigetreten war und ihr ein weiterer Angstschrei entfuhr, dicht gefolgt von dem des Schmerzes, als sie unsanft am Arm gepackt und in die Höhe gerissen wurde.
„Schafft sie weg“, rief Ryuji den anderen zu und stieß Ruka in ihre Richtung. Asumi und Konyo schafften es gnädigerweise, sie aufzufangen, ehe sie noch einmal stürzen konnte, und zogen sie eilig von den rangelnden Ungeheuern weg, Beni und Raidon dicht auf den Fersen ohne sichtliches Bedürfnis, den Befehl zu verweigern.
Ryuiji schnaubte belustigt und wandte sich wieder dem Gegner zu. „So, ihr habt ganz schön Mumm, mich so dermaßen an der Nase rumzuführen, Yokai“, verkündete er und zog seine Handschuhe fest. Es war nicht so befriedigend wie mit jenen, die er mit seinem Onmyoji-Aufzug trug, aber er musste sich wohl oder übel arrangieren. „Ich habe nichts davon gehört, dass in dieser Gegend viele Kinder verschwinden. Aber einmal ist ja immer das erste Mal“, führte er weiter aus, als redete er über das miese Wetter, ehe sich sein Blick intensivierte, „Nur so als Tipp – ihr hättet euch vielleicht ein etwas leichteres Ziel aussuchen sollen. Nicht dass ich mich beschweren will oder so“, er schnippte mit den Fingern und sein Shikigami kehrte umgehend zu ihm zurück, „aber Opfer zu wählen, die sich wehren können, verlangt extraordinäre Fähigkeiten – oder überwältigende Dummheit.“
„Onmyoji ...“
„Gut erkannt. Vielleicht ein bisschen spät, aber trotzdem, Glückwunsch.“
„Misch dich nicht ein! Sie wollen hierbleiben! Sie sind glücklich hier!“
„So hören sie sich aber nicht an. Und man möge es mir verzeihen, aber ich lege den Aussagen von Menschen deutlich mehr Wert bei als denen erbärmlicher Yokais.“
„Sie lügen! Sie wollen bleiben!“
„Ja ja, niemand sagt mehr die Wahrheit heutzutage. Das Leben stinkt.“
Die Frau stieß ein Brüllen aus und schlug mit beiden Fäusten auf den Boden ein. „Sie wollen bleiben“, rief sie mehrmals wie ein Mantra aus und unterstrich jedes Wort mit einem donnernden Schlag. Ryujis Grinsen verbreiterte sich: „Selbst wenn das stimmen würde, gibt es immer noch sowas wie unsere Gesetze, Lady. Und Überraschung, diese besagen, dass Minderjährige sich den Entscheidungen ihrer entsprechenden Vormünder zu beugen haben. Und die erlauben in der Regel nicht, dass sie sich irgendwelchen suspekten Bergweibern anschließen, um in unwirtlicher Einsamkeit vor sich hin zu erfrieren. Also hör auf zu träumen, Yokai! Du wirst weder diese noch jemals wieder andere Kinder ins Verderben führen!“
„Du wichtigtuerischer Mensch! Ich werde sie bekommen, nachdem ich dir dein zitterndes Fleisch von den Knochen gerissen habe! Du kannst mich nicht besiegen! Ich bin stärker als du!“
Ryuji schnaufte belustigt: „Bist du dir da so sicher?“ Dabei glitt sein Blick ein winziges Stück von ihr ab über ihre Schulter, auf ein Geschehen, welches sich hinter ihr abspielte. Sie fuhr herum.
„Oh? Dachtest du, da gäbe es was Interessantes?“, höhnte es in ihrem Rücken. Ryuji breitete die Arme aus: „Wie auch immer. Danke für das aufschlussreiche Gespräch. Drei Minuten dauert es übrigens nun schon an. Willst du wissen, was ich in drei Minuten mit euch Gesindel alles anstellen kann?“ Panisch warf sie sich von einer Seite zur anderen, als der Schnee um sie herum kreisförmig aufstob und glühende Zeichen in der Erde freilegte.
„Einen Bannkreis, sie zu vernichten.“
Sie schrie, als blaues Licht sie wie Blitze durchfuhr und ihre Füße in der Mitte des Spruchs festnagelte.
„Zurück in die Finsternis, aus der du gekrochen kamst, unheilvolle Kreatur! Gengen! Formation Große Welle!“
Das Licht verschmolz zu einem dichten Vorhang, der das Monster in einem Wirbel umhüllte und es kreischte schräg und durchdringend, wand sich ein einem Bogen nach hinten – und verschwand.
Ryujis Grinsen flaute ab und er runzelte die Stirn.
Noch ehe er Gengen in die Röhre zurückbefehligen konnte, fiel ihm ein Gewicht in den Rücken und beinahe wäre er vornüber hingefallen, wenn nicht innerhalb der gleichen Sekunde Hände nach seinen Armen gepackt und ihn aufrechtgehalten hätten. „Ryuji“, heulte ihm Asumi ins Kreuz und auch alle anderen hatten in Angesicht der Lebensgefahr jede Berührungsscheu abgelegt, schmiegten sie sich doch an ihn, als wäre er der einzige sichere Anker im Wald, „Bin ich froh, dass du da bist! Geht es dir gut?! Dieses Ungeheuer hat dir doch nichts angetan, oder?!“ Er brachte nur einen stupiden Ton heraus, bevor sie anfingen, wild durcheinander zu reden. Nur hier und da konnte er das eine oder andere verständliche Wort im Kauderwelsch erkennen, doch hauptsächlich blendete er es aus, um sich auf den Rückruf des Shikigamis zu konzentrieren. Es war immer besser, den ersten Ansturm von Schock durch Reden ausklingen zu lassen, Fragen konnte er hinterher stellen. Gengen leckte über den Schnee und Ryuji hielt die Röhre höher, um ihn nicht zu verunreinigen. Noch brauchte er nicht Gewalt vor Finesse. Es war besser, ihn vorerst sauber zu halten.
Erst mehrere Minuten später beruhigten sich seine Mitschüler wieder und mit dem Verstand kehrte auch der Überlebensinstinkt zurück, der sie hastig von ihm abrücken ließ. Ausgebrannt starrten sie betreten zu Boden, alle Worte und Erklärungen in der Aufregung ausgespuckt und ungehört verklungen und nun nahm er die Gelegenheit wahr, einen Umstand zu bemängeln, der ihm quer im Hals saß.
„Was habe ich euch gesagt bezüglich des Folgens?“
Konyo hob einen Zeigefinger: „Also streng genommen sind wir nicht dir gefolgt, wir sind ihr gefolgt, deswegen-“ Ryuji sendete ihm einen außerordentlich unbeeindruckten Blick. Konyo ließ den seinen wieder sinken: „... Ja. Klar. ‘tschuldige.“ „Hey, wir sind hinterher, weil diese gruselige Schneefrau bei uns aufgetaucht ist und behauptet hat, du stecktest in Schwierigkeiten, okay?“, warf Ruka zur Verteidigung ein, „Wir haben uns Sorgen gemacht und das wirfst du uns jetzt vor? Undankbarer geht’s wohl kaum!“
„Oh, ihr wolltet mir also helfen. Und was hat’s gebracht? Ich musste mir die Lungen aus dem Hals rennen, um euch rechtzeitig den Arsch zu retten. Große Hilfe, wirklich!“
Nun mischte sich Asumi ein, damit sich die beiden nicht an die Gurgel gingen: „In Ordnung, die Aktion war ein bisschen bescheuert und es hätte besser laufen können, das gebe ich zu, aber was erwartest du von uns? Wir haben uns Sorgen gemacht! Du hast vorhin selbst zugegeben, dass ihr Onmyojis auch schon mal versagt!“ Ryujis Stirn legte sich in noch tiefere Falten, nachdenklich darüber, was sie meinte.
Dann begriff er. Es ging um die Gruselgeschichte, den Dämon, den sie hatten entkommen lassen. Kurz schloss er die Augen, dann lächelte er hinterhältig: „Oh, das habt ihr geglaubt?“ Sie starrte ihn mit offenem Mund an, doch er elaborierte nicht weiter. Gelogen oder nicht, nichts entschuldigte ihre Missachtung seiner Anweisungen. Sie waren ein hohes Risiko eingegangen und beinahe hätte es sie das Leben gekostet, denn ...
„Dieses Ding ... Das war eine Yuki Onna, oder? Sie wollte uns töten.“
Er sah zu Ruka hinüber, die sich zitternd die Oberarme rieb. Tapfer ließ sie sich den Schmerz nicht anmerken, zumindest solange sie den Fuß nicht belasten musste, aber er vermutete eine Verstauchung. Ohne Hilfe würde sie nicht weit kommen. Das Mädchen hob hoffnungsvoll den Blick: „Du hast sie erwischt, richtig?“ Er wägte Vor- und Nachteile einer Lüge ab und entschied, dass es besser war, sie die Rückendeckung nicht vernachlässigen zu lassen.
„Nein. Sie ist entkommen. Aber darum können wir uns jetzt nicht kümmern, wir müssen aus dem Sturm raus, ansonsten wird es wirklich unangenehm.“
Alle nickten, wenn auch etwas resigniert, als ob sie sich bereits gedacht hatten, dass es so einfach nicht sein konnte.
Und das war es nicht, es war sogar schwieriger. Denn nach kurzem Umsehen wurde Ryuji klar, dass er keine Ahnung hatte, wo sie sich befanden. Einen Teufel würde er tun, das zuzugeben. Auch versuchte er erst gar nicht, das Smartphone zu verwenden, nicht wie Konyo, der seine Karten-App geöffnet hatte, aber gleich darauf leidend stöhnte: „Keine Chance. Es funktioniert nicht.“ „Kein Wunder“, Raidon zuckte die Achseln, „das Wetter hat sich nicht verbessert.“ Ganz zu schweigen davon, dass es magisch hervorgerufen war. Ryuji entschloss sich, auch diese Information für sich zu behalten. Panik würde ihnen nicht weiterhelfen. Außerdem änderte es nicht viel – ob natürlich oder durch dunkle Mächte entstanden, der Sturm selbst war real und würde für eine ganze Weile nicht nachlassen. „Wir müssen einen Unterschlupf finden“, sagte er und ging los, überließ es ihnen, ihre Freundin zu stützen. Er konnte sich nicht um alles kümmern.
Sein Kopf ruckte zur Seite, als er im Augenwinkel einen dunklen Schemen wahrnahm.
Die Frau, die ihn von der Herberge weggelockt hatte, stand einige Meter von ihnen entfernt halb verborgen von einem Stamm im Schneegestöber, beobachtete sie reglos, bevor sie rücklings im weißen Nichts verschwand.
„Ist was?“, fragte Asumi und lugte in dieselbe Richtung, doch er schüttelte den Kopf und marschierte weiter.
Der Weg war beschwerlich, vor allem für Ruka, der der verstauchte Knöchel Beschwerden verursachte. Kein Wunder also, dass sich ihre Laune Schritt für Schritt verschlechterte, bis sie kaum noch Verständnis und guter Willen, sondern ganz Vorwurf war.
„Hätten die Jungs die Augen aufgehalten, anstatt um die tolle Eisprinzessin rumzuscharwenzeln, wäre uns die Sache vielleicht erspart geblieben! Ha, Ironie!“
„Es tut mir leid, okay? Woher hätten wir es wissen sollen?“
„Schon gut. Kannst ja nix für dein ganzes fehlgeleitetes Testosteron.“
„Oh, jetzt erzähl mir bloß noch, du wärst nicht Herz über Kopf gewesen, hätte da plötzlich Mafuyu Maeda vorm Fenster gestanden!“
„Mafuyu Maeda ist mehr als ein schönes Gesicht! Er hat Charakter! Und die beste Stimme diesseits und jenseits des Ozeans! Ich liebe ihn für mehr als sein Äußeres!“
„Red’s dir nur lange genug ein.“
„Haltet den Mund“, fuhr Ryuji sie an, „Wenn der Yokai uns folgt, macht es ihm euer Gezeter nur leichter, uns auf der Spur zu bleiben!“ Ruka wollte etwas entgegensetzen, was nicht höflich war, doch Asumi hielt ihr schnell den Mund zu: „Er hat recht. Es geht dir nicht gut, wir verstehen das ja, aber die Yuki Onna zu uns zu führen ist ‘ne echt blöde Idee, das musst du doch zugeben!“ Ruka schnaubte und zog schmollend den Kopf weg, sagte aber nichts weiter. Asumi wandte sich an Ryuji: „Aber weißt du denn, wo wir hinmüssen? Ich meine, ich hab nicht die Spur einer Ahnung, wo es zur Herberge geht, geschweige denn wo wir überhaupt sind.“ „Klar weiß ich, wo wir sind“, beschwichtigte er sie, ohne das Tempo zu verringern, „Aber das nutzt gar nichts. Das Miststück hat die Wege versperrt und Fallen aufgestellt. Wir müssen ihr ausweichen, ansonsten erwischt sie uns sofort wieder.“ Nicht alles davon war eine Ausrede für sein blindes Umhersuchen. Mehr als einmal hatte er dämonische Energie anrücken gespürt und sich entsprechend in die entgegengesetzte Richtung fortbewegt. Mit seinem Anhängsel konnte er einen weiteren Kampf nicht riskieren, vor allem nicht unter diesen widrigen klimatischen Bedingungen.
In diesem Moment sah er sie erneut.
Die schwarze Alte beobachtete ihn still von der Seite und einmal mehr verschwand sie im dichten Schneefall.
Hinter ihm diskutierten die anderen leise miteinander, hauptsächlich bemüht, Ruka zu trösten, der der Gewaltmarsch das meiste abverlangte.
Es konnte eine Falle sein – höchstwahrscheinlich war es eine. Eine Alternative bot sich ihm jedoch nicht. Bergdämonen verfügten in der Regel über einen sicheren Unterschlupf und im Moment war alles besser als die freie Natur. Die Alte hatte ihnen trotz Gelegenheit nichts getan, war bisher nicht mehr als ein Lockvogel gewesen.
