Schattenspiele
von Itsuka
Kurzbeschreibung
{Projekt : Schreibzirkel } Facetten des Lebes. Die Realität ist nicht so schön wie das, was in Büchern steht.
KurzgeschichteAllgemein / P16 / Gen
09.11.2013
14.05.2014
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09.11.2013
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Runde 33
Frosch | Werbung | kalt | perlgrau | Marke
Frosch | Werbung | kalt | perlgrau | Marke
★
W E G R E N N E N
W E G R E N N E N
Jetzt
Es ist Mitternacht und es ist kalt.
Ich sitze an unserem Steg und lasse meine Füße nur wenige Zentimeter über dem Wasser baumeln.
Ich denke an früher und ich denke daran, was passiert ist.
Wie ich es immer tue, wenn ich hier sitze und mir wünsche, die Wellen würden auch mich davontragen.
Zwei Jahre zuvor
»Du bist echt ‘ne Marke, Jana.«
Ich zeige ihm den Mittelfinger und mein Zungenpiercing, aber er lacht nur. Spöttisch.
Als würde er mich auslachen.
Ich drehe mich um und gehe – wie immer.
(Kenne es doch nicht anders.)
Es ist kalt draußen, viel zu kalt für ein Maiwochenende, und meine Finger werden steif, als ich eine Zigarette anzünde und sie an den Mund führe. Ich wünsche mir den Sommer, der eigentlich längst Einzug gehalten haben müsste, und ich wünsche mir die Ferien, um ein paar Wochen lang meinen Klassenkameraden entkommen zu können, die in diesem Moment wahrscheinlich lachend aus dem Café blicken und sich über mich lustig machen. Ich verbiete es mir, mich umzudrehen und diesen Gedanken nachzuprüfen. Ich will keine Schwäche zeigen; tue ich nie.
Aber ich tue auch nie das, was ich eigentlich schaffen möchte. Ich möchte mich gerade hinstellen können, möchte sagen können: Leckt mich am Arsch. Ich möchte, dass man mich ernst nimmt. Aber mein Urinstinkt sagt mir immer nur eins: flüchten. Egal, wie oft ich mir vorstelle, was ich beim nächsten Mal sage, letzten Endes siegen meine Reflexe und ich renne. Immer wieder, als hätte ich Angst, dabei ist das das Letzte, was ich fühle. Ich fühle Scham, weil ich gehe anstatt zu bleiben. Ich schäme mich, nicht für mich, sondern für die wenige Kontrolle, die ich besitze. Ich kann mich nicht selbst kontrollieren. Das macht mir Angst, manchmal, oft. Immer.
Ich blase den Rauch in die Luft und beobachte, wie er langsam verdunstet. Genauso kommt mir auch meine Selbstkontrolle vor. In Momenten wie gerade eben, wenn man mich verspottet und auslacht, verschwindet sie einfach wie diese Rauchwolke. Sie hat keine Konsistenz, sodass ich sie nicht festhalten kann, obwohl sie doch in greifbarer Nähe ist. Ich schließe die Augen, weil ich das nicht sehen möchte, und als ich sie wieder öffne, steht der Übeltäter von vorhin vor mir.
Florian ist selbst irgendwie ›eine Marke‹. Sein Haar ist immer auf unendlich coole Weise verwuschelt, als ob es gut aussehen würde. Dabei wirkt er damit nur, als wäre er gerade erst aufgestanden und hätte vergessen, sich zu duschen. Er hat Augenringe und wirkt immer irgendwie high, was manchmal sogar ganz lustig ist. Aber vor allem ist er eins: einer meiner Klassenkameraden, denen ich ungerne begegne. Ich weiche ihnen gerne aus; jetzt, wo er direkt vor mir steht, geht das leider schwer. Also blase ich ihm meinen Zigarettenrauch mitten ins Gesicht und hebe eine Augenbraue. Was will er?
