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Schattenspiele

von Itsuka
Kurzbeschreibung
KurzgeschichteAllgemein / P16 / Gen
09.11.2013
14.05.2014
5
6.126
1
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6 Reviews
Dieses Kapitel
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09.11.2013 1.127
 
S C H A T T E N S P I E L E
Mein Beitrag zum Projekt »Schreibzirkel«



Runde 30
Bild | Knall | Druck | Name | Recht



F R E M D


Ich zucke zusammen, als sich die Haustür mit einem Knall schließt und laute, rücksichtslose Schritte im Flur zu hören sind. Obwohl ich es schon gewöhnt sein sollte, treten mir die Tränen in die Augen und ich beuge mich schnell tiefer über meine Hausaufgaben, um nicht länger darüber nachzudenken. Ich will nicht weinen. Ich darf nicht – schon lange nicht mehr.
Die Schritte kommen näher und ich halte den Atem an, als sie vor meiner Zimmertür innehalten. In meinem Kopf beginnen die Zahnräder zu rattern und zu arbeiten und ich gehe in Gedanken die letzten Tage durch – habe ich irgendetwas getan, das ihn wütend machen könnte? Mir fällt nichts ein. Aber das tut es meistens nicht und dann findet er doch irgendetwas, um seine Wut an mir auszulassen. Ich schließe die Augen und beiße die Zähne zusammen, warte ängstlich ab und sacke dann vor Erleichterung in mich zusammen, als die donnernden Schritte sich wieder entfernen.

Mein Kopf sinkt auf die Arbeitsplatte meines Schreibtisches und ich atme zischend aus. Langsam verschwindet der Druck, der sich auf mein Herz gelegt hat, die Angst, die ich eigentlich nicht spüren dürfte, nicht, wenn alles noch so normal wäre wie noch vor einem Jahr. Aber was bleibt schon gleich? Alles ändert sich und das nicht immer zum Guten – das musste ich viel zu früh erfahren.
Ich setze mich wieder gerade hin und greife nach meinem Stift, um weiter an den Matheübungen zu verzweifeln, als plötzlich die Tür aufgerissen wird und er hineinstapft. Mein Zimmer ist klein; wenn er darinsteht, wirkt es winzig. Nicht unbedingt, weil er so groß ist, denn das ist er gar nicht. Aber seine Aura, die Art, wie er dasteht und sich bewegt, reichen, um sich beengt zu fühlen.
Ich löse langsam meine Finger von dem Stift und lasse ihn auf das aufgeschlagene Heft rollen. Ich will mich nicht umdrehen, aber ich weiß, dass ich es muss, also tue ich es. Ganz langsam. Ich darf keine hektischen Bewegungen machen, das habe ich inzwischen gelernt.

Seine Stimme ist tief und aufgebracht und ich muss mich zurückhalten, um nicht die Nase zu rümpfen, als eine Alkoholfahne an mir vorbeischwebt.
»Wo ist Feli?«, fragt er, schreit er beinahe und sieht mich aus viel zu dunklen, kalten Augen direkt an. Ich versuche, das Zittern zu unterdrücken, aber ich kann nicht und verschränke schnell die Arme vor der Brust, damit es nicht so auffällt. Plötzlich fühlt sich die mollig warme Luft in dem Raum erdrückend und schwer an. Ich würde am liebsten laufen, raus aus diesem Zimmer, dieser Wohnung, dieser Stadt. Aber er versperrt den Weg zur Tür und er wartet auf meine Antwort.

»Bei einer Freundin«, sage ich schnell und beiße mir auf die Unterlippe. Ich weiß, dass ihm diese Erwiderung nicht gefallen wird. Ihm ist es lieber, wenn unsere kleine Schwester ihre freie Zeit zu Hause verbringt anstatt bei ihren Freunden – bei denen es sicherer ist als hier.
Tatsächlich kann ich ihm ansehen, wie sich seine Wut langsam steigert. Zuerst baut er sich auf, als ob er größer wirken möchte, dann stemmt er die Hände in die Hüften und zuletzt runzelt er die Stirn. Ich dagegen sinke immer tiefer in meinem Sessel zusammen und beginne mich zu fragen, ob ich noch irgendwo Labello habe, der meine Lippen später retten könnte.