Er folgte ihr.
Ab da erhaschte er in regelmäßigen Abständen einen Blick von ihr, immer dann, wenn er gerade befürchtete, ihr auf den Leim gegangen zu sein. Und es dauerte nicht lange, bis sie sich vor dem Eingang zu einer Höhle wiederfanden, verdeckt durch einen dichten Busch. In der beschränkten Sicht des Schneefalls hätten sie ihn ohne Hilfe niemals wahrgenommen. Ryuji hob eine Hand als Zeichen, dass sie warten sollten und trat mit vorsichtigen Schritten in die Höhle, gefasst darauf, jede Sekunde angegriffen zu werden.
Er wurde nicht.
Die Höhle war leer, kein Unterschlupf, nur festes Gestein und einige tierische Überbleibsel, aber wärmer und trockener als draußen. „Okay, kommt rein“, rief er und schob mit dem Fuß ein Kaninchenskelett an die Wand. Ein Feuer war unabdingbar und er hatte draußen mehr als genug Zweige gesehen. Durchnässt würden diese wohl sein, aber er konnte so viel spirituelle Energie opfern, wie es bedurfte, sie ausreichend zu trocken. „Hat einer von euch ein Feuerzeug?“, fragte er seine Klassenkameraden, die hinter ihm staunend in den düsteren Freiraum traten. „Ja, ich“, erwiderte Konyo und fischte in seiner Hosentasche danach, „aber wofür-“ „Feuer“, unterbrach Ryuji ihn, „ohne Wärme wird uns auch ein Dach über dem Kopf nichts bringen.“ Er wandte sich an Ruka, die sich mit Hilfe ihrer Freundinnen zur Wand schleppte und aufatmend daran zu Boden rutschte: „Der Knöchel braucht Kühlung. Legt Schnee drum, davon steht uns ja zum Glück mehr als genug zur Verfügung. Du, mitkommen.“ Er wies auf Raidon und verließ die Höhle wieder, der Junge zuckte nur seufzend mit den Schultern und folgte ihm. „Weißt du, du könntest uns bei unseren Namen rufen. Es würde es uns einfacher machen, uns nicht wie charakterlose Statisten in einem Videospiel zu fühlen, die jederzeit dem Drama zum Opfer fallen können. Es wäre echt beruhigend, wenn du verstehst“, murmelte er und Ryuji warf ihm einen verblüfften Schulterblick zu.
„... Werd’s mir merken.“
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Seitdem sie genügend Holz gesammelt hatten und Ryuji es unter beeindruckten Augen brennbar gemacht hatte, züngelte in der Mitte des Raums ein wohltuendes Lagerfeuer, das mit der Zeit die allgemeine Gereiztheit etwas hatte abklingen lassen. Rukas Fuß war nicht so schlimm verrenkt, wie sie befürchtet hatte, er tat nur wegen der Anstrengung weh, wogegen die Kälte der Schneekompresse ihr Übriges tat. Die Jugendlichen hatten sich nah ans Feuer gesetzt, ihre Winterjacken praktischerweise lang genug, um direkten Kontakt zum kalten Felsboden zu vermeiden. Nach all den Strapazen waren sie erschöpft und unterkühlt, und während Letzeres langsam nachließ, kroch Ersteres weiter in alle Glieder vor. Niemand sprach.
Beni seufzte und rückte ihren Rucksack zurecht. Sie war die einzige gewesen, die einen mitgenommen hatte, und keiner war auf die Idee gekommen, zu fragen, wofür. Nun kramte sie darin herum und förderte einige kleine Snacks und mehrere Minutenterrinen hervor. „Es tut mir leid“, flüsterte sie verlegen, „ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, aber ich schätze ... Ich schätze, wir können zumindest die Nudeln knabbern, richtig? Sollte ein bisschen gegen den Hunger helfen ... richtig?“ Asumi nahm einen der Becher entgegen und lächelte sie dankbar an: „Richtig. Wenn wir dich nicht hätten, hätten wir jetzt gar nichts zu Beißen, also mach dir keine Gedanken über Nebensächlichkeiten.“ Beni errötete, schmunzelte aber zurück. Sie nahm einen der Becher und ging zu Ryuji, der sich nahe des Eingangs postiert hatte, um ihn ihm zögerlich zu reichen.
„Ähm ... Besteck haben wir keins, aber sich die Finger schmutzig zu machen ist wohl unsere geringste Sorge.“
„... Danke.“
Sie nickte und machte sich auf den Weg zurück. Er starrte geistesabwesend auf den Becher, dann auf die noch immer leicht fröstelnden Mitschüler und fasste einen Entschluss.
„Füllt sie mit Schnee.“
Die anderen schauten verwirrt auf. Asumi fasste die allgemeine Skepsis in Worte: „Wie bitte? Aber es ist kalt, das würde sie ruinieren!“ Er stöhnte genervt auf und erhob sich, um vor den Eingang zu treten und zwei große Handvoll Schnee über die Nudeln zu schaufeln. Dann konzentrierte er sich und eine Minute später hielt er brodelnde Suppe in den Händen. Hinter ihm hielt Asumi den Atem an: „Wow! Das ist ja ein genialer Trick!“ „Schnee mag nicht die sauberste Zutat sein, aber wir müssen nehmen, was wir kriegen können“, Ryuji reichte ihr seinen Becher und übernahm stattdessen ihren, „Und es sollte uns besser aufwärmen als die Kalorien allein. Hol die anderen.“ Sie quiekte leise in Begeisterung und eilte davon.
„Aber glaub nicht, dass ich euch auch noch einen auf Alleinunterhalter mache, klar? Diese Scheiße hier ist anstrengend!“
Er erhielt nur ein breites Grinsen als Antwort.
Sie schlürften die Suppe langsam und genossen die vom Magen ausgehende Hitzewelle. Das von Herzen stammende geschlossene Dankeschön an Ryuji quittierte er mit einem Augenrollen. Inzwischen waren das alle gewöhnt, nur Asumi wollte noch nicht recht aufgeben. Während sie in der Glut herumstocherte, brummte sie anklagend: „Sind dir höfliche Phrasen wirklich so zuwider? Warum bist du eigentlich immer so grantig?“ Nicht einmal einen flüchtigen Schulterblick gönnte er ihr, erwiderte nur gleichgültig: „Keine Ahnung. Sag du’s mir.“ Natürlich hoffte er, ihr damit unmissverständlich klarzumachen, dass sie das Thema ruhen lassen sollte. Stattdessen waren alle so gestresst, dass sie die Herausforderung annahmen und sich mit dem Suchen nach Gründen abzulenken suchten.
„Soziale Angststörung.“
„Du denkst, es macht dich erwachsen.“
„Du willst Mädchen aufreißen!“
„Rai, du beginnst wirklich, mich anzukotzen!“
„Aber so machen das viele, Ruka! Die Masche lautet ‚Cooler, unnahbarer Intellektueller’ und wirkt wie ‘ne Bombe!“
„Ja, du hast damit bestimmt viel Erfahrung gesammelt.“
„Depressionen. Damit ist man auch immer schlecht gelaunt.“
„Ich glaube, so runterbrechen kann man das nicht.“
„Hämorriden.“
„...“
„... Was? Die sind absolut widerlich, da kann sich dir schon mal was quer in den Hals legen, wenn die ganze Zeit der Hintern brennt!“
Ryuji verzichtete darauf, das Gesicht in die Hände zu legen – oder die Hände um jemandes Hals, auch wenn es ihm noch so schwerfiel. Die Diskussion war schlichtweg zu kindisch, als dass er sich daran beteiligen wollte. Und sie ging noch eine Weile weiter, wurde lauter und hitziger, und im Moment gab es noch jemanden unter ihnen, den die Umstände etwas zu gereizt machten. Ruka ging das Gespräch auf die Nerven, aber noch mehr die totale Missachtung, mit welcher Ryuji seine Mitschüler strafte, und so stöhnte sie verstimmt auf und murmelte: „Meine Fresse, jetzt sag’s ihnen schon, sonst werden wir die ganze Nacht kein anderes Thema haben! So was Besonderes wird’s schon nicht sein! Oder liegst du auf dem Siechbett und wartest nur aufs Ende?!“ Es war halb aus Spaß, halb gehässig gemeint, mit Sicherheit aber nicht ernst, doch Ryujis Reaktion ließ eine Welle der Nervosität durch ihre Reihen gehen.
Er senkte schweigend den Blick.
„Blödsinn, Ruka. Wer stirbt denn schon in unserem Alter?“, Asumi kicherte entsetzt, „Ich meine, ja, schon, aber sowas ... sowas passiert doch immer nur anderen. Im Fernsehen oder so.“ Konyo richtete sich verdattert die Brille: „Eben! Das ... Man würde doch wohl was sehen, wenn er todkrank wäre, richtig? Der wirkt kerngesund, keine Chance!“ Raidon und Beni sahen sich an, suchten im Blick des jeweils anderen die richtigen Worte. Und Ruka schluckte betroffen, musste sie doch für grauenhafte Sekunden annehmen, in ein furchtbares Fettnäpfchen getreten zu sein.
Sekunden, die Ryuji vollends auskostete, ehe er Mitleid bewies und schmunzelnd die Zunge herausstreckte.
„Oh, warte, du Arsch, du hast uns reingelegt“, stieß Asumi aufgelöst aus, „Bist du denn total verrückt?! Sowas kannst du doch nicht einfach behaupten!“
„Ich habe gar nichts behauptet. Wenn ihr glaubt, was ihr wollt, ist das nicht mein Problem. Wenn ihr euch weniger um meine Laune als ums Ausruhen kümmern würdet, wären wir morgen bestimmt besser am Start, um unser Leben zu laufen. Also haltet endlich den Mund und schlaft!“
Sie fletschte die Zähne und warf sich regelrecht auf den Boden neben Ruka, allen den Rücken zugewandt: „Verdammter Fiesling!“ Er seufzte und blendete die folgenden leisen Gespräche aus, sich wieder ganz dem Geschehen außerhalb ihres Unterschlupfs widmend. Er konnte nicht zulassen, dass man sie so geschwächt überraschte – weder durch den weißen noch durch den schwarzen Dämon.
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Am Morgen hatte das Wetter noch immer nichts von seiner Heftigkeit eingebüßt. Sie waren in der Höhle gefangen, denn unter diesen Umständen zu fliehen, konnte sehr schnell in einer Katastrophe enden. Und so verließen sie den Schutz nur phasenweise und immer unter Ryujis wachsamen Augen, um Brennholz zu sammeln und sich wenigstens stundenweise die Beine zu vertreten.
„Normalerweise verspeise ich Yuki Onnas zum Frühstück.“
Ryuji starrte anklagend in den tobenden Schneesturm hinaus. „Mach dir keine Vorwürfe“, ermunterte ihn Asumi, die mit ihren anderen Freunden mehrere Packungen Nudelsuppe auffüllte, „Zumindest verhungern wir nicht, solange wir unseren wandelnden Wasserkocher dabeihaben!“ Er warf ihr einen finsteren Blick zu, verzichtete jedoch auf eine Antwort. Stattdessen zogen sich seine Augenbrauen noch weiter zusammen als gewöhnlich: „Was zum Teufel soll das werden?“ Die Jugendlichen hatte sich dicht aneinandergedrängt und Asumi streckte ihm auffordernd die Hände entgegen: „Gruppenkuscheln! Wegen der Kälte!“
Er musterte sie unangenehm eindringlich und knurrte schließlich: „Nur über meine steifgefrorene Leiche.“
Von ihrem Schmollmund wandte er sich wohlweise ab, wollte er doch keine Diskussion provozieren, und dachte eine Weile intensiv über die Geschehnisse der Nacht nach, während das Geschnatter schräg hinter ihm kaum darauf ahnen ließ, dass sie sich in einer Notlage befanden. Eher einem Picknick. Einem Eis-Picknick. Mit Aussicht aufs Erfrieren. Er seufzte.
Es stimmte – eine durchschnittliche Yuki Onna war mit seinem Onmyojutsu schneller verbrannt, als sie um Gnade winseln konnte. Das hatte vor gar nicht langer Zeit Tsurara Oikawa am eigenen Leib erfahren müssen, als sie sich dazu gemüßigt gefühlt hatte, ihm bei einem geschäftlichen Besuch im Nura-Haus etwas zu sehr auf die Nerven zu gehen. Sie hatte ihre Finger sehr lange kühlen müssen, ehe sie das gewohnte Gefühl darin zurückerhalten hatte. Aber diese Gegner? Ob er ihnen sagen sollte, dass damit etwas nicht mit rechten Dingen zuging?
Eine Evaluation der Lage meinte ja.
„Das sind keine Yuki Onnas.“
Alle verstummten und sahen ihn groß an. Konyo fand als erster die Stimme wieder: „Was? Aber sie sind Frauen und leben auf einem Berg in bitterster Kälte!“ „Eben. Und offensichtlich haben sie großes Interesse daran, unvorsichtige Jungs anzugraben“, fügte Ruka hinzu und erntete einen genervten Blick Raidons. Ryuji schüttelte den Kopf.
„Yuki Onnas sind zweifelsohne die bekanntesten Schneedämonen, aber bei weitem nicht die einzigen. Womit wir es hier zu tun haben, sind Yamaubas.“
„Yama-was?“
„Berghexen. Während Yuki Onnas Männer verführen, verlangt es Yamaubas nach Kindern.“
Schweigen folgte dieser Eröffnung, bevor Raidon angewidert die Nase rümpfte: „Pfui Spinne.“ Die anderen pflichteten ihm nickend bei und Ryuji warf ihnen stirnrunzelnd einen Seitenblick zu.