»Du bist wirklich eine Marke«, betont er noch ein bisschen mehr und grinst mich dann an. Er hat eine Zahnlücke, die diesem Lachen etwas fast schon Kindliches, Niedliches gibt. Als er sich selbst eine Zigarette ansteckt, wirkt er ein bisschen erwachsener, aber etwas davon bleibt doch irgendwie erhalten. Ich weiche einen Schritt zurück und lehne mich gegen eine Straßenlaterne. Wenn er schon hier rauchen will, soll er es nicht neben mir tun. Wir haben doch nichts miteinander zu tun. Aber Florian hat wohl tatsächlich vor, mit mir zu reden. Das irritiert mich – ein bisschen.
»Ich wollte dich damit nicht verletzen«, meint er und sieht dabei zu Boden, als wäre es ihm peinlich, das zu sagen.
»Aber du bist so anders als die anderen Leute in unserer Klasse. Du hast Piercings und trägst dauernd nur schwarze Kleider und gibst einen Scheiß darauf, was die Welt von dir denkt. Das meine ich nicht böse, ich finde es einfach cool, und ich reize dich wohl einfach gerne, weil ich gerne sehe, wie stark du bist, weil du dich einfach umdrehen und gehen kannst. Ich bin so jähzornig, ich würde sofort zuschlagen!«
Ich runzele die Stirn. Noch nie hat mir jemand gesagt, dass Weggehen etwas Gutes ist, ja, sogar etwas, was Selbstkontrolle erfordert! Und dieser Junge scheint es auch noch ernst zu meinen, zumindest hebt er jetzt den Kopf und lächelt mich ein bisschen unsicher an, als ob ihm noch etwas auf dem Herzen liegen würde. Ich warte einfach ab, ohne etwas zu erwidern. Irgendwie bin ich dankbar, aber das will ich nicht sagen, nicht, falls es doch noch in einen Scherz ausartet, wie ich befürchte.
»Ich wäre gerne mit dir befreundet, weißt du?«
Am nächsten Tag treffen wir uns am See und gehen spazieren. Er hat eine grellgrüne Mütze aufgesetzt und trägt dazu eine fast noch hellere Jacke in derselben Farbe, die mir praktisch in den Augen brennt. Er sieht aus wie ein giftgrüner Frosch. Ich meide seinen Blick, weil es mir irgendwie peinlich ist, sein Angebot angenommen zu haben. Es wirkt so unecht! Welcher Mensch würde einfach so auf einen anderen zugehen und sagen: Hey, lass uns Freunde sein, weil ich dich cool finde! Wer macht das schon, und warum genau mit mir? Ich versuche, den Rat aus dieser einen Werbung zu befolgen: Vertraue auf dein Herz oder wie auch immer. Mein Herz sagt mir, dass das schön ist, einen Freund haben zu können.
Mein Instinkt sagt: renn. Aber er hält meine Hand fest (»Damit du nicht wegrennt.«) und lacht, als ich zugebe, dass ich genau das vorhatte. Er hüpft, als wäre er ein kleines Kind, und manchmal komme ich kaum hinterher, während er den Weg zum See hinunter rennt. Er ist wirklich naiv, niedlich und kindlich und irgendwie wiegt mich das in Sicherheit. Welches Kind kann denn böse Gedanken haben? Ich beobachte den jungen Mann, wie er sich auf den Steg setzt und seine Füße nur Zentimeter über dem Wasser baumeln lässt. Er blinzelt zu mir auf und klopft neben sich. Also setze ich mich.
»Du brauchst keine Angst haben, Jana«, sagt Florian und lächelt mich von der Seite an. »Ich will wirklich nur mit dir befreundet sein. Klingt verrückt, aber mir sind schon am ersten Schultag deine Augen aufgefallen. Sie wirken so vertrauenswürdig, weißt du? Perlgrau. Sowas sieht man nicht oft, nicht so, wie es bei dir aussieht. Das gefällt mir. Du bist anders. Du bist was Besonderes.«
Ich weine, weil es so schön ist.