»Wieso?« Seine Stimme ist gefährlich leise und konzentriert. Ich würde am liebsten noch weiter zurückweichen, aber hinter mir ist nur mein Schreibtisch und er macht einige Schritte nach vorne, bis er genau vor mir steht und auf mich hinabblickt. Wieder einmal frage ich mich, wie mein früher so geliebter Bruder sich in diesen Menschen verwandeln konnte. Damals kannte ich ihn in- und auswendig, konnte quasi seine Gedanken lesen und immer zu ihm kommen, wenn ich ein Problem hatte. Jetzt weiß ich gerade noch seinen Namen und selbst den verleugnet er inzwischen.

»Weil sie es wollte?« Meine Stimme ist hoch und panisch und ich spüre wieder die Angst, die mein Herz  umklammert und es nicht mehr loslassen möchte. Mein Atem wird hektischer, als er sich langsam zu mir hervorbeugt und eine Hand hebt. Als sie vorschießt, will ich ausweichen, aber er scheint nicht die Absicht gehabt zu haben, mich zu schlagen. Stattdessen greift er nach dem eingerahmten Bild auf meinem Schreibtisch und wirft es mit voller Wucht gegen die Wand.

»Dazu hast du nicht das Recht.«
Der ruhig ausgesprochene Satz steht in einem solchen Kontrast zu seiner Handlung. Mein Blick wandert zu dem Scherbenhaufen auf dem Boden und meine Augen werden feucht, als mir klar wird, welches Foto er da zerstört hat. Es ist eines der letzten, die noch existieren, auf denen er noch er selbst war. Als er mir noch nicht fremd war, mein eigener Bruder.

»Natie…«
Er greift nach meinen Haaren, nur für einen Moment, reißt daran, ehe er mich wieder loslässt. Ein Grollen entkommt seiner Brust, wie jedes Mal, wenn mir unabsichtlich der Spitzname herausrutscht, den ich ihm vor so langer Zeit gegeben habe. Nathan. Natie.

Die gleiche Person – aber es kommt mir nicht mehr so vor.

Ich warte, bis er sich wutschnaubend umdreht und aus dem Zimmer stürmt. Dann lasse ich mich auf mein Bett fallen, schließe die Augen und wünsche mir, dass Mum nicht gestorben wäre. Vielleicht würde dann noch alles so sein wie früher.

Vielleicht wäre Natie dann Natie geblieben, anstatt Nathan zu werden – der Mann, der unter der Verantwortung zusammenbricht, eine Familie zu ernähren. Ich frage mich, ob auch ich mich so stark verändert habe und es nur einfach nicht mitkriege.
Ich fasse mir an den Hinterkopf und verziehe das Gesicht. Es tut immer noch weh. Außerdem spüre ich, wie sich meine Migräne meldet. Langsam erhebe ich mich und schlurfe aus meinem Zimmer, um im Badezimmer nach meinen Tabletten Ausschau zu halten.

Ich bleibe im Türrahmen der Küche stehen, als ich merke, dass Nathan sich dort befindet. Er steht am Fenster und blickt hinaus auf unsere Stadt, viel zu groß und weit für eine kleine Familie, die auseinander fällt, weil keiner mehr da ist, um als Fels in der Brandung bereitzustehen. Er erinnert mich in diesem Moment an den alten Natie, dünn und schlaksig und immer mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Aber jetzt weint er, ich kann von Weitem die glitzernden Tränen auf seiner Wange sehen und die Reue in seiner Mimik. Ich wünschte, ich könnte zu ihm gehen und ihn umarmen, aber mir ist klar, dass das nur wieder Nathan auf den Plan rufen würde. Also lasse ich es bleiben.

Ich wünsche ihm so sehr, dass er einen Ort findet, an dem er wieder Natie sein kann.
 
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