„Ihr habt euch doch gerade wieder irgendwas Schwachsinniges ausgemalt.“
Sie hatten zumindest den Anstand, verlegen dreinzuschauen und er stöhnte: „Ich bin von Idioten umgeben. Doch nicht im sexuellen Sinne! Yuki Onnas setzen Schönheit ein, um verirrte Wanderer unter dem Vorwand, helfen zu wollen, in möglichst gefährliche Gefilde zu führen, wo diese den Tod finden. Ihre Existenz entsteht aus dem Hass einer geschundenen Frau auf Männer und speist sich aus dem Wunsch nach Blutrache.“ Beni zog eine mitfühlende Grimasse: „Blutrache? Sie wollen nichts anderes als töten? Gibt es keine Ausnahmen?“ „Gute Frage“, rief Raidon, „ich meine, es gibt Geschichten, in denen sich Yuki Onnas verlieben, richtig?!“ Während die anderen breite Zustimmung spendeten, tauchten vor Ryujis innerem Auge die Exemplare des Nura-Haushalts auf, doch verwarf er den Gedanken, um jeden Zweifel auszulöschen.
„Keine Ausnahmen. Liebe bei diesen Yokais ist ein Märchen. Solltet ihr jemals merken, einer Yuki Onna gegenüberzustehen – lauft. In der Regel verfolgen sie niemanden, den sie nicht täuschen können.“
Konyo hob eine Augenbraue: „In der Regel? Was wenn sie es doch tun?“
„... Lauft schneller.“
Den simultanen entsetzten Aufschrei bei der bloßen Möglichkeit eines solchen Szenarios ignorierend, fuhr er unbeeindruckt fort: „Auf jeden Fall – Yuki Onnas beschränken sich auf Männer, Frauen meiden sie wie die Pest, solange ihnen eine Wahl bleibt. Dass uns diese beiden Yokais so selbstverständlich angesprochen haben, schließt die Art also aus. Außerdem sind wir zu jung. Für Yamaubas hingegen zu alt, sie halten sich eher an Kleinkinder, aber ich schätze, diese hier sind verzweifelt. Der zweite Mund am Hinterkopf – mit ihm verschlingen sie Kinder, deren Vertrauen sie sich erschlichen haben. Sie können sich zwar von Wild und Pflanzen ernähren, aber nur Menschenfleisch sättigt sie. Und wer lässt heutzutage schon den Nachwuchs aus den Augen, geschweige denn unbeaufsichtigt im Wald oder auf einem Berg herumkraxeln? Smartphones sind inzwischen auch alltäglich geworden, sodass sich nur selten jemand verirrt. Ich glaube, ihnen sind einfach die Opfer ausgegangen.“
Er rappelte sich auf und klopfte sich das Gesäß ab, wandte sich ihnen ganz zu, was er nur sehr selten getan hatte, seit sie in der Einöde gefangen waren, und sagte: „Das Gute ist, dass sie wahnsinnig leichtgläubig sind. Verwickelt sie in einen Handel und sie werden angreifbar. Vergesst das nicht – Einfältigkeit ist ihre Schwäche. Vielleicht wird euch diese Info mal von Nutzen sein.“ „Wo gehst du hin?“, fragte Beni, als er daraufhin den Eingang der Höhle ansteuerte, doch er wies nur auf den Haufen Zweige, der bereits wieder stark geschrumpft war. „Moment, ich komme mit“, rief Konyo hinterher und sprang auf.
Draußen wütete es wie eh und je und Ryuji erkannte, dass er sich geirrt hatte – die dunkle Magie war kein zeitlich begrenzter Spruch, sie würde halten, solange die Yamaubas Energie dafür hatten. Anscheinend wollte sie sie aushungern lassen oder in Panik versetzen, damit sie Fehler machten. Es bedeutete auch, dass sie den Sturm nicht aussitzen konnten. Noch einige Stunden wollte er es riskieren, doch wenn sich bis dahin nichts gebessert hatte, mussten sie den Marsch ins Tal aufnehmen, wenn sie nicht die letzte Kraft einbüßen wollten. Er knirschte frustriert mit den Zähnen.
Die Feinde warteten auf diesen Augenblick.
Hinter ihm stapfte Konyo einher und ab und zu knarzte es, wenn er einen dickeren Ast auf den Arm hob. Sie sammelten in Stille, doch Ryuji wurde das Gefühl nicht los, dass der andere Junge ihn aus einem bestimmten Grund begleitet hatte.
„Hey, Ryuji ... Wenn ich mal was sagen dürfte?“
Ah, er hatte recht behalten. Ryuji brummte nur als Zeichen, dass er zuhörte.
Konyo schluckte und winkte so gut es ging mit der Hand: „Ich meine, es ist ja deine Sache, aber ... Hast du schon mal drüber nachgedacht, ob deine Art ... Nun ja ... ein bisschen zu abschreckend wirken könnte? Du scheinst immer so genervt und so arrogant und du nimmst kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, jemanden runterzumachen. Das ist ... demotivierend.“ Ryuji hob eine Augenbraue: „Soweit ich mich erinnere, erkläre ich nur, warum eine idiotische Idee eine idiotische Idee ist. Meine Mitschüler davon abzuhalten, idiotischen Ideen nachzugehen, ist bei euch schon runtermachen? Wenn es demotivierend ist – perfekt, Idiotie im Keim erstickt, Ziel erreicht.“
„Naja, schon ... Nein! Okay, ich verstehe ja, warum du es tust, aber geht das wirklich nicht freundlicher? So, dass wir zwar kapieren, okay, es ist eine idiotische Idee, aber ohne uns wie die größten Blödköppe der Welt fühlen zu müssen? Ich meine ... Wir sind jung, Ryuji. Leb doch mal ein bisschen.“
„Ich soll leben, indem ich lebensbedrohlichen idiotischen Ideen nachgehe.“
„Siehst du, das meine ich! Wenn du das so sagst, komm ich mir blöd vor!“
„Ehre wem Ehre gebührt.“
Konyo seufzte und schwieg. Die Sache war, er konnte durchaus verstehen, warum Asumi und Raidon Ryuji interessant fanden und ihn gerne in der Gruppe haben wollten. Aber wie sie mit ihm auskamen, war ihm ein Rätsel. Sie waren weitaus weniger empfindlich als er selbst, soviel stand fest, und er beneidete sie oftmals um die dicke Haut. Aber sich freiwillig dieser verbalen Misshandlung auszusetzen, kam schon Masochismus gleich. Trotzdem sprach er noch aus, was ihm wirklich auf dem Herzen lag: „Na schön, okay. Schätze, es hat keinen Sinn. Aber ... Das heute Nacht war wirklich zu hart. Du hast Asumi echt erschreckt. Das war ziemlich gemein, selbst für deine Verhältnisse. Mit sowas solltest du keine Späße treiben, selbst wenn du uns nicht sonderlich leiden kannst.“
Ryuji hielt inne. Nicht leiden können? War das der Fall? Er konnte es nicht leiden, wenn seine Arbeit gestört wurde. Er konnte es auch nicht leiden, wenn jemand sich unnötig in Gefahr begab. Und vor allem konnte er es nicht leiden, wenn ein Plan misslang. Aber dass er irgendeinen seiner Mitschüler nicht leiden konnte, entsprach nicht der Wahrheit. Sie waren kindisch, laut und unvorsichtig, aber sie gehörten zur Menschheit, und obwohl das die meisten überraschen mochte – er konnte Menschen gut leiden. Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre er niemals der Bestimmung gefolgt, sie vor übersinnlichem Unheil zu bewahren. Und so erwiderte er zu Konyos heillosem Erstaunen ernst: „Ich werd’s mir merken.“
Der Junge wollte positiv überrascht etwas erwidern, doch er sah sie im selben Moment wie Ryuji und dieser vergeudete keine Zeit, sich umgehend zwischen ihn und die schwarze Alte zu werfen. Konyo ließ vor Schreck beinahe das Holz fallen, fasste sich jedoch noch und wurde unsanft in Richtung der Höhle gestoßen. Er verstand das Zeichen und rannte ohne zu zögern zurück.
Ryuji sah ihm nicht nach, Augen fest auf den Feind gerichtet, Bambusröhre wie von selbst in die Hand gesprungen, jederzeit bereit zum Angriff.
Doch die Frau stand nur da, halb hinter einem Baum verborgen, und schaute ihn stumm an. War es erneut eine Ablenkung? Der sichere Unterschlupf war nicht weit entfernt und er hatte einen Bannkreis ausgelegt, sodass ihm zumindest Zeit genug bleiben würde, den anderen zu Hilfe zu kommen, trotzdem brachte ihn das Kämpfen an zwei Fronten in Bedrängnis.
Gerade wollte er zu einer spöttischen Bemerkung ansetzen, um sich einen emotionalen Vorteil zu verschaffen, da machte die Frau erst einen, dann einen zweiten Schritt auf ihn zu und als sie sah, dass er keinen Angriff verschwendete, kam sie näher, langsam in einen Ärmel greifend und darin herumkramend. Er musterte sie in höchster Alarmbereitschaft, wollte sich aber nicht erlauben, spirituelle Energie zu vergeuden, solange es nicht unabdingbar war. Vorsichtig zog sie etwas aus dem Ärmel, streckte es ihm entgegen und ruckte, als er sich nicht anschickte, es entgegenzunehmen, auffordernd mit den Händen.
Er riskierte einen Blick.
Es war ein kleiner Stapel Ofudas.
Stirnrunzelnd starrte er ihr ins Gesicht, doch da war keine Hinterlist, keine Schadenfreude – nur Ausdruckslosigkeit, vielleicht ein bisschen Erwartung. Es mochte keine gute Idee sein, eine idiotische vielleicht sogar, doch er griff ebenso vorsichtig nach dem Stapel, wie sie ihn ihm entgegenhielt.
Kaum dass sich seine Finger um das Papier schlossen, war die Frau nach einem Blinzeln verschwunden.
Als er die Aufschrift las, legte sich seine Stirn in noch tiefere Falten, wusste er doch nicht mehr genau, wie er die Situation einordnen sollte. Es waren Schutz-Talismane. Schutz vor Kälte. Und Schutz vor den Augen diverser Bergdämonen. Nichts an ihnen fühlte sich falsch an, eher strahlten sie eine verblüffend helle Aura aus, und so nahm Ryuji sie mit Magenschmerzen hin. Im Moment brauchten sie jede Hilfe, die sie bekommen konnten, selbst wenn die Hilfe von einem Dämon selbst stammte.
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Wie erwartet legte sich der Sturm nicht. Sie mussten gehen, wollten sie eine Chance zum Überleben haben. Ohne Zweifel hatte man inzwischen im Tal ihr Verschwinden bemerkt, aber Ryuji war sich im Klaren darüber, dass man sie nicht finden würde, solange sie von der schwarzen Magie umgeben waren. Irgendwie mussten sie es weiter hinunter und aus dem Einflussbereich des Sturms schaffen. Das Problem war und blieb, dass er keine Ahnung hatte, wo genau sie sich befanden und wenn er es nicht wusste, machte er sich keine Illusionen über den Kenntnisstand seiner Begleiter. Ihre Smartphones funktionierten nicht, ihre Uhren funktionierten nicht, der Himmel war vollständig bedeckt, der Schnee nahm jede Sicht.
„Das ist eine Scheißidee“, beschwerte sich Ruka und sprach damit aus, was alle dachten. „Wir haben keine Wahl“, entgegnete er ohne von seiner Beschäftigung aufzusehen, einen Rest Wasser aus einer ihrer Plastikflaschen zu schütten, „Keine Sorge, die Chancen stehen relativ gut. Diese Yamaubas scheinen nicht die Stärksten ihrer Gattung zu sein, ansonsten hätten sie schon längst angegriffen. Sie wollen uns vorher schwächen und wenn wir sie lassen, spielen wir ihnen in die Hände. Wie geht es deinem Fuß?“ Raidon half ihr auf die Beine und sie testete vorsichtig die Belastungsgrenze, ehe sie erleichtert aufatmete: „Es zieht noch ein bisschen, aber ... Ich denke, ich bin okay. Ich kann laufen.“
„Gut. Es wird nötig sein.“
Er wusste, dass der folgende Marsch die Entzündung wieder aufflammen lassen würde – und sie wusste es ebenfalls. Doch jammern war überflüssig, sie mussten es riskieren. Wenn er erst einmal die Orientierung zurückerhalten hatte, konnten sie auf ein Transportmittel zugreifen, doch bis dahin hieß es Schusters Rappen. Sie verließen die Höhle, einer nach dem anderen, wachsam und ein wenig ängstlich, nur Ryuji blieb zurück und schaute geistesabwesend auf die leere Flasche hinunter.
Draußen rauften sie sich zu einem Haufen zusammen. Raidon stöhnte: „Schei... Man sieht ja nicht mal, wo es hoch oder runter geht! Wie sollen wir hier den Weg finden?“ „Wie wär’s, wenn wir uns hinlegen und wo wir hinkullern, ist Richtung Tal?“, schlug Konyo vor. Tatsächlich entlockte der offensichtliche Nonsens den anderen gedämpftes Kichern und Asumi grinste: „Warum lacht ihr? Klingt doch nach ‘nem vernünftigen Vorschlag!“ „Bei so viel Vernunft frage ich mich, wie ihr es über die fünfte Klasse hinweg geschafft habt“, ertönte es hinter ihnen.
Ryuji zog den Reißverschluss seiner Jacke bis obenhin zu und schob Gengens Bambusröhre in die Brusttasche, um schnell an sie heranzukommen, wenn Not am Mann sein sollte. Dann zog er die Ofudas aus der Hosentasche, starrte sie einige Sekunden vorwurfsvoll an und seufzte dann. „Hier, jeder erhält jeweils eins von jedem Symbol“, er reichte jedem von ihnen ein Dreierset, „Aber macht euch bereit, sie sofort zu zerreißen, sollte ich es euch befehlen, klar?“ Kaum hatten sie das Papier berührt, spürten sie den Effekt und Beni hauchte anerkennend: „Wow! Mir wird warm! Diese Kräfte von euch Onmyojis sind so praktisch! Warum hast du das nicht schon vorher gemacht?“ Weil die Kraft dieses Onmyojis sehr gut eingeteilt werden musste. Natürlich sprach Ryuji dieses technische Detail nicht aus, sondern wiederholte streng: „Klar?!“ Alle stutzten, nickten und verwahrten die Ofudas sicher auf den Jackeninnenseiten.
Ein Problem blieb – die Orientierung. Doch auch dieses Mal brauchte er nicht lange zu suchen, kaum dass alle sichtlich bereit dazu waren, ihm in gutem Glauben überallhin zu folgen, entdeckte er die schwarze Alte, die wiederum halb verdeckt vom Stamm eines Baums zu ihnen hinüberstierte. Seiner Aufmerksamkeit bewusst, machte sie zwei Schritte rückwärts und als er ihr folgte, drehte sie sich um und lief im leichten Trott, kein bequemer Schritt, aber auch keine halsbrecherische Flucht wie in der Nacht zuvor. Er wusste noch immer nicht ganz, was er von ihrer Hilfsbereitschaft halten sollte, doch ein Verdacht drängte sich ihm immer hartnäckiger auf.
Verdammt, er verabscheute graue Existenzen.
Natürlich bemerkten auch die anderen sie und er spürte ihre skeptischen Blicke im Rücken, doch sie stellten keine Fragen, versuchten sich mit dem Glauben, dass er wusste, was er tat, den Schrecken zu nehmen. Und er wusste, was er tat. Zumindest vermutete er es.
Zwei volle Stunden wanderten sie, wachsende Erschöpfung und Rukas Knöchel den Weg erschwerend, doch wenigstens froren sie nicht. Auf einmal ließ der Schneefall merklich nach und der starke Wind klang ab zu einem beständigen Lüftchen, welches ihnen die Flocken nicht mehr waagerecht ins Gesicht, sondern leicht schräg in den Rücken wehte. Was immer sie vorhatte, die undurchsichtige Schwarze führte sie wenigstens weg von der offen antagonistischen Weißen, und das sollte Ryuji fürs erste genug sein.
In der Ferne erspähte er einen bunten Punkt und als sie wenig später vor einem roten Wimpel standen, schnaubte er verblüfft.
„Oh. Hier sind wir.“
Konyo schaute ihn misstrauisch an und fragte stirnrunzelnd: „Ryuji ... Hast du etwa die ganze Zeit gelogen, als du behauptet hast, den Weg zu kennen?“ Er ignorierte ihn und sah sich um – die Frau war verschwunden. Typisch.
„Passt auf die Talismane auf. Wo auch immer diese Hexen lauern, sie können uns immer noch verfluchen.“
„Hey, Ryuji! ... Hey!“
Die Piste war zu verschneit, um sie mit normalen Winterstiefeln hinabzulaufen. Das erkannten sie, als sie nur wenige Schritte ins Tal taten und in einem uneleganten Haufen mehrere Meter abwärts in eine Schneewehe rauschten, nachdem Raidon den Halt verloren und jeden einzelnen von ihnen mitgerissen hatte. Ruka war das zweite große Problem. Schon eine Weile kullerten ihr Tränen über die Wangen. Zu stolz, um über die Beschwerden zu klagen, wussten doch alle, dass der Fuß bereits wieder heftig schmerzte. Sie war tapfer. Sie alle waren tapfer, musste Ryuji ihnen zugestehen. Er hatte erwachsene Menschen in geringerer Todesgefahr klagen hören, doch seine Mitschüler erduldeten still oder mit gediegenem Humor.
Es gefiel ihm. Ihre Anwesenheit gefiel ihm. Nicht das geteilte Leid, natürlich nicht, aber er konnte sich weitaus weniger angenehme Gesellschaft vorstellen, inklusive Vorwürfen, gegenseitigen Anschuldigungen und Verrat. Diese Jugendlichen hatten wahrscheinlich noch nicht einmal aktiv daran gedacht, einen von ihnen als Opfer zurückzulassen. Sie waren Yuras Freunden wirklich unheimlich ähnlich.
So ähnlich, dass ihm die Zähne vom Zucker knirschten.
Oder vielleicht war nur der Schnee dreckig. Mit angewidertem Laut spuckte er ihn aus, wischte sich mit einem Ärmel über den Mund und zog mit der anderen Hand automatisch Asumi auf die Füße, die bei dem Sturz halb unter ihn geraten war. Die anderen halfen sich ebenfalls gegenseitig auf und blickten ratlos die lange geschwungene Abfahrt hinunter. „Scheiße“, murmelte Asumi verstimmt, „So kommen wir doch nie an! Wir können doch nicht wirklich den Abhang runterkullern, Konyo!“ Der Angesprochene starrte sie fassungslos an: „Tu nicht so, als hätte ich das verlangt! Es war ein Witz! Natürlich funktioniert das nicht, das sollte doch wohl jedem klar sein!“
Ryuji neben ihnen brummte nachdenklich in eine Hand. Alle Blicke richteten sich auf ihn und Beni flüsterte erschüttert: „Ist nicht dein Ernst ...“
„Natürlich nicht.“
Ryuji rollte mit den Augen und überhörte geflissentlich das simultane Stöhnen. Sie beobachteten ihn dabei, wie er in die Hocke fiel und eine Hand auf einen kleinen Schneehügel legte. Eine Erklärung für das Tun erhielten sie nicht und sie wussten es besser, als nach einer zu verlangen, doch nach einigen Sekunden scheinbarem Nichtstun sackte der Haufen zusammen und ein kleines Rinnsal floss über den entstehenden Rand, das schnell größer wurde. „Heilige Schande“, entfuhr es Raidon und den Mädchen gleichzeitig ein entzücktes Raunen, als das Wasser sich in die Luft erhob und sich wie ein schlangenähnliches Lebewesen mehr und mehr verknotete. Zwei Tatzen landeten im Schnee, gleich darauf zwei Hinterläufe und aus dem entstandenen durchsichtigen Körper schoss ein drahtiger Kopf mit einer langen Schnauze, spitzen Ohren und klaren, leicht wirren Augen.
Gengen.
Ryuji begnügte sich nicht mit einem Exemplar – für das, was er vorhatte, brauchte er eigentlich drei, doch er wusste auch, dass er Gengen mit Gewichten nur lang genug manifestieren konnte, wenn er ihn auf zwei reduzierte. Sie waren zu viele und seine geistige Kraft zu gering, um alle gleichzeitig abwärts zu befördern. Kaum dass sein Shikigami sich also zu zwei kräftigen Gestalten zusammengeschmolzen hatte, klopfte er sich die Hände an der Hose ab und wandte sich an seine Mitschüler.
„Okay, hört zu, so wird’s laufen. Ich werde vier von euch mit meinem Shikigami nach unten ins Tal transportieren. Es ist nämlich leider so, Garo kann nur in zweifacher Ausführung beschworen werden und für mehr als jeweils zwei von euch ist auf seinem Rücken kein Platz. Also knobelt aus, wer mit mir zurückbleibt, und es sollte ‘ne Offensichtlichkeit sein, dass das nicht Ruka sein wird. Sobald ihr unten seid, versuchen wir nachzukommen. Da wir aber nicht mit Sicherheit sagen können, was die Yokais noch aus den Ärmeln schütteln, wär’s ganz hilfreich, wenn ihr den zuständigen Behörden und unseren Lehrern Bescheid geben würdet. Und mit zuständigen Behörden meine ich auch den hiesigen Onmyoji-Tempel. Ich geb euch eine Nummer und die Adresse, für den Notfall.“
Er zückte sein Smartphone und begann darauf herumzutippen, und während sie noch aufgeregt ihre eigenen herauskramten und erfreut feststellten, dass sie wieder funktionierten, vibrierte Asumis. Ryujis Nachricht enthielt nicht mehr als das Angekündigte, aber ihre Augen leuchteten auf, als sie eilig den neuen Kontakt speicherte.
Hätte er die Wahl gehabt, hätte er Beni bei sich behalten. Sie war ruhig und vernünftig und begegnete ihm mit Vorsicht. In Anbetracht der Umstände erwartete er allerdings einen der Jungs, beide nicht unbedingt schweigsam, wenn auch mit unterschiedlichen Temperamenten ausgestattet.
Somit konnte er die Überraschung nicht verbergen, als Benis Smartphone klingelte und Asumi zufrieden nickte: „Ich hab die Nachricht weitergeleitet. Beeilt euch, wenn ihr angekommen seid, ja? Ich will diese komischen Tussen nicht länger als nötig im Nacken sitzen haben!“ Was ihn noch mehr verwunderte, war, dass keiner der anderen überhaupt versuchte, Einspruch zu erheben. Entweder waren sie doch so verängstigt, dass sich keiner vorzutreten traute oder sie waren es gewöhnt, ihr das letzte Wort zu überlassen.
Beni betrachtete Gengen zweifelnd und fragte: „Er ... er sieht ziemlich rutschig aus. Werden wir uns überhaupt auf ihm halten können?“ Ryuji nickte: Es wird nicht sonderlich bequem werden. Immerhin ist er ein Wasser-Shikigami. Der Hintern wird nass werden, aber ihr werdet festgehalten, keine Sorge. Und die Talismane sollten euch vor Kälte schützen, von der Seite dürftet ihr nichts zu befürchten haben.“ „Oh Mann, ist das abgefahren“, rief Raidon ein Stück entfernt. Er war bereits auf das Geisterwesen aufgesprungen und strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Ryuji legte die Stirn in eine Hand und seufzte.
Sie halfen Ruka auf den Platz vor Raidon, Konyo und Beni kletterten mit etwas Mühe auf den zweiten Gengen. Erstaunt stellten sie fest, dass Ryuji die Wahrheit gesagt hatte – es war ein seltsames Gefühl, an einer Art Wasserpfütze festzukleben, doch es durchströmte sie auch eine Welle des Zutrauens. Sie fühlten sich tatsächlich sicher auf diesen unglaublichen Wesen, das an eine Mischung aus dürrem Wolf und verrückter Ratte erinnerte. Ruka linste zögernd zu Asumi hinüber, die grinsend einen Daumen aufstellte: „Na schön ... Wir holen Hilfe, also ... Haltet durch, okay?“ Ryuji hob ausdruckslos eine Augenbraue, doch Asumi winkte fröhlich: „Wir verlassen uns auf euch! Lasst uns hier nicht in der Öde versauern, klar?!“
„Ihr erfriert, bevor ihr versauert.“
„Danke, Kon. Klugscheißerei hat mir gerade noch gefehlt.“
„Alles klar“, rief Raidon vergnügt, als hätte er die riskante Situation völlig verdrängt, „Überlasst uns die Sache! Wir alarmieren die ganze Stadt, wenn’s sein muss! YEEHAAA!“ Und er trat Gengen in die Flanken, einen entschlossenen Finger geradewegs hinunter ins Tal gestreckt. Ryuji dachte kurz darüber nach, ihn zu blamieren, doch die Zeit und sein Energievorrat drängten, und so ließ er Gengen fließen.
Die Wesen stürmten mit langen Sätzen voran, ihren Reitern unterschiedlich motivierte Schreie entlockend und Raidons lautes Lachen verlor sich sehr schnell im Wettlauf und dem leichten Schneefall.
Eine Weile sahen sie den immer kleiner werdenden Silhouetten nach, ehe Asumi sich die Oberarme zu reiben begann und unsicher murmelte: „Und ... was machen wir in der Zwischenzeit?“ Ryuji bedachte sie mit einem Seitenblick: „Ist dir kalt?“ Sie winkte hastig ab: „Nein nein! Das war nur ... Ich bin etwas ... Naja, ich bin ein bisschen nervös.“ Verständlich, dachte er und wies mit dem Kinn auf einen am gegenüberliegenden Rand der Piste liegenden entwurzelten Baum. Sie stapften hinüber und setzten sich und er schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Shikigamis waren intelligente, selbstständige Wesen. Er musste Gengen nicht den Weg vorgeben, doch er musste seine Gestalt mit Energie versorgen, sonst würde es für die anderen wirklich nass und unangenehm werden.
„Du hast Ruka beim Namen genannt.“
Er blinzelte irritiert.
„Was?“
„Du hast Ruka gesagt“, wiederholte Asumi leise und rieb sich erneut die Arme, „Du hast seit wir losgefahren sind keinen unserer Namen benutzt, aber im Bus hast du ihren Namen genannt, sogar den vollen, und vorhin hast du auch wieder Ruka gesagt.“
„Und wo ist das Problem?“
Sie schmollte: „Mich redest du überhaupt nicht an, schon gar nicht mit Namen.“ Er begriff nicht, wonach dieses Mädchen seine Prioritäten aufstellte.
„Ist das jetzt gerade echt ein Grund, mich davon abzulenken, deine Freunde in Sicherheit zu bringen?“
„Ich wette, meinen Nachnamen kennst du nicht.“
„Was um alles in der Welt läuft falsch in deinem Hirn?“
Sie schob die Unterlippe noch ein wenig weiter vor und schwieg.
Mehrere Minuten vergingen, in denen sich Ryuji ganz auf seine Aufgabe konzentrieren konnte. Oder zumindest halbwegs, denn ...
„Ich kenne deinen Nachnamen.“
„Das hätt ich jetzt auch gesagt.“
„Oh, verdammt nochma... Egano, okay?“
Ein winziges Schmunzeln umspielte ihren Mund, als sie zu ihm aufblickte und ihm lief ein Schauer über den Rücken. „Du hast eine nette Seite“, triumphierte sie und er merkte, ja, er hatte sich vorführen lassen. Er rollte mit den Augen und wollte etwas erwidern, doch schrilles Kreischen von der anderen Seite der Piste schreckte beide auf und Asumi wäre aufgesprungen, hätte er sie nicht gepackt und ihr den Mund zugehalten. „Kein Lärm, keine hektischen Bewegungen“, raunte er ihr zu und sie nickte nach wenigen Sekunden Paralyse.
Der Schneefall nahm zu.
Sie saßen ganz still und beobachteten den entfernten Waldrand, vor dem zwei Gestalten aus dem weißen Vorhang auftauchten. Ein heftiges Streitgespräch begleitete ihre abgehackten, strauchelnden Bewegungen.
Die weiße Frau zerrte die schwarze an den Haaren hinter sich her, immer wieder mit der flachen Hand auf diverse Stellen des gebeugten Kopfs einschlagend, das Kreischen stammte von Letzerer, die sich kümmerlich um Freiheit und Abstand zu der hemmungslosen Gewalt bemühte, eigenartig tonloses Wehgeschrei, einem Nebelhorn nicht unähnlich. Den Jugendlichen lief es kalt über den Rücken.
„Du hast ihnen geholfen, nicht wahr?! Dreckige alte Hure! Dreckige alte Menschen-Atzin! Oh, wie hätte ich dich töten mögen, schon vor Ewigkeiten!“
Mehrere Schläge und die Schwarze sackte inmitten der Piste auf die Knie, verzweifelt am Handgelenk der anderen kratzend, ohne besonderen Effekt zu erzielen.
„Hierher hast du sie geführt, richtig?! Brauchst es gar nicht abstreiten, ich rieche sie doch noch!“
Endlich ließ die Weiße los und lief einige Meter hin und her, fahrig nach einer Spur suchend, die sie doch noch zu ihrer Mahlzeit führte. Als sie nichts fand, wies sie mit einem zornig zitternden Zeigefinger auf die Schwarze und fauchte: „Hat dir die Zunge nicht gereicht?! Verfluchtes Luder, ich hätte dir den ganzen Kopf abhacken sollen! Was muss ich tun, um dir die Flausen auszutreiben?! Was muss ich tun, damit du aufhörst, mir die Beute entkommen zu lassen, Verräterin?!“
Damit sah sie sich wild um, erspähte einen losen Ast an dem Baum, auf dessen Stamm Ryuji und Asumi hockten und kam angelaufen, sodass Asumi beinahe geschrien hätte, hätte Ryuji sie nicht in weiser Voraussicht flink an seine Brust gezogen. „Sie kann uns weder sehen noch hören, solange wir’s nicht drauf anlegen“, flüsterte er, die Yamauba keine Sekunde aus den Augen lassend, wie sie blind in Raserei an dem Ast herumriss, bis sie ihn mit einem dumpfen Knarzen endlich vom Rest gelöst hatte. Der ganze Baum wackelte dabei und verriet ihm ihre überwältigende Stärke. Mit der Doppelausführung seines Shikigamis weitab vom Schuss war es keine gute Idee, sich diesem Gegner zu offenbaren.
Die Weiße rannte zurück, in ihrer Wut unkonzentriert und mehr als einmal im tiefen Schnee strauchelnd, trotzdem erreichte sie die Schwarze schneller, als diese flüchten konnte und schlug mit dem Knüppel unnachgiebig auf sie ein.
So viel Angst Asumi auch in den Knochen steckte, das Jammern und Klagen, was sich daraufhin erhob, weckte ihren Gerechtigkeitssinn und sie stieß sich von Ryuji ab im festen Vorhaben, dem Akt ein Ende zu bereiten. Es gelang ihm gerade noch, von hinten ihre Jacke zu erwischen und sich auf sie zu werfen. Beide purzelten in den Schnee, sodass er um sie herum aufwirbelte.
Sofort schwang die Yamauba herum.
Ihre stechenden Pupillen wanderten von links nach rechts, unwirsch die Umgebung absuchend, Knüppel, Alte und Rage vergessen. Misstrauisch wanderte sie etwas ziellos umher, mal dahin, mal dorthin und hätte sie gewusst, dass sie dabei sogar einmal beinahe an Ryujis Kopf getreten hätte, hätte sie die Zähne nicht weiter in Frust, sondern in Schadenfreude gefletscht.
Wie durch ein Wunder taumelte sie um die beiden herum, nicht mitten drauf, und konnte die Quelle der Unterbrechung nicht orten. Sie schnüffelte die Luft, doch auch dieser Sinn brachte sie nicht weiter.
Schließlich gab sie auf. Ihr Zorn kehrte zurück und sie stapfte zurück zur Schwarzen, fuhr ihr erneut ins Haar und schleifte sie wortlos zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Ryuji riskierte für eine ganze Viertelstunde nicht, sich zu rühren und zum Glück begriff Asumi die Notwendigkeit, auf Nummer sicher zu gehen. Als die Dämonen aber nicht wiederkehrten und auch sonst alles still blieb, setzte er sich auf und atmete mehrmals erleichtert durch. Sie tat es ihm gleich, fragte jedoch nach wenigen Augenblicken Entspannung: „Warum hat sie sie angegriffen? Ich meine, gehören sie nicht zusammen? Sie scheinen ... Nun ja, Kameraden zu sein? ... Komplizen?“ Er schüttelte den Kopf und stand auf, um dem Schnee nicht noch mehr Gelegenheit zu geben, seine Sachen zu durchnässen: „Aus irgendeinem Grund scheinen sie aufeinander angewiesen zu sein. Aber keine der Bezeichnungen klingt besonders korrekt. Die Yamauba ... Hast du es gehört? Sie scheint der anderen die Zunge rausgeschnitten zu haben, um sie am Reden zu hindern. Möglicherweise hat sie nicht nur uns zur Flucht verholfen, sondern hat es schon bei mehreren versucht.“ Er reichte Asumi die Hand und sie zog sich daran empor: „Lass mich raten – ob das gelingt, ist eine andere Frage.“ Er nickte stumm. Sie schauderte.
„Also ist sie gut?“
„... Sie könnte nicht grundlegend schlecht sein.“
„Aber du hast gestern gesagt, es gäbe keine Ausnahmen.“
„Willst du jedes Mal, wenn du einem Yokai begegnest, erst darüber nachdenken, ob er gut oder böse ist? Krieg das in deinen Schädel rein, du triffst Yokai, du rennst so schnell du kannst, kapiert? Unterschiede sind selten sofort ersichtlich. Ja, ich gebe zu, dass diese gut sein könnte – könnte zu einer anderen Art gehört. Aber ich kann nicht sicher sein. Yamaubas spielen gerne mit ihrem Essen und auch wenn sie nicht hinterhältig genug sind für dermaßen tiefgründige Psychospielchen, rate ich dir, dein Überleben nicht von ihrem Eingreifen abhängig zu machen.“
„Okay.“
Sie setzten sich wieder und Ryuji stellte zufrieden fest, dass Gengen nicht mehr weit von der Endstation entfernt war. „Es dauert nicht mehr lang“, klärte er Asumi auf und schloss die Augen, „gib mir noch zehn, fünfzehn Minuten. Dann können wir auch von hier verschwinden.“ Sie nickte, obwohl er sie nicht sehen konnte.
Sie bemühte sich, ihn nicht zu stören, immerhin hing die Gesundheit ihrer Freunde von ihm ab, aber sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Nicht nur befand sie sich in einer gefährlichen Situation, nein, sie hatte auch mehrere Minuten unter ihm gelegen, seine Wärme, sein Herz klopfen gespürt und es war ihr keinesfalls unangenehm, aber doppelt peinlich gewesen – gerade weil es ihr nicht unangenehm gewesen war. Beide konnten froh sein, dass Raidon und Konyo dem Wurf nicht beigewohnt hatten, es hätte ihnen Munition für den Rest des Lebens geliefert. Sie hätten Asumis Wunsch nach Ryujis Aufmerksamkeit in ihren jugendlichen Trieben nur wieder pervertiert. Sie mochte sie, keine Frage, aber manchmal wollte sie ihnen Wunderkerzen in die Nasenlöcher schieben. Hintereinander. Und ordentlich quirlen, um herauszufinden, ob sich irgendwo doch noch Hirnmasse in den dumpfen Schädeln befand. Selbst Beni konnte sich in ihrer Begeisterung für Liebestragödien verlieren und zwischen den Zeilen lesen, obwohl gar nichts zwischen den Zeilen steckte.
Asumi mochte Ryuji. Inwiefern wusste sie selbst nicht genau. Doch sie hoffte, es irgendwann herauszufinden – wenn er ihr denn die Gelegenheit dazu zu geben bereit war. Und sie unbeschadet von diesem Ort wegkamen, was im Moment viel wichtiger war. Hinter ihnen raschelte es und ihr Kopf ruckte umgehend herum, nur um ein Wildkaninchen die Nase in den Wind rüffeln und im nächsten Busch verschwinden zu sehen. Sie seufzte erleichtert. So aufregend das Abenteuer auch war, der Stress wurde ihr langsam zu viel.
Als sie wieder nach vorn sah, starrte sie direkt in das breit grinsende Gesicht der Yamauba.
Es war vollkommen unmöglich, den Schrei zu unterdrücken.
Während Asumi hinten überfiel und Ryuji mit sich riss, weil sie reflexartig seinen Ärmel ergriffen hatte, lachte der Dämon schrill auf.
„Da seid ihr! Ich wusste, ich rieche noch immer frisches Fleisch!“
Ryuji fluchte hingebungsvoll. Die Überraschung hatte ihn die Verbindung zu Gengen verlieren lassen und außerdem waren die Talismane nutzlos geworden. Die Yamauba wusste nun, worauf sie achten musste und der Zauber verflüchtigte sich. Die anderen hatten es fast bis zur Endstation geschafft und von dort war der Weg zur Stadt nicht weit. Er konnte nur hoffen, dass das abrupte Ende der Beschwörung sie nicht zu unsanft auf irgendein Hindernis hatte prallen lassen.
Keine Zeit, sich um andere Sorgen zu machen.
Er packte Asumis Arm und zerrte sie in die Höhe, gerade noch rechtzeitig weg von der Stelle, auf die sie gefallen war und wo nun das Blatt einer scharfen Axt den Schnee teilte. Asumi entfuhr nochmal ein Schrei und die Yamauba schaute irre auf.
„Ihr entkommt mir nicht! Ihr habt mir schon zu viele Schwierigkeiten bereitet! Das Gelage ist dürftiger geworden, aber euer Gekröse wird mir dafür umso mehr munden!“
Asumi blinzelte, als sie sich fragte, was für ein anstößiges Vorhaben diese Ankündigung beinhaltete. „Unsere Eingeweide“, übersetzte Ryuji entnervt, „sie meint unsere Eingeweide.“ Das war zwar nicht obszön, blieb aber generell beunruhigend, weswegen sie ängstlich wimmerte und sich fester an ihn drückte. Er schnaubte nur abfällig und dirigierte sie hinter sich und weiter weg vom Angreifer, der die Axt mit einem Ruck aus dem gefrorenen Boden riss und sich ihnen ganz zuwandte. Er grinste und griff in seine Brusttasche, um die Bambusröhre herauszuziehen: „Wollen doch mal sehen, ob du mich auch schaffst, wenn ich keinen Klotz am Bein habe.“ Sie leckte sich in froher Erwartung über die spitzer gewordene Zahnreihe: „Und was ist mit dem Mädchen?“
„Kollateralschaden.“
„Hey!“
Asumi verlor für Sekundenbruchteile ihre Angst und schlug ihm empört auf den Hinterkopf, doch leider gönnte man ihr nicht lange Entspannung, denn schon stürmte der Feind ihnen erneut entgegen. Aus der Röhre schoss zeitgleich das Wasser und Gengen formte sich in Abwehrstellung vor ihnen.
„Garo! Verschlinge!“
Der Rattenwolf schnellte voran mit weit geöffnetem Maul, die Yamauba wich behände aus und schleuderte die Axt, die jedoch mitten durch ihn hindurchging. „Willst du wirklich Wasser zerschneiden?“, höhnte Ryuji und zog Asumi mit sich einige Schritte zur Seite, „Du bist noch dümmer, als du aussiehst! Übrigens – Angriff von links!“ Asumi erinnerte sich an seine Worte in der Höhle.
‚Sie sind unglaublich einfältig.‘
Und er hatte recht, kaum dass die Warnung seinen Mund verlassen hatte, warf sie sich herum und wartete zu lange, um sich vor dem Fall in den Rücken rechtzeitig schützen zu können. „Ups“, schob er direkt hinterher, „ich meinte das andere Links. Von mir aus gesehen natürlich. ‘tschuldigung, mein Fehler! Aber jetzt nochmal richtig!“ Während sie sich aufrappelte, bemühte sie sich hastig, wieder in die genau gleiche Richtung zu blicken, mit der er sie zuvor ausgetrickst hatte. Selbstverständlich war die Mühe umsonst, da Gengen ihr erneut ins Kreuz fiel. Sie kreischte wutentbrannt und er grinste: „Holla, das wollte ich nicht! Bin wohl nicht ganz fit wegen der langen Nacht! Garo! Du musst doch wissen, was ich meine! Von unten! Greif von unten an!“ Natürlich platschte ihr das Shikigami, kaum dass sie das Haupt gen Boden gesenkt hatte, ungebremst auf den Kopf und sie prustete hektisch, als sich das Wasser den Weg in ihren zweiten Mund bahnte. Ryujis Grinsen verfinsterte sich.
„Fließ, Gengen.“
Und mit einem atemlosen Röcheln platzten alle Flüssigkeiten aus der Yamauba heraus.
Der Schmerz des Entzugs schickte sie kreischend in den Schnee, zuckend krümmte sie sich um den eigenen Unterleib, während immer noch Rinnsale aus Mund, Nase und Augen flossen, als der erzwungene Krampf nachgelassen hatte. Ryuji war noch nicht fertig.
„Du hast mein Shikigami geschluckt. Damit hast du dich dem Tode geweiht. Sein Gift wird dich innerhalb einer Minute sterben lassen, wenn du nicht rechtzeitig mein Gegenmittel zu dir nimmst ... Oh, ich vergaß. Ich hab ja gar keins bei mir!“
Eine Weile hörten sie nur das schwere Atmen des Gegners, doch plötzlich ging es in glucksendes Lachen über und Ryuji runzelte die Stirn, Asumi verspannte sich nervös.
Die Yamauba richtete sich auf, geschüttelt von jenem Gelächter, welches schnell lauter und schriller wurde. Als sie die Arme ausbreitete und mit weit aufgerissenen Augen gen Himmel gackerte, spannten sich auch die Muskeln auf Ryujis Rücken so stark an, dass Asumi es durch seine Winterjacke erkennen konnte. Mehr brauchte selbst sie nicht, um zu erkennen, dass das Problem größer war als angenommen.
„Du kannst mich nicht töten, Onmyoji. Und schon gar nicht so.“
Die raue Stimme des Dämons ließ keinen Zweifel an dem Hass auf die Jäger und bewies, dass das keine reine Jagd zum Hungertilgen mehr war.
„Aber ich ...“
Hervortretende stechende Augen richteten sich auf Ryuji, der die Beine zum Sprung bereit beugte.
„Ich brauche weniger als eine Minute!“
Sie konnten ihren Bewegungen kaum folgen, von einer auf die andere Sekunde tauchte sie direkt vor ihnen auf und ihre schlanken, übermenschlich kräftigen Finger legten sich um Ryujis Hals. Durch den unerwarteten Angriff nicht in der Lage gewesen, sich vorzubereiten, enthielten seine Lungen zu wenig Sauerstoff, um dem Abschneiden der Luftzufuhr entgegenzuwirken.
Sofort spürte er die Auswirkungen, Schmerzen im Hals, Brennen in der Brust und Panik.
Er bekam kaum genug Luft zum klaren Denken, geschweige denn zum Reden, seiner stärksten Waffe. Zwar funktionierten seine Gliedmaße noch, aber die Arme der Feindin ließen sich kein Stück von ihrem Platz verrücken und auch die Tritte, die er ihr in den Unterleib versetzte, ertrug sie, solange sie ihn töten konnte.
Asumi war hastig von ihnen abgerückt, kaum dass sich der Dämon auf Ryuji gestürzt hatte und starrte nun entsetzt auf das rangelnde Paar. Ryujis Keuchen wurde lauter und lauter, doch wurde es noch weit übertönt von dem entrückten Gekicher und keines seiner Abwehrmaßnahmen zeigte auch nur den Hauch einer Wirkung! Sie musste etwas tun! Sie musste ihm helfen! Und ihr Schuh stieß an einen harten Gegenstand, den sie ohne auch nur zu Überlegen aufhob und losrannte.
„Ryuji! Halt durch, da kommt Unterstützung von hinten!“
Die Yamauba schwang herum, wie erwartet, wie sehnlichst erhofft, und der Ast, den sie vor einer Weile dazu verwendet hatte, ihre unglückselige Kameradin zu verprügeln, kollidierte so fest mit ihrem Hinterkopf, dass ihr zweiter Mund vor Schmerzen schrie.
Asumi verlor keine Zeit, kaum dass die Yamauba mit dem Gesicht voran in den Schnee stürzte, ließ sie den Knüppel fallen und packte Ryujis Arm, um ihn mit aller Gewalt in die Höhe und von ihr wegzureißen. Er hustete und röchelte, und dass er sich ohne Gegenwehr von ihr dirigieren ließ, war ein schlechtes Zeichen. So dachte sie, als ein kaum vernehmliches „Danke“ seiner Kehle entfuhr und er sich wieder aufrichtete.
„Scheiße“, entfuhr es ihm hingebungsvoll, „das hat mich kalt erwischt. Was für ein Miststück!“ Immer noch ein bisschen atemlos orderte er Gengen zurück in seine Nähe und richtete die Röhre auf den ebenfalls langsam wieder zu Sinnen kommenden Gegner. „Zur Seite“, raunte er Asumi zu, „sie verliert mehr und mehr an Verstand. Solange ich im Fokus stehe, droht dir keine Gefahr. Verzieh dich und weck nicht nochmal unnötigerweise ihre Aufmerksamkeit, verstanden?!“
Unnötigerweise. Klar.
Sie sprach ihre Skepsis nicht aus, dachte sie doch daran, die Gleichgültigkeit sich gegenüber auszunutzen, sobald es auch nur so schien, als würde ihn die Hexe ein zweites Mal überwältigen. Also nickte sie nur. Ehe sie ihm gehorchen konnte, fasste er aber ihre Hand und fischte in seiner eigenen Jackentasche herum, während sie von der Geste in Sekundenschnelle rote Ohren bekam.
Er gab ihr die Wasserflasche, die er sich in der Höhle von Beni erbeten hatte: „Pass verdammt gut drauf auf. Wenn du keine andere Wahl hast, schmeiß ihr das Zeug ins Gesicht. In jedem anderen Fall benutz sie, sobald ich es dir sage.“
Verständnislos sah sie darauf hinab, doch er wies sie nur nochmal an zu verschwinden und sie zögerte nicht, der Anweisung zu gehorchen. Sie lief so schnell ihre müden Beine sie trugen ins Abseits, wo sie sich hinter einem dicken Baum duckte und sich entschlossen auf die Lauer legte.
Ruyji und die Yamauba verfielen derweil in einen verzweifelten Tanz aus Angriff und Verteidigung und weil sein Shikigami nicht die gewünschte Wirkung erzielte, wehrte er sich mit gemischten Kampfkünsten, je nachdem, was er gerade benötigte, um den Feind zu verwirren. Doch die Yamauba war stark und er nicht schwach, aber menschlich. Seine verbalen Finten wirkten jedes Mal, aber sie stand nach jedem erfolgreichen Angriff wieder auf, mal schneller, mal langsamer, aber nie langsam genug, um ihm ein Zeitfenster für eine mögliche Flucht zu eröffnen. Und seine Energie nahm zusehends ab.
Asumis Fingernägel pressten tiefe Furchen in ihre Handflächen, doch was konnte sie tun, um ihm zu helfen? Vor allem, was, wenn die Yamauba die Wahrheit sagte und unverwundbar war? Es war mit Sicherheit mehr als eine Minute vergangen und sie stand tatsächlich noch, genauso kräftig und hasserfüllt wie zu Beginn des Kampfes.
Sie war so gefesselt vom Kampf, dass sie nicht merkte, wie sich jemand an sie heranschlich. Erst als sich eine knochige Hand auf ihre Schulter legte, wirbelte sie herum, der Schrei blieb ihr diesmal im Halse stecken, was gut so war, denn die Schwarze legte eilig einen Finger an die Lippen als Zeichen des Stillschweigens. Ryuji hatte gesagt, dass sie ihnen möglicherweise helfen wollte. Sollte sie seine Aufmerksamkeit wecken? Oder sollte sie dem Yokai Vertrauen schenken? Es fiel schwer, nicht loszulaufen und an der Seite eines erfahrenen Dämonenjägers Schutz zu suchen, doch sie unterdrückte den Reflex und zwang sich zur Ruhe. Hätte diese Frau sie töten wollen, hätte sie gerade die perfekte Gelegenheit gehabt. Doch sie hatte sie nicht genutzt.
Zudem schockierte Asumi der bemitleidenswerte Zustand der Alten. Sie war am ganzen Körper geschunden, Striemen und Blutergüsse hatten sich auf der faltigen Haut gebildet und ihre Kleidung war stellenweise eingerissen und blutdurchtränkt. Was immer es ausgelöst haben mochte, der Wutanfall der Weißen hatte seine Spuren hinterlassen. Weil sie fremden Kindern geholfen hatte, die eigentlich ihre Beute hätten sein müssen.
Die Alte erkannte, dass Asumi nicht vorhatte, ihre Anwesenheit zu verraten oder zu fliehen. Sie nickte mit einem Ausdruck von Dankbarkeit und griff behutsam in einen Ärmel, als wollte sie das Menschenmädchen nicht verschrecken.
Eine Blume kam zum Vorschein.
Asumi blinzelte die kleine Pflanze an. Stängel und Blätter waren blassgrün und schimmerten sogar ein wenig, die Blütenblätter waren auf einer Seite reinweiß, auf der anderen tiefschwarz. Es stand völlig außer Frage, dass es sich um ein magisches Produkt handelte.
Die Frau stand still, sichtlich erwartungsvoll, und als sich Asumi nicht rührte, streckte sie ihr die Blume noch ein Stück weiter entgegen.
Ein markerschütterndes Brüllen ließ ihre Körper erbeben. Asumi schwang entsetzt herum, halb vor die Alte, und starrte auf die Yamauba, die sich nicht weit von ihnen entfernt die Haare zu raufen begonnen hatte.
„Du hast sie mitgebracht?! Verräterin! Atzin! Verfluchtes Gezücht! Steck sie weg! STECK SIE WEG!!!“
Asumi verstand die Welt nicht mehr.
Ryuji dafür umso besser.
Nach einem kräftezehrenden Scharmützel mit einem Gegner, der sich einfach nicht kleinkriegen lassen wollte, hatte er bereits damit geliebäugelt, Asumi allein von Gengen in Sicherheit bringen zu lassen. Er wusste nicht, wie weit er mit der Strategie gekommen wäre, aber den Versuch wäre es wert gewesen. Doch dann hatte die Weiße von ihm abgelassen, als sie etwas sehr Verstörendes im Augenwinkel erspäht hatte. Er war ihrem Blick gefolgt und hatte erst nur Asumis Rücken gesehen, doch als sie sich umgewandt und vor die Schwarze geschoben hatte, hatte er die Blume in den runzligen Händen entdeckt. Und es war ihm sofort klargeworden, was sie seiner Mitschülerin da feilbot.
Einige Yamaubas trennten ihre Seelen von ihren Körpern, ein unfehlbares Mittel, signifikante Stärke zu erhalten. Doch die Seele musste gelagert werden. Ein Medium musste die Rolle des Körpers übernehmen – und bei Bergdämonen waren das in der Regel Pflanzen.
Blumen.
Warum wusste er nicht, aber die Schwarze hatte jene Blume aus dem Versteck geschmuggelt und hielt sie nun abwechselnd Asumi und ihm entgegen. Doch selbst aus der Entfernung erkannte er die unterschiedliche Färbung. Das da war nicht nur das Gefäß für eine Seele.
Es war, als offenbarte sie ihnen ihr Herz.
Während die Weiße seitlich von ihm tobte, es jedoch nicht wagte, auf die beiden zuzustürmen aus Angst, Asumi könnte in der Hast das kostbare Gut beschädigen, musterte Ryuji aufmerksam das Gesicht der Alten. Sie wandte den Blick nicht ab, sah ihn nur ausdruckslos an – und ruckte wieder mit den Händen, wie sie es mit den Ofudas getan hatte. Nimm, schien sie ihm zu sagen, wir haben keine Zeit.
„Was erhoffst du dir?!“, schrie die Yamauba und fuchtelte mit den Händen, „Menschen können sie nicht vernichten! Das Mädchen ist nutzlos! NUTZLOS! Vielleicht verletzt es mich, aber ich werde nicht sterben! Hörst du?! Steck sie weg und troll dich! TROLL DICH!“ Asumi schaute bemitleidenswert ratlos von einem zum anderen und Ryuji erbarmte sich ihrer. Er zückte Gengens Bambusröhre, holte weit aus und warf sie Asumi in hohem Bogen entgegen.
„BENUTZ SIE!“
Asumi riss die Augen auf, hob beide Hände, um sie aufzufangen.
Im nächsten Moment teilte die geschleuderte Axt der Yamauba die Röhre in der Mitte und das kostbare Nass ergoss sich über den Schnee, mit dem es verschmolz und unrettbar verloren ging.
Fast zeitgleich erschien sie direkt vor Ryuji und packte ihn erneut am Kragen, um ihn ohne ersichtliche Anstrengung vom Boden abzuheben und zu schütteln.
„Nur ein Onmyoji hätte eine Chance, sie zu zerstören! Nur ein Shikigami ist in der Lage dazu! Und ich werde es bestimmt nicht dazu kommen lassen! Ich werde dich töten und ausweiden und nichts kann mich noch daran hindern, du Pest!“
Sie warf ihn mehrere Meter weit gegen einen Baum und er strauchelte hustend zu Boden. Sie dachte, jedwede Gefahr sei gebannt. Stattdessen konzentrierte sie ihre gesamte Wut auf Ryuji, auf den sie zu stolzierte im festen Vorhaben, dem lästigen Feind endlich den Garaus zu machen. Asumi beachtete sie nicht mehr.
Diese stand mit gerunzelter Stirn da und starrte wortlos auf die Überreste der Bambusröhre, die nun kein Gengen mehr enthielt. Aber was hatte er ihr zugerufen?
‚Benutz sie!‘
Sie hatte genau diese Worte vor kurzem schon einmal von ihm gehört, doch es konnte nicht sein, dass er so weit ins Voraus geplant hatte.
Oder?
Sie drehte sich um und ging zu der Alten, die mit desillusioniertem Ausdruck auf die Knie gefallen war. Die Blume hielt sie noch immer in Händen, die Blume, die Asumi als normaler Mensch nicht zerstören konnte. Stattdessen zog sie die Plastikflasche hervor, die er ihr gegeben hatte, schraubte sie auf, zögerte skeptisch, doch ein Schmerzenslaut in ihrem Rücken ließ sie die letzten Skrupel beiseite schieben. „Leg sie in den Schnee“, befahl sie der Alten und diese gehorchte umgehend – die Hoffnung, die übers fahle Gesicht huschte, drehte ihr den Magen um. Was, wenn sie sich täuschte?
Keine Zeit zum Zweifeln.
Und so ließ sie einen dünnen Strahl Wasser aus der Flasche auf die Blume rieseln.
Erst geschah nichts, doch dann zogen sich die feinen Blättchen zusammen, kräuselten sich, rissen an den Rändern und verkohlten. Einher ging das Verblühen mit einem so durchdringenden Kreischen, dass sie meinte, auch ihr Trommelfell reißen zu spüren.
Sie ließ die Flasche fallen, doch das war nicht schlimm, war sie doch bereits vollständig entleert, und presste sich beide Hände auf die Ohren.
Die Yamauba hatte Ryuji losgelassen, dem sie gerade die langen Klauen in die Gurgel schlagen wollte, und fuhr sich stattdessen ins Haar, über die Kopfhaut, übers Gesicht und hinterließ lange blutige Schrammen, während ihr Körper zu dampfen begann und ihre Haut in beeindruckendem Tempo vertrocknete. Schreiend taumelte sie einige Schritte rückwärts. Ihr einst so schönes Gesicht glich nun einer grotesk verzogenen Grimasse, die zusehends alterte und ergraute. Ein hasserfüllter Blick glitt zu Asumi, die die Zähne zusammenbiss wegen der lauten Schreie im Todeskampf.
„WIE?! WOHER?! BIST DU ETWA AUCH ...?!“
„Nein nein, sie gehört nicht zu mir“, erklärte ihr Ryuji munter, obgleich seine Stimme ein wenig wund und rau vom Würgen war, „Du hast nur die Pointe nicht begriffen. Viele von euch Yokais heutzutage sind so erbärmlich rückständig, dass sie in der Regel glauben, ein traditionellen Behälter in den Händen eines Onmyojis würde sein Shikigami beherbergen. Aber nun, weißt du, es ist so ... Eigentlich ist es egal. Garo fühlt sich in jedem anderen Behältnis genauso wohl, sagen wir zum Beispiel ... in einer ordinären Plastikflasche? Und wenn es sich bei dem Wasser um neunundneunzigkommaneun Prozent kristallklares Konjosui handelt, ist es völlig schnuppe, wer es dir in die hässliche Visage kippt.“ Sein Ausdruck verlor jeden Humor.
„Vergehe, Kreatur! Die Hölle hat dir schon deinen wohlverdienten Platz vorgeheizt!“
Damit drehte er sich um und ging, ohne sie noch weiter zu beachten, zu den anderen, um sich neben Asumi hinzuhocken und ihr anerkennend auf die Schulter zu klopfen: „Gut gemacht.“ Sie stieß einen verständnislosen Laut aus und ließ die Hände von den Ohren sinken: „Was hast du gesagt?“
„Ich habe gefragt, warum zum Geier das so lange gedauert hat! Hast du den Hinweis nicht kapiert oder wolltest du warten, bis mich das Miststück auskaut?!“
Entrüstet sprang sie auf und wies einen anklagenden Zeigefinger auf ihn: „Oh, du undankbarer Fatzke! Ich glaub’s ja nicht! Da rette ich dir die Haut und du blaffst mich an?! Hätte sie nicht schon vor ‘ner Ewigkeit an dem Gift sterben müssen, das du ihr verabreicht hast?! Was ist damit?! Da hast du gar nicht versagt, was?!“ Er schnaubte abfällig, ein Mundwinkel hob sich in Schadenfreude: „Welches Gift? Garo ist doch überhaupt nicht in der Lage dazu, Kyogen ist das Shikigami, mit dem ich Gegner vergifte. Den habe ihn aber gar nicht dabei.“ Sie blinzelte ihn an wie eine Eule.
„Aber das bedeutet ja, dass ... Sie war gar nicht vergiftet?“
„Korrekt.“
„Also dass sie innerhalb von zwei Minuten stirbt ...“
„War gelogen. Ich hatte gehofft, sie würde fliehen und uns die Möglichkeit bieten, ebenfalls zu entkommen.“
Asumi stöhnte leidend und rieb sich das Gesicht, um die Muskeln zu entspannen. Dann fiel ihr Blick auf die alte Frau und ihr stockte der Atem, erbleicht in Schrecken.
Die schwarze Gestalt war abgemagert, ergraut, einige Stellen ihres Körpers fielen in Bröckchen hinab und zersetzten sich im Wind zu Nichts. „Was ... was passiert mit ihr?!“, rief Asumi schockiert aus und fiel zurück auf ein Knie, um der Frau eine Hand auf die Schulter zu legen. Unter ihr gab das Fleisch nach und zerbröselte, was sie in stillem Grauen umgehend wieder zurückweichen ließ. Ryuji verankerte den Blick mit dem Dämon, der ihn selig erwiderte.
„Zwillinge. Die beiden sind Zwillinge, dazu verdammt, von der Lebenskraft der jeweils anderen abzuhängen.“
Asumi starrte ihn verdattert an, konnte sich den Vorwurf in der Stimme nicht verkneifen.
„Aber du hast gesagt, dass sie unterschiedlicher Herkunft sind! Wie ist es dann möglich, dass sie Zwillinge sind?!“
Sie war aufmerksam und ließ sich keine Dummheiten auftischen. Das beeindruckte ihn. Doch sie dachte zu irdisch und es gab nichts zu tun, außer auf die zerstörerische Wirkung der toten Blume zu warten, und so erklärte er, wo er ansonsten nur spöttelnd ausgewichen wäre.
„Kamis und Yokais gehorchen keiner weltlichen Logik. Kennst du die Geschichte der Dioskuren?“
„... Castor und Pollux, richtig? Aus der griechischen Mythologie?“
„Hm, schlauer als du aussiehst, Respekt. Zeus zeugte Polydeukes mit Leda in einer Nacht, in der sie sich auch ihrem Mann Tyndareos hingab, der Kastor beisteuerte. Dadurch teilten sich die Kinder eine Eizelle, obwohl sie von unterschiedlichen Vätern abstammten. Sie waren nach Fug und Recht Zwillinge und dadurch in tiefer Bruderliebe verbunden. Etwas in der Art muss auch hier geschehen sein, nur dass es sich für diese beiden als unangenehm kontrovers herausgestellt hat.“
Die Alte schmunzelte sanft und nickte kaum merklich. Asumi spürte einen Kloß im Hals, und er wuchs rasant, als sie schluckte: „Also ist sie tatsächlich gut.“ Ryuji verzog keine Miene: „Scheint so.“ Und dann, nach kurzem Zögern: „Volksmund nennt Yokais wie sie Yamababas. Bergmütter.“ Asumis Hände begannen zu zittern: „Aber dann ... stirbt sie doch gerade, oder? Wir ... wir haben die Blume zerstört. Ich hab die Blume zerstört! Das ... das ist meine Schuld!“
„Jepp. Es ist unsere Schuld.“
Doch er bezweifelte stark, dass es die Yamababa mit Trauer erfüllte, endlich von ihrer grausamen Schwester erlöst zu werden. Nicht mit einem so seligen Ausdruck auf einem verwitterten Gesicht, dem ein paar Minuten Agonie nach Jahren, Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten körperlicher und seelischer Qualen nicht mal mehr ein Zucken abringen konnten.
Und sie zerfiel zu Staub, stumm und lächelnd, als wäre endlich alles nach ihren Wünschen abgelaufen.
Neben ihm gab Asumi ein Geräusch, irgendwo zwischen Grunzen und Quieken von sich, nur feuchter, und er stemmte sich seufzend in die Höhe. „Übrigens“, er gönnte ihr ein gemeines Grinsen über die Schulter hinweg, „Es kommt zwar außerordentlich selten vor, aber es ist auch Menschen möglich, Zwillinge von verschiedenen Männern zu gebären. Ihr Frauen solltet also immer sehr gut aufpassen.“ Und für einige Sekunden vergaß sie Schuldgefühle, Mitleid und Bedauern und öffnete den Mund in hoffnungsloser Entgeisterung. Er wollte schon siegesbewusst in sich hineinkichern, als ein gellender Schrei durch die Umgebung hallte, so laut, dass die Berge ihn mehrfach verstärkt in alle Richtungen zurückwarfen.
Die Yamauba raufte sich noch immer die Haare, der Fortschritt der entlassenen Seele auch bei ihr deutlich sichtbar, kaum noch bei Verstand und doch voller Hass und Zorn. Mit diesem letzten Aufbegehren erstarrte sie zur Salzsäule, Wind wie ein hungriger Parasit an ihrem Körper zerrend und die Partikel mit sich ins Leere reißend.
Doch der Schaden, dieser letzte Schaden war entstanden und aus der Ferne drang ein tiefes, bedrohliches Grollen an ihre Ohren, welches selbst den abgebrühten Onmyoji jedwede Gesichtsfarbe kostete. Mit beiden Händen griff er in den Schnee, konzentrierte seine letzte noch verbliebene spirituelle Energie auf die sich schnell bildende Pfütze. Das Konjosui war kontaminiert, aber wenn er Gengen nicht mehr im Kampf benötigte, reichte die Körperkraft des Shikigamis auch über unreines Wasser völlig aus.
Kaum dass sich der Rattenwolf manifestiert hatte, packte er Asumi um die Hüfte, warf sie regelrecht hinauf und sprang hinterdrein, kaum einen Sekundenbruchteil mit festem Halt verschwendend, ehe er ihn den Hang hinunter trieb.
Onmyojis durften niemals gegen Dämonen verlieren – geschweige denn, sie aus den Augen verlieren!
Er hatte nicht aufgepasst.
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Beinahe hätte Ryuji es begrüßt, wenn endlich das Gefühl aus seinen eiskalten Gliedmaßen gewichen wäre – es wäre besser gewesen als das brennende Stechen seiner Muskeln, jede Mal, wenn er auch nur ein bisschen im feuchten Schnee rutschte und sich nur mit Mühe auf den Beinen zu halten schaffte. Asumi auf seinem Rücken stöhnte schmerzerfüllt, ihn jedoch erfüllte ihr Erwachen mit Erleichterung.
Sie waren der Lawine knapp entkommen, beziehungsweise hatten sie es dank Gengen in letzter Sekunde unter einen rettenden Abhang geschafft, der verhindert hatte, dass sie vollkommen im drückenden Schwall des endlosen Nichts versunken waren. Trotzdem hatte sie noch einiges an Gewicht getroffen und es hatte eine Weile gedauert, ehe sie alle fünf Sinne genügend zusammengeklaubt hatten, um sich buddelnd und keuchend daraus zu befreien. Der Marsch abwärts war durch den gelockerten Schnee noch beschwerlicher geworden und Hilfe durch sein Shikigami stand nun vollständig außer Frage. Asumi hatte irgendwann vor Erschöpfung und, wie er vermutete, durch noch nicht diagnostizierte Verletzungen das Bewusstsein verloren. Doch sie konnten sich eine Pause nicht mehr leisten, weswegen er sie kurzerhand Huckepack genommen hatte. Was sie davon hielt, würde sie ihm später in Ruhe erklären können, doch zuvor war ihre einvernehmliche Zustimmung nicht vonnöten gewesen. Zu allem Übel hatten mit dem Tod der Alten auch die Talismane, die ihnen Wärme spendeten, jede Wirkung verloren und Ryuji hatte nicht mehr genug Energie, um auch nur einen von beiden mit neuer Kraft zu erfüllen. Sie waren auf sich allein gestellt. Durchnässt, müde und unterkühlt, doch keinesfalls gewillt, den Löffel abzugeben, wie Asumi sich so optimistisch auszudrücken gewusst hatte – ehe sie zusammengebrochen war. Nicht für lange, doch lange genug, um ihm einen Hauch Sorge zu bereiten.
„Was ist passiert?“
„Kannst du dir doch wohl denken, wenn dein Hirn nicht von der Kälte schockgefrostet wäre. Konzentrier dich einfach ein bisschen mehr.“
„Ha-Ha.“
Asumi hätte ihm gern einen Schlag auf den Hinterkopf gegeben, doch sie war zu müde, um die Hand zu heben. Oder sich für ihre prekäre Position zu genieren, die sie sich mit etwas Geduld und Mühe tatsächlich zusammenreimen konnte. Sie machte keine Anstalten, sich von ihm lösen zu wollen. Und er zwang sie nicht dazu, traute er doch seiner eigenen Stärke nicht mehr zu, sie nochmal vom Boden aufheben zu können, sollte sie erneut fallen.
Eine Weile ließ sie ihn in Ruhe in seiner Anstrengung, ihrer beider Gewicht einigermaßen zuverlässig Richtung Tal zu manövrieren. Der Sturm hatte aufgehört, der Tag war zu Ende gegangen, doch war es noch nicht stockdunkel, sodass sie noch gut erkennen konnten, wohin sie traten.
Dann fragte sie endlich.
„Weißt du ... Mir ist etwas eingefallen. Du hast in Kuran mehr als zwei von diesen Wölfen beschworen.“
Als er darauf nichts erwiderte, hakte sie nach, trotz der Umstände danach strebend, einen sie schon länger grämenden Verdacht bestätigt zu wissen: „Hast du ... Wolltest du diese Yokais unbedingt töten? Warst du zu stolz, um rechtzeitig zu fliehen?“ Dies entlockte ihm ein Augenrollen und er neigte ihr den Kopf zu, was ihn beinahe das Gleichgewicht verlieren ließ. Nach einem hingebungsvollen Fluchen stapfte er vorsichtig weiter, versuchte aber nicht noch einmal, sie anzusehen.
„Red keinen Stuss. Ich bin ein Profi, ich kenne meine Grenzen. Wenn ich hätte zurückbleiben wollen, um es mit ihnen aufzunehmen, meinst du echt, ich hätte einen von euch dabehalten?!“
„Aber warum hast du dann nur zwei-“
Er hielt abrupt an und seine Schultern verspannten sich, was sie den Rest des Satzes nervös herunterschlucken ließ.
„Ich sagte doch gerade, ich kenne meine Grenzen.“
Damit nahm er den Marsch wieder auf und sie fühlte sich schlecht, ihn zu einem Geständnis gezwungen zu haben, das er ihr so offensichtlich nicht hatte machen wollen.
„... Tut mir leid.“
Das war alles, was sie für eine Weile herausbrachte, doch sie fühlte sich verpflichtet, sich auch noch für einen anderen Umstand zu entschuldigen, und so murmelte sie peinlich berührt in seinen Kragen: „‘tschuldige. Ich bin bestimmt schwer.“ Ein Schnauben.
„Schwer wie Minao die Kochfee.“
„Aber die wiegt hundertsechsunddreißig Kilo!“
„Sag ich doch.“
„Oh, du bist so ein Arsch!“
Sie meinte es nicht ernst. Wie denn auch, wenn er sie unbeeindruckt von der eigenen sichtlichen Erschöpfung ohne zu klagen durch unwegsames Gelände schleppte? Es gab so viele großspurige Jungs an ihrer Schule, aber nicht viele hätten in einer solchen Situation so zuverlässig an ihrer Seite verharrt. Ein Hauch von Zutrauen wallte durch ihr Bewusstsein und sie schmunzelte hauchzart.
„Meine Großmutter hat immer gesagt, ich solle Ausschau nach stillen Männern halten, die ihren Charakter erst dann zeigen, wenn es nötig ist, und ihren Weg gehen, ohne auf das Gerede anderer zu hören.“
„Und du erzählst mir das, weil ...?“
„Sie meinte, ich könnte nur mit einem solchen Mann glücklich werden.“
Leises Glucksen ließ seine Schultern erbeben und sie genoss die Genugtuung, ihn zum Lachen gebracht zu haben.
„Und du hörst auf andere?“
„Nicht auf andere. Auf Oma! Sie war Heiratsvermittlerin, weißt du? Ihre Erfolgsquote lag bei sagenhaften dreiundneunzig Prozent!“
„Reife Leistung. Und seitdem klebst du jedem Kerl an der Backe, der dieser Beschreibung entspricht? Hätte dich nicht für bedürftige Hausfrau in spe gehalten.“
Sie schüttelte den Kopf und es fühlte sich an, als streichelte sie ihm übers Schulterblatt.
„Nee, nicht wegen Heirat. Ich mag Menschen wie dich einfach. Wenn ich einen treffe, will ich gleich Freund mit ihm sein. Und du bist ... cool. Du bist wirklich richtig cool, Ryuji, und ich hab mich wirklich angestrengt, dich besser kennenzulernen.“
„Davon hab ich aber nichts gemerkt.“
„Weil du nicht wolltest ... Du wolltest nichts ... mit mir zu tun haben. Aber versucht hab ich’s! Deshalb ... bin ich so froh, dass du mitgefahren bist ... diesmal. Ist ... ist die letzte Chance gewesen, weißt du? Die letzte Chance, bevor ...“
„Halt die Klappe. Durchs Aufmachen wird’s nur noch kälter.“
Natürlich hörte sie nicht auf ihn. Oder zumindest nur für eine magere Minute, ehe es in seinen Nacken flüsterte: „Willst du ... willst du wirklich keine Freundschaft? Weil ... weil wenn nicht, würd ich dich in Ruhe lassen, ehrlich ... Wenn du nicht willst ...“ Er seufzte und hievte sie sich etwas weiter über die Schulter, sodass sie einen überraschten Laut ausstieß und sie Wange an Wange gerieten.
„Idiot. Jetzt hör schon auf zu heulen. Ein bisschen leichter als Minao bist du ja.“
Und sie lachten. Leise, aber beide.
Verrückt, dachte Ryuji bei sich. Es gab nicht viele, die seinen Kampfstil lobten. Nichts Ehrenhaftes daran, nur Hinterhalt und Täuschung. Schlange wurde er genannt, Reptil oder Ratte. Ihm selbst machte es nichts aus, es hatte ihm und vielen anderen mehr als einmal die Haut gerettet. Aber so direkt, wie sie war, konnte er sich nicht vorstellen, dass ihre Begeisterung lange anhielt. Mamiru passte eher zu ihr. Ehrlich, stark, kein Bedarf an vorsichtiger Planung.
„Weißt du, das Ganze hier ist ja alles andere als romantisch, aber hätte ich nur die Wahl zwischen Funkstile und Gruselkabinett ... Ich würde diesen Höllentrip jederzeit wiederholen.“
Ihre kaum vernehmlichen Worte unterbrachen seine Gedanken und bewiesen ihm einmal mehr, wie sehr ihre gutgelaunte Truppe Yuras Freunden glich. Nie zuvor war es ihm so deutlich vor Augen gehalten worden, aber er konnte Freunde haben.
Die Frage war, ob er dazu bereit war, es zu versuchen.
In diesem Moment ertönte von weitem ein Rufen, mehrere Stimmen folgten und die eindeutigen Geräusche vieler Menschen in der Nähe. Der Himmel war bereits ziemlich düster, doch er erkannte Silhouetten, die sich ihnen schnell näherten.
Sie stellten sich als Bergwacht heraus und nicht nur das, bei ihnen waren Raidon und Beni, die sich trotz der Warnungen der Helfer voller Freude auf sie stürzten.
„Asumi! Ryuji! Ihr habt’s echt runtergeschafft!“
Raidon packte einen Arm und wuchtete ihn sich über den Nacken, Ryuji dabei nicht unwillkommen mit der Last unterstützend: „Wir haben uns wahnsinnige Sorgen gemacht! Als wir kurz vor der Endstation ‘ne Bruchlandung hingelegt haben, weil’s uns schlichtweg den Wolf unterm Hintern weggewischt hat, haben wir schon das Schlimmste befürchtet!“ Beni fasste die Hand einer vom Glück etwas überwältigten Asumi und drückte sie fest: „Wir dachten, so fies kann Ryuji nicht sein, dass er uns einfach auf die Straße schmeißt, und dann dachten wir, dass euch irgendwas passiert sein muss, und wegen der Yamaubas dachten wir-“ Sie brach ab und schluchzte, deswegen übernahm Raidon den Rest der Erklärung: „Zum Glück waren bereits überall Rettungskräfte unterwegs. Unsere Lehrer sind nämlich schon auf ‘m Zahnfleisch gelaufen! Die haben unser Verschwinden kaum ‘ne Stunde, nachdem wir abgehauen sind, bemerkt und als dann der Sturm losbrach, haben sie fast ‘nen Herzkasper gekriegt! Den Tempel haben wir aber auch noch verständigt, wie du gesagt hast!“
Dafür war es zu spät, dachte Ryuji bei sich, und behielt es auch dort. „Gute Arbeit“, murmelte er stattdessen und ergab sich der Dunkelheit, die ihn lange schon zu überwältigen gedroht hatte. Er hörte zwar Rufe und spürte das Schütteln, aber wenn so viele Leute um sie herumschwirrten, gab es wohl wenigstens einen, der statt ihm die Angelegenheit regeln konnte.
Er war viel zu müde dafür, sich auch nur noch eine einzige weitere Minute auf den Beinen zu halten.
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Er schlug die Augen auf und brauchte einige Sekunden, um sich zwischen Traum und Wirklichkeit zu entscheiden. Sein Wecker zeigte halb acht Uhr an und er begriff, dass er das Klingeln überhört hatte. Mal wieder.
Der unsägliche Klassenausflug lag nun schon über zwei Wochen zurück und natürlich hatte er sich eine vermaledeite Lungenentzündung zugezogen. Glücklicherweise nur eine leichte, die schnell behandelt worden war und sich dadurch weniger prächtig entwickelt hatte, als wäre sie unerwartet gekommen. Er hatte einige Tage im Krankenhaus verbracht, ehe ihn seine Familie nach Hause geholt hatte, und er war gut gesundet. Nun bemühte er sich schon seit Tagen, zurück in seinen Tagesrhythmus zu finden, aber noch waren die Folgen des mühseligen Trips in die Berge nicht ganz auskuriert.
Seufzend stand er auf und bereitete sich auf die Schule vor. Zum ersten Mal seit Nagano würde er seine Klassenkameraden wiedersehen und es erfüllte ihn nicht unbedingt mit Freude. Wenn er Glück hatte, sagte er sich jedoch, hatten sie bereits alle interessanten Informationen aus Asumi und Co. herausgepresst und ließen ihn deshalb in Frieden, wie von allen Seiten bevorzugt.
Es war spät und er musste sich beeilen, somit stahl er nur eben auf dem Sprung Yuras Toast, der frisch geröstet auf ihrem Teller lag, und ignorierte den Protest. Sie regte sich nicht nur über den Toast auf, sondern über den ganzen Ryuji, der doch eigentlich noch gar nicht fit genug war zum Rausgehen. Er erklärte ihr, dass sie sich ihren Vortrag in den Scheitel schmieren konnte. Sie erklärte ihm, dass sie das Oberhaupt war und er auf sie hören musste. Gerade, als er dabei war, ihr zu erklären, was er mit ihrem Haupt zu tun gedachte, sollte sie nicht aufhören, ihm auf den Geist zu gehen, sah er vom Fenster aus eine Gestalt, die sich am Tor zum Tempel herumdrückte. Erstaunt runzelte er die Stirn.
Yura bemerkte seinen Blick und folgte ihm, woraufhin sich ihr eigener etwas aufhellte: „Sie steht da jeden Morgen! Wartet, bis einer von uns hingeht und ihr Bescheid gibt über deinen Zustand! Ich kann’s nicht fassen, aber du hast anscheinend echt Leute, die sich um deine Gesundheit sorgen! Sie ist nett, hätte nie gedacht, dass du so jemand vernünftigen anziehst!“ Sie erhielt eine Kopfnuss für ihre Mühen.
Asumi verlagerte das Gewicht von Ballen auf Ferse, während sie geduldig darauf wartete, von einem von Ryujis Geschwistern verständigt zu werden, dass er auch an diesem Tag noch nicht gesund genug fürs Aufstehen war. Statt einer eifrigen Schwester oder einem der ernsten, aber höflichen Brüder schreckte sie dieses Mal eine schroffe, aber oh so erhoffte Stimme aus den Gedanken auf.
„Was zum Teufel willst du denn hier?“
Sie fühlte, wie das sich ausbreitende Grinsen fast schon unangenehm an den Mundwinkeln zerrte, als sie aufsah und ihr Ryuji in voller Montur und Schultasche entgegenkam. Noch ein wenig blass um die Nasenspitze, aber endlich wieder dieses markante Zusammenziehen der Augenbrauen, als wollte er die ganze Welt in einen Mixer stopfen und auf maximaler Stufe schreddern.
Sie hatte es vermisst.
„Dich abholen“, strahlte sie deswegen furchtlos wie ein Krieger mit Mission, „Wir können gemeinsam zur Schule gehen! Es ist nur ein kleiner Schlenker für mich, also keine Umstände!“ Sie fiel neben ihm in Schritt, ohne sich davon beleidigt zu fühlen, dass er sich stöhnend durchs Haar fuhr. „Musst du es unbedingt drauf anlegen?!“, fragte er konsterniert, „Bist du echt so scharf drauf, mir in den Weg zu straucheln und als Yokai-Futter zu enden?!“ Sie machte einen Satz von ihm weg und eine geschmeidige Jiu-Jutsu-Bewegung: „Ein Schwarzgurt Asumi erscheint! Ich habe keine Angst vor Dämonen. Lass sie ruhig kommen!“ Er starrte sie fassungslos an, schüttelte entmachtet den Kopf und ging weiter: „Du bist echt ein verrücktes Huhn.“
„Jepp!“
„Geh weg! Du nervst!“
„Vergiss es! Und sei nicht so gemein!“
„Wenn du gemein nicht willst, lauere mir nicht vor meinem Haus auf!“
„He, wusstest du, dass der Tempel in Nagano das Haus der Yamaubas gefunden hat? Man hat ein Sammelgrab dahinter entdeckt ... Oder wahrscheinlich war es für sie nur die Müllkippe. Viele davon waren Tierknochen, aber einige gehörten Menschen. Sie werden jetzt vernünftig bestattet. Meinst du, ihre Seelen finden dadurch endlich Ruhe?“
„Die der Opfer oder die der Yamaubas?“
„Eine war eine Yamababa! Das ist ein Unterschied!“
„Muss ich mich von dir tatsächlich in Dämonologie aufklären lassen?“
„Wir waren übrigens auch alle krank!“
„Wenigstens ein kleiner Trost.“
„Ruka, die Ärmste, hat’s voll erwischt, bestimmt, weil sie so viel auf dem kalten Boden hat sitzen müssen.“
„Kann es sein, dass du nur so tust, als würdest du den Leuten zuhören?“
„Sie lässt dir ausrichten, dass sie dir was schuldet. Das ist super vorteilhaft für dich, ihre Eltern haben nämlich einen Onsen als Nebenerwerb und sie lassen dich und deine Geschwister für ein paar Tage umsonst rein! Yura ist übrigens voll lieb, sie und ich haben schon alles geregelt, wir können nächstes Wochenende gehen, das wird dir bestimmt guttun!“
„Und was hast du mit meinen Geschwistern zu tun?“
„He, wir gehen heute zur Karaoke! Hast du Lust mitzukommen? Ich meine, du musst nicht singen, ist wahrscheinlich eh schlecht für unsere Stimmen so kurz nach ‘ner Erkältung, aber die haben da tolle alkoholfreie Cocktails, schmecken wie echt!“
„Ich geb’s auf.“
Inzwischen weit in ihren Rücken starrten ihnen fünf Köpfe, am Balken des Tempeleingangs übereinander ans Holz gepresst, in stiller Andacht hinterher. Obwohl sie sie schon lange nicht mehr verstehen konnten, studierten Ryujis Geschwister Gestik und Mimik ihres gegenüber Außenstehenden sonst so reservierten Bruders und stellten überrascht fest, dass es nicht so aussah, als würde er das fröhlich schnatternde Mädchen in absehbarer Zeit mit einem Aknefluch belegen.
„Masatsugu.“
„Hn?“
„Ist sie ein Dämon?“
„Nein. Zumindest bin ich mir ziemlich sicher.“
Yura stieß einen ratlosen Laut aus, Stirn gerunzelt und Lippen geschürzt. Sie hatte sich in der letzten Woche zwar viel und gern mit Asumi unterhalten, doch eigentlich hatte sie es nie für möglich gehalten, dass sie nicht in dem Augenblick die Flucht ergreifen würde, in dem er mit wachem Geist und mieser Laune das Haus verließ. Doch dort lief sie, nicht vor ihm weg, sondern neben ihm her, als fühlte sie sich tatsächlich wohl in ihrer Haut.
Ein beschämendes Gefühl der Eifersucht erfüllte ihre Brust, simultan mit überwältigender Freude. Dass er aus sich herauskam, war ein Zeichen dafür, dass er dem Fluch der Haguromo Kitsune keine Bedeutung mehr beimaß. Dass er dem Fluch keine Bedeutung mehr beimaß, war ein Zeichen dafür, dass dieser gebrochen war. Denn wenn Ryuji eine Bedrohung beiseiteschob, hieß das, dass es keine Bedrohung mehr war.
Und wenn sie sich für jemanden etwas mehr Lebensfreude wünschte, war das Ryuji.