Mit Flo an meiner Seite ist alles schöner. Leichter. Ich kann ohne Bauschmerzen in die Schule gehen und ich kann nachmittags mein Zimmer verlassen, weil ich jetzt einen Freund habe. Und einen Freund zu haben ist das Schönste, was mir je passiert ist. Er hält meine Hand fest. Und wenn er das tut, habe ich nicht das Bedürfnis, wegzulaufen, nicht im Geringsten. Und es ist so schön, mit ihm an unserem Steg zu sitzen, stundenlang, und ihm zuzuhören, weil er immer redet und redet und redet. Manchmal beschwert er sich, weil ich das nie tue, aber das ist in Ordnung. Wir sind Flo und Jana. Ich schweige. Er nicht.
Manchmal küsst er mich. Das ist, weil er mich so gerne hat, sagt er, und weil meine Lippen so schön aussehen. Manchmal küsse ich ihn auch, weil ich das einfach schön finde. Wir sind kein Paar, aber die Nähe zwischen uns ist eine Verbindung, die ich so noch nie gefühlt habe. Das ist das erste Mal. Und ich finde es wundervoll. Ich weine oft, wenn er mich in den Arm nimmt, aber Flo hält mich dann einfach nur, weil er es versteht. Flo fängt mich auf. Flo ist da. Immer, die ganze Zeit, selbst um drei Uhr nachts.
Wenn er redet, redet er immer nur von den guten Sachen im Leben. Von der guten Note, die er letztens bekommen hat, von seinem großen Bruder, der mit ihm zum Football geht, von dem Kuchen, den er gestern gegessen hat. Ich frage ihn nie, ob es auch Schlechtes in seinem Leben gibt. Wir sind eben wir: Er ist der, dem nur Gutes widerfährt, und ich bin das Gegenteil davon. Das ist in Ordnung, weil mit ihm alles ein bisschen besser wird. Ich hoffe nur, dass durch mich nicht bei ihm alles etwas schlechter wird. Das wäre nicht so schön, aber er erwähnt nichts davon. Die ganze Zeit über nicht.
Also denke ich: Wir sind beide glücklich, oder?
Ein Jahr später ist es wieder Mai geworden. Ich trage ein blaues Kleid, weil mir gerade danach war, obwohl ich normalerweise nie die Farbe Schwarz betrüge. Ich habe sogar eine Blume in mein Haar gesteckt, weil ich so glücklich bin. Und gerade bin ich auf dem Weg zu unserem Steg, weil Flo und ich uns dort treffen wollen. Ich freue mich darauf, ich bin so glücklich, dass mein Herz rast und mein Bauch kribbelt. Flo ist mein bester Freund; ich liebe es, bei ihm zu sein. Ich liebe ihn, ein kleines bisschen.
Er ist nicht am Steg. Es ist komisch, dass ich die Erste bin, aber ich denke mir nichts dabei. Ich setze mich hin und lasse meine Füße über dem Wasser baumeln, ich beobachte die Wellen, die Sachen an mir vorbeitragen: ein Blatt, eine Plastiktüte, sogar einen großen Ast und Flo.
Ich brauche eine halbe Stunde, bis ich es schaffe, jemanden zu rufen.
Jetzt
Er hat in das Holz des Steges ein Herz eingeritzt.
Ich frage mich, was er mir damit sagen wollte. Vielleicht, dass es nicht meine Schuld war und er mich immer noch lieb hat? Vielleicht, dass er sich gewünscht hat, wir wären mehr gewesen als Freunde? Ich würde es ihn gerne fragen, aber das ist nicht mehr möglich. Ich kann nur mich selbst fragen.
Und ich selbst bereue.
Ein Jahr lang habe ich unsere Zeit vergeudet, statt zu sagen, dass ich ihn ein bisschen liebe. Ein Jahr lang bin ich herumgetänzelt und habe mich von ihm verändern lassen, habe mich glücklich machen lassen, ohne ihm als Dank meine Gefühle zu offenbaren. Sie waren mir nie selbst ganz klar, doch an manchen Tagen war es doch zu offensichtlich. Ich bin blind für Gefühle.
Er war ein kleiner Frosch mit seinen grünen Gewändern, und ich war perlgrau und blind für ihn.
Wenn ich ihn jetzt sehen könnte, ich würde mich dafür entschuldigen.
Es ist so schade, dass das nicht mehr geht.